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Für sie wirft er alle Regeln über Bord ...
Jake Esera ist ein professioneller Rugbyspieler - und ein Single-Dad. Seit er vor sechs Jahren Vater einer Tochter wurde, besteht das Leben des 24-Jährigen nur aus Training, Wettkämpfen, Zöpfe flechten und Playdates. Ausschlafen, feiern oder gar sich verlieben stehen nicht auf dem Plan. Doch als er auf einer Hochzeit seine ehemalige Schulfreundin Juliet Nelisi widertrifft, ändert sich alles. Denn Jules ist verführerisch wie nie, und Jake merkt zum ersten Mal seit langer Zeit, dass er vielleicht doch bereit ist, seine strengen Regeln über Bord zu werfen und sein Herz zu riskieren ...
"Nalini Singhs Helden möchte man am liebsten mit nach Hause nehmen! Die Geschichte ist süß, romantisch und lustig." BOOK HOWLS
Band 4 der neuen romantischen Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh´
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Seitenzahl: 454
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
Epilog
Die Autorin
Nalini Singh bei LYX
Impressum
NALINI SINGH
CHERISH DREAMS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Seit dem Tod seiner Jugendliebe Callie sorgt Jake Esera alleine für seine kleine Tochter. Sein Leben wird von zwei Dingen bestimmt: der Erziehung der sechsjährigen Esme und seiner Karriere als professioneller Rugbyspieler. Der Alltag des jungen Single-Dads besteht aus Training, Wettkämpfen, Hausaufgaben, Zöpfe flechten und Playdates – für so etwas wie die Liebe hat er keine Zeit. Doch als er auf der Hochzeit seines großen Bruders seine ehemalige Schulfreundin Juliet Nelisi wiedersieht, ändert sich alles. Als ihre Blicke sich treffen, beginnt sein Herz schneller zu schlagen. Und obwohl der alleinerziehende Vater, dessen größte Sorge ein stabiles Familienleben ist, und die lebensfrohe Jules, die jeden Tag nimmt, wie er kommt, unterschiedlicher nicht sein könnten, merken sie bald, dass zwischen ihnen etwas ist. Und dass dieses Etwas mehr als nur körperliche Anziehungs- kraft ist. Jake fragt sich das erste Mal seit langer Zeit, ob er vielleicht doch bereit ist, seine strengen Regeln über Bord zu werfen und der Liebe eine Chance zu geben. Aber mit einer Beziehung zu Jules riskiert er nicht nur sein Herz, sondern auch seinen guten Ruf, den er um jeden Preis bewahren will. Denn Jules wird von einem Skandal verfolgt …
»Hey, Schrauber!«
»Wenn ich mich taub stelle, lässt du mich dann in Frieden?«
»Das kannst du vergessen. Sag schon, was hast du ausgefressen, um zum Nachsitzen verdonnert zu werden? Ich dachte, man hätte dich zum Vorzeigeschüler des Jahres gekürt. Stand das nicht auf dieser protzigen Plakette?«
»Wozu soll diese Strafe überhaupt gut sein? Um Zeit totzuschlagen?«
»Entspann dich, ich werd’s dir erklären – nachdem du mir erzählt hast, wie du hier gelandet bist, Goldjunge.«
»Ich hab mitgeholfen, Mr Bouchers Auto auf die Rückseite des Schulgebäudes zu verfrachten. Er dachte, jemand hätte es gestohlen.«
»Hach, das ist ja witzig! Vor allem, weil Mr Bozo der Grund ist, warum ich hier bin.«
»Echt jetzt? Was hast du angestellt?«
»Ihm direkt ins Gesicht gesagt, dass er ein fieser Tyrann mit einem Mikropenis ist. Nur weil Callie in der letzten Stunde die Antwort auf eine Frage vorgeplappert hat, ist er gleich auf sie losgegangen und hat mit seinem blöden Lineal auf ihrem Pult rumgehämmert. Und du weißt ja, wie sie ist.«
»Kacke. Wie geht’s ihr?«
»Hat ein schlechtes Gewissen, weil ich brummen muss, aber, hey, Mr Bozos Minischniedel zur Sprache zu bringen, war ja nicht ihre Idee. Sie wollte zum Rektor gehen und die Sache erklären, aber ich hab gesagt: ›Kommt nicht infrage, Cals. Ich hab diese Strafe verdient, und ich werde sie voll Stolz verbüßen‹.«
»Du bist schwer in Ordnung, Jules.«
»Halt mal den Ball flach, Jacob. Wir sind keine Freunde. Für dich immer noch Juliet.«
Jakes großer Bruder war im Begriff zu heiraten.
Gabriel hatte sich reichlich Zeit gelassen mit der Suche nach seiner Traumfrau, nur um sich dann umso rettungsloser zu verlieben. Sein Herz gehörte Charlotte Baird, was Gabe nicht nur glücklich machte, sondern er ging völlig in diesem Glück auf. Kein Wunder, immerhin waren die Brüder der Bishop-Eseras von Eltern großgezogen worden, die auch heute noch ineinander vernarrt waren.
Ihre Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihren Mann jeden Morgen zu küssen, mochte es regnen oder schneien oder er gelegentlich etwas brummig sein. Joseph war kein sonderlich extrovertierter Zeitgenosse, trotzdem hatte er nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie für ihn sein Leitstern war.
So wie Charlotte der von Gabe.
»Hast du Charlie heute schon gesehen?«, fragte Jake Gabe, während sie letzte Hand an ihr jeweiliges Outfit anlegten.
Sie waren zu sechst: Die vier Brüder Gabriel, Sailor, Jake, Danny, dazu Fox und Harry.
Rockstar Fox gehörte praktisch zur Familie, weil seine Frau und Charlotte eng befreundet waren, während der große, stille Harry, dessen athletische Statur und starke Schultern den ehemaligen Pfeiler im Rugbysport verrieten, Gabes bester Kumpel aus seiner Zeit als Profiathlet war. Der Kontakt zwischen beiden war nicht abgerissen, als Gabe seine Karriere wegen einer Verletzung beenden musste. Ein Jahr lang hatte Jake mit Harry im selben Team gespielt, bevor dieser seine Rugbyschuhe zugunsten einer Laufbahn als Pilot an den Nagel hängte.
