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Der erfolgreiche Bankier Clive Barwick lässt Colin Bradley aus London einfliegen. Der Auftrag erscheint ihm seltsam, doch ein Attentat auf sein Leben und die Entführung von Barwicks attraktiver Sekretärin Lee Sullivan weckt schließlich sein Interesse. Ganz gleich an welcher Stelle er vorstellig wird, er stößt auf Ablehnung und kommt mit seinen Ermittlungen nicht wirklich voran. Als man ihm auch noch eine Falle stellt und er seine Lizenz verliert, scheint die Lage für ihn aussichtslos ...
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Seitenzahl: 188
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Ein riskanter Trick
Kriminalroman
Thomas Riedel
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
2. Auflage (überarbeitet)
Cover- und Buchgestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Cover- und Buchgrafiken:
© Depositphotos.com
ImpressumCopyright: © 2019 Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Einem gewissenlosen Feind gegenüber
greift selbst der Edle zur List.«
Japanisches Sprichwort
1
London, 1926
Die schrille Glocke beendete die knapp bemessene Frühstückspause im schottischen Zuchthaus ›Inveraray‹, dessen rückwärtige Gefängnismauer sich unmittelbar am Steilhang des Meeresarmes vom ›Loch Fyne‹ befand. Über zweihundert Gefangene erhoben sich scharrend und reihten sich paarweise im Mittelgang auf.
Der Wachhabende, Senior Prison Officer McNamara, stand unter der großen elektrischen Uhr und beobachtete aufmerksam das Manöver, indessen sein Kollege, Prison Officer Lester, die Männer mit seiner heiseren Kommandostimme antrieb. Es dauerte exakt fünfundvierzig Sekunden und alle standen militärisch korrekt in Reih und Glied.
McNamara warf einen Blick auf die Uhr und wirbelte, genau in dem Moment da der Sekundenzeiger die Zwölf passierte, wie gelangweilt seinen Hartholzstock herum. »Los!«, befahl er. »Abmarsch!«
Augenblicklich setzte sich die Schlange in Bewegung. Während die Männer in ihrer schwarzweiß gestreiften Sträflingskleidung an der Spitze den Mittelgang entlangmarschierten, traten die am Ende mit kleinen Schritten auf der Stelle. Sofort verdichtete sich das Geräusch der marschierenden Schritte im Zentraltrakt des Gebäudes zu einem rhythmischen Dröhnen.
McNamara, der etwas schneller als die Reihe ging, erreichte deren Spitze und lehnte sich am Zugang zu den Arbeitsräumen gegen die Wand. Von hier aus beobachtete er mit scharfen Augen, wie seine einzelnen Officers ihre Gruppen abriefen.
Erst jetzt, wo die Gefangenen die großen Werkstätten betraten, löste sich die militärische Formation auf. Hier im Zuchthaus von ›Inveraray‹ gab es technische Einrichtungen, die sich so mancher mittelständische Betrieb nicht leisen konnte – zum Beispiel gab es eine komplett ausgerüstete Lehrwerkstatt, eine Schlosserei und Klempnerei, auch ließ hier die Polizei ihr gerade erst eingeführtes ›Ford Modell T‹ warten. Dies aber nur von den zuverlässigsten Strafgefangenen der Stufe eins – also Langjährigen, die sich über die Jahre durch gute Führung ausgezeichnet hatten.
McNamara fingerte sich eine Zigarette aus der Brusttasche, zündete sie an und gab Lester einen Wink. »In welche Gruppe ist Doc Bunsh eingeteilt?«
»Der ist bei den Schlossern, Sir!«
»Danke.« McNamara nickte, überquerte zielstrebig den Mittelgang und betrat den Werkstattbereich. Die Zuchthäusler beachteten ihn nicht, aber das kümmerte ihn nicht, denn er wusste um deren Kodex sich nicht mit Aufsehern einzulassen. Für die Männer in diesem Zuchthaus gehörten Aufseher nicht zum Freundeskreis, sie waren der Feind und entsprechend verhielt man sich ihnen gegenüber. Er hatte zuvor Dienst im ›Duke Street Prison‹ von Glasgow getan, von den Zuchthäuslern augenzwinkernd ›Bridewell‹ genannt, und hatte sich umgewöhnen müssen, denn dort war einiges anders gewesen – Straftäter hatten mehr Kontakt gesucht und sich teils sogar angebiedert, um ihre mehr als üblen Lebensbedingungen zumindest ein wenig zu verbessern. Er erinnerte sich noch gut an das Lied, welches Passanten auf der Straße oft angestimmt hatten, wenn sie an dem Gefängnis vorbeikamen: ›There is a happy land, doon Duke Street Jail, where a' the prisoners stand, tied tae a nail. Ham an' eggs they never see, dirty watter fur yer tea; there they live in misery. God Save the Queen!‹ Hier aber waren Aufseher Luft für die Insassen, solange sie von ihnen nicht unmittelbar angesprochen wurden.
