Eine Leiche zum Lunch - Thomas Riedel - E-Book

Eine Leiche zum Lunch E-Book

Thomas Riedel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

London 1887 - Ein Koffer mit einer zerstückelten Frauenleiche, zwei Ermittler, die unterschiedlicher nicht sein können. Lady Celeste Montgomery, erste weibliche Pathologin des Scotland Yard, und Detective Inspector Archibald Primes werden unfreiwillig zu Partnern gemacht. Mit Charme und Witz begeben sich die beiden ungleichen Kriminalisten auf Mörderjagd.

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Seitenzahl: 226

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Eine Leiche zum Lunch

Ein Fall für Montgomery und Primes

Kriminalroman

von

Susanne Danzer & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2016 Buchcoverdesign: Sarah Buhr - www.covermanufaktur.comunter Verwendung von Bildmaterial von:

ventdusud /www.shutterstock.com

ImpressumCopyright: © 2016 Susanne Danzer & Thomas Riedel

https://www.facebook.com/MontgomeryPrimesDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Für Moni Kaspers

»Aber die Zeiten vergehn,

es vernarben die Wunden,

und arglos über die Stätten des Mords

wandelt ein junges Geschlecht.«

Emanuel Geibel (1815-1884)

Kapitel 1 

Der alte Godric Henderson lümmelte sich in einer Ecke vor dem Zeitungskiosk im Bahnhof Paddington, an der Kreuzung Bishop’s Bridge Road und Praed Street herum. Er hatte noch einen warmen Schluck Whisky in seinem Flachmann, nippte daran und verzog das Gesicht ob des schalen Geschmacks. Er interessierte sich in keiner Weise für die architektonischen Detailarbeiten des 1854 eröffneten Hauptgebäudes, das von den Zeitungen hochgelobt wurde. Er konnte diesem Tamtam um das Gebäude allerdings nichts abgewinnen. Gemäuer war Gemäuer.

Henderson konnte man nicht unbedingt als hübschen Mann bezeichnen. Trotz seiner Hasenscharte war er auch nicht hässlicher als viele andere. Er hatte jedoch etwas an sich, wofür er in sentimentalen Stunden seinen Eltern, die er nie kennengelernt hatte, dankbar war: Er besaß die Fähigkeit unauffällig zu sein. So unscheinbar, dass sich keiner an ihn zu erinnern vermochte. Ein Umstand, der ihm bei seinem Beruf alles andere als hinderlich war.

»Nur vierzig Penny …«, flüsterte ihm ohne jede Vorwarnung eine verbrauchte weibliche Stimme von hinten zu, der Geruch von Knoblauch und billigem Fusel senkte sich bis auf Hendersons Magengrund.

»Wofür?«, fragte er abweisend zurück und wandte den Kopf ein Stück herum.

»Für ein Mädchen … jung und unverbraucht«, raunte sie. »Sie ist gerade erst sechszehn geworden. Ein hübsches Ding. Jungfräulich und gesund. Sie wären der Erste. Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen.«

»Lass mich in Ruhe, Alte!«

Die Frau mit der Alkoholfahne rückte näher an ihn heran.

»Ich sage dir, die ist nicht so wie die anderen, die ist aus gutem Haus. Sauber und süß. Hat noch alle Zähne. Sie will etwas verdienen …«

»Ich brauche kein Mädchen, und wenn ich eines will, dann suche ich es mir selbst! Hau ab!« Er machte eine abwehrende Handbewegung, um sie zu verscheuchen.

Die Frau murmelte etwas vor sich hin, was er nicht verstand und bekam plötzlich einen weinerlichen, klagenden Ton in ihre Stimme: »Dann schenk‘ mir doch wenigstens eine Zigarette«, bettelte sie ihn an. »Du hast bestimmt welche. Der Herr soll es dir tausendfach vergelten.«

Henderson fasste in seine Hosentasche und angelte ein zerknülltes Etwas hervor, das einmal einer Zigarette ähnlich gesehen haben mochte, jetzt nur noch schwerlich als solche zu erkennen war. Es war die letzte, die er bei sich hatte. Mit spitzen Fingern hielt er sie rückwärts über seine Schulter, nur um die Frau endlich loszuwerden.

