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Jon Lee Anderson

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Beschreibung

Wichtige Augenzeugen sowie Ches engste Freunde und Mitkämpfer kommen hier zum Teil erstmals zu Wort. Egal ob Guerilleros in Bolivien, KGB-Angehörige in Moskau, CIA-Agenten in Miami, kubanische Geheimdienstoffiziere, Indios und selbst die Militärs, die Che exekutierten und heimlich seine Leiche verscharrten - mit wem auch immer Anderson sprach: Dem Charisma des faszinierenden Banditen konnte sich keiner entziehen.

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Das Buch

Bekannt ist Ernesto »Che« Guevara als idealistischer Revolutionär, dessen Traum es war, Lateinamerika durch eine bewaffnete Revolution ein für allemal von Elend und Unterdrückung zu befreien. Dieses Buch verfolgt die Spuren des Freiheitskämpfers von der Kindheit bis zu seinem gewaltsamen Tod. Mit Hilfe von Ches Witwe Aleida March, die sich erstmals zu einem Interview bereit erklärte, konnte der Autor auch Ches ganz persönliche Dokumente einsehen – so gelang es, die Kultfigur »Che« wieder zu dem Menschen werden zu lassen, der er wirklich war.

Der Autor

Der Journalist Jon Lee Anderson arbeitete u.a. für die Magazine Time, Harper’s, Life und Nation und trat als Autor des erfolgreichen Buches Guerrillas an die Öffentlichkeit. Für die Recherchen zu seiner Che-Biographie lebte er mit Familie drei Jahre auf Kuba.

Jon Lee Anderson

CHE

Die Biographie

Aus dem Englischen von Barbara Steckhan, Gabriele Gockel Christiane Krieger, Sonja Schuhmacher Kollektiv Druck-Reif

List Taschenbuch

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Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juni 2019

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2002 für die deutsche Ausgabe by

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

© 2001 für die deutsche Ausgabe by

Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

© 1997 für die deutsche Ausgabe by Paul List Verlag, München

© 1997 by Jon Lee Anderson

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Che Guevara.

A Revolutionary Life« bei Grove Press, New York

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: René Burri, Magnum Photos

Redaktion: Boris Heczko, Kollektiv Druck-Reif

ISBN 978-3-8437-1085-5

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Für Erica und in Gedenken an meine Mutter Barbara Joy Anderson 1928–

VORWORT

Es war eine eher beiläufige Äußerung, die bei einem langen Gespräch im November 1995 fiel. Im Garten seines Hauses in einem Außenbezirk der bolivianischen Stadt Santa Cruz eröffnete mir der pensionierte General Mario Vargas Salinas, welche Rolle er bei der geheimen Bestattung jenes Mannes spielte, den er vor achtundzwanzig Jahren verfolgt hatte. Die Rede war von dem in Argentinien geborenen Revolutionär Ernesto »Che« Guevara.

Damit wurde eines der am längsten gehüteten Geheimnisse Lateinamerikas gelüftet. Im Oktober 1967 hatte das bolivianische Militär in Gegenwart eines CIA-Agenten Fidel Castros engsten Mitarbeiter gefangengenommen und ermordet, doch niemand wußte, was mit seiner Leiche geschehen war. Nun erzählte mir Vargas Salinas, daß Che – dem man die Hände abgeschnitten hatte – und mehrere seiner Genossen in einem Massengrab neben der Landebahn in der Nähe der bolivianischen Gebirgsstadt Vallegrande begraben worden waren. Die Offiziere, die den berühmtesten und charismatischsten Guerillakämpfer der Welt schachmatt gesetzt hatten, verweigerten ihm ein Grab, weil es zur Pilgerstätte für seine Anhänger hätte werden können. Mit der Leiche, so hofften sie, würde auch der Mythos Che Guevara verschwinden.

Statt dessen aber nahm der Mythos immer gewaltigere Dimensionen an. Millionen trauerten um Ches Tod. Dichter und Philosophen schrieben Elogen auf ihn, er wurde in Liedern besungen, sein Porträt erschien auf unzähligen heroischen Plakaten. Marxistische Guerilleros in Asien, Afrika und Lateinamerika hielten sein Banner hoch, wenn sie in die Schlacht zogen. Und als die Jugend in den Vereinigten Staaten und Westeuropa gegen die etablierte Ordnung, den Vietnamkrieg und rassistische Vorurteile auf die Straße ging, wurde das Porträt Ches mit seinem herausfordernden Blick das Symbol ihrer leidenschaftlichen, wenn auch im großen und ganzen vergeblichen Revolte. Ches Leichnam mochte verschwunden sein, aber sein Geist lebte weiter; Che existierte nicht mehr und war doch überall gegenwärtig.

Wer war dieser Mann, der mit sechsunddreißig Jahren seine Frau und fünf Kinder verließ, auf seine Ehrenbürgerschaft, seinen Ministerposten und seinen Rang als Militärbefehlshaber im revolutionären Kuba verzichtete, weil er hoffte, eine »Revolution auf dem ganzen Kontinent« in Gang zu setzen? Was trieb diesen Sohn einer aristokratischen argentinischen Familie, diesen Doktor der Medizin dazu, die Welt verändern zu wollen?

All diese Fragen bewegten mich schon seit längerem. Mein Interesse für Che wurde erstmals in den achtziger Jahren geweckt, als ich für ein Buch über die heutigen Guerilla Recherchen anstellte. Dabei fiel mir auf, daß Che auf den Schlachtfeldern Birmas, El Salvadors, der Westsahara und sogar im islamischen Afghanistan immer noch die Verehrung von Guerillakämpfern verschiedenster Couleur genoß. Seine Schriften über den Guerillakrieg und mehr noch die revolutionären Prinzipien, die er verkörperte – Selbstaufopferung, Integrität und leidenschaftliches Engagement für die Sache –, hatten ganz unabhängig von der jeweiligen Ideologie und trotz der langen Zeit, die seit seinem Tod verstrichen war, ihre Gültigkeit nicht verloren und übten auch auf die neue Generation der Kämpfer und Träumer eine große Faszination aus.

Ich machte mich auf die Suche nach Literatur über Che Guevara. Es gab nur wenige Bücher, die noch lieferbar waren, und keine einzige nennenswerte aktuelle Biographie; die meisten waren entweder offizielle kubanische Hagiographien oder nicht minder uninteressante Verteufelungen aus der Feder seiner ideologischen Gegner. Da viele Einzelheiten im dunkeln lagen, wurde mir bald klar, daß Ches Biographie erst noch geschrieben werden mußte. Diese Lücken in seiner Geschichte aber gaben Rätsel auf, deren Lösung, wie ich mehr und mehr erkannte, ein Licht auf höchst bedeutsame, aber kaum bekannte Aspekte des Kalten Krieges werfen würde: die Unterstützung der Guerillabewegungen durch das revolutionäre Kuba und die zahlreichen Stellvertreterkriege in der Dritten Welt, die von Ost und West geführt wurden.

Wie mir schien, war die Antwort auf die meisten Fragen in Kuba zu finden. Als ich 1992 dorthin fuhr, herrschte große Verwirrung, denn soeben war die Sowjetunion auseinandergebrochen, die dreißig Jahre lang ihre schützende Hand über Fidel Castro gehalten hatte. Castro geriet ein wenig ins Wanken, doch er beugte sich nicht; unerschütterlich hielt er das Banner des Sozialismus hoch, obwohl das kubanische Staatsschiff unter ihm zu sinken drohte.

Bei einem zweiten Besuch im selben Jahr lernte ich Ches Witwe Aleida March kennen, und sie erklärte sich bereit, mich bei meiner Biographie über ihren verstorbenen Ehemann zu unterstützen. Anfang 1993 zog ich mit meiner Familie nach Havanna, wo wir fast drei Jahre bleiben sollten. Ich versuchte, mit Hilfe von Ches Witwe – und darüber hinaus durch Recherchereisen nach Argentinien, Paraguay, Bolivien, Mexiko, Rußland, Schweden, Spanien und in die Vereinigten Staaten – herauszufinden, wer dieser Che Guevara gewesen war und was sich in seinem Leben abgespielt hatte. Vor allem versuchte ich, etwas über den Menschen in Erfahrung zu bringen, der sich hinter dem Mythos Che verbarg. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner fünfjährigen Bemühungen, diesem Ziel näher zu kommen.

Der Mythos Che besitzt immer noch Faszination, er gibt Anlaß zu erbitterten Auseinandersetzungen und führt zu politischen Eklats. Die Informationen, die mir General Vargas Salinas anvertraute, legten eine Spur, die zu einer ganzen Kette neuer Erkenntnisse nicht nur über den Tod Che Guevaras, sondern auch über sein Leben führte. Und sie riefen in Bolivien einen wahren Aufruhr hervor.

Auf Drängen der Presse erteilte der bolivianische Präsident dem Militär den Auftrag, die Leichen Che Guevaras und der zwei Dutzend Guerilleros, die man mit ihm hatte verschwinden lassen, zu suchen und zu exhumieren. Das darauf folgende Spektakel, bei dem ehemalige Guerilleros, Soldaten und Gerichtsexperten unter den Blicken der Schaulustigen und Journalisten am Stadtrand von Vallegrande den Boden aufgruben, riß in Bolivien viele alte Wunden auf: Die schmutzigen Einzelheiten einer lange als Staatsgeheimnis betrachteten Episode drohten ans Licht zu kommen. Die bolivianischen Streitkräfte befolgten zwar den Befehl ihres – zivilen – Präsidenten, waren aber verärgert über den »Verrat« von General Vargas Salinas, der schließlich unter Hausarrest gestellt wurde. In Vallegrande wurde die Suche fortgesetzt, doch wegen der ungenauen Angaben dauerte es mehrere Wochen, bis man endlich die Überreste von vier Guerilleros barg. Dann verlor sich die Spur abermals. Im Januar 1997 zumindest hatte man immer noch nicht gefunden, was man eigentlich suchte: das Skelett eines Mannes ohne Hände.