Vor einer Werkbank blieb er stehen und beobachtete Doc Bunsh eine Weile dabei, wie dieser mit einem Brenner Eisenstäbe zusammenschweißte. »Na, Doc«, gab er sich dann freundlich, »jetzt haben Sie es bald geschafft und kommen hier raus.«
Der Häftling löschte die Brennerflamme, straffte sich und schob langsam die Schutzbrille auf die Stirn. Ein höhnischer Zug trat in seine Mundwinkel. »Ist das nicht ein Jammer, Sir?«, spottete er knurrend. »Gerade jetzt, wo ich mich doch so gut eingelebt habe. Ist hier wirklich ein schönes Plätzchen, Officer … Glauben Sie mir, ich schlafe deswegen schon schlecht … Dieser Abschiedsschmerz wird mich noch umbringen.«
McNamara überging die Ironie des Gefangenen und streckte ihm seine Zigarettenschachtel entgegen. »Wie lange waren Sie eigentlich bei uns, Doc?«
Bunsh bediente sich aus dem Päckchen, setzte mit einem leisen Knall den Schweißbrenner wieder in Gang und zündete die Zigarette an. »Das sind jetzt drei Jahre, Sir … Ich bin hier länger als Sie.«
»Drei Jahre sind nicht viel«, erwiderte McNamara lächelnd.
»Wenn man eingesperrt ist schon. Es kommt halt immer ganz auf die Sicht der Dinge an, nicht wahr?« Bunsh musterte ihn argwöhnisch. »Hören Sie, Officer, Sie wollen doch etwas von mir … Spucken Sie es aus. Ich bin nicht blöd. Wenn Sie mir auf kameradschaftliche Tour eine Zigarette anbieten, dann steckt doch etwas dahinter!«
McNamara lächelte vielsagend. »Weshalb sind Sie eigentlich hier, Doc?«
»Das wissen Sie doch so gut wie ich, Sir. Das Gericht hat sich der größten Rechtsbeugung der letzten zehn Jahre schuldig gemacht!«
Diese Leier kannte McNamara nur zu gut. Hier im Zuchthaus gab es kein Dutzend Häftlinge, die zugaben, dass sie tatsächlich zu recht einsaßen. »Soweit mir bekannt ist, war das Gericht der Überzeugung, Sie wären an einem Bankraub beteiligt gewesen. Zwei Zeugen haben Sie als einzigen Beteiligten ohne jeden Zweifel identifiziert.«
Bunsh zeigte ihm die Zähne. »Ich war zufällig im Schalterraum, als die Kerle eindrangen … Mit denen hatte ich nicht das Geringste zu schaffen. Ich wollte für mich einfach nur ein Sparkonto eröffnen.«
»Sie hatten nicht einmal ein Pfund in der Tasche«, schmunzelte McNamara.
»Ich hatte das Geld verloren, aber wie hätte ich das denn ahnen können, als ich vor dem Schalter stand?«
»Und um die Mindesteinlage aufzubringen, waren Sie den Bankräubern dabei behilflich, den Tresor auszuräumen, wie?« McNamara konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Die haben mich dazu gezwungen, Sir. Schließlich hielt mir die Bande ihre Kanonen vor die Nase.«
»Verstehe!«, nickte McNamara und fügte, immer noch grinsend hinzu: »Und damit Ihnen das auf keinen Fall ein zweites Mal passieren konnte, haben Sie sich verkrochen und trugen zwei Pistolen bei sich als Scotland Yard sie aufstöberte.« Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nase hinaus. »Ja, Doc, ich muss gestehen: Sie sind schon ein ausgesprochener Pechvogel. Aber wissen was, … damit Ihnen das nicht noch einmal passiert, will ich Sie sprechen.« Er sah den Gefangenen offen an. »Was werden Sie eigentlich machen, wenn Sie uns verlassen?«
»Keine Ahnung«, brummte Bunsh.