»Schön wär’s«, grummelte Gabe und zog sein Jackett über seine breiten Schultern. Sein muskulöser Oberkörper hatte auch nach dem Ende seiner Profikarriere nichts von seiner Kraft eingebüßt. »Ich hab gestern Abend versucht, sie von der Party, die die Mädels veranstaltet haben, wegzulocken, mit dem Erfolg, dass sie mir mehrere Emojis schickte: Champagnergläser, Flammen und ein Feuerwehrmann. Wenn ich nach Hause komme, finde ich wahrscheinlich eine Stripperstange im Wohnzimmer vor.«
Jake sah an sich hinunter, um seinen Schlips zu binden. Er und Charlotte waren schnell miteinander warm geworden, nachdem Gabe sie der Familie vorgestellt hatte, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie seinen Bruder nur verkohlt hatte. Stripper waren nicht Charlies Stil.
Mit dem Champagner verhielt sich die Sache jedoch anders. Jake hatte die Kiste nicht nur persönlich vorbeigebracht, sondern zusätzlich zu der Prickelbrause auch noch je eine Flasche Heidelbeer- und Erdbeerwein.
Der eine leuchtend blau, der andere knallpink.
Es war noch früh am Morgen gewesen, Charlie und ihre Freundinnen hatten sich gerade für ihr Champagner-Frühstück bereitgemacht. Neben einer Maniküre und einer Pediküre beinhalteten ihre Pläne für den Tag einen Ausflug nach Auckland, um an einem Bungeeseil vom Sky Tower zu springen. Die zierliche Charlie hatte ein T-Shirt angehabt, auf dessen Vorderseite der Schriftzug »T. Rex-Bändigerin« prangte. Die Comiczeichnung auf dem Rücken stellte einen Tyrannosaurus mit Fliege um den Hals dar, der eine bebrillte Maus in seinen Armen hielt.
Sie trug einen Brautschleier.
Als krönender Abschluss war eine Kuchen-und-Cocktail-Orgie vorgesehen.
Wie Jake bei seinem Kater-Check an diesem Morgen feststellte, waren Charlie und die anderen Mädels allesamt funktionstüchtig. Er erfuhr, dass sie nicht nur ein-, sondern sogar zweimal vom höchsten Gebäude der Südhalbkugel gesprungen waren. Da sie an diesem Tag die letzte Gruppe bildeten, hatten sie, aufgeputscht von Adrenalin, den Einweiser gebeten, sie noch einmal springen zu lassen. Er hatte ihnen zugezwinkert und sie kostenlos wieder nach oben gebracht, obwohl die Plattform eigentlich schon geschlossen war.
Über nichts davon durfte Jake ein Sterbenswörtchen verlauten lassen.
Während die Frauen von hohen Türmen hüpften, hatten die Männer sich die Zeit mit Black-Water-Rafting tief in den Höhlen von Waitomo vertrieben und den Tag mit etlichen Bieren am Lagerfeuer ausklingen lassen. Die anderen Männer, die dabei mit von der Partie gewesen waren, hatten sich bereits in der Kirche eingefunden, um sich als Platzanweiser nützlich zu machen, während die übrigen sechs in Sailors großzügigem Wohnbereich parat standen, um sich in wenigen Minuten auf den Weg zur Trauungszeremonie zu machen.
Für Jake war es das zweite Mal, dass er als Trauzeuge fungieren würde.
Das erste Mal war vor acht Jahren gewesen, bei Sailors Hochzeit. Er war damals ein sorgloser sechzehnjähriger Teenie gewesen, ohne die geringste Ahnung, dass sich sein Leben in den kommenden zwei Jahren für immer verändern würde. Diesen Jungen gab es schon lange nicht mehr, an seine Stelle war ein alleinerziehender Vater getreten, dessen kleine Tochter zauberhafter nicht hätte sein können, aber eines hatte sich nicht geändert: Er freute sich für Gabe genauso sehr wie seinerzeit für Sailor.
»Ihr brecht also direkt nach dem Hochzeitsempfang in die Flitterwochen auf?«, fragte Fox, nachdem er sich von Danny beim Binden seiner Fliege hatte helfen lassen. Fox war ein begnadeter Rocksänger, aber keineswegs ein Fachmann in Sachen Festtagskleidung.
»Das ist der Plan.« Gabe hielt still, während Harry ihm eine »Rose« ans Revers seines Jacketts heftete. Das blumige Gebilde war aus den Seiten eines alten Liebesromans gefertigt und bot einen zarten Kontrast zu seinem silbergrauen Anzug, doch der Gegensatz funktionierte. Genau wie bei Charlottes und Gabriels Beziehung. Vervollständigt würde das Outfit der Männer durch aus grünem Blattwerk geflochtene Girlanden um ihren Hals. Es war eine respektvolle Verneigung vor dem kulturellen Hintergrund von Gabriels Stiefvater.
»Die Flüge nach Samoa sind gebucht, die Koffer gepackt und schon im Wagen.« Ein Lächeln ging über sein Gesicht.
Juliet betrat das Chaos, das zu Hause bei Charlotte und Gabriel herrschte. »Ta-da!« Sie wedelte mit dem Brillenetui und hielt ihren Ärger mit aller Macht unter Verschluss.
Jacob Esera hatte Glück, dass dies der Hochzeitstag seines Bruders war, andernfalls hätte sie ihm einen Denkzettel verpasst. Juliet war zwar keine Athletin, aber sie hatte einen äußerst treffsicheren Wurfarm. Ein präziser Schlag mit ihrem Stiletto, und dieser kleinkarierte Nörgler wäre in die Knie gegangen. Nein, sie hätte nicht auf seinen Kopf gezielt. Sondern ein gutes Stück tiefer, wo es am meisten wehtat.
Die Vorstellung erfüllte sie mit ungeheurer Befriedigung und besänftigte ihren Zorn.
»Du hast sie!« Esme nahm ihr das Etui aus der Hand, holte ihre neonblau eingefasste Brille heraus und setzte sie auf. »Ich hab ja gewusst, dass Daddy sie dabeihat!« Sie schmiegte sich an Juliets Beine und umschlang sie mit ihren mageren Ärmchen. »Danke, Jules!«
Die Gäste hatten ihre Plätze eingenommen und warteten auf den Einzug der Braut, aber Jake konnte Juliet nirgendwo entdecken.