»Danke, mein Freund«, hauchte sie und wieder umgab ihn eine Welle von Knoblauch, schlecht gepflegten Zähnen und Fusel. »Du brauchst nicht gleich grob zu mir zu werden, wenn ich dir ein Angebot mache«, fügte sie hartnäckig hinzu. »Ich hatte eben den Eindruck, dass du ein Mädchen brauchst. Du wirkst ganz schön angespannt. Wollte nur dein Bestes. Deshalb braucht niemand ruppig zu werden. Schließlich sind wir doch alle nur arme Schlucker, die mit sich nichts Vernünftiges anzufangen wissen …«

»Geh‘ doch endlich, du altes Weib!«, grollte er.

»Ja, ja, ich gehe ja schon … ich gehe ja schon … ich gehe ja . . .«

Ihre Stimme summte noch eine ganze Weile in Hendersons Ohren. Er wandte sich halb der Frau zu und sah sie mit unsicheren Schritten auf ein weibliches Wesen zuwanken, das ungefähr so reizvoll wie ein Klavierbein war, an dem der Lack abzublättern begann.

Das soll wohl ihre Sechzehnjährige aus gutem Haus sein. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Henderson wandte sich wieder ab.

Gewiss, dachte er, alles arme Schlucker, aber vielleicht gehöre ich nicht mehr lange dazu. Fügte er voller Vorfreude in Gedanken grinsend hinzu.

Seine kleinen, aus schmalen Sehschlitzen schießenden Wieselaugen, deren Farbe in Strafkarten und Entlassungspapieren von Dartmoor und Wandsworth immer wieder anders angegeben wurde, weil sie kaum zu definieren war, diese Augen hefteten sich wieder auf einen Punkt, wie sie es schon vorher getan hatten, ehe die Frau mit ihrem Vierzig-Penny-Angebot gekommen war.

Der Punkt war eigentlich ein Rechteck. Ein, wie er fand, sogar recht ansehnliches Quadrat, und dem Anschein nach neu, funkelnagelneu.

»Wer mit einem solchen Koffer auf Reisen geht«, sagte er leise zu sich selbst und rieb sich die Hände voller Vorfreude, »der wird kaum Altwaren darin herumtragen.«

Er war sich sicher, dass im Inneren etwas Wertvolles zu finden war, das sich hoffentlich gut zu Geld machen ließ, und je länger er den Koffer betrachtete, desto sicherer war er sich in dieser Annahme. Sein Hehler würde sich freuen.

Außerdem erinnerte ihn die Farbe des Gepäckstücks an etwas. An eine Zugreise, bei der ihm Elizabeth, seine alte Flamme, wegen eines gewöhnlichen Straßenmädchens aus Eifersucht zwei Zähne ausgeschlagen hatte. Unwillkürlich musste er lächeln. Es lag schon Jahrzehnte zurück und doch entsann er sich daran als sei es gestern gewesen.

Seit einer Viertelstunde lungerte er nun hier herum und umkreiste mit seinen Pupillen diesen wertvollen Lederkoffer.

Selbst bei seinem, durch jahrelange Übung, stark ausgeprägten Misstrauen hatte er keinen Menschen in der Bahnhofshalle entdecken können, der irgendwelche Besitzrechte auf den Koffer auch nur ansatzweise erhoben hätte, sei es durch einen gelegentlichen Blick oder durch eine Bewegung.

Es konnte gar nicht anders sein: Der Koffer war herrenlos. Er spürte dies mit dem unfehlbaren Instinkt eines begabten und am Leben gereiften Diebes. Nun, wenn es keinen Besitzer gab, dann würde er sich des armen Gepäckstücks annehmen.

Eine gewisse Erregung hatte ihn gepackt. Es schien einer jener Glücksfälle zu sein, den man sich selbst im Gefängnis nur an Feiertagen erzählte: Der Koffer war von jemandem vergessen oder absichtlich zurückgelassen worden.

Konnte es sein, dass ihn jemand hier deponiert hatte, um in der Nähe etwas zu erledigen? Dann würde Derjenige wiederkommen, sobald er sein Vorhaben durchgeführt hatte. Henderson war unsicher. Es ärgerte ihn, denn je länger er wartete, desto geringer wurde seine Chance, die Beute in die Finger zu bekommen.

Außerdem war da der hochaufgeschossene Bobby, der alle sechs bis sieben Minuten durch die Halle schlenderte, gelangweilt stehenblieb, seinen Blick gewichtig über die Menschenmenge schweifen ließ und sich dann wieder auf seinen Rundgang begab. Der Mann schien auf etwas herumzukauen, und pflegte seine mahlenden Kieferbewegungen, die Henderson stark an ein Rindvieh erinnerten, nur zu unterbrechen, wenn ein anderer Yardbeamter in Zivil oder eine respektable Person die Bahnhofshalle durchschritt. Dann zog er seinen Bauch ein, straffte sich und verschränkte die Hände würdevoll hinter dem Rücken.