ERSTER TEIL

Unruhige Jugend

1

Eine Mate-Pflanzung in Misiones

I

Das Horoskop sorgte für Verwirrung. Falls der berühmte Guerillaführer und Revolutionär Ernesto »Che« Guevara wirklich am 14.Juni 1928 das Licht der Welt erblickt hatte, wie es in seiner Geburtsurkunde stand, dann war er ein Zwilling – und ein besonders langweiliger noch dazu. Die Astrologin, eine Freundin von Ches Mutter, rechnete mehrmals nach, doch das Ergebnis war immer dasselbe: Laut Horoskop war Che ein farbloser, unselbständiger Mensch, der ein eintöniges Leben führte. Entweder stimmte ihr persönliches Urteil über Che, oder ihre astrologischen Fähigkeiten waren keinen Pfifferling wert.

Als man ihr das triste Horoskop zeigte, mußte Ches Mutter lachen. Dann vertraute sie ihrer Freundin ein Geheimnis an, das sie seit mehr als drei Jahrzehnten wohl gehütet hatte. In Wirklichkeit war ihr berühmter Sohn einen Monat eher zur Welt gekommen, am 14.Mai. Somit war er also kein Zwilling, sondern ein willensstarker, entschlossener Stier.

Auf dieses Täuschungsmanöver hatte sie zurückgreifen müssen, weil sie am Tag ihrer Hochzeit mit Ches Vater schon im dritten Monat schwanger war. Deshalb zog das Paar auch gleich nach der Hochzeit aus Buenos Aires fort und ließ sich im Dschungel von Misiones nieder.

Während Celias Mann eine Mate-Pflanzung aufbaute, trug sie fernab von den neugierigen Blicken der Gesellschaft in Buenos Aires das Kind aus. Als der Geburtstermin näherrückte, fuhr sie in die Stadt Rosario am Río Paraná, wo sie von ihrem Sohn entbunden wurde. Und um dem Paar einen Skandal zu ersparen, setzte ein befreundeter Arzt einen um einen Monat späteren Geburtstermin in die Urkunde.

Als der Säugling einen Monat alt war, erzählten die beiden Eltern ihren Angehörigen, sie hätten versucht, nach Buenos Aires zu kommen, doch in Rosario hätten bei Celia vorzeitige Wehen eingesetzt. Ein Sieben-Monats-Kind ist schließlich nicht so selten. Sofern von den Freunden und Verwandten jemand Zweifel an dem Geburtsdatum hegte, behielt er sie für sich.

Wäre das Kind nicht zu dem berühmten Revolutionär »Che« Guevara herangewachsen, hätten die Eltern ihr Geheimnis wahrscheinlich mit ins Grab genommen. Jedenfalls gehört Che zu den wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, bei denen sowohl das Geburts- als auch das Todesdatum gefälscht wurden. Aber irgendwie paßt es ins Bild, daß schon die Geburt des Mannes, der den Großteil seines Lebens mit konspirativen Aktivitäten verbringen und schließlich einer Verschwörung zum Opfer fallen sollte, von einem Geheimnis umgeben war.

II

Als Ernesto Guevara Lynch im Jahre 1927 seine zukünftige Frau Celia de la Serna kennenlernte, hatte sie gerade die exklusive katholische Mädchenschule Sacré-Cœur abgeschlossen. Die auffallend schöne Zwanzigjährige mit der gebogenen Nase, dem lockigen dunklen Haar und den braunen Augen entstammte einer der besten Familien Argentiniens, die ihre Ursprünge direkt auf die spanischen Eroberer zurückführen konnte. Bei Erreichen der Volljährigkeit sollte Celia, seit der Kinderzeit Vollwaise, ein ansehnliches Vermögen erben.

Der siebenundzwanzigjährige Ernesto Guevara Lynch hingegen war weder besonders groß noch besonders attraktiv. Er hatte ein markantes Kinn und ausgeprägte Backenknochen, und mit seiner Brille – er litt unter Astigmatismus – hätte er eher wie ein durchschnittlicher Büroangestellter gewirkt, wenn da nicht sein überschwengliches, geselliges Wesen, sein aufbrausendes Temperament und seine blühende Phantasie gewesen wären. Auch er stammte aus einer angesehenen Familie; sein Urgroßvater war einer der reichsten Männer Südamerikas gewesen, und zu seinen Vorfahren zählten sowohl spanische als auch irische Adlige. Allerdings hatte die Familie den Großteil des Vermögens im Laufe der Jahre verloren.

Als Ernesto Guevara Lynch neunzehn war, starb sein Vater, und der junge Mann brach sein Architektur- und Ingenieurstudium ab. Er suchte das Abenteuer, wollte sein Glück machen, und als Startkapital diente ihm dazu das bescheidene Erbe seines Vaters.

Den Großteil dieses Vermögens investierte er bei einem reichen Verwandten in eine Jachtwerft. Doch obwohl er in der Astillero San Isidro eine Zeitlang als Aufseher tätig war, konnte das Unternehmen sein Interesse nicht auf Dauer fesseln. Und so ließ er sich zu der Zeit, als er Celia kennenlernte, nur zu gern für ein neues Projekt begeistern. Ein Freund erzählte ihm, er könne ein Vermögen machen, wenn er eine Pflanzung mit yerba mate betriebe, jenem stimulierenden Tee, den Millionen von Argentiniern liebten.

Wenn man von Buenos Aires tausendachthundert Kilometer den Paraná flußaufwärts fährt, gelangt man nach Misiones, jener nördlichen Region, wo Argentinien an Paraguay und Brasilien grenzt. In diesem traditionellen Mate-Anbaugebiet war Land billig. Doch Guevara Lynchs Vermögen steckte noch in der Jachtwerft. Das Paar war auf Celias Erbe angewiesen, um das Land für die Mate-Pflanzung zu kaufen und in das lukrative Geschäft mit dem »grünen Gold« einzusteigen.

Doch Celias gesamte Familie sprach sich gegen eine Heirat mit diesem unliebsamen Bewerber aus. Celia, die noch nicht einundzwanzig war, brauchte die Zustimmung ihrer Angehörigen – sowohl zur Heirat als auch, um das Erbe überschrieben zu bekommen. Trotz all ihrer Bitten wurde ihr das Einverständnis verwehrt. Da sie inzwischen schwanger war, brannte sie mit Ernesto durch, und die Verzweiflungstat des jungen Paares zeitigte den gewünschten Erfolg. Die Familie erklärte sich mit der Heirat einverstanden; um an ihr Erbe zu gelangen, mußte Celia allerdings gerichtliche Schritte einleiten. Ein Richter sprach ihr einen Teil des Vermögens zu: eine Getreide- und Rinder-estancia in der Provinz Córdoba und einige Obligationen aus ihrem Treuhandfonds. Das reichte aus, um in Misiones eine Mate-Pflanzung zu erwerben.

Am 10.November 1927 wurde das Paar im Haus einer verheirateten älteren Schwester Celias getraut. Gleich danach flüchteten sie sich aus Buenos Aires in die Wälder von Misiones. »Wir überlegten uns gemeinsam, wie unser Leben aussehen sollte«, schreibt Guevara Lynch in einem viele Jahre später veröffentlichten Rückblick. »Die Frömmelei, die Prüderie, den engen Kreis von Freunden und Verwandten, die unsere Heirat verhindern wollten, ließen wir hinter uns.«

III

Mit Celias Geld kaufte Guevara Lynch zweihundert Hektar Urwald an den Ufern des Río Paraná. Auf einer Anhöhe über den kaffeebraunen Fluten und den dichten grünen Wäldern auf der anderen Seite des Flusses, die bereits zu Paraguay gehörte, ließen sie ein geräumiges Holzhaus auf Pfählen errichten. Zwar hatten sie die Annehmlichkeiten von Buenos Aires hinter sich gelassen, doch Guevara Lynch war begeistert. Er betrachtete den Urwald mit dem Auge eines Unternehmers, und seiner Vorstellung nach konnte die Zukunft nur glänzend werden.

Vielleicht hoffte er, wie einst seine Vorfahren sein Glück zu machen und reich zu werden, indem er sich mit einem kühnen Schritt in unerschlossenes Gebiet vorwagte. Für ihn war dies nicht eine der vielen rückständigen Provinzen Argentiniens, sondern ein aufregendes Land mit »wilden Tieren, gefährlichen Aufgaben, Raub und Mord, Wirbelstürmen, endlosem Regen und tropischen Krankheiten«.

Ihr Wohnhaus lag in einem Ort namens Puerto Caraguataí – der Name der eingeborenen Guaraní für eine schöne rote Blume. Der puerto allerdings war nicht mehr als ein einfacher Holzsteg. Von hier aus gelangte man in zwei Tagen zu dem alten Handelsposten Posadas, der Nachbarort, eine kleine deutsche Siedlung namens Montecarlo, lag knapp acht Kilometer entfernt.

Einige Monate lang genossen die Guevaras ihr neues Leben, sie richteten sich ein und erkundeten die Umgebung. Sie angelten, machten Bootsausflüge, ritten oder fuhren auf ihrem von einem Maultier gezogenen Einspänner nach Montecarlo.

Doch die Flitterwochen fanden bald ein Ende. Nach ein paar Monaten war Celia hochschwanger, und es wurde Zeit, in die Zivilisation zurückzukehren, wo sie bei der Geburt mit größerem Komfort und besserer medizinischer Versorgung rechnen konnte. Das Paar fuhr flußabwärts nach Rosario. In dieser 300000 Einwohner zählenden, bedeutenden Hafenstadt am Paraná bekam Celia ihren Sohn Ernesto Guevara de la Serna.