Vielleicht war sie aufgehalten worden, nachdem sie Esmes Brille abgeholt hatte. Trotzdem hätte sie sich anstrengen sollen, es rechtzeitig zu schaffen, überlegte er verärgert. Es sah Juliet ähnlich, zu spät zu kommen und für Unruhe zu sorgen. Er erinnerte sich noch daran, wie sie mit einer halbstündigen Verspätung zu einer Schulversammlung erschienen war. Die meisten anderen hätten sich still und leise in die riesige Aula mit den glänzenden Holzböden und -wänden geschlichen, um kein Aufsehen zu erregen.
Juliet war seelenruhig und ohne einen Anflug von Verlegenheit durch die Tür hereinstolziert.
»Du guckst, als hättest du Verstopfung. Was ist los?«, raunte ihm Danny auf Samoanisch zu, als er und der Rest des Sextetts sich neben dem Altar aufstellten.
Jake gab ihm mit einem Blick zu verstehen, still zu sein, aber als der jüngste von vier Brüdern hatte Danny früh gelernt, derlei Winke zu ignorieren.
»Jetzt mal ernsthaft, Kumpel«, fuhr Danny fort und wechselte dabei ins Englische. »Brauchst du irgendein Mittelchen?«
Jake verengte die Augen zu Schlitzen und sandte seinem Bruder eine stille Warnung, die bedeutete, dass er es ihm später und dafür umso gründlicher heimzahlen werde. »Ich wünsche mir einfach nur eine perfekte Hochzeit für Gabriel und Charlotte.«
Danny hatte Jakes Zorn schon eine Weile nicht mehr zu spüren bekommen und klopfte ihm nun mit einem unbedacht selbstsicheren Grinsen auf die Schulter. »Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist unserem großen Bruder so was von egal, ob irgendetwas schiefgeht, solange Charlie ihn nur nicht vor dem Altar stehen lässt. Sie ist alles, was für ihn zählt.«
Jake wusste, dass Danny recht hatte, trotzdem lagen seine Nerven blank. Sich um die Menschen, die er liebte und die ihm wichtig waren, zu sorgen, war für ihn Teil seines Wesens. Er hatte diese Veranlagung schon immer gehabt, doch nach Calypsos Tod hatte sie sich um ein Vielfaches verstärkt. Auch wenn all seine Sorge nicht ausgereicht hatte, um die bakterielle Meningitis zu bekämpfen und Calypso das Leben zu retten – er kam einfach nicht gegen seinen fast zwanghaften Beschützerinstinkt an.
Das einzig Gute war, dass er sich dank der Therapie, der er sich auf Drängen seiner Eltern nach Calypsos Tod unterzogen hatte, seiner überbehütenden Tendenzen und des Schadens, die sie bei einem kleinen Kind anrichten konnten, vollauf bewusst war. Und darum kämpfte er jeden Tag und jede Stunde dagegen an. Er würde nicht zulassen, dass er Esme mit seiner Fürsorge erstickte.
Seine Tochter würde ohne Schranken und als kleiner Wildfang aufwachsen, sie sollte die gleiche Kindheit haben dürfen wie er.
Vorletztes Wochenende hatte sie sich nach einem heftigen Wolkenbruch quietschvergnügt im Matsch gewälzt – insofern machte er seine Sache doch wohl gar nicht so schlecht. Tatsächlich hatte ihr fröhliches Jauchzen ihn dazu animiert, sich ihr anzuschließen. Bibbernd vor Kälte hatten sie unter der strahlend hellen Wintersonne gemeinsam ein ausgiebiges Schlammbad genommen, ohne dass die Welt davon unterging.
Esme hatte sich weder eine Grippe noch irgendeine ominöse, durch Schlamm verursachte Krankheit zugezogen. Sie hatte einen Riesenspaß gehabt und er erleichtert aufgeatmet. Vielleicht würde er sich restlos entspannen, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht hatte. Er hoffte es inständig, weil ihm das Unterdrücken seines Beschützerinstinkts mehr abverlangte als sämtliche Rugbyspiele, an denen er je teilgenommen hatte.
»Worüber tuschelt ihr wie zwei alte Klatschtanten?«, ließ sich Gabes Freund Harry, der neben Danny stand, mit tiefem Timbre vernehmen. Sein scharf geschnittenes Kinn war glatt rasiert und markant wie seine Schultern.
»Mein kleiner Bruder weiß nicht, wann man die Klappe hält«, brummte Jake, derweil Danny sich völlig unbeeindruckt gab.
Bevor Harry antworten konnte, ging gleich einem sanften Luftzug ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge, gefolgt von den ersten Klängen einer stimmungsvollen Melodie. Aroha, die an dem Flügel im hinteren Ende der Kirche saß, hatte sie eigens für Charlotte und Gabriel komponiert.
Jake registrierte zwar, dass ihr Kleid von demselben dunklen Blauton war wie Juliets, aber noch bevor er daraus irgendwelche Schlüsse ziehen konnte, öffnete sich die Kirchentür. Seite an Seite schritten zwei bezaubernde kleine Blumenmädchen hindurch, angetan mit ihren »Prinzessinnenkleidern«, wie Jakes Tochter sie nannte. Sie waren weiß, mit einer ebenfalls blauen Schärpe um die Taille, der dreiviertellange Rock mit bauschigem Tüll unterfüttert.
Wie immer ging ihm beim Anblick von Esmes süßem Gesichtchen das Herz auf.
Jede trug einen aus Miniatur-Frangipani, hellgrünen Blättern und winzigen weißen Blümchen gebundenen Kranz im Haar und ein Körbchen mit zartrosa Blütenblättern in der Hand, ihre Füße steckten in Riemchensandalen aus glänzendem Lack. Mit strahlenden, hochkonzentrierten Mienen streuten sie ihre Blüten auf dem Weg zum Altar.
Irgendwann sah Esme zu ihm hin und schenkte ihm ein Lächeln, das die erste Lücke ihrer Milchzähne enthüllte, wo vergangene Woche ein unterer mittlerer Zahn herausgefallen war.