Henderson begann zu rechnen. Er kam zu dem Schluss, dass der wiederkäuende Bobby genau dreieinhalb Minuten nach seinem letzten und vor seinem nächsten Auftritt am weitesten vom Fundort entfernt sein musste.

Das war der richtige Augenblick. Genau dann musste er zuschlagen.

Der Anblick des ledernen Koffers stimmte ihn so gut gelaunt, dass er dem kugelrunden Reisenden, der sich unmittelbar neben ihm eine Zeitung kaufte, mit einer altbewährten Bewegung flinker Finger die Zigarettenpackung aus der Jackentasche zog und sich gemütlich eine davon anzündete.

Das Rindvieh, wie er den Bobby, in einem Anfall von staatsbürgerlicher Respektlosigkeit, inzwischen nannte, trat eben erneut durch die Schwingtür.

Henderson warf einen Blick auf die große Uhr in der Halle.

Dreizehn Minuten vor neun Uhr.

Immer noch stand der Koffer unberührt an seinem Platz, nur knapp neben einem Fahrkartenschalter und schien ihn geradezu anzuflehen sich seiner anzunehmen.

Wieder kam ein kurzer Zweifel auf. Hatte vielleicht der Schalterbeamte ein Auge auf den Koffer? Möglicherweise bat ihn der Besitzer darum, um seinen Erledigungen, ungehindert von einem sperrigen Gepäckstück, nachzugehen. Womöglich war er nur kurz um die Ecke, um sich noch Irgendetwas für die Reise zu besorgen, wo immer sie ihn hinführen mochte.

Er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Nein, das konnte nicht sein, denn dann hätte der Fahrkartenverkäufer längst einmal einen Blick darauf werfen müssen. Nein, nein, das war seine Sternstunde. Diesmal konnte nichts schiefgehen.

Der Bobby bewegte sich zur Schwingtür hinaus, um seine Runde von neuem zu beginnen. Henderson schmunzelte. Sogar in dessen Bewegungen schien sich das Wiederkäuen bemerkbar zu machen, was sich an seinem breitbeinigen, wiegenden Gang zeigte.

Er spürte die aufkommende Nervosität, die jeden Schauspieler vor dessen Auftritt befällt, in seinen Gliedern. Er knackte mit den Knöcheln seiner Finger, um diese zu lockern und geschmeidig zu machen. Es war ein angenehmes Gefühl, das ihm Schwung verlieh und die letzten Hemmungen nahm, die, wie er sich eingestehen musste, bisweilen immer noch ihr Unwesen in seinem Inneren trieben. Glücklicherweise nur selten und in zunehmendem Alter immer weniger. Er liebte diesen Moment der Vorfreude.

In elf Minuten wurde es neun Uhr.

Er warf seine Zigarette zu Boden und trat sie beiläufig aus. In einem Anfall plötzlicher Dankbarkeit an das Schicksal tat er etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hatte: Er steckte dem kugelrunden Reisenden, der in seiner Zeitung las, die Zigarettenpackung wieder zurück in die Jackentasche. Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick fasste der Mann danach und steckte sich eine der runden langen, filterlosen Dinger in den Mund.

Der Zeiger der Uhr war eine Minute vorgerückt.

Hendersons Bewegungen wurden mit einem Mal gleitend. Mit der Ruhe eines selbstbewussten Meisters löste er sich von seinem sicheren Standort neben einer Säule, an die er sich gelehnt hatte, und überquerte mit klackernden Schritten, die die Absätze seine Schuhe verursachten, die Halle.

In der Mitte hielt er noch einen Augenblick inne, so als sähe er sich nach einem Gepäckträger um, bevor er weiterpirschte, wie ein Weidmann auf der Jagd nach einem Hirsch.

Dann schritt er, nachdem sein Bemühen scheinbar erfolglos war, geradewegs auf seine Beute zu. Mit Mühe verkniff er sich ein fröhliches Pfeifen, das bereits über seine Lippen kriechen wollte, denn es hätte ihn gar zu verdächtig gemacht.