Während Celia sich von »Ernestitos« Geburt erholte, wohnten die Guevaras in einer geräumigen Wohnung in einem Neubaukomplex nahe dem Zentrum von Rosario, die sie extra zu diesem Zweck angemietet hatten und die auch in der Geburtsurkunde angeführt ist. Sie mußten allerdings länger bleiben, als geplant: Kurz nach der Geburt erkrankte der Säugling an einer Lungenentzündung. Guevara Lynchs Mutter Ana Isabel und seine unverheiratete ältere Schwester Ercilia kamen, um bei der Pflege zu helfen.

Laut Ches jüngerem Bruder Roberto hat die Mutter ihm erzählt: »Ernesto wurde am 14.Juni 1928 in Rosario in einem Krankenhaus geboren. Auf der Geburtsurkunde steht die Adresse, wo wir in den ersten Tagen gewohnt haben, nicht der wirkliche Ort seiner Geburt.«

Doch wie Celia später Julia Constenla de Giussani mitteilte (eben jener Freundin, die bei einer gemeinsamen Bekannten Ches Geburtshoroskop in Auftrag gegeben hatte), wurde Che in einem Krankenhaus geboren, und zwar am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, in dem einer der streikenden Dockarbeiter namens »Diente de Oro« (Goldzahn) an den Folgen einer Schußwunde starb.

In den vergilbten Archivexemplaren von Rosarios Tageszeitung La Capital finden wir den Rest der Geschichte. Im Mai war es während eines Aufstandes der Hafenarbeiter von Rosario zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit bewaffneten Streikbrechern gekommen. Am 13.Mai erlitt einer der Streikenden, ein gewisser Ramón Romero alias »Diente de Oro«, bei einem Tumult am Hafen San Martín einen Kopfschuß. Am Morgen des darauffolgenden Tages, am 14.Mai 1928, erlag er im Krankenhaus Granaderos a Caballo in San Lorenzo, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Rosario, seiner Verletzung.

IV

Nach einer hektischen Besuchstour bei ihren Angehörigen in Buenos Aires, wo sie ihren Sohn präsentierten, kehrten die Guevaras in ihr Gutshaus in Misiones zurück.

Guevara Lynch unternahm nun ernsthafte Anstrengungen, seine Plantage in Schwung zu bringen. Er stellte einen paraguayischen Vorarbeiter oder capataz namens Curtido ein, der das Roden der Lichtungen und das Pflanzen des ersten Mate beaufsichtigen sollte. Als Guevara Lynch Helfer anwerben wollte, sah er sich jedoch mit dem alten System der Zwangsarbeit konfrontiert, das in den abgelegenen Gegenden noch gang und gäbe war.

In Misiones stellten die Wald- und Plantagenbesitzer gewöhnlich indianische Arbeiter vom Stamm der Guaraní ein. Diese sogenannten mensu erhielten einen festen Vertrag und einen Vorschuß auf die zukünftigen Leistungen. Der schmale Lohn, der sich nach der Höhe ihres Ertrags richtete, wurde den mensu jedoch nicht in Bargeld ausgezahlt, sondern in Gutscheinen, mit denen sie sich in den plantageneigenen Läden das Lebensnotwendige kaufen konnten. Aufgrund der überhöhten Preise reichte ihr Gehalt allerdings nicht aus, so daß sie Schulden machen mußten. Das System war so angelegt, daß sie diese praktisch nie begleichen konnten. Bewaffnete Wächter, genannt capangas, beaufsichtigten die Arbeiter, und nicht selten griffen sie zu Gewehr oder Machete, um ihre Flucht zu verhindern. Wenn ein mensu den capangas doch einmal entkam, wurde er von der Polizei gejagt und zu den patrones zurückgebracht. Zwar stellte auch Guevara Lynch mensu ein, doch zu ganz anderen Bedingungen als der Rest der Großgrundbesitzer. Entsetzt über die Geschichten, die er hörte, bezahlte er seine Arbeiter in bar, und noch viele Jahre später sprachen die Einheimischen von ihm als einem »guten Menschen«.

Während sich Guevara Lynch seiner Plantage widmete, kam sein kleiner Sohn in das Alter, wo er laufen lernte. Zur Übung gab ihm sein Vater oft einen kleinen Topf Mate und schickte ihn damit zur Köchin, die ihn erhitzen sollte. Ernestito stolperte häufig, doch grimmig rappelte er sich immer wieder auf und setzte seinen Weg fort. Aufgrund der hartnäckigen Insektenplage in Caraguataí bürgerte sich ein anderes Ritual ein: Abends, wenn der Sohn in seinem Bettchen schlief, schlichen sich Guevara Lynch und Curtido leise in sein Zimmer; und während der patron die Taschenlampe hielt, entfernte Curtido vorsichtig mit der Glut seiner Zigarette die Parasiten, die sich im Laufe des Tages dem Jungen ins Fleisch gebohrt hatten.

Im März 1929 war Celia zum zweitenmal schwanger. Für den noch nicht einjährigen Ernestito wurde ein junges Kindermädchen galicischer Abstammung eingestellt. Carmen Arias war eine echte Bereicherung für den Haushalt; sie arbeitete bei den Guevaras bis zu ihrer Heirat acht Jahre später und blieb der Familie auch danach freundschaftlich verbunden.

Doch mittlerweile gerieten Celia und Guevara Lynch aufgrund ihres unterschiedlichen Charakters immer öfter aneinander. Die eher reservierte Celia war eine Einzelgängerin, und Angst war für sie offenbar ein Fremdwort, während ihr gefühlsbetonter Mann ständig Menschen um sich herum brauchte, sich unausgesetzt Sorgen machte und sich dank seiner lebhaften Einbildungskraft stets von Gefahren umgeben sah.

Aber dies waren nur die ersten Anzeichen ehelicher Unstimmigkeiten; die Guevaras hatten sich noch nicht auseinandergelebt. Sie unternahmen gemeinsame Ausflüge; sie ritten durch den Dschungel – der kleine Ernesto saß bei seinem Vater im Sattel – oder erkundeten den Fluß auf der Kid, einer Barkasse mit vier Kojen, die Guevara Lynch auf der Astillero San Isidro gebaut hatte.

Ende 1929 machte sich die Familie erneut auf die lange Reise flußabwärts nach Buenos Aires. Das Land war gerodet, der Mate gepflanzt, doch Celia stand kurz vor der Entbindung, und Guevara Lynch mußte sich um die Astillero San Isidro kümmern. In seiner Abwesenheit hatten sich die Geschäfte schlecht entwickelt, und einer der Investoren war aus der Firma ausgeschieden. Eigentlich wollten sie nur wenige Monate fortbleiben, doch als Familie sollten sie nie mehr nach Caraguataí zurückkehren. Die »schwierigen, aber sehr glücklichen Jahre«, wie Ernesto Guevara Lynch sie nennt, waren vorbei.

V

Wieder in Buenos Aires, mietete Guevara Lynch für seine Familie einen Bungalow auf dem Grundstück eines großen Prachtbaus aus der Kolonialzeit, der seiner Schwester gehörte. Von dort war es nicht weit zur maroden Bootswerft in dem Vorort San Isidro.

Kurz nach ihrem Einzug im Dezember gebar Celia ihr zweites Kind. Sie tauften das kleine Mädchen nach seiner Mutter Celia. In den nächsten Monaten unternahm die Familie vor allem Ausflüge zum Jachtclub von San Isidro, in der Nähe der Stelle, wo der Paraná und der Uruguay-Fluß zusammenfließen und den Río de la Plata bilden.

Bei Guevara Lynchs Ankunft stand die Bootswerft kurz vor dem Konkurs, da sich sein Partner German Frers, ein Vetter zweiten Grades, nicht gerade als geschäftstüchtig erwiesen hatte. Nur wenige Monate später, und sein Vermögen wäre verloren gewesen. Doch dann wurde die Werft von einem Feuer zerstört. Boote, Holz und Farben, alles ging in Flammen auf.

Wäre die Werft versichert gewesen, hätte man den Brand als glückliche Fügung bezeichnen können. Doch German Frers hatte vergessen, die Versicherung zu bezahlen, und so löste sich Guevara Lynchs Erbe über Nacht in Rauch auf. Ihm blieb nichts als die Barkasse Kid und eine Zwölf-Meter-Jacht, die ihm Frers als klägliche Entschädigung überließ.

Noch war nicht alles verloren, denn die Jacht hatte einen gewissen Wert, und die Guevaras besaßen noch die Plantage in Misiones, die in ihrer Abwesenheit von einem alten Freund der Familie verwaltet wurde. Mit etwas Glück würden sie mit den jährlichen Ernteeinkünften über die Runden kommen. Zudem hatten sie die Erträge aus Celias Gut in Córdoba und zahlreiche Freunde und Verwandte, sie nagten also nicht am Hungertuch.

Und so machte sich Guevara Lynch zu Beginn des Jahres 1930 offensichtlich keine großen Sorgen um die Zukunft. Einige Monate genoß die Familie das Leben, man segelte am Wochenende mit Freunden auf der Jacht und veranstaltete auf einer der unzähligen Inseln im Flußdelta Picknicks.

Im März 1930 ging Celia mit ihrem zweijährigen Sohn zum Schwimmen in den Jachtclub. In Argentinien war bereits der Herbst angebrochen, der Tag war windig und kalt. Am Abend bekam der Junge starken Husten, und der Arzt stellte einen Anfall von Bronchialasthma fest. Obwohl er dem Jungen die üblichen Medikamente verschrieb, dauerte der Anfall mehrere Tage an. Wie die Familie bald feststellen mußte, war ihr Sohn an chronischem Asthma erkrankt, das ihn sein Leben lang begleiten sollte.