Du machst das prima, Spatz, formte er mit den Lippen.
Jetzt lächelte sie über das ganze Gesicht, und ihm sprang schier das Herz aus der Brust. Er hatte in seinem Leben so vieles falsch gemacht, aber irgendwie bekam er das hier gut hin. Seine Tochter wusste, dass sie geliebt wurde und das Allerwichtigste für ihn war.
Gleich darauf traten drei Frauen durch die Kirchentür, sie gingen hinter den Blumenmädchen her. Bei der ersten handelte es sich um ein Familienmitglied, genauer gesagt um Sailors Frau Ísa, bei der zweiten um Charlies Freundin Mei. Aber es war die große, wohlgeformte, gefährlich sinnliche Frau hinter der Polizistin, die seine Aufmerksamkeit erregte.
Jakes Hirn erlitt einen Kurzschluss.
»Sie war nicht bei der Probe«, platzte er heraus.
»Kannst du dich nicht mehr erinnern, Bruderherz?«, versetzte Danny mit gedämpfter Stimme. »Charlotte hatte doch gesagt, dass ihre zweite Freundin aus dem Backkurs es nicht zur Probe schafft. Und dass du heute ihr Begleiter sein wirst.«
Was?!
»Jedenfalls besteht wohl kaum die Gefahr, dass sie den Gang zum Altar vermasseln wird«, schob Danny hinterher. »Es gibt nur einen Gang, falls es dir nicht aufgefallen ist.«
Jake musste sich beherrschen, die Stirn nicht in Falten zu ziehen – es fehlte gerade noch, dass er auf den Hochzeitsfotos seines Bruders finster dreinschaute. Seine Familie war ohnehin einhellig der Meinung, er müsse lockerer werden. Ständig wurde er von seinen Eltern sanft dazu ermutigt, auszugehen und sich zu amüsieren, während Danny ihn ganz unverblümt einen »alten Mann in der Haut eines Jungspunds« nannte.
Sein kleiner Bruder lebte lieber unbekümmert.
Gabe und Sailor hingegen waren aus unterschiedlichen Gründen früh erwachsen geworden und daher nachsichtiger mit ihm, trotzdem entging ihm nicht, wie besorgt sie ihn ansahen, wenn sie glaubten, er merke es nicht. Aber vermutlich würde sich das geben, wenn er sich weiterhin erfolgreich um seine Karriere und um Esme kümmerte – Zufriedenheit hatte viele Gesichter, und sein ganzes Glück bestand darin, das Leben seiner Tochter so schön wie möglich zu gestalten.
Nein, er würde Danny auf den Fotos nicht mit Blicken erdolchen.
Und auch den scharfzüngigen Geist aus seiner Vergangenheit nicht anstarren.
Juliet war mitten im Highschool-Abschlussjahr ohne Vorankündigung einfach weggeblieben. Gerüchten zufolge hatte ihre Familie beschlossen, sie auf eine strengere Schule zu schicken, nachdem sie zum dritten Mal fast suspendiert worden wäre. Calypso hatte tausend Ängste ausgestanden, sie war fest überzeugt gewesen, dass Juliet nie einfach so gehen würde, ohne ihr Bescheid zu sagen, aber schließlich hatte eine mitfühlende Lehrerin Juliets Abmeldung von der Schule bestätigt.
Einen Monat lang fehlte jede Spur von ihr, bevor sie sich dann endlich via E-Mail und SMS bei Calypso meldete. Damals hatte Jake wichtigere Probleme als Juliets plötzliches Verschwinden gehabt und deshalb kaum nach den Gründen gefragt. Aber durch dieses Wiedersehen wurde die Erinnerung schlagartig lebendig – an die Unschuld und Lebensfreude ihrer Teenagerzeit, daran, wie Juliet und Calypso sich im Unterricht kleine Zettel zugesteckt hatten, an die ungestümen Kicheranfälle der beiden.
Juliet hatte zu der Probe für diese Hochzeit nicht kommen können, weil just an diesem Tag bei ihr zu Hause ein Wasserrohr gebrochen war und die gesamte Küche überschwemmt hatte.
Es war ihr höchst unangenehm gewesen, absagen zu müssen, aber Charlotte hatte Verständnis gezeigt und ihr kurzerhand einen Ablaufplan geschickt. Juliet war also darauf vorbereitet, sich bei Jake einzuhaken und dann zusammen mit Molly und Fox, Ísa und Sailor, Mei und Danny, Aroha und Harry den Frischvermählten das Geleit zu geben.
In Wahrheit hatte sie die Vorstellung, Jake ausgerechnet unter diesen Umständen wiederzusehen, insgeheim amüsiert. Wer hätte gedacht, dass man sie irgendwann einmal Arm in Arm bei einer kirchlichen Trauung antreffen würde? Hätte eine Wahrsagerin ihnen das als Teenager prophezeit, sie hätten – Callie eingeschlossen – das kalte Grausen gekriegt und umgehend ihr Geld zurückverlangt.
Andererseits waren es ja nur ein paar Schritte. Keine große Sache also.
Wäre da nicht dieser unerklärliche Schauer gewesen, der sie mit Macht durchrieselt hatte, als ihre Blicke im Garten seines Bruders zusammenstießen. Sie hätte dieses Flattern in ihrer Magengrube am liebsten als Irritation oder Ärger – Gefühle, die sie unweigerlich mit Jake verband – abgetan, doch sie wusste, dass das nicht der Fall war.
Zuletzt hatte sie etwas Ähnliches wie dieses Kribbeln verspürt, als sie mit einer Portion Erdbeer-Vanille-Eis vor dem Fernseher gesessen und den durchtrainierten Schauspieler angeschmachtet hatte, der ihren Lieblingsarzt in der Serie Shortland Street verkörperte. Doch verglichen mit diesem sensorischen Wirbelsturm, der sie sprachlos gemacht hatte, war das nur ein Windhauch gewesen.
In ihr regten sich Schuldgefühle.