»Haben Sie denn etwas gelernt?«, wollte McNamara wissen.
»Hier im Knast schon.«
»Und vorher?«
»Nichts«, murmelte Bunsh und aschte auf den Werkstattboden.
»Das ist nicht gerade viel«, bemerkte McNamara bedächtig. »Wir haben Ihnen hier Einiges beigebracht, aber wie der Erfinder des Schweißgerätes haben Sie sich nicht gerade angestellt. Sie werden es draußen nicht besonders leicht haben, Doc. Außerhalb dieser Mauern gibt es eine Menge guter Schweißer, die nicht im Zuchthaus waren.«
»Ich werde schon irgendwie zurechtkommen, Sir. Ihren guten Rat brauche ich dazu nicht«, knurrte Bunsh und sah ihn aufmerksam an. »Wer schickt sie eigentlich? Der Anstaltsgeistliche?«
McNamara ging nicht darauf ein.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Doc. Auf unserer letzten Sitzung haben wir besprochen, was wir für Sie tun können. Ich glaube, wir können Ihnen eine Stelle in ›Greshornish‹ verschaffen. Dort gibt es einen Mann, den es nicht stört, dass Sie bei uns drei Jahre abgerissen haben.«
»›Greshornish‹?«, kam es gedehnt.
»Ja! Das ist zwar ein gottverlassenes Nest im Nordwesten von Schottland, aber für Sie eine ehrliche Chance. Sie wissen doch, wenn Sie sich eine Weile anständig führen, wird Ihre Vergangenheit in Vergessenheit geraten.«
»›Greshornish‹?«, wiederholte Bunsh noch einmal. »Habe ich noch nie gehört.«
»Was ich Ihnen anbiete ist Arbeit … eine saubere, ehrliche Arbeit in einer Kleinstadt, wo Sie überhaupt nicht erst auf dumme Gedanken kommen.«
»Aber, Sir! … Ich habe keine Bewährungsauflage.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Also kann ich tun und lassen, was ich will, wenn ich hier rauskomme. Behalten Sie diesen Job für sich.«
»Nehmen Sie sich Zeit darüber nachzudenken, Doc. Es ist das Beste, was wir Ihnen anbieten können. Nicht viele hier haben eine solche Chance. Die Arbeit wird ordentlich bezahlt und …«
»Das ist nichts für mich«, fiel Bunsh ihm ins Wort. »›Greshornish‹, keine Ahnung wo das liegt! Nein, wirklich nicht! … Hier im Zuchthaus haben Sie vielleicht etwas zu sagen, aber in drei Tagen bin ich ein freier Mann, und dann muss ich mir Ihre gut gemeinten Ratschläge nicht mehr anhören.«
McNamara ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie lehnen also ab?«
»Endgültig!«
»Ganz wie Sie wollen, Doc.« Er wandte sich ab und verließ die Werkstatt.
*
Etwa zwanzig Minuten später war er im Ostflügel des Gebäudes und saß dem Direktor des Zuchthauses gegenüber. »Er hat abgelehnt!«
Sein Gegenüber nickte, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. »Damit hatte ich eigentlich gerechnet«, erwiderte der Leiter des Gefängnisses mit einem zufriedenen Lächeln. »Ehrlich gesagt, McNamara, ich hätte gar nicht gewusst, was zu tun ist, wenn er darauf eingegangen wäre. Schließlich gibt es in ›Greshornish‹ niemanden, der ihn haben will.«
»Und was machen wir jetzt?« McNamara strich sich nachdenklich übers bärtige Kinn.