Mit der Miene eines Mannes aus der Provinz, der im Gewirr der Großstadt etwas unbeholfen war, trat er an den Fahrkartenschalter heran und fragte, fast stotternd:

»Wann geht der Nachtzug nach Edinburgh?«

»Wenn Sie nach Edinburgh wollen, würde ich Ihnen raten, vom Zentralbahnhof zu fahren. Hier kommt kein Zug dorthin durch.«

»Ich dachte es mir«, nickte er freundlich. »Das werde ich wohl machen, wenn ich nach Schottland kommen will. Ich habe nur noch einiges zu erledigen. Ich danke Ihnen, Sir. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.«

Damit fasste er wie selbstverständlich nach dem Koffertragegriff, hob in an und ging davon.

Der Schalterbeamte lächelte unverbindlich und wandte sich dem nächsten Fahrgast zu, der mit einigen Wünschen seine Aufmerksamkeit verlangte.

Henderson fielen zwei Dinge auf, während er sich zielstrebig dem Ausgang zuwandte: Erstens, dass der Koffer verdammt schwer war und ihm ganz schön zu schaffen machen würde. Das Zweite war, dass er etwas zu spät mit der Aktion eingesetzt hatte, weil ihm der Trick mit der Auskunft erst auf dem Weg eingefallen und es zudem ein wenig stümperhaft ausgeführt worden war. Sein schauspielerisches Können schien ein wenig eingerostet zu sein.

Jedenfalls zeigte der Zeiger der Uhr bereits auf acht Minuten vor neun Uhr morgens.

In etwa einer Minute, höchstens eineinhalb, wenn er Glück hatte, musste das Rindvieh wiederkommen.

In der Ausgangstür stieß er mit einer älteren Dame zusammen, deren exquisite Kleidung nicht ganz zu ihrem Vorstadtdialekt passte, mit dem sie ihn für seine Ungeschicklichkeit wüst beschimpfte, während sie ihren ins Rutschen gekommenen übertrieben großen Hut, wieder in die korrekte Position brachte.

Von Sekunde zu Sekunde wurde der Koffer schwerer, sodass es ihm beinahe den Arm aus der Schulter zu kugeln schien.

Henderson brach der Schweiß aus, seine Stirn glänzte und seinen mittlerweile feuchten Handflächen, drohte der glatte Griff des Koffers zu entgleiten.

Für ihn erwies sich, wovon er überzeugt war, dass heute sein Glückstag war. Eine freie Kutsche kam herausfordernd auf ihn zu, als hätte der Lenker ausschließlich auf ihn gewartet.

Er brauchte die Linke nur ein wenig anzuheben und der Kutscher hielt die Pferde an, sprang vom Bock, ließ ihn einsteigen und verstaute den Koffer, mit einem angestrengten Schnaufen, hinten, auf der dafür vorgesehenen Gepäckablage, ehe er wieder aufstieg.

»Wohin?«, fragte der Mann.

»Wie bitte?«

»Wohin wollen Sie, Sir?«, wiederholte der Kutscher.

»Hmm … Soho, Foley Street, das letzte Haus rechts.«

Er rief es ihm zu, ohne seinen Kopf aus dem Fenster zu halten, denn er hatte ein paar aufgeregte Leute entdeckt, von denen jetzt einer hektisch auf die Kutsche deutete. Der Fahrer ließ die Pferde antraben, als der Bobby zu der Gruppe trat, um den Grund für die Aufregung zu erfahren.

Und dann ging es sehr rasch.

Keine Minute später setzte sich eine weitere Kutsche in Bewegung, die ihnen folgte.

»Machen Sie schneller!«, rief Henderson dem Mann auf dem Kutschbock zu.

»Ich weiß nicht, ob ich nicht lieber stehenbleibe und die Herren frage, was sie von Ihnen wollen, Sir!« gab er zurück, nachdem er einen Blick hinter sich geworfen hatte.

»Das könnte ich Ihnen sagen, wenn ich Zeit hätte!«, erwiderte Henderson patzig und ließ sich rasch eine Schauergeschichte einfallen. »Ich bin Privatdetektiv, obwohl ich Ihnen das eigentlich nicht sagen dürfte, wegen der Geheimhaltung. Die Herren dahinten haben es auf mein Gepäck abgesehen, in dem ich alle Indizien mitführe, die ihre Schandtaten aufdecken werden! Beweise, die mehr als brisant sind und die umgehend zu meinem Auftraggeber gelangen müssen. Deshalb ist eine Verzögerung unerwünscht und kann von mir nicht hingenommen werden.«

Die Verfolger holten etwas auf.

»Können Sie sich ausweisen, Sir?«, fragte der Kutscher, dem die Geschichte so noch nicht ausreichte.