Sie schüttelte sie ab, konnte förmlich vor sich sehen, wie ihre beste Freundin die Augen verdrehte. Niemand wusste besser als sie, dass Juliet nicht das geringste sexuelle Interesse an Jake gehabt hatte, während er und Callie ein Paar waren. Tatsächlich hätte sie sich eher zu fahrlässiger Tötung hinreißen lassen. Sie musste sich nicht dafür schämen, dass sie sich als erwachsene Frau körperlich zu Jake Esera hingezogen fühlte – der im Übrigen viel zu gut roch.
Nach kühler Bergluft und kernigem Mann und dem ganzen anderen Zeug, mit dem für Herrendüfte Reklame gemacht wurde. Sie hatte derlei sonst immer belächelt, doch jetzt drängte es sie geradezu danach, sich ein Beispiel an der Dumpfbacke in einem aktuellen Werbespot zu nehmen, sich an ihren Kerl anzuschmiegen und seinen Duft richtiggehend einzusaugen.
Tja, dumm gelaufen.
Sie würde lieber zugrunde gehen, als diesem Verlangen nachzugeben.
»Er ist wirklich wundervoll, Jules. Gib ihm einfach eine Chance.«
»Darf ich ihm vorher eine Betäubungsspritze verpassen?«
Ihre Mundwinkel zuckten bei der Erinnerung daran, wie Callie sie lachend mit der Schulter angestupst hatte, dabei spürte sie, wie sich Jakes Muskeln unter ihrer Hand verkrampften. Garantiert spannte sich gleichzeitig auch sein Kiefergelenk an. Um sich zu vergewissern, hätte sie nur zu ihm hinübersehen müssen – auf ihren hohen Hacken war sie fast auf Augenhöhe mit ihm, und sogar barfuß maß sie immer noch stolze eins dreiundsiebzig. Das Dumme war nur, dass Jake wie sämtliche Männer in seiner Familie weit über eins achtzig groß war.
Es nervte sie, dass sein Körperwuchs ihn dazu befähigte, selbstgefällig auf sie herabzusehen.
Um sich abzulenken, ließ sie den Blick umherschweifen und betrachtete die lächelnden, gerührten Gesichter der Anwesenden. Alle hatten ihre Jacken und Mäntel an der Garderobe abgegeben, um sich in ihrem Sonntagsstaat zu präsentieren, ein fröhlich buntes Potpourri. Es gab duftige Kleider mit zarten Applikationen und gerade geschnittene mit geometrischen Mustern zu bewundern, wohingegen die Frauen samoanischer Abstammung sich für puletasi – kunstvoll gewebte, ein- oder zweiteilige bodenlange Gewänder mit traditionellem Muster – entschieden hatten.
Einige Männer trugen in Kombination mit Hemd und Krawatte einen lavalava – den traditionellen polynesischen Wickelrock –, andere einen klassischen westlichen Anzug. Ausnahmslos jeder war festlich gekleidet, wenn auch nicht auf Wunsch des Brautpaars, sondern weil das in dieser Kirche einfach erwartet wurde.
In der von Juliets Großeltern war es ähnlich gewesen.
Ein Lächeln zupfte an ihren Lippen, als sich zwei raffinierte kleine Blumenmädchen an ihr vorbeimogelten, um direkt hinter der Braut herzugehen, und sich sogleich wieder ganz brav gaben. Andere Kinder drängelten sich ans Ende der Kirchenbänke, um die Frischvermählten samt ihrem Gefolge besser sehen zu können. Juliet fing das fröhliche Grinsen eines kleinen, pausbäckigen Knirpses auf, der einfach zum Knuddeln aussah in seinem grauen, silbern bestickten Anzug im indischen Stil.
Es war der Sohn von Ísas humorvoller und blitzgescheiter Freundin Nayna, die mittlerweile auch eine gute Bekannte von Charlotte war und bereits an den Festivitäten im Vorfeld der Hochzeit teilgenommen hatte. Ihr attraktiver Ehemann gehörte zum Tross des Bräutigams und hatte heute als Platzanweiser fungiert.
Als Teenager würde ihr niedlicher Racker ihnen noch einigen Kummer bereiten, dachte Juliet und spürte einen Anflug von Solidarität. Sie freute sich schon darauf, ihn später auf der Feier tanzen zu sehen. Bei einer samoanischen Hochzeit gehörte Tanz sozusagen zum Pflichtprogramm, und soweit Juliet das beurteilen konnte, brachte Gabriel Bishop dem kulturellen Hintergrund seines Stiefvaters höchsten Respekt entgegen.
Juliet hatte vor, sich die Füße wund zu tanzen. Eine ihrer besten Freundinnen hatte sich heute mit der Liebe ihres Lebens vermählt, und das musste gefeiert werden. Und zwar ohne sich um die Meinung eines gewissen Mitglieds von Charlottes angeheirateter Familie zu scheren.
Wie sie Jake kannte, erachtete er Tanzen als unschicklich.
Die Nachmittagssonne strömte durch das offene Portal, als Gabriel und Charlotte ins Freie traten und von den Gästen, die es geschafft hatten, vor ihnen nach draußen zu gelangen, mit einem weiteren Blütenregen begrüßt wurden.
Das Paar lief lachend zu der glänzenden weißen Stretchlimousine, die sie im Anschluss an einen Fototermin mit der gesamten Familie – Ísas Geschwister Harlow und Catie inbegriffen – zum Hochzeitsempfang fahren würde.
Laut Charlotte hatten die beiden als Teenager so viel Zeit mit den Bishop-Eseras verbracht, dass Alison und Joseph sie auf die gleiche Art behandelten wie ihre Jungs. Obwohl die zwei während Gabriels Werbung um Charlotte im Ausland gewesen waren, hatte Juliets Freundin die Geschwister mittlerweile gut kennengelernt und ebenfalls große Zuneigung zu ihnen gefasst.
Auf ihren Wunsch hin hatte Catie auch schon an sämtlichen der Hochzeit vorangegangenen Festivitäten teilgenommen.
Charlottes Persönlichkeit bestach durch solche Liebenswürdigkeit, dass Juliet halb befürchtet hatte, Charlie würde Reißaus vor ihr nehmen, sobald sie sie besser kannte. Weil Juliets Herz von einem dicken Panzer umgeben war, während Charlie sich offen und entgegenkommend zeigte.