Die Anfälle, in denen Ernestito keuchend nach Luft rang, kehrten wieder und wurden stärker, und seine Eltern litten Höllenqualen. Verzweifelt suchten sie medizinischen Rat, sie probierten jede nur denkbare Behandlungsmethode aus, doch ohne Erfolg. Die Atmosphäre im Haus war vergiftet. Guevara Lynch machte seiner Frau wegen ihres Leichtsinns an jenem Tag Vorwürfe und gab ihr die Schuld an der Krankheit ihres Sohnes.

Doch damit tat er ihr Unrecht. Celia litt selbst unter zahlreichen Allergien, darunter auch Asthma, und wahrscheinlich hatte Ernestito die Veranlagung dazu von ihr geerbt. Später zeigten sich auch bei einigen seiner Geschwister Anzeichen von Allergien und Asthma. Daß der Junge dem kalten Wasser und dem Wind ausgesetzt war, hatte vermutlich nur die Symptome ausgelöst, die bereits in ihm schlummerten.

Wie auch immer, mit Ernestos Asthma war eine Rückkehr in das feuchtwarme Klima von Puerto Caraguataí ausgeschlossen. Selbst in San Isidro, in der Nähe des Río de la Plata, war die Luftfeuchtigkeit zu hoch für den Jungen. Daher zogen die Guevaras 1931 in eine Mietwohnung in Buenos Aires in der Nähe des Palermo-Parks.

Im Mai 1932 gebar Celia ihr drittes Kind, einen Jungen, der Roberto getauft wurde. Die kleine Celia mit ihren eineinhalb Jahren machte ihre ersten Gehversuche, und der vierjährige Ernesto lernte in den Parkanlagen Fahrradfahren.

Doch der Umzug brachte nicht die erhoffte Heilung. Guevara Lynch empfand die Krankheit als Fluch: »Schon bald beeinflußte Ernestos Asthma alle unsere Entscheidungen. Mit jedem Tag wurde unsere Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt, und mit jedem Tag fühlten wir uns stärker auf Gedeih und Verderb dieser verdammten Krankheit ausgeliefert.«

Auf Anraten der Ärzte fuhren die Guevaras in das zentrale Hochland der Provinz Córdoba, wo ein trockenes Klima herrschte. Mehrere Monate lang pendelten sie zwischen Córdoba und Buenos Aires hin und her, wohnten in Hotelzimmern und gemieteten Häusern, doch Ernestos Anfälle kamen und gingen ohne jedes erkennbare Muster. Guevara Lynch, der nicht in der Lage war, sich um seine Geschäfte zu kümmern oder ein neues Unternehmen zu gründen, wurde immer unzufriedener.

Mittlerweile drängte sie ihr Arzt, mindestens vier Monate in Córdoba zu bleiben, damit Ernesto sich erholen konnte. Auf Anraten einer Freundin entschieden sie sich für Alta Gracia, einen kleinen Kurort zu Füßen der Sierra Chicas. Sie ahnten nicht, daß sie die nächsten elf Jahre dort verbringen sollten.

2

Das trockene Klima von Alta Gracia

I

Ernestos Asthma wurde in Alta Gracia zwar besser, doch die Anfälle kehrten immer wieder. Zu Beginn wohnte die Familie in einem von Deutschen geführten Kurhotel für Lungenkranke in den Hügeln am Ortsrand. Für Celia und die Kinder gestalteten sich die Tage an diesem idyllischen Ort wie nicht enden wollende Ferien. Sie unternahmen Ausflüge zu den Badeseen, erkundeten die Gegend auf Maultieren und schlossen Bekanntschaft mit den Einheimischen. Doch Guevara Lynch ging seine eigenen Wege. Ihr Vermögen schmolz dahin, und es trieb ihn zur Verzweiflung, daß er keine Arbeit finden konnte. Er fühlte sich in den Bergen von der Welt abgeschottet und litt an Schlaflosigkeit. Nächtelang lag er wach in seinem Hotelbett und wurde immer depressiver.

Die Sorge um Ernestos Gesundheit hatte die Guevaras nach Alta Gracia gebracht, und sie sollte auch zukünftig in einem beträchtlichen Ausmaß ihr Leben bestimmen. Da sich nach einigen Monaten Ernestos Zustand sichtlich besserte, beschlossen sie, auf unbestimmte Zeit in Alta Gracia zu bleiben. Durch das trockene Klima hatte sich sein Zustand »stabilisiert«; die Anfälle, die in Buenos Aires chronisch gewesen waren, wurden seltener. Trotz seiner Krankheit war er mit fünf Jahren ein lebhafter, übermütiger Junge und spielte mit den barras – den Banden einheimischer Kinder – Krieg, Räuber und Gendarm oder sauste mit ihnen auf dem Fahrrad durch die Straßen von Alta Gracia.

Guevara Lynch mietete für die Familie die einstöckige »Villa Chichita«, von der man zur einen Seite auf die Ausläufer der Sierra und zur anderen auf die weiten sonnenverbrannten Ebenen vor der Stadt Córdoba blickte.

Im Januar 1934 bekam Celia ihr viertes Kind, ein Mädchen, das nach der Großmutter väterlicherseits Ana María getauft wurde. Ernesto, der mit seinen Geschwistern Celia und Roberto häufig in Streit geriet, übernahm bei seiner jüngsten Schwester die Beschützerrolle. Er machte mit ihr Spaziergänge, erzählte ihr Geschichten, und wenn sein Atem keuchend ging, lehnte er erschöpft den Kopf an ihre Schulter.

Familienfotos zeigen Ernesto als untersetzten Fünfjährigen mit einem breiten, blassen Gesicht und einem wirren dunklen Haarschopf. Was er denkt, verrät die Kamera nicht, er wirkt verschlossen und in sich gekehrt. Auf einem Foto zwei Jahre später ist er dünner, das Gesicht wirkt schmal und eingefallen, ohne Zweifel die Folgen eines langanhaltenden Asthmaanfalls.

Die Guevaras zogen in Alta Gracia mehrmals um. Am längsten wohnten sie noch in der »Villa Nydia«, wo sie sich auch am ehesten zu Hause fühlten. Doch obwohl sie nicht viel kostete, sah sich Guevara Lynch oft nicht in der Lage, die Miete zu zahlen.

Guevara Lynch steckte in einer Zwickmühle. Wegen Ernestos Krankheit konnte die Familie nicht nach Buenos Aires zurückkehren, doch vor Ort fand er keine Arbeit. Er hatte all seine Hoffnungen in die Plantage in Misiones gesetzt, aber die Marktpreise für Mate waren gefallen, und wegen der anhaltenden Dürre brachte Celias estancia in Südcórdoba kaum noch etwas ein. Immerhin war das Leben billig in Alta Gracia, und die anderen Kinder waren gesund.

An den Lebensumständen der Familie sollte sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Nach Meinung von Freunden und Verwandten waren es hauptsächlich die Einkünfte aus Celias Wertpapieren, die der Familie in den dreißiger Jahren über die Runden halfen.

Trotzdem waren die Guevaras in das gesellschaftliche Leben des Kurhotels fest eingebunden. Sie hatten zwar kein Geld, doch sie gehörten der »richtigen« Gesellschaftsschicht an, sie hatten einen Namen und das entsprechende Auftreten. Rosario Lopez, die Köchin der Guevaras in der Villa Nydia, mußte immer wieder morgens die Kinder versorgen und bis zum Mittag beschäftigen, wenn die Eltern im Kurhotel die Nacht durchgefeiert hatten und erst spät aufstanden.

Die Guevaras hatten »Stil«, das konnten alle ihre Bekannten bestätigen. Sie schienen mit der scheinbar angeborenen Zuversicht der Reichen gesegnet, daß sich eines Tages alles zum Guten wenden wird – und wenn nicht, dann würden ihnen Freunde und Verwandte unter die Arme greifen.

Es sollte eine Weile dauern, bis Guevara Lynch aus seinen neuen Beziehungen in Alta Gracia Kapital schlagen und Arbeit finden konnte. 1941 erhielt er den Auftrag, den Golfplatz des Kurhotels zu erweitern und zu modernisieren. Eine Zeitlang war der Lebensunterhalt der Familie also gesichert; über weitere bezahlte Tätigkeiten des Vaters während des langjährigen Aufenthalts in Alta Gracia ist jedoch nichts bekannt.

II

Wegen seines Asthmas kam Ernesto erst mit neun Jahren in eine reguläre Schule. Bis dahin hatte Celia ihn zu Hause unterrichtet und ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Zweifellos festigte sich in dieser Zeit die enge Beziehung, die zwischen ihnen bestand.

Bereits im Alter von fünf Jahren zeigten sich bei Ernesto Züge, die denen seiner Mutter in vielerlei Hinsicht ähnlich waren. Beide liebten sie die Gefahr, sie waren von Natur aus rebellisch und eigensinnig und empfanden tiefes, echtes Mitgefühl für andere. Schon früh entwickelte Ernesto also eine besondere Beziehung zu einem Elternteil, und auch unter den Verwandten hatte er seine »Lieblinge« – seine unverheiratete Tante Beatriz und Ana Isabel, die Großmutter väterlicherseits.

Die kinderlose Beatriz hatte Ernesto besonders ins Herz geschlossen und überschüttete ihn mit Geschenken. Einer von Ernestos ersten »Briefen« stammt aus dem Jahre 1933. Darin berichtet er seiner Tante Beatriz, sein Asthma sei besser geworden. Unter den offensichtlich von den Eltern geschriebenen Text hatte der Fünfjährige mühsam »Tete« gekritzelt – der Spitzname, den die Tante ihm gegeben hatte und der von der Familie übernommen worden war.