»Sicher!«, rief er mit gespielter Empörung. »Wenn wir die Bande losgeworden sind, werde ich Ihnen meinen Ausweis zeigen. Meinetwegen nenne ich Ihnen auch noch meine Konfektionsgröße und gebe Ihnen die Adresse meines Schneiders! Aber jetzt geben Sie den Pferden mal richtig die Peitsche!«

Der Angesprochene zuckte mit den Achseln und feuerte seine Pferde an. Er schaffte es die Verfolger in Kreuzungen und Kurven jeweils ein Stück abzuhängen. Auf Dauer schaffte er es aber nicht.

»Wollen Sie immer noch nach Soho in die Foley Street, Sir?« schrie er seinem Fahrgast zu.

»Nein! Fahren Sie, wohin Sie wollen, aber hängen Sie um Himmelswillen endlich dieses Gesindel ab!«

Es war eine verrückte Jagd durch die engen Straßen Londons. Der Kutscher zeigte mehr Elan und Initiative, die man ihm nicht zugetraut hätte. Gerade so, als würde er sich täglich solche Verfolgungsjagden liefern.

»Warum soll ich Sie nicht direkt zu Scotland Yard bringen, Sir?«, rief er lautstark. »Das wäre doch das Einfachste!«

»Weil ein Privatdetektiv für die ungefähr dasselbe ist, wie das rote Tuch für einen Stier!«

Nach einer halben Minute meldete sich der Mann erneut.

»Ich habe Sorge, dass das rote Tuch in wenigen Minuten zerrissen wird, Sir! Vor mir ist alles verstopft! Da ist kein Durchkommen mehr.«

»Dann fahren Sie durch den Torbogen des Hauses dort vorn!« brüllte Henderson, den Kopf aus dem Fenster haltend. Allmählich gingen die Nerven mit ihm durch.

»Das ist eine Kutsche, Sir, kein römischer Streitwagen! Glauben Sie, dass wir Waffen brauchen? Ich habe einen alten Vorderlader unter meinem Sitz.«

Henderson hatte gerade noch ausreichend Zeit sich festzuhalten, als die Kutsche scharf in den Torbogen einfuhr. Der Mann vorn auf dem Bock hatte die Kurve derart eng genommen, dass er mit dem linken Vorderrad hart gegen einen vorstehenden Mauervorsprung knallte. Die Kraft des Aufpralls ließ das Eisenband vom Holz springen, so dass mehrere Speichen brachen und die Mietkutsche geriet in Schieflage.

An dieser Stelle war die Verfolgungsfahrt zu Ende. Ehe sich Henderson versah, waren zwei Bobbys neben ihm, die ihn nicht gerade freundlich ansahen.

»Holen Sie den Koffer des Mannes herunter«, wies einer von ihnen den Kutscher an.

Der Mann sprang vom seinem Sitz, umkreiste die nicht mehr fahrtaugliche Kutsche und wuchtete den schweren Koffer herab. Er stellte ihn Henderson beinahe auf die Zehenspitzen und hielt unmissverständlich die Hand auf.

Godric Henderson wurde, soweit das möglich war, einen Schein blasser und stotterte etwas von merkwürdigen Sitten der Polizei, und dass er Beziehungen Lordmajor hätte. Man könne ihm keinen Strick daraus drehen, wenn er die Bezahlung für einen Augenblick schuldig bleiben müsse. Er habe schließlich Beziehungen zu …

Ehe er wieder beim Bürgermeister oder gar bei Ihrer Majestät selbst angelangt war, ließ der Kutscher einen nur noch wenigen Auserlesenen bekannten englischen Seemannsfluch vom Stapel, der jedem unschuldigen Menschen die Schamesröte in die Wangen getrieben hätte, und fügte ohne auffallende Höflichkeit hinzu:

»Sie sind doch der elendste Schuft von ganz London, der mir je begegnet ist! Erst quatschen Sie etwas von wegen Privatdetektiv und Ganoven, die Sie verfolgen, dann hetzen Sie mich in eine irre Verfolgungsjagd und am Ende haben Sie nicht mal die Pennys, um mich zu bezahlen. Von dem Radbruch mal ganz abgesehen! Wenn diese Herren in ihren hübschen schwarzen Uniformen nicht wären«, seine Hände deuteten auf die beiden Polizisten, »würde ich Sie versohlen, bis Ihre Visage Ihrem Arsch ähnlich sieht! Jawohl, das würde ich!«