»Jetzt? … Wir lassen die Aktion wie geplant anlaufen. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass Bunsh der einzige Trumpf in dem Spiel ist, den wir haben. Wenn diese Glenconner-Bande tatsächlich existieren sollte, ist er unsere einzige reelle Chance, an sie heranzukommen.«
»Ich weiß nicht …«, brummte McNamara. »Mir kommt die Sache recht komisch vor. Da hat es eine Anzahl Verbrechen gegeben, die für Schlagzeilen gesorgt haben und nicht aufgeklärt werden konnten. Und ja, es wurde immer wieder die Vermutung aufgestellt, dass diese Bande ihre Finger im Spiel gehabt hatte … nur fehlt dazu bislang jeder Beweis. Wer sagt uns denn, dass es wirkliche diese Gruppe und nicht eine ganz andere war? Mich persönlich erinnert das Ganze fatal an die Methode, jedes Verbrechen zunächst einmal den gerade prominentesten Kriminellen in die Schuhe zu schieben. Denken Sie an die Morde Mitte der 1880er Jahre und die Angst vor Jack the Ripper!«
»Mag sein. Das herauszubekommen ist aber nicht unsere Aufgabe«, korrigierte ihn der Direktor. »Wir folgen den Anweisungen, die man sich bei Scotland Yard ausgedacht hat. Immerhin ist man dort der Meinung, dass Bunsh das einzige Mitglied dieser kriminellen Vereinigung sei, welches man bislang erwischt habe.«
»Der Meinung sein bedeutet nicht, dass es auch so ist«, beharrte McNamara.
»Wie auch immer! Es ist deren Entscheidung und nicht unsere«, gab der Direktor zurück und machte eine wegwischende Handbewegung. »Letztlich spricht ja auch einiges dafür. Das Arbeitsangebot in ›Greshornish‹ war ein letzter Versuchballon. Bunsh hätte wohl kaum abgelehnt, wenn er nicht damit rechnen würde, nach seiner Entlassung woanders unterzukommen, oder?«
»Dennoch wäre es doch das Vernünftigste gewesen, den Mann nach seiner Freilassung einfach zu beschatten«, blieb McNamara bei seiner Auffassung. »Ich finde, dass ist immer noch der sicherste Weg herauszufinden, in welcher Branche er einzusteigen gedenkt ...«
»… und ganz sicher genau der Weg, mit dem Bunsh rechnet«, unterbrach ihn der Direktor. »Nein, McNamara, da halte ich es doch mit dem Vorgehen des Yards.« Er warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr und fügte hinzu, als er wieder aufsah: »Und jetzt lassen Sie mich bitte allein. Ich muss telefonieren.«
2
Doc Bunsh verbrachte, wie auch andere Häftlinge der Stufe 2, seine Mittagspause im Gefängnishof. Still saß er auf der obersten Stufe der Treppe, die zum Sportplatz hinunterführte und beobachtete seine Mitgefangenen. Die kurz bemessene Zeit nach dem Essen, war die einzig freie des Tages, und die, bei der er sich weniger wie ein Zuchthäusler vorkam – denn außer ein paar Sicherungsposten war niemand, der ihn und die anderen bewachte. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass sie mehr als die Hälfte des Areals erreichte, und wenn er die Augen schloss, kam es ihm fast vor wie vor Jahren, als er noch in Brighton lebte.
Er war sehr darauf bedacht gewesen, seine Sicherheitsstufe nicht zu verlieren – und hatte sich dementsprechend nicht immer von seiner besten Seite gezeigt. Dazu gehörte auch, keinem Streit mit einem Mitgefangenen aus dem Weg zu gehen. Er hatte sich Einiges davon versprochen in dieser Gruppe zu bleiben, denn erstens war sie zahlenmäßig die stärkste und zweitens bekamen alle Neuzugänge automatisch diese Stufe. Das war die beste Chance Nachrichten von draußen zu bekommen. Auch hatte ihm sein hartes Vorgehen den Respekt der anderen eingebracht. Niemand wagte es, sich einfach neben ihn auf die oberste Stufe zu setzen oder ihm gar den Platz streitig zu machen. Und letztlich war Stufe 1 für die Privilegierten, die zwar eine Menge Vorteile genossen, dafür aber von ihren Mitinsassen verachtet wurden.
In die Stufe 3 zu kommen hingegen war schon gleich viel leichter. Dazu reichte es sich mit den Aufsehern anzulegen, was er stets vermieden hatte. Außerdem brachte das in der Regel direkt Einzelhaft und Sonderbehandlungen mit sich – nicht zu vergessen, dass sich die Zeit im Zuchthaus nicht gerade geringfügig verlängern konnte.