Auch als Ernesto zehn Jahre alt war, bereitete sein Asthma den Eltern Sorgen. Um die Ursache für seine Beschwerden herauszufinden, führten sie Buch über seine Aktivitäten, sie achteten auf die Luftfeuchtigkeit, hielten fest, was er gegessen hatte und welche Kleidung er trug. Sie besorgten ihm neue Bettwäsche, entfernten Vorhänge und Teppiche aus seinem Zimmer, ließen Kissen und Matratze neu ausstopfen, staubten die Wände ab und verbannten alle Haustiere aus Wohnung und Garten. Nichts half. Guevara Lynch griff sogar auf Wundermittel zurück und ließ seinen Sohn mit einer Katze im Bett schlafen. Doch am nächsten Morgen war das Asthma immer noch da und die Katze tot, offenbar erdrückt vom schlafenden Jungen.

Schließlich mußten die Guevaras einsehen, daß Ernestos Anfälle nicht nach einem erkennbaren Muster auftraten. Sie konnten lediglich versuchen, die Krankheit einzudämmen. Da es dem Jungen nach dem Schwimmen offenbar besser ging, traten sie dem Schwimmclub des Kurhotels bei. Aber in anderen Dingen mußte er sich auch einschränken. Bestimmte Nahrungsmittel, die bei ihm Asthma auslösten – wie Fisch –, wurden von seinem Speiseplan verbannt, und in akuten Asthmaphasen mußte er eine strikte Diät einhalten. So gewöhnte sich Ernesto Verhaltensmuster an, denen er sein ganzes Leben treu bleiben sollte. Schon als Kind legte er während einer solchen Diät eine außergewöhnliche Selbstdisziplin an den Tag, doch kaum war der Anfall vorbei, holte er das Versäumte nach. Er stand in dem Ruf, ungeheure Mengen auf einmal verschlingen zu können.

Da Ernesto oft tagelang ans Bett gefesselt war, las er viel und spielte Schach, was ihm sein Vater beigebracht hatte. Auch diese Vorlieben sollten ihn sein Leben lang begleiten. In seinen asthmafreien Phasen konnte den Jungen jedoch nichts davon abhalten, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu erproben und sich mit Gleichaltrigen zu messen. Er spielte Fußball, Golf und zeigte Geschick beim Tennis. Er lernte reiten, übte sich am örtlichen Schießstand als Schütze, schwamm im Becken des Kurhotels oder in den Stauseen der Umgebung, unternahm Bergtouren und beteiligte sich an den Faustkämpfen zwischen den rivalisierenden barras.

Trotz der Einwände ihres Mannes ermutigte Celia ihren Sohn zu diesen sportlichen Aktivitäten. Er sollte so normal wie möglich aufwachsen. Doch die Folgen waren manchmal verheerend: Bisweilen mußte ein keuchender, erschöpfter Ernesto von seinen Freunden nach Hause gebracht werden. Aber das hielt ihn nicht davon ab, sich beim nächstenmal wieder völlig zu verausgaben.

Guevara Lynch besaß nicht die Autorität, um seinen Sohn zu bändigen, und Celia versuchte es erst gar nicht. Infolgedessen wurde Ernesto immer ungebärdiger und widerspenstiger. Um sich der Strafe für ein Vergehen zu entziehen, flüchtete er sich in die Wälder und kehrte erst zurück, wenn die Angst der Eltern um den Jungen größer war als ihr Zorn. Doch laut Carlos Figueroa, einem Freund aus jenen Tagen, gab es noch einen anderen Grund für Ernestos »Flucht in den Busch«: So entkam er den Streitereien der Eltern, die Carlos als »entsetzlich« empfand.

Ob diese Szenen Ernesto so aufwühlten, daß sich sein Asthma verschlimmerte, weiß man nicht, doch in einem sind sich Freunde und Angehörige der Familie einig: In Alta Gracia kam es zwischen Celia und Guevara Lynch regelmäßig zu lautstarken Auseinandersetzungen. Beide waren leicht erregbar, und ihre häuslichen Dispute wurden so heftig geführt, daß sie in Alta Gracia bald Stadtgespräch waren.

Eine Ursache für die ehelichen Zwistigkeiten waren sicherlich die anhaltenden Geldsorgen, zumal Guevara Lynch seiner Frau die Schuld an Ernestos Erkrankung und der mißlichen Lage gab, in die sie dadurch geraten waren. Doch nach Aussage von Celias engeren Freunden war der Hauptgrund wohl in Guevara Lynchs Affären mit anderen Frauen zu suchen, die in einer so kleinen Gemeinde wie Alta Gracia kaum verborgen bleiben konnten. Aber da Scheidung in Argentinien noch verboten war – und wahrscheinlich auch um der Kinder willen –, blieben die Eheleute zusammen.

Eines Tages erschien ein Beamter der Schulbehörde bei den Eltern und forderte sie auf, Ernesto zur Schule zu schicken. Damit fand seine Huckleberry-Finn-Phase ein jähes Ende. Ernesto war zu diesem Zeitpunkt fast neun Jahre alt. Zwar konnte er dank des Unterrichts seiner Mutter die ersten zwei Schuljahre überspringen, dennoch war er bei seiner Einschulung in der Escuela San Martín im März 1937 ein Jahr älter als seine Klassenkameraden.

In seiner Grundschulzeit war Ernesto ein unverbesserlicher Aufschneider. Ob nun aus Übermut oder um das vermeintliche Stigma der Krankheit zu überspielen, entwickelte er sich zu einem Draufgänger, der die Erwachsenen vor den Kopf stieß und seinen Altersgenossen Respekt einflößte. Seine früheren Klassenkameraden können eine Unzahl von Streichen aufzählen: er trank Tinte, aß während des Unterrichts Kreide, kletterte auf die Bäume im Pausenhof, ließ sich an den Händen von einer Eisenbahnbrücke herabhängen, die sich über eine Schlucht spannte, erkundete einen einsturzgefährdeten Minenschacht und spielte mit einem reizbaren Ziegenbock Torero – Hauptsache, er hatte Publikum.

Ernestos Eskapaden waren stadtbekannt, doch die Familie stach noch in anderer Hinsicht aus der Masse hervor. »Bohémiens« ist das Wort, das zur Beschreibung ihres unkonventionellen Lebensstils am häufigsten verwendet wird. Die Nachbarländer, die die eigenen Sprößlinge mittags mit nach Hause brachten, durften zum Essen bleiben, so daß es stets eine Menge Mäuler zu stopfen gab. Ernesto und seine Geschwister ließen sich bei ihren Freundschaften von keinerlei Vorurteilen leiten: Sie machten keinen Unterschied zwischen dem Sohn eines Golf-Caddies und den Kindern aus dem »unteren« Alta Gracia.

Doch es war vor allem Celia madre, die als Freidenkerin von sich reden machte. In der von strengen Normen geprägten Gemeinde durchbrach sie viele der Tabus, die für Frauen galten. Sie steuerte selbst einen Wagen, sie trug Hosen, und sie rauchte in der Öffentlichkeit. Wegen ihres gesellschaftlichen Status und ihrer Großzügigkeit ließ man Celia diese Verstöße gegen die Traditionen jedoch durchgehen. Immer wieder chauffierte sie die eigenen Kinder und die der Freunde zur Schule, und die Einführung der kostenlosen Schulmilch, die hauptsächlich für die Kinder der Armen wichtig war, kam durch sie zustande – sie bezahlte die Milch nämlich aus eigener Tasche.

Anders als die meisten der Nachbarn hatten Ernestos Eltern mit der Kirche nichts im Sinn. Guevara Lynchs Mutter war Atheistin und hatte ihren Sohn entsprechend erzogen. Celia, die eine katholische Mädchenschule besucht hatte, äußerte sich hingegen nicht so eindeutig und zeigte ein Leben lang eine Neigung für spirituelle Dinge. Doch als Ernesto in die Schule kam, ging Celia schon lange nicht mehr zur Kirche, und die Guevaras ließen ihre Kinder vom Religionsunterricht befreien. Laut Roberto wurden die Fußballmannschaften der Kinder nach folgendem Prinzip gebildet: In eine kamen die Jungen, die an Gott glaubten, und in die zweite die Atheisten. Die »Ungläubigen« verloren in der Regel, weil sie zu wenige waren.

Obwohl man Ernesto nicht oft lernen sah, bemerkten alle seine rasche Auffassungsgabe. Allerdings lag ihm nicht viel an guten Noten, und seine Leistungen waren eher mittelmäßig. Dieses Phänomen gab seinem Vater einige Rätsel auf.

Überhaupt scheint Ernesto in diesen prägenden Jahren für Guevara Lynch ein Buch mit sieben Siegeln gewesen zu sein. Er verstand seinen Sohn ebenso wenig wie seine Frau: Celia war für ihn »von Natur aus unbesonnen« und »waghalsig«, und fatalerweise hatte sie diese Eigenschaften an ihren ältesten Sohn weitergegeben. Guevara Lynch hingegen, der sich selbst als »übervorsichtig« bezeichnete, war ein Zauderer und machte sich ständig Sorgen über die Gefahren und Risiken des Lebens. In gewisser Hinsicht spielte er in der Familie den mütterlichen Part, während Celia eher die Vertraute und Komplizin ihres Sohnes war.