Der von Henderson mit Rindvieh titulierte Beamte vom Bahnhof, beschwichtigte den Kutscher: »Regen Sie sich nicht auf, Sir. Sie können sich das Fahrgeld im Verlauf des Tages im Yard abholen. Ich werde dort Mitteilung machen, dass Sie kommen werden.«

»Und was ist mit meinem Schaden?«, wollte der Mann ärgerlich wissen. »Der wird mich eine hübsche Stange Geld kosten.«

»Darum werden Sie sich wohl selbst kümmern müssen, Sir. Es hat Sie ja niemand zu einer solch halsbrecherischen Fahrt gezwungen!« Damit war für den Bobby das Gespräch beendet. Er wandte sich Henderson zu und schenkte dem Kutscher, der sich lauthals fluchend den Schaden besah, keine weitere Beachtung. »Wir, Bürschchen, machen uns mal auf den Weg zum Yard, wo wir eine hübsche Zelle für dich haben.«

Mit einer leichten Kopfbewegung gab er ihm die Anweisung den Koffer aufzunehmen und ihnen zur Kutsche zu begleiten, mit der sie ihn verfolgt hatten. Henderson musste zwischen den beiden Polizisten Platz nehmen, nachdem das Gepäckstück sicher verstaut war. Auf ein Zeichen des großgewachsenen Bobbys, ging es in manierlicher Fahrt in Richtung Big Ben Tower.

Kapitel 2 

Kaum waren sie vor dem Gebäude des Scotland Yard angekommen, sprangen die beiden Beamten auch schon aus dem Verschlag der Kutsche. Der Wagenlenker half noch beim Abladen des schweren Reisegepäcks und wurde anschließend angewiesen sich, an der Kasse im Eingangsbereich, für die Fahrt entlohnen zu lassen. Henderson hingegen schwitzte unter der Last des Koffers und seiner Hoffnung, die sich so schnell zerschlagen hatte – nicht zuletzt auch aus Angst vor dem, was nun auf ihn zukommen würde. Hätte er doch dieses verfluchte Gepäckstück nur stehen gelassen. Er dachte sich gleich, dass damit etwas nicht stimmen konnte. Allerdings war die Gier stärker als seine Vorsicht gewesen und nun bezahlte er den Preis für seine Dummheit.

»Wohin wollten Sie eigentlich mit dem Koffer?«, fragte ihn der lange Polizist.

»Wohin?« Henderson erlaubte sich ein leicht entrüstetes Lächeln.

»Spreche ich so undeutlich?«

»Ich habe ihn gefunden; herrenlos und vergessen. Es gibt nur einen Ort wohin ich wollte: natürlich zum Fundamt. Als ehrlicher und aufrechter Bürger der Stadt London würde mir nichts anderes in den Sinn kommen.«

»Das Nächste befindet sich unmittelbar am Bahnhof Paddington. Sie hätten nur durch zwei Türen gehen müssen und wären praktisch hineingestolpert. Nicht zu verfehlen. Selbst für Einen wie Sie nicht.«

»Ich wollte eben zum Zentral-Fundamt!«, versuchte sich Henderson herauszureden. »Und jetzt wird mir auch noch ein Strick daraus gedreht, dass ich jemandem nur behilflich sein wollte.«

»Das Zentral-Fundbüro liegt genau in der Gegenrichtung«, stellte der kleinere Beamte lächelnd fest. »Sie wollen uns wohl auf den Arm nehmen oder halten Sie uns für blöder als wir aussehen?«

»Natürlich nicht … aber … als ich in der Kutsche saß, fiel mir siedend heiß ein, dass ich noch eine Erledigung hatte, die sich gut mit der Fahrt verbinden ließ.«

»Was für eine Erledigung?«

»Das ist ja wohl meine Privatsache«, erwiderte Henderson und gab sich entrüstet.

»Mag sein! Aber es ist keine mehr, wenn Sie sich als Detektiv ausgeben und offensichtlich vor der Polizei fliehen.« Der Lange deutete auf den Koffer. »Ich sage Ihnen auf den Kopf zu, dass Sie dieses Reisegepäck stehlen wollten.«

»Wie kommen Sie nur darauf?« Henderson setzte einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf und unternahm einen letzten Versuch sich herauszuwinden, aber in seiner Stimme war schon mehr Resignation als Kampfeswille.