Für ihn, der sich ausrechnen konnte, wann er entlassen wurde, war die Stufe 2 eine ideale Sache. Er fiel auf, aber nicht allzu sehr, hatte sich Respekt verschafft und war sich selbst treu geblieben, die drei Jahre möglichst komplikationslos hinter sich zu bringen – was ihm ja auch geglückt war.
Er hatte sich aus den Tabakresten in seinem Beutel eine Zigarette gedreht und angezündet, ehe er sich erhob, auf den Hof schlenderte und vor einem Mann mit einem Blumenkohlohr stehenblieb.
»Hallo, Nat!«, begrüßte er ihn diskret. »Gibt es was Neues?«
Der Mann war gerade einmal etwas größer als fünf Fuß und wirkte mit seinen einhundertfünfundzwanzig englischen Pfund ausgemergelt, ähnlich einem Drogensüchtigen. Doch, so behaupteten Freunde, die ihn schon ewig kannten, hätte er schon immer so hager und zerbrechlich ausgesehen. Er hatte weißes Haar, und in seinem Gesicht sprossen Barthaare in den absonderlichsten Winkeln wie Korkenzieher. Er schob die Drillichärmel zurück und kratzte sich am Hinterkopf. »Eine Menge, Doc, eine ganze Menge. Im Parlament beraten sie gerade ein Gesetz, wonach einige Gefängnisse umgebaut werden müssen …« Nat Bushwick war das Ohr und die Stimme des Zuchthauses. Er war verantwortlich für die einmal wöchentlich erscheinende Gefängniszeitung und genoss einige Vorrechte. So konnte er sich zum Beispiel relativ frei bewegen und mit anderen Insassen darüber sprechen, wie sie über gewisse Dinge dachten. Er veröffentlichte auch die Todesanzeigen und Meldungen über Entlassungen – beides in ein und derselben Rubrik. Sein Journal konnte jeder im Knast abonnieren, sofern er nicht der Stufe 3 angehörte. »… der moderne Strafvollzug ist im Kommen, und ich, mit meinen noch verbleibenden zweiundzwanzig Jahren, werde ihn erleben.«
Bunsh nickte. Dann sah er sich kurz nach allen Seiten unauffällig um und fragte leise: »Gibt es schon eine Nachricht für mich?«
»Wo denkst du hin?«, protestierte Bushwick. »Ich bin leider nicht ganz so unabhängig wie der ›Daily Telegraph‹ oder die ›Sunday Times‹. Oder glaubst du allen Ernstes, ich würde von der Verwaltung ein Telefon genehmigt bekommen?«
»Mist!«, fluchte Bunsh, wobei er seine aufgerauchte Zigarette auf den Boden warf und mit dem Absatz seines Schuhs austrat.
Bushwick musterte ihn neugierig. »Sag mal, Doc, ist es wahr, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt, … dass sich Glenconner um dich kümmern wird, wenn du rauskommst?«
»Darüber rede ich nicht«, zeigte sich Bunsh zugeknöpft. »Du bist nicht der Einzige, der das wissen will. Scotland Yard ist auch der Meinung, dass ich mit dem etwas zu tun habe. Die bilden sich wahrscheinlich ein, dass sie durch mich herausbekommen, wer er ist … Aber da täuschen sie sich gewaltig.«
»Sei doch nicht gleich so hitzig, Doc!«, reagierte Bushwick beschwichtigend. »Ich will das ja nicht für mein Blatt wissen. Es interessiert mich halt persönlich, ob es diesen geheimnisvollen Glenconner wirklich gibt. Immerhin kursieren ja so einige wilde Geschichten über ihn …«
Bunsh grinste.
Bushwick war der einzige Gefangene, der in Stufe 1 war und sich dabei das Ansehen der anderen bewahrt hatte. »Also, mir kannst du es doch verraten«, nahm er einen neuen Anlauf. »Ich bin doch nicht blind. Seit einer Woche löcherst du mich, ob es eine Nachricht für dich gibt ... Und mal ehrlich: Wer sonst als dein geheimnisumwitterter Glenconner sollte dir eine Nachricht schicken?«
»Hast du schon einmal an eine Freundin gedacht?«, schmunzelte Bunsh.