Doch Guevara Lynch war auch ein Mann von aufbrausendem Temperament, und seine Wutanfälle sind seinen Freunden aus Alta Gracia noch gut im Gedächtnis. Besonders schlimm gestalteten sie sich, wenn er glaubte, daß jemand einem Mitglied seiner Familie zu nahe getreten war. Diese Neigung zur Unbeherrschtheit hat der Sohn offenbar von ihm geerbt. Nichts konnte Ernesto so in Raserei versetzen wie das Gefühl, zu Unrecht getadelt oder bestraft worden zu sein, schreibt der Vater. Streitereien mit seinen Freunden aus der barra wurden regelmäßig mit den Fäusten ausgetragen. Zwar lernte Ernesto mit der Zeit, sich zu beherrschen, und als er auf die höhere Schule kam, traten ätzende, vernichtende Bemerkungen an die Stelle von körperlicher Gewalt. Doch hin und wieder kam es auch dann noch vor, daß er die Kontrolle über sich verlor.

Obwohl er keineswegs dumm war, trennten Guevara Lynch Welten von seiner Frau und seinem begabten Sohn, die sich in ihrer Denkweise sehr viel ähnlicher waren. Zwar las er gern Abenteuerbücher und historische Werke – eine Vorliebe, die er an seinen Sohn weitergab –, doch für ernsthafte Studien fehlten ihm die Geduld und die Disziplin. Celia hingegen war eine begeisterte Leserin von Romanen, Gedichten und philosophischen Werken, und durch sie bekam auch Ernesto Zugang zu dieser Art von Literatur.

All die legendären Charakterzüge des erwachsenen Ernesto »Che« Guevara – seine Furchtlosigkeit, sein Führungsanspruch, seine Hartnäckigkeit, seine Neigung, sich mit anderen zu messen, und seine Selbstdisziplin – zeigten sich bereits in Ansätzen bei dem jungen »Guevarita« aus Alta Gracia.

III

Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 war wohl das erste Ereignis, das in Ernesto Guevara so etwas wie politisches Bewußtsein wachrief. Als sich das Blatt im Jahre 1938 zugunsten von Francos Faschisten zu wenden begann, kamen auch nach Alta Gracia Flüchtlinge aus der spanischen Republik.

Eine Zeitlang wohnte Celias älteste Schwester Carmen mit ihren zwei Kindern bei den Guevaras. Ihr Mann, der kommunistische Dichter und Journalist Cayetano »Policho« Córdova Iturburu war nach Spanien gereist und arbeitete als Kriegsberichterstatter für die in Buenos Aires erscheinende Zeitung Critica. Sobald ein Aufsatz oder ein Brief von ihm eintraf, las Carmen ihn der versammelten Familie laut vor. So wurde ihnen das Kriegsgeschehen auf sehr viel unmittelbarere Weise nahegebracht, als es ein einfacher Zeitungsbericht vermocht hätte.

Bald engagierten sich auch die Guevaras in einer leidenschaftlichen Kampagne für die bedrohte Republik. Guevara Lynch unterstützte die Gründung eines lokalen Comité de Ayuda a la Republica, Teil eines landesweiten Netzwerks der Solidarität mit der spanischen Republik, und suchte Kontakt zu neu eingetroffenen spanischen Exilanten. Seine Bewunderung galt besonders dem Kriegshelden General Jurado, der in der Schlacht bei Guadalajara Francos Truppen und ihre italienischen Verbündeten geschlagen hatte und sich jetzt als Versicherungsvertreter über Wasser hielt. Guevara Lynch lud ihn zum Essen ein und lauschte begeistert seinen Erzählungen.

Da die Menschen in seiner Umgehung so engagiert für die spanische Republik eintraten, entwickelte auch der zehnjährige Ernesto ein lebhaftes Interesse am Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges. Er verfolgte seine Entwicklung, indem er die Position der republikanischen und der faschistischen Armee auf der Karte mit Fähnchen absteckte.

Unmittelbar nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs sollte ganz Europa zum Kriegsschauplatz werden. Nach der Annexion Österreichs und der Tschechei fiel Hitler im September 1939 in Polen ein, worauf Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärten. Damit hatte der Zweite Weltkrieg begonnen.

Guevara Lynch gründete in Alta Gracia eine Ortsgruppe der Acción Argentina, die für die Sache der Westmächte eintrat. Der inzwischen elfjährige Ernesto schloß sich der Jugendorganisation der Acción Argentina an und erhielt eine eigene Mitgliedskarte, die er laut seinem Vater stolz herumzeigte.

Guevara Lynch reiste durch die ganze Region, hielt Reden und verfolgte Hinweise auf »eingeschleuste Nazis«. Denn seine Organisation befürchtete eine Unterwanderung durch deutsche Faschisten und beobachtete alle verdächtigen Aktivitäten der starken deutschen Gemeinde in Córdoba. Über den jungen Ernesto sagt sein Vater: »Neben Sport und Schularbeiten widmete er nun jede freie Minute unserer Arbeit.«

Argwöhnisch betrachtete man in Córdoba eine deutsche Siedlung im Calamuchita-Tal in der Nähe von Alta Gracia. 1939 war nach einer Seeschlacht mit britischen Kriegsschiffen ein beschädigtes deutsches Schlachtschiff, die Admiral Graf Spee, aus dem Atlantik in den Río de la Plata abgedrängt worden. Der Kapitän sprengte sein Schiff außerhalb der 3-Meilen-Zone und nahm sich kurz darauf das Leben, nachdem er zuvor die Besatzung hatte von Bord gehen lassen. Die Offiziere und die Mannschaft wurden auf Befehl der argentinischen Behörden in Córdoba »interniert«.

Guevara Lynchs Gruppe observierte die gefangenen Deutschen, wenn sie mit Holzattrappen anstelle von Gewehren exerzierten. Einmal erhielt die Gruppe Hinweise darauf, daß Lastwagen mit Waffen aus Bolivien in das Tal unterwegs waren. Ein von Deutschen geführtes Hotel in einem anderen Ort geriet in Verdacht, Nazispionen als Stützpunkt zu dienen. Von dort aus, so glaubten Guevara Lynch und seine Mitstreiter, hielt man per Funk die Verbindung nach Berlin aufrecht. Doch angesichts der strengen Sicherheitsvorkehrungen des Hotels konnten sie hierfür nie den Beweis erbringen.

Alarmiert durch diese vermeintlichen Belege für die Existenz eines Nazi-Spionagerings in Córdoba sandte Guevara Lynch ausführliche Berichte an die Zentrale der Acción Argentina in Buenos Aires. Eigentlich hatte er erwartet, daß die Führung unter Präsident Roberto Ortiz mit ihrer Sympathie für die Westmächte auf der Stelle Maßnahmen ergreifen würde. Doch Ortiz war im Jahre 1940 schon so krank, daß die Amtsgeschäfte faktisch von seinem korrupten Vizepräsidenten Ramón Castillo geführt wurden. Und da Castillos Regierung mit den Achsenmächten liebäugelte, wurde gegen das Nazi-Netzwerk nichts unternommen.

Die zweideutige Haltung Argentiniens, das bis kurz vor der deutschen Niederlage offiziell neutral blieb, lag jedoch nicht allein daran, daß ein beträchtlicher Teil des politischen und militärischen Establishments Sympathien für die Achsenmächte hegte. Es hatte auch wirtschaftliche Gründe. Argentinien war schon immer von Europa abhängig gewesen, insbesondere von Großbritannien, seinem wichtigsten Exportmarkt für Rindfleisch, Getreide und andere Agrarprodukte. Die Blockade Europas durch die Alliierten hatte also verheerende Auswirkungen auf das Land. Als Gegenleistung für seine Unterstützung der Blockadepolitik der Alliierten forderte Präsident Ortiz von den Vereinigten Staaten, aus denen Argentinien einen Großteil seiner Bedarfsgüter bezog, eine Abnahmegarantie für seine Exportüberschüsse. Doch Ortiz gelang es nicht, ein »gerechtes Abkommen« auszuhandeln – ein Umstand, den dann die mit den Achsenmächten sympathisierende Regierung Castillos für sich zu nutzen wußte. Argentiniens Ultranationalisten wiederum sahen in dem erstarkenden Deutschen Reich einen vielversprechenden Absatzmarkt für Agrarprodukte und einen möglichen Rüstungslieferanten für die argentinischen Streitkräfte.

IV

Während jenseits des Atlantiks der Zweite Weltkrieg tobte und Argentiniens Politik immer unberechenbarer wurde, wuchs Ernesto zum Jugendlichen heran. Seine körperliche Entwicklung verzögerte sich – er war klein für sein Alter und schoß erst mit sechzehn in die Höhe –, doch ansonsten war er aufgeweckt, wißbegierig und nahm gegenüber den Erwachsenen kein Blatt vor den Mund. Seine Lieblingslektüre allerdings entsprach ganz seinem Alter: Er verschlang in dieser Zeit die Abenteuergeschichten von Emilio Salgari, Jules Verne und Alexandre Dumas.

Im März 1942, kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, wechselte Ernesto über auf die Oberschule, den bachillerato. Da es in Alta Gracia nur eine Grundschule gab, fuhr er jeden Morgen mit dem Bus in das fünfunddreißig Kilometer entfernte Córdoba. Dort besuchte er das staatliche Colegio Nacional Dean Funes, das abgesehen von den Privatschulen in der Stadt den besten Ruf genoß.

Zu Beginn des Jahres 1943 zog die Familie in den Sommerferien nach Córdoba, wo Guevara Lynch endlich einen Partner gefunden und mit ihm eine Baufirma gegründet hatte. Da Ernesto dort bereits zur Schule ging und seine Schwester Celia die städtische Oberschule für Mädchen besuchen wollte, schien dies die praktischste Lösung zu sein.