»Und jetzt ... seien Sie bitte so freundlich und öffnen den Koffer«, knurrte der Kleinere. »Vielleicht finden sich darin Hinweise auf den tatsächlichen Eigentümer.«

Godric Henderson hatte bereits danach gefiebert, trotz der Niederlage, wenigstens die Höhe des Verlustes, also den Inhalt des Gepäckstücks, kennenzulernen und nahm die Gelegenheit mit geradezu widernatürlichem Eifer wahr. Der Koffer war mit einem hübsch verzierten Schloss versehen. Henderson war so in seiner Betriebsamkeit gefangen, dass er ohne zu zögern und ohne Scheu ein niedliches Metallwerkzeug hervorholte, das ihm schon des Öfteren durch Türen oder über Schlösser hinweggeholfen hatte. Die Dietriche waren ein Familienerbstück. Er besaß seine diebischen Fähigkeiten schließlich nicht umsonst.

Im dritten Anlauf klappte es endlich. Das Gepäckstück ließ sich öffnen und Frauenkleider kamen zum Vorschein, fleckig und zerknüllt.

Gierig tauchte Henderson mit einer Hand hinein und schob die Kleider zurück.

Doch schon im nächsten Augenblick nahm sein Gesicht eine grünliche Farbe an, wie man sie an verdorbenem Fleisch bewundern konnte. Nur mühsam kam er wieder auf die Beine. Er stöhnte laut auf, wankte drei vier Schritte zurück in eine Ecke des kahlen Raumes und erbrach sich schwallartig auf seine Füße.

Auch die beiden Uniformierten atmeten schwer. In ihren Augen spiegelte sich das nackte Grauen.

»Das sieht mir ganz nach einer Lieferung für Scotland Yard aus«, murmelte Henderson mit zitternden Lippen.

Kapitel 3 

Inspector Archibald Primes schlenderte, mit der aktuellen ›London Times‹ unter dem Arm, die er einem Zeitungsjungen abgekauft hatte, die Straße entlang Richtung Scotland Yard. Er hatte dem ›Old Bailey‹ einen Besuch abgestattet, um einer Verhandlung beizuwohnen, die einem Verbrecher galt, den er höchstpersönlich gefangen und ins Kittchen gebracht hatte. Mit Zufriedenheit hatte er das Urteil vernommen, das dem Verbrecher drohte: Tod durch den Strang – durchzuführen im ›Pentonville‹-Gefängnis. Nicht, dass Primes in allen Fällen für eine Hinrichtung plädieren würde. So viel Achtung vor dem Leben hatte er sich, trotz langjähriger Tätigkeit im Polizeidienst, dennoch bewahrt. Allerdings war das Verbrechen durch diesen Kerl, heimtückisch und ohne Reue verübt worden, weshalb ihm die Strafe angemessen erschien, sodass er keinerlei Bedauern empfand, als das Todesurteil verkündet wurde.

Primes zog seine Taschenuhr aus seiner Weste und warf einen Blick darauf, nur um sie gleich darauf mit einem mürrischen Zug um den Mund, zurück an ihren Platz zu stecken. Sie war schon wieder stehengeblieben, obwohl er sie am Morgen sorgfältig aufgezogen hatte. Er musste dieses Ding endlich reparieren lassen. Schon wieder. Ansonsten bekam er sicherlich irgendwann mächtigen Ärger mit seinem Vorgesetzten, wenn er weiterhin unpünktlich erschien. Nun, wenn er es sich recht überlegte, hatte er bei Chief Inspector Angleford ohnehin keinen besonders guten Stand. Nicht, dass er viel Wert darauf gelegt hätte.

Angeber, dachte Primes, muss sich ständig aufspielen als wäre er der Heilsbringer, auf den die Welt gewartet hat.

Noch ein wenig weiter vor sich hingrummelnd, betrat er schließlich das Gebäude des Yard. Hier und da grüßte er Kollegen, die an ihm vorbeieilten oder an ihren Tischen saßen und mit konzentrierten Blicken die Schreibmaschinen bearbeiteten, die vor ihnen standen, sodass ein munterer Chor der klappernden Typen zu hören war.

Sein Büro, das einer größer dimensionierten Schuhschachtel glich, lag im ersten Stock des Gebäudes. Es hatte zwar nur ein kleines Flügelfenster, aber immerhin eine Tür, die er hinter sich schließen konnte.

»Millicent, meine Liebe, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, grüßte er die Frau mittleren Alters, die ihm auf der Treppe zum Obergeschoss, entgegenkam.