»He, ihr zwei!«, unterbrach sie plötzlich eine dröhnende Stimme. »Was soll das heißen: Nachricht schicken? Los, raus mit der Sprache!«
Bunsh und Bushwick fuhren auseinander. Vor ihnen hatte sich Prison Officer Lester aufgebaut – massig und fett. Er war der meistgehasste Aufseher hinter den über einhundert Jahre alten Mauern. Lautlos hatte er sich ihnen genähert.
»Tja, Sir«, gab Bushwick gedehnt zurück, »falls Sie es noch nicht herausgefunden haben sollten: Ich bin zufällig der Herausgeber der Knastzeitung von ›Bridewell‹, und die lebt nun einmal Nachrichten jeder Art. Bei der ›LondonTimes‹ ist das nicht anders.« Er sah den Schließer herausfordernd an. »Aber, wenn Sie das nicht verstehen: Ich erkläre es Ihnen gern im Detail …«
Lester hob sofort seinen Knüppel und ließ ihn einmal kräftig durch die Luft sausen. »Nimm bloß dein Maul nicht so voll, Bushwick! Es könnte sonst schnell passieren, dass dein Mistblatt eingeht, weil sein Herausgeber in Einzelhaft sitzt!« Dann richtete er sich an beide. »Ihr müsst mich nicht für bescheuert halten! Ich habe gleich mitbekommen, dass hier was läuft … Also?« Er starrte sie abwartend an, aber vergeblich. »Mistkerle!«, knurrte er daraufhin. »Jedenfalls habe ich gut zugehört und weiß Bescheid! … Bilde dir bloß nicht ein, dass deine Entlassung bereits in trockenen Tüchern ist, Doc!« Damit wandte er sich ab und gab noch ein ›Du wirst noch von mir hören!‹ von sich.
»Ob er wirklich was aufgeschnappt hat?«, fragte Bunsh, als Lester fort war.
»Ach woher denn«, beruhigte ihn Bushwick. »So langsam solltest du ihn aber kennen. Wenn er wirklich etwas wüsste, hätte er uns schon an den Ohren zu McNamara geschleift und über ihn zum Anstaltsleiter. Lester wartet doch schon seit mindestens zehn Jahren darauf, eine echte Verschwörung aufzudecken, um darüber endlich befördert zu werden.« Dann klopfte er ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Nimm es mir nicht übel, aber ich hau jetzt ab … Ich muss noch einen neuen Gast begrüßen.«
»Haben wir einen prominenten Zugang?«
»Nun, das will ich wohl meinen. Glasgow-Ambrose, falls dir das was sagt. Der beste Schränker, den das britische Empire je gesehen hat.« Als Bunsh den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Den haben sie geschnappt, als er über fünfzigtausend Pfund Sterling in einer Bank abheben wollte, bei der er gar kein Kunde war.« Bushwick machte sich auf die Socken, schlängelte sich durch die in Gruppen herumstehenden Männer und verschwand gleich darauf im Hauptgebäude.
Nachdenklich zog Bunsh seinen Tabakbeutel heraus und rollte sich eine frische Zigarette. Als er das Papier mit der Zunge befeuchtete, blieb ein Mithäftling vor ihm stehen, den er nicht kannte. Der Mann konnte erst vor kurzem eingeliefert worden sein.
»Bist du Doc?«
»Bin ich«, knurrte Bunsh. »Wenn du ein medizinisches Problem hast, musst du dir jemand anders suchen. Ich werde nur so gerufen … bin kein Arzt!«
»Ich brauche auch keinen Arzt«, erwiderte der andere frech grinsend. »Ich bin nur ein Bote, der dir was ausrichten soll.«
»Und was bitte schön?« In Bunshs Frage schwang ein genervter Unterton mit.
»Glenconner wartet auf dich!«
Bunsh sah ihn überrascht an. »Und das hat er dir selbst gesagt?«
Der Mann gab ihm darauf keine Antwort. Stattdessen sah er ihn ausdruckslos an und wandte sich ab.
Erst in diesem Augenblick bemerkte Bunsh, dass er einen Aufnäher trug, wie ihn all die Lebenslänglichen hier bekamen.