3

Ein Junge mit vielen Namen

I

Mit dem Umzug nach Córdoba begann für die Guevaras eine kurze Zeit des Wohlstandes, doch zugleich bedeutete er den Anfang vom Ende ihres gemeinsamen Familienlebens. Ein Versöhnungsversuch der Eltern führte im Mai 1943 zu der Geburt des fünften und letzten Kindes, Juan Martín. Doch die Spannungen zwischen Celia und Guevara Lynch wurden immer stärker, und als sie vier Jahre später nach Buenos Aires zogen, kam es zum Bruch.

Auch dafür waren nach Aussage von Freunden der Familie Guevara Lynchs ständige Affären der Auslöser. »Der Vater führte sich auf wie ein Playboy«, erinnert sich Tatiana Quiroga, eine Freundin der Guevara-Kinder. »… wenn er gearbeitet und Geld verdient hatte, gab er alles aus … indem er sich mit ›jungen Damen‹ traf, denen er Kleider und irgendwelchen Schnickschnack kaufte.«

Dennoch ging es der Familie in Córdoba etwas besser, denn Guevara Lynch verdiente endlich einmal etwas. Sein Geschäftspartner war ein exzentrischer Architekt, der wegen seiner gewaltigen Körpergröße und seines aristokratischen Auftretens »Marqués de Arias« genannt wurde. Der Marqués sorgte für die Bauaufträge, und Guevara Lynch beaufsichtigte die Arbeiten als »Bauleiter«.

»Wir lebten wie die Götter, und alles Geld wurde ausgegeben. An Rücklagen dachte keiner«, sagte Ernestos Schwester Celia. Bevor sich die Situation wieder zuspitzte, kaufte Ernesto Guevara Lynch ein Landhaus in dem Vorort Villa Allende in den Bergen vor den Toren Córdobas. In ihrem neuen Heim in der Calle Chile herrschte die gleiche offene, freizügige Atmosphäre, die ihre Freunde von Alta Gracia her kannten. Auf den Möbeln stapelten sich Bücher und Zeitungen, es gab keine festen Mahlzeiten, ein jeder aß, wenn er Hunger hatte. Die Kinder durften mit dem Fahrrad von der Straße in das Wohnzimmer fahren.

Aber Dolores Moyano, eine neue Freundin aus einer der reichsten Familien Córdobas, mußte bald feststellen, daß die Gastfreundschaft bei den Guevaras auch ihren Preis hatte. Entdeckte man bei einem Besucher auch nur die geringste Spur von Hochnäsigkeit, Pedanterie oder Angeberei, so wurde er erbarmungslos aufgezogen. Diese Attacken gingen oft von Che aus, und Dolores wurde von ihm mehr als einmal in die Enge getrieben. Doch auch Ernestos Mutter Celia nahm kein Blatt vor den Mund, und wenn sie sich einmal ihr Urteil gebildet hatte, war sie kaum mehr davon abzubringen. Ernesto senior hingegen strahlte Wärme und Vitalität aus und war die Liebenswürdigkeit in Person. »Er hatte eine sonore Stimme und war oft ein wenig zerstreut. Manchmal kam es vor, daß er die Kinder zu einem Besorgungsgang fortschickte, und wenn sie zurückkehrten, hatte er schon vergessen, was es war.«

II

Auf seiner neuen Schule in Córdoba, dem Colegio Nacional Dean Funes, fand Ernesto bald neue Kameraden. Sein bester Freund war Tomás Granado, der jüngste von drei Söhnen eines spanischen Emigranten, der als Schaffner bei der Eisenbahn arbeitete. Ernesto war mit vierzehn noch recht klein für sein Alter und ziemlich schmächtig. Der hochgewachsene, kräftige Tomás hatte sein Haar nach der neuesten Mode mit Pomade zurückgekämmt, während Ernesto sein Haar nach wie vor kurzgeschnitten trug. So kam er zu einem seiner vielen Spitznamen: »El Pelao« (der Kahlkopf).

Zu ihrer Clique stieß auch Tomás’ älterer Bruder Alberto, der zu jener Zeit schon an der Universität von Córdoba Biochemie und Pharmakologie studierte. Er trainierte das Fußballteam der Studenten, und trotz seiner anfänglichen Bedenken, ob Ernesto auf dem Fußballfeld mit den anderen mithalten konnte, gab er ihm eine Chance. Schon bald hatte sich Guevara einen Ruf als kämpferischer Stürmer erworben. Wegen seines wütenden Kampfrufs »Hier kommt ›El Furibuno‹ Serna!« gab Alberto ihm den Spitznamen »Fuser«, wofür sich Ernesto liebevoll mit »Míal« für »mi Alberto« (mein Alberto) revanchierte.

Schon bald stellte sich heraus, daß das neue Haus in der Calle Chile einige Nachteile besaß, die Guevara Lynch in seiner anfänglichen Begeisterung übersehen hatte. Das Viertel »Nueva Córdoba« am Berghang war noch im Bau, und zwischen den bunt zusammengewürfelten Wohnhäusern erstreckten sich unerschlossene Grundstücke, sogenannte baldios, auf denen sich die Armen ihre Unterkünfte errichteten.

Eines dieser Elendsviertel lag direkt gegenüber dem Haus der Guevaras und erregte die Faszination der Familie und ihrer Freunde. Denn dort wohnten so skurrile Gestalten wie der Mann ohne Beine, der in einem Holzkarren saß und sich von sechs Straßenkötern ziehen ließ.

Obwohl sie weitaus besser gestellt waren als ihre armen Nachbarn, die in ihren notdürftig aus Wellblech und Pappe zurechtgezimmerten Hütten hockten, mußten die Guevaras feststellen, daß ihr eigenes Haus auch nicht sehr solide gebaut war. Schon bald zeigten sich in den Wänden lange Risse, und nachts konnte Guevara Lynch durch einen Schlitz im Dach die Sterne sehen. Doch für einen Bauunternehmer begegnete er den Gefahren mit erstaunlichem Gleichmut. Als im Kinderzimmer ein neuer Riß auftauchte, zog er einfach die Betten von der Wand, damit sie nicht die Schlafenden unter sich begrub, wenn sie zusammenstürzte. »Wir mochten das Haus und wollten nicht wegziehen, sondern so lange wie möglich ausharren.«

Die Umstellung auf das Stadtleben mag für die Guevaras nicht einfach gewesen sein. Andererseits war die Fluktuation vom Land in die Städte typisch für den gesellschaftlichen Wandel in Argentinien und ganz Lateinamerika. Die wirtschaftlichen Umwälzungen, die große Zahl der Einwanderer und die Industrialisierung führten Ende des neunzehnten Jahrhunderts dazu, daß immer mehr Landarbeiter auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in die Städte strömten. Viele von ihnen endeten in den Slums oder villas miserias von Córdoba und den anderen argentinischen Großstädten.

Dennoch bewahrte sich Córdoba in den vierziger Jahren einen gemütlichen, provinziellen Charakter. Argentiniens zweitgrößte Stadt inmitten der weiten, goldenen Pampa, die am Horizont nur durch die blauschimmernde Kette der Sierra begrenzt wurde, blieb unberührt von Industrialisierung und dem Bauboom, der Buenos Aires rasch in eine moderne Metropole verwandelte. Da es die älteste, von Jesuiten gegründete Universität, viele alte Kirchen und zahlreiche Gebäude im Kolonialstil beherbergte, hatte sich Córdoba einen Ruf als kulturelles Zentrum Argentiniens erworben. Im Córdoba ihrer Jugend, erinnert sich Dolores Moyano, »gab es unzählige Buchläden, religiöse Prozessionen, Studentendemonstrationen und Militärparaden; eine angenehme Stadt, die träge und fast verschlafen wirkte, doch unter der Oberfläche brodelte es.«

Kurz nachdem die Guevaras in die Stadt gezogen waren, entluden sich die Spannungen. Am 4.Juni 1943 wurde Präsident Castillo durch einen Militärputsch gestürzt, und der ultranationalistische ehemalige Kriegsminister General Pedro Ramírez ergriff die Macht. Um jegliche Opposition im Keim zu ersticken, setzte er die Wahlen auf unbestimmte Zeit aus, löste das Parlament auf, zensierte die Presse und suspendierte Professoren, die protestiert hatten. In einer zweiten Gesetzeswelle gegen Ende des Jahres verbot er die Parteien, erließ strenge Vorschriften religiösen Inhalts für die Schulen und verschärfte die Pressezensur. In Córdoba gingen Schüler und Lehrer auf die Straße, um gegen diese Maßnahmen zu protestieren. Bei den darauf folgenden Verhaftungen wurde auch Alberto Granado festgenommen. Seine Brüder und »El Pelao« Guevara besuchten ihn im Gefängnis, um ihn mit Lebensmitteln zu versorgen und auf dem laufenden zu halten.

Als Woche um Woche ins Land zog und nichts darauf hindeutete, daß die Studenten demnächst vor Gericht gestellt oder freigelassen würden, forderte das geheime »Gefangenenkomitee« die Oberschüler auf, auf die Straße zu gehen und für die Freilassung ihrer Kameraden zu demonstrieren. Zu aller Überraschung lehnte der fünfzehnjährige Ernesto jedoch die Teilnahme an dem Protestmarsch ab. Nur wenn er einen Revolver hätte, sei er dabei, erklärte er. Die geplante Demonstration könne nur wenig ausrichten, und man würde die Oberschüler »windelweich« prügeln.

Zu Beginn des Jahres 1944 wurde Alberto Granado nach mehrmonatiger Haft entlassen. Ernestos Weigerung, für ihn zu demonstrieren, konnte ihrer Freundschaft nichts anhaben. Wenn man sich Ernestos Neigung zu waghalsigen Unternehmungen vor Augen führt, müßte man sich über seine Haltung eigentlich sehr wundem. Ebenso unverständlich erscheint seine Kompromißlosigkeit, vor allem wenn man bedenkt, wie jung er war und wie wenig er sich scheinbar für die argentinische Politik interessierte. Aber diese paradoxe Ambivalenz zwischen radikalen Äußerungen und völliger Passivität, wenn es um politische Aktionen ging, blieb auch in den folgenden Jahren seiner Jugend für ihn typisch.