Sie beharrte darauf, Juliet besäße ein derart »großzügiges Herz«, dass sie es zwangsläufig vor Kummer schützen müsse. Juliet ließ sie in diesem Glauben und verschwieg ihr außerdem, dass sie auch heute noch den Fernseher mit irgendwelchen Wurfgeschossen bombardierte, wenn die Visage ihres verlogenen Exmanns auf dem Bildschirm auftauchte.
Da sie es sich nicht leisten konnte, sich ständig einen neuen Fernseher anzuschaffen, beschränkte sie sich auf weiche Objekte, wobei sie sich vorstellte, seine beiden Rüben mit Steinen zu bewerfen. Jawohl, Plural. Die auf seinem Hals und die zwischen seinen Beinen, die auf jede halbwegs mit Kurven ausgestattete Frau reagierte.
Aber Reid gehörte heute nicht hierher, dachte sie und holte tief Atem, dabei fing sie Jakes maskulinen Duft auf. Verdammter Mist. Sie stieß hektisch die Luft aus und konzentrierte sich auf das, was als Nächstes geplant war. Während die Hochzeitsfotos gemacht würden, sollten sich die Gäste von der Kirche zur Party-Location begeben, wo Drinks und Häppchen gereicht und von den Kindern und Jugendlichen kleine Showeinlagen dargeboten würden.
Der hohe Stellenwert, den die Familie – zu der sie auch ihre engsten Freunde zählten – für Gabriel und Charlie einnahm, hatte Juliet dazu verleitet, mit Aroha darum zu wetten, dass die beiden innerhalb von neun Monaten ihr eigenes Rugbyteam gründen würden.
Spätestens in zwölf.
Sie und Jake wechselten kein Wort, als sie zu der zweiten Stretchlimousine gingen. Sie bot genügend Platz für die gesamte Gruppe, und wie es die Ironie des Schicksals wollte, fand Juliet sich eingepfercht in einer Ecke wieder, neben ihr Jakes warmer Körper. Seit sie ihm zuletzt so nah gewesen war, hatte seine Statur sich deutlich verändert und wies nun die typischen Kennzeichen eines Rugbyspielers auf: breite Schultern, gestählte Oberarme und Schenkel. Er war nicht mit ganz so viel Muskelmasse gesegnet wie Gabriel, aber im Rugbysport spielten diese Unterschiede nur eine marginale Rolle.
Spitzenathleten wie er strotzten aus sich heraus von purer, ungebändigter Kraft und Schnelligkeit, ihre Fitness und Leistungsfähigkeit waren legendär. Jakes Schenkel mussten hart wie Granit sein.
Um Himmels willen, Juliet, hör auf, solchen Gedanken nachzuhängen!
Sofort flackerte in ihrem Kopf die Überlegung auf, wie es wohl wäre, mit den Zähnen in diese warmen, gebräunten Schenkel zu zwicken, und ob sie von einem Flaum schwarzer Haare bedeckt waren. Nicht, Juliet! Mach diesem Irrsinn auf der Stelle ein Ende!
»Lasst den Quatsch, ihr zwei.« Sailors Ermahnung bewirkte, dass glühende Röte ihre Wangen überzog … bis ihr klar wurde, dass er mit Catie und Danny sprach, die sich über die Rückbänke der Limo hinweg angifteten. »Heute herrscht mal Waffenstillstand.«
»Dann wüssten sie doch nichts mehr mit sich anzufangen«, gab Ísa lachend zu bedenken. »Als sie sich das letzte Mal gut benommen haben, waren sie hinterher dermaßen traumatisiert, dass Catie das Land verlassen musste.«
»Selten so gelacht«, versetzte Catie, die den duftigen, weit schwingenden Rock ihres Kleides sorgsam über die Knie ihrer Beinprothesen drapiert hatte.
Juliet wüsste nicht einmal, dass es Prothesen waren, hätte Catie nicht am Vortag eine davon abgenommen, um zu demonstrieren, mit welcher neuen Methode sie sie an dem Stumpf befestigte. Außerdem hatte sie Juliet das Foto einer Außenhaut für Prothesen gezeigt, dank derer sie aussahen wie echte Beine.
»Aber am liebsten mag ich die, die ich zum Laufen benutze«, hatte die Profisprinterin ihr erklärt. »Auf ihnen bin ich schnell wie der Wind.«
Die Zweiundzwanzigjährige war auf eine Weise mit ihrem Körper im Reinen, wie Juliet es im gleichen Alter nicht gewesen war. Vielmehr hatte sie sich linkisch gefühlt mit ihren mageren Armen und Beinen und dem hohen Wuchs, die nicht miteinander im Einklang schienen. Zumal sie immer noch mit dem Scheitern ihrer Ehe sechs Monate zuvor zu kämpfen gehabt hatte.
In Wahrheit war die Trennung von Reid das Beste, das ihr passieren konnte.
In einschlägigen Frauenzeitschriften mochte man spotten, dass sie sich anschließend Kummerspeck angefuttert habe, doch Juliet fühlte sich jetzt sehr viel wohler in ihrer Haut. Es war, als hätte sie ihren Körper endlich in Besitz genommen, sie mochte seine Art, sich zu bewegen, sein Aussehen. Sie war in ihn hineingewachsen, hatte ihre innere Mitte gefunden. Die Illustrierten konnten ihr mitsamt ihrem geheuchelten Mitgefühl den Buckel hinunterrutschen. Sie würde ihre Kurven zur Schau stellen und das Leben genießen.
Niemand hatte das Recht, sich ein Urteil über sie anzumaßen.
Vor allem Jacob Esera nicht.
»Hier.« Jake reichte ihr eine Champagnerflöte.
Sailor, der im vorderen Teil des Fonds saß, schenkte prickelnden, goldfarbenen Champagner in die Gläser, die seine Frau ihm hinhielt. Anschließend zwinkerte er Ísa mit einem verschmitzten Grinsen zu.
»Danke.« Juliet nahm die Flöte, dabei achtete sie darauf, dass ihre Finger nicht versehentlich Jakes streiften. Was kaum einen Unterschied gemacht hätte, so nah, wie er ihr auf die Pelle rückte. Der Mann strahlte die Hitze eines Backofens aus.