Millicent trug einen Stapel Akten auf dem Arm. Sie lächelte ihn freundlich an, was ihr herzförmiges Gesicht geradezu strahlen ließ, das von einzelnen Strähnen ihres rötlichen Haares umrahmt wurde, welche sich aus ihren Haarnadeln befreit hatten.

»Oh, gut, dass ich Sie treffe«, sagte sie. »Chief Inspector Angleford wartet oben im Büro des Superintendent auf Sie.«

Erstaunt hob er eine Augenbraue. »Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzt die Maus auf dem Tisch.«

»Sie kennen doch das Büro von Chief Angleford. Es ist nicht wirklich präsentabel für den Commissioner.« Millicent verzog leicht das Gesicht, als wollte sie noch etwas äußern, tat es dann allerdings nicht. »Da der Chief Inspector unseren Superintendent vertritt, solange dieser auf Hochzeitsreise ist, hat es sich angeboten.«

»Wann kommt der Boss denn zurück?«

»In zwei Wochen müsste er wieder da sein. Gott sei Dank, kann ich nur sagen.« Sie lächelte Primes an, der verständnisvoll nickte. »Nun sollten Sie sich beeilen, um die beiden Herren und die Dame nicht länger warten zu lassen.«

Sie ging an ihm vorbei und setzte ihren Weg fort.

»Was für eine Dame?«, rief er ihr hinterher, als ihm die Bedeutung der Worte endlich verständlich wurden. Doch Millicent hörte ihn nicht mehr und so ging er hinauf zum Büro des Superintendent, wo er bereits ungeduldig erwartet wurde.

Als er den Raum betrat, standen Commissioner Langley und Chief Angleford nebeneinander, während eine Frau auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch saß und ihm den Rücken zuwandte. Aufrecht saß sie da, mit geradem Rücken, wie es für eine Dame aus gutem Hause üblich war. Das brünette Haar im Nacken zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckt. Auf ihrem Kopf trohnte ein kecker, kleiner Hut, wie es bei den Frauen zur Zeit in Mode war. Eine Hand ruhte auf dem schlangenkopfförmigen Knauf eines Herrenschirms, was Primes mit Verwunderung wahrnahm, denn er wollte so gar nicht zu ihr passen. Sollte sie nicht eher einen dieser zierlichen Schirme aus Spitze mit sich führen, um ihre Haut vor der Sonne zu schützen? Sie war rätselhaft, aber nicht uninteressant, wie er sich eingestehen musste.

»Primes, endlich tauchen Sie auf. Wo, um Himmels willen, haben Sie gesteckt?«, wollte der Commissioner wissen. Ein großer, schmächtiger Mann mit Hakennase, dessen Augen immer missbilligend zusammengezogen zu sein schienen und dessen Anzüge stets akkurat saßen.

»Im ›Old Bailey‹, Sir«, antwortete Primes, während er versuchte, das ungute Gefühl, welches in seinem Inneren aufstieg, zu unterdrücken. »Hätte ich gewusst, dass Sie uns heute mit einem Besuch im Yard beehren, dann wäre ich selbstverständlich früher hier gewesen, Sir. Dann hätte ich auf meinen Abstecher bei Gericht verzichtet.«

»Jetzt sind Sie ja da, Inspector. Und ich habe Ihnen eine freudige Mitteilung zu machen.«

Augenblicklich war Primes auf der Hut. Irgendetwas war im Busch. Es sprang ihn förmlich an. Ob es mit dieser Frau zu tun hatte, die immer noch mit faszinierend geradem Rücken dasaß, als hätte sie einen Stock verschluckt?

»Ich habe die Ehre Ihnen Doktor Celeste Montgomery vorzustellen«, verkündete der Commissioner, worauf sich die Genannte zu ihm umdrehte, und ihn musterte.

Was für sagenhaft blaue Augen, schoss es Primes durch den Kopf, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres, über das er nachzudenken hatte.

»Guten Tag, Miss Montgomery«, grüßte er höflich und neigte leicht den Kopf.

»Das, Dr. Montgomery, ist Detective Inspector Archibald Primes. Er wird Sie hier im Yard einführen und Ihnen alles zeigen und beibringen, was Sie wissen müssen.« An Primes gewandt fügte er hinzu: »Dr. Montgomery ist unsere neue leitende Pathologin und sie hat den Wunsch geäußert in die Geheimnisse der kriminalistischen Ermittlung eingeweiht zu werden. Dafür eignet sich keiner besser als Sie, Primes.«

Ich?, wollte er entsetzt ausrufen, konnte sich glücklicherweise rechtzeitig bremsen.