III

Die graue Eminenz, die – von der argentinischen Öffentlichkeit noch unbemerkt – während der politischen Umschwünge jener Jahre hinter den Kulissen die Fäden zog, war Juan Domingo Perón, damals noch ein völlig unbekannter Oberst des Heeres. Nachdem der leidenschaftliche Bewunderer des Duce von einem militärischen Posten in Italien zurückgekehrt war, arbeitete er sich innerhalb von drei Jahren zielstrebig an die Spitze hoch. Zuerst wurde er Staatssekretär im Kriegsministerium, dann Amtsleiter des Arbeitsministeriums. Dieses funktionierte er in kurzer Zeit in das Ministerium für Arbeit und Soziales um, worauf er nur noch dem Präsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig war.

Schon bald beschloß Peróns Büro zahllose Reformen. Seine Maßnahmen zielten darauf ab, die rechtlosen Arbeiter zu mobilisieren und die Arbeiterorganisationen der traditionellen Parteien zu spalten. Es dauerte nicht lange, und er hatte das gesamte Arbeiterheer unter seinen Einfluß gebracht. Der berühmte »Perónismus« war entstanden, ein Phänomen, das bald die gesamte politische Landschaft Argentiniens verändern sollte.

Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten befand sich die deutsche Wehrmacht Ende 1943 in Europa und Nordafrika auf dem Rückzug. Mussolini war gestürzt worden. Da die USA die argentinische Regierung und insbesondere Perón kaum verhohlener Sympathien mit dem Dritten Reich verdächtigten, setzten sie alle Druckmittel ein, um Argentinien zur Aufgabe seiner neutralen Haltung im Zweiten Weltkrieg zu bewegen. Viele Argentinier hegten den gleichen Argwohn wie die Vereinigten Staaten. Mit seiner populistischen Anbiederung an die »Unterschicht« und einer Rhetorik, die nach Faschismus roch, hatte sich Perón Argentiniens liberales Bürgertum zum Feind gemacht. Die alte Oligarchie, die den Status quo gefährdet sah, hatte ähnliche Vorbehalte, und die meisten Menschen im Umfeld der Guevaras waren glühende »Anti-Perónisten«. Dies konnte jedoch nicht verhindern, daß Perón immer mehr an Einfluß gewann.

Bei einer Regierungsumbildung im März 1944 wurde Perón Kriegsminister, und im Juni übernahm er auch noch das Amt des Vizepräsidenten. Doch der wichtigste seiner Posten blieb das Amt des Ministers für Arbeit und Soziales.

Guevara Lynch war zu dieser Zeit nach wie vor in der Acción Argentina aktiv. Außerdem hatten Celia und er sich dem Solidaritätskomitee für De Gaulle angeschlossen, das die Widerstandskämpfer der Résistance im von Nazideutschland besetzten Frankreich unterstützte.

Ernesto hingegen zeigte in seiner Oberschulzeit keinerlei Neigung, sich an politisch militanten Aktionen zu beteiligen. Er und seine Freunde, zu denen auch einige Kinder spanischer Emigranten gehörten, waren wie ihre Eltern »Antifaschisten« und debattierten mit Feuereifer über die Ereignisse in Spanien. Doch was zur selben Zeit in Argentinien geschah, nahmen sie kaum zur Kenntnis. Ernestos politische Äußerungen zielten stets darauf ab, seine Eltern oder Altersgenossen zu schockieren. Als in Córdoba beispielsweise das Gerücht umging, die örtlichen Perónisten wollten den Jockeyclub zu einer Steinschlacht provozieren, meinte er seinen Freunden gegenüber: »Ich hätte gute Lust, selbst ein paar Steine auf den Jockeyclub zu werfen.«

Als die Regierung Argentiniens endlich die diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten abbrach, waren Ernestos Eltern überglücklich. Ernesto jedoch, so berichtet ein Jugendfreund, fuhr sie wütend an. Erst später wurde klar, wogegen sich sein Zorn richtete: Die Entscheidung der argentinischen Regierung war nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck der Vereinigten Staaten zustande gekommen. Wie so mancher argentinische Nationalist schämte sich auch Ernesto, daß sein Land vor den US-Amerikanern in die Knie gegangen war. Doch als die Alliierten im September 1944 Paris befreiten, schloß auch er sich der jubelnden Menge auf der Plaza San Martín in Córdoba an.

Später ist oft versucht worden, dem jungen Ernesto Guevara sozialistische Ideale anzudichten, doch praktisch all seine Schulkameraden aus Córdoba beschreiben ihn als politisch desinteressiert. »Wir anderen haben gern über Politik diskutiert«, sagt sein Schulfreund José María Roque, »aber ich habe nie erlebt, daß Ernesto sich an diesen Debatten beteiligte.«

Ebensowenig ließ sich Ernesto bei der Wahl seiner Freunde vom »Antifaschismus« beeinflussen. Zu seinen Klassenkameraden gehörte der Sohn eines armen italienischen Emigranten. Der Junge verkaufte während seiner Freizeit Süßigkeiten in den Kinos und ließ in seinem Patriotismus nichts auf Mussolini kommen. Ernesto sprach von ihm immer liebevoll als dem tano facio, dem »kleinen Faschisten«.

Andererseits berichtet Raúl Melivosky, der Sohn eines jüdischen Universitätsprofessors, daß er und Ernesto 1943 für kurze Zeit einer »Zelle« der FES angehörten. Es war das Jahr, in dem Angehörige der militanten Jugendgruppen der nazifreundlichen Alianza Libertadora Nacionalista Studenten einschüchterten, die sich für die Sache der Alliierten aussprachen. Ernesto war der einzige Schüler, der einem Lehrer, der bekanntermaßen offen für den Faschismus eintrat, wegen Verdrehung von Tatsachen angriff. Seither brachte ihm Melivosky großen Respekt entgegen.

Die Zellen setzten sich aus jeweils drei Schülern zusammen, von denen einer die Leitung übernahm. Melivoskys Leiter hieß Ernesto Guevara. »Doch die Zellen existierten nur dem Namen nach«, erinnert sich Melivosky. »Unsere ganze Leistung bestand darin, uns als Zelle zu bezeichnen.« Als er und andere Schüler eines Nachmittags von Schlägern der Alianza mit Messern bedroht wurden, sah er, wie Ernesto seinen Ranzen über den Kopf schwang und sich auf die Faschisten stürzte. »Das war überaus tapfer … er zeigte nicht die geringste Angst.«

Viel weiter aber gingen Ernestos politische Aktivitäten nicht. Die Funktion als Leiter einer Zelle schien ihm eher dazu gedient zu haben, seine Abenteuerlust zu befriedigen, als daß sie Ausdruck einer ernsthaften politischen Überzeugung gewesen wäre. Zwanzig Jahre später bestätigte Guevara diese Einschätzung in einem Brief: »… in meiner Jugend hatte ich keinerlei gesellschaftliche Interessen, und ich habe in Argentinien nie an Studentendemonstrationen oder politischen Aktionen teilgenommen.«

IV

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Ernesto, nun ein Teenager, nicht nur eine große Liebe zu Büchern entwickelt, sondern auch ein starkes Interesse am anderen Geschlecht. Beides konnte er befriedigen, als er im Hause eines Freundes auf die unzensierte Fassung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht stieß. Doch über diese Reize hinaus blieb für die meisten Jungen aus Ernestos Generation sexuelle Erfüllung ein unerreichbares Ziel. Mitte der vierziger Jahre herrschten in der argentinischen Provinz noch immer die Wertvorstellungen der katholischen Kirche: Frauen hatten kein Wahlrecht, Scheidung war verboten, und ein »anständiges« Mädchen bewahrte sich seine Jungfräulichkeit bis zur Ehe.

So besuchten die Jungen aus Ernestos Gesellschaftsschicht entweder ein Bordell, oder sie eroberten sich – begünstigt durch ihre finanzielle und gesellschaftliche Stellung – ein Mädchen aus den unteren Schichten. Viele sammelten ihre ersten Erfahrungen mit der mucama der Familie, dem Dienstmädchen, gewöhnlich eine Indiofrau oder eine arme mestiza aus den nördlichen Provinzen Argentiniens.

Ernesto wurde im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren in die Sexualität eingeführt, und zwar mit Hilfe von Calica Ferrer, der ihn und die mucama seiner Familie, einer Frau namens »La Negra« Cabrera, in ihr Haus einlud. Einige seiner Freunde beobachteten Ernestos »Initiation« durchs Schlüsselloch der Schlafzimmertür. Er hatte seinen Asthmainhalator mitgenommen, und während er tapfer auf ihr turnte, unterbrach er den Liebesakt immer wieder, um einen Zug aus dem Inhalator zu nehmen. Derartige Besuche im Hause der Ferrers wurden für Ernesto rasch zur Gewohnheit.

Diese Praxis illustriert die Kluft, die zu jener Zeit in Ernestos Gesellschaftsschicht zwischen den männlichen und den weiblichen Jugendlichen herrschte. Die Mädchen, unberührt und unschuldig, berauschten sich an romantischen Gedichten und sparten sich auf für die wahre Liebe und die Ehe, wohingegen Jungen wie Ernesto ihre sexuelle Befriedigung suchten, wo immer sie sie fanden, in schlüpfrigen Versen, in einem Bordell oder bei der unglücklichen mucama der Familie.