3
Die überbrachte Nachricht versetzte Bunsh in Hochstimmung. Seit er im Zuchthaus eingefahren war, hatte er nichts mehr von Glenconner gehört, dem Mann, der eine perfekte Organisation aufgebaut hatte und dessen Existenz dennoch von den meisten bezweifelt wurde. Er selbst wusste nur, dass es Glenconner gab – aber auch nicht mehr. Eines jedoch war für ihn klar: Es war richtig gewesen McNamaras Vorschlag abzulehnen.
Gegen neun Uhr am Abend tauchte Bushwick vor seiner Zelle auf. »Jetzt das Neueste vom Tag, Doc«, begann er und verkündete: »Du bekommst einen neuen Nachbarn!«
Bunsh sah ihn neugierig an. »Und? Wer ist es?«
»Glasgow-Ambrose! Damit bekommst du den prominentesten Gast dieses Etablissements zum Nachbarn. Du kannst ja schon mal das Empfangskomitee mobilmachen. Soviel ich gehört habe, bevorzugt der Bursche französischen Champagner.«
»He, Bushwick!«, nagelte ihn Lesters donnernde Stimme fest. »Steckst du schon wieder mit Bunsh unter einer Decke?« Während er ihm das zurief, kam er eilig näher.
»Ich veranstalte gerade eine Umfrage«, stellte Bushwick ungerührt fest.
»Ach, tust du das?«, spottete der Aufseher.
»Aber sicher.« Bushwick wandte sich an Bunsh. »Und? Kannst du mir nun sagen, was die irischen Schlangen machten, nachdem der Heilige Patrick sie ins Meer gejagt hat?«
»Was soll der Käse?«, knurrte Lester.
»Sie schwammen durch die Irische See, und als sie in Großbritannien ankamen, da wurden sie Zuchthauswärter«, erklärte Bushwick grinsend und bekam dafür lachenden Beifall von anderen Gefangenen.
Lester reagierte entsprechend säuerlich. »Du kommst auf der Stelle mit, Bushwick!«, befahl er. »Wenn du glaubst, dass du mir auf der Nase herumtanzen kannst, dann hast du dich geschnitten!« Wieder pfiff sein Knüppel durch die Luft und wies den Weg.
Die Männer hörten noch, wie Bushwick sich empört beschwerte: »Von Pressefreiheit haben Sie anscheinend noch nie etwas gehört, oder?«
»Habe ich es nicht immer gesagt, dass er mit seinem losen Mundwerk mal anecken wird?«, meldete sich McMasters aus seiner Zelle – ein Mittdreißiger, der wegen Scheckbetrugs einsaß.
»Mach dir um ihn keine Sorgen«, schmunzelte Bunsh. »Du weißt doch, dass er beim Direktor einen Stein im Brett hat.«
»Mag ja sein, aber diesmal geht er baden«, erwiderte McMasters überzeugt und fragte in die Runde: »Wer ist eigentlich dieser Glasgow-Ambrose, von dem er gesprochen hat?«
»Keine Ahnung«, meldete sich einer. »Würde mich auch interessieren.«
»Das wundert mich nicht. Ihr seid einfach schon viel zu lange hier«, mischte sich Hardcastle ein, der in Scarborough mit Rauschgift gehandelt hatte und inzwischen seit vier Monaten zu Bunshs unmittelbaren Nachbarn gehörte. »Der Kerl ist eine echte Größe. Seinen Spitznamen hat er bekommen, weil er aus Glasgow stammt und dort seinen ersten Coup gelandet hat. Das ist zwar gerade erst ein Jahr her, aber er hat sich seitdem einen ausgezeichneten Ruf als Schränker erworben. Man erzählt sich, es gäbe keinen zweiten wie ihn, der soviel von aktuellen Sicherungsanlagen versteht.«
»Also mal ehrlich, erzählt wird ja viel«, entgegnete McMasters wenig überzeugt. »Da muss man sich doch fragen, warum er hier gelandet ist, wenn er angeblich so eine große Nummer ist, oder?«
»Keine Ahnung«, gestand Hardcastle. »Ich weiß nur, dass er ein absoluter Einzelgänger ist. Und genau das ist seine Stärke.«
»Wieso?«