»Warum diese Leichenbittermiene?« Jake musterte sie mit einer hochgezogenen Braue.
»Das ist mein Zicken-Gesicht im Ruhemodus.«
In seinen Augen zeigte sich unverkennbar eine Spur von Wärme, bevor Molly ihm auf die Schulter tippte und ihm sein Glas reichte. Anstatt die Gelegenheit zu ergreifen und das Gespräch mit jemand anderem zu suchen, bedankte er sich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Juliet zu. »Nur um das abzuklären – ist das der einzige entspannte Gesichtsausdruck, den du auf Lager hast, oder ist er speziell für mich reserviert?«
Fast hätte sie gelacht und sich dabei mit ziemlicher Sicherheit an ihrem Champagner verschluckt. »Ich verfüge über ein ganzes Repertoire.« Sie setzte ein falsches Lächeln auf, nur um festzustellen, wie er reagierte. »Aber keine Sorge, du brauchst dir nur den hier zu merken – es ist der einzige, den du sehen wirst.«
Er machte große Augen. »Ich denke, du solltest einen Arzt aufsuchen, Jules. Dein Gesicht ist ganz komisch verzerrt.«
Dieses Mal wäre sie ganz sicher in Gelächter ausgebrochen, hätte Sailor nicht im selben Moment einen Toast ausgebracht. »Auf Gabe und Charlie!« Jakes zweitältester Bruder hob seine Flöte, nachdem alle einen Schluck getrunken hatten – inklusive Esme und Emmaline, die ihre »Erwachsenengläser«, in denen sich Limonade anstelle von Champagner befand, mit großer Vorsicht festhielten.
Juliets Herz drohte schon wieder wachsweich zu werden, als sie gemeinsam mit den anderen ihr Glas erhob. Jake stieß mit seinem gegen ihres, dann tranken sie. Dabei lieferten sie sich ein Blickduell, das Ausdruck eines Kampfes war, der an dem Tag begonnen hatte, als Callie Juliet in der Mittagspause zur Seite genommen und ihr zuflüstert hatte, dass Jake sie eingeladen habe, sich sein nächstes Spiel anzuschauen.
Ihre Augen hatten gefunkelt wie zwei Sterne, sie war vor Freude ganz außer sich gewesen. Juliet hatte nicht verstanden, was ihre strebsame beste Freundin an diesem aufgeblasenen Kraftprotz fand, der in der Schule herumstolzierte, als wäre er Gott weiß wer. Und überhaupt stellte sie sich unter einem Rendezvous etwas anderes vor, als einer Horde verschwitzter Kerle dabei zuzuschauen, wie sie sich gegenseitig umrempelten.
Doch am Ende hatte sie sich eingestehen müssen, dass Jake Callie auf Händen trug.
Genau wie sein frisch vermählter Bruder machte Jake kein Geheimnis daraus, wenn er Gefühle für jemanden hatte. Oft hatte er vor dem Klassenzimmer auf Callie gewartet, um sie zu ihrem nächsten Kurs zu begleiten, während sie bei jedem seiner Rugbyspiele aufgetaucht war, um ihn anzufeuern. Sie hatte Juliet mitgeschleppt und keine Ausflüchte gelten lassen. Juliet interessierte sich für Sport, trotzdem verstand sie unter Spaß etwas anderes, als an einem kalten Wintertag an einer matschigen Seitenlinie herumzustehen und zuzusehen, wie ein Haufen schlammverkrusteter Athleten einem glitschigen, eiförmigen Ball hinterherjagte.
Aber sie war mitgekommen, weil Callie schon immer ihre einzige echte Freundin gewesen war. Es wäre ein Leichtes für diese gewesen, Juliet fallen zu lassen, als deren Zensuren sich zunehmend verschlechterten, sie Verweis um Verweis bekam oder vom Unterricht suspendiert wurde. Callies Eltern hatten keinerlei Sympathie für Juliet empfunden und ihrer Tochter wiederholt nahegelegt, sich einen besseren Umgang zu suchen.
Doch die konfliktscheue, aber trotzdem eigensinnige Callie hatte nicht auf sie gehört.
Juliet wurde die Brust eng, denn am Ende hatte sie ihre Freundin im Stich gelassen. Es war nicht ihre Schuld gewesen, dass sie nicht zu Callies Beerdigung kommen konnte, dennoch verlor sich dieses Gefühl nie. Nicht einmal Blumen hatte sie schicken können, weil das wenige Geld, das sie besaß, gerade einmal dafür reichte, ein bescheidenes Datenvolumen auf das ausrangierte Handy zu laden, das eine mitfühlende Lehrerin ihr geschenkt hatte.
Ihre Möglichkeiten hatten sich darin erschöpft, Jake eine E-Mail zu schreiben. Nicht Callies Eltern; sie hätten sie umgehend gelöscht. Sie musste Jake zugutehalten, dass er ihr nicht nur geantwortet, sondern ihre Abschiedsworte an ihre Freundin auf der Trauerfeier verlesen hatte.
Vor dem heutigen Tag hatten sie seither keinen Kontakt mehr gehabt.
»So ein Mist!« Ein Tropfen eisgekühlten Champagners glitt ihr Dekolleté hinab. Instinktiv nahm sie ihn mit der Fingerkuppe auf und leckte ihn ab.
Ihr Blick traf mit Jakes zusammen, während ihre Lippen noch ihren Finger umschlossen. Hitzige Röte stieg ihr ins Gesicht. Er starrte sie an, als wäre sie soeben schmutzstarrend und nur in ein Bärenfell gehüllt aus einer Höhle herausgekrochen.
Sie schnitt ihm eine Grimasse und saugte absichtlich noch einmal an ihrem Finger, bevor sie ihn aus ihrem Mund zog und Jake mit den Augen dazu herausforderte, irgendeinen Kommentar abzugeben.
Jakes Körper sträubte sich mit aller Macht gegen die brennende Begierde, die wie ein Wirbelsturm in ihm wütete und ihn mit sich fortzureißen drohte. Er biss die Zähne zusammen und wich Juliets herausforderndem Blick aus.
Was in Dreiteufelsnamen stimmte nicht mit ihm?
Seine Reaktion galt tatsächlich Juliet!
Derselben Person, die früher in einer Tour nachsitzen musste, frech zu den Lehrern war und Jahr für Jahr um die Versetzung kämpfte. Und ihm den letzten Nerv geraubt hatte.
Gerade lachte sie über eine Bemerkung von Mei, die heute nicht die abgebrühte Polizistin gab, sondern geradezu aufgekratzt wirkte. Es war ein dunkles, warmes Lachen, das seinerzeit, als sie noch eine richtige Bohnenstange war, nicht recht zu ihr gepasst hatte. Inzwischen war es eine zusätzliche Waffe in ihrem erotischen Arsenal.
Es legte sich um ihn, als würde sie ihn mit ihren weichen, sexy Schenkeln umschließen.
Die Rebellin Juliet Nelisi war zur Frau herangereift, hatte weibliche Formen entwickelt, ohne spitze Knochen. Gott, wen versuchte er damit zum Narren zu halten? Sie war die reinste Sexbombe, mit rasanten Kurven, die er Zentimeter für Zentimeter erkunden wollte … um gleich wieder von vorn zu beginnen.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Jake war kein Mönch, aber auch kein Don Juan. Er ließ die Dinge langsam angehen und wählte seine Sexpartnerinnen mit Bedacht. Weder gab er sich für One-Night-Stands her noch blindlings seinen Trieben nach. Selbst wenn er kein ausgesprochen reservierter Mensch gewesen wäre, der wollte, dass seine Tochter stolz auf ihn sein konnte, waren da immer noch seine Werbeverträge, die ein blitzsauberes Image verlangten.
Er konnte es sich nicht erlauben, in den Boulevardzeitungen aufzutauchen.
Seine letzte Liaison hatte er mit einer investigativen Journalistin gehabt, die seine Lebenseinstellung teilte. Rachel war auf dem besten Wege, eine bemerkenswerte Karriere weit abseits der Regenbogenpresse zu machen.
Zwar brachten diverse Klatschblätter gelegentlich einen Artikel über ihn, der den »tragischen Verlust seiner großen Liebe« thematisierte, doch das war alles. Es war schwierig, seinem nach Ansicht der Medien hochgradig uninteressanten Dasein anzügliche oder skandalträchtige Schlagzeilen abzugewinnen. Das alte Foto von ihm und Callie, das ein ehemaliger Schulkamerad herausgerückt hatte, ließ sich nicht unbegrenzt oft abdrucken.
Für die Sensationspresse war Jake der langweiligste Rugbyspieler auf diesem Planeten, und genau so sollte es auch bleiben.
Juliet hingegen war für sie ein gefundenes Fressen. Er hatte ihren Lebensweg nicht verfolgt, trotzdem waren selbst ihm all die Schlagzeilen während ihrer Ehe mit Reid Mescall nicht entgangen. Jake war, bedingt durch ihre gemeinsame Vergangenheit, beim Anstehen an der Supermarktkasse des Öfteren auf ihren Namen oder ihr Gesicht auf der Titelseite einer Gazette aufmerksam geworden.
Trotzdem hatte er nie eine gekauft.
Jake runzelte die Stirn.
Jetzt, da er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass seines Wissens in letzter Zeit nicht mehr über sie berichtet worden war. Dabei machte die Prominenz ihres Exmannes sie automatisch interessant für die Öffentlichkeit.
Diese Autofahrt schien einfach kein Ende zu nehmen, mit jedem zurückgelegten Kilometer wurde er sich der Nähe ihres sinnlichen Körpers stärker bewusst. Er konnte ihren süßen, erotisierenden Duft riechen, was eigentlich unmöglich war, denn dafür waren zu viele Leute in dieser Limousine. Aber mit jedem Atemzug spürte er ein Kribbeln in einem Teil seiner Anatomie, der sich heute ganz besonders in Zurückhaltung üben sollte. Was er definitiv nicht vorhatte, war, sich auf den Hochzeitsfotos seines Bruders mit einer Erektion zu präsentieren.
Er war heilfroh, als der Wagen schließlich anhielt, sowie sie die Auckland Domain erreicht hatten. Der weitläufige Park im Herzen der Stadt hatte für Gabriel und Charlotte eine besondere Bedeutung und sollte – neben ihrem Penthouse, das eine unvergleichliche Aussicht bot – als Kulisse für die Fotos dienen.
Infolge der Sitzordnung waren Jake und Juliet die Letzten, die ausstiegen. Er verließ den Wagen vor ihr und reichte ihr dann instinktiv seine Hand. Sein Vater hatte ihn und seine Brüder dazu erzogen, Frauen mit Respekt zu behandeln, so wie die Ritter in den Märchen, die seine Mutter ihnen früher vorgelesen hatte.
Natürlich hatte Joseph Esera sich nie mit einer angriffslustigen Kratzbürste wie Juliet abmühen müssen. Vermutlich verspeiste sie heldenhafte Ritter gern als Mitternachtssnack und benutzte ihre Knochen hinterher als Zahnstocher.
Sie maß ihn mit einem finsteren Blick, bevor sie seine Hand ergriff und sich aus der Limousine helfen ließ. Der Hautkontakt sandte Schockwellen durch seinen Körper. Plötzlich fühlte er sich wie ein hormongesteuerter Teenager, der keine rationalen Einwände gegen diese unerklärliche Anziehung gelten ließ.
Ihre Hand war weich und zart und überraschenderweise ein kleines bisschen rau, als würde sie grobe Tätigkeiten damit verrichten. Er fragte sich, ob Juliet immer noch Metallarbeiten anfertigte, wofür sie an der Highschool großes Talent gezeigt hatte. Sie hatte zu den wenigen Mädchen in dem Kurs gehört, was Jake nur deshalb wusste, weil er zeitgleich im Nebenraum den Kurs für Automobiltechnik besucht hatte.
In seinem Kopf tauchte ein Bild von Juliet auf, wie sie, ihr Gesicht halb hinter einer Schutzbrille verborgen, fachmännisch mit einem Schneidbrenner hantierte. Da sein Lehrer ihm gerade den Rücken zuwandte, hatte er schnell einen Schnappschuss von ihr und dem Funkenregen gemacht und ihn ihr in der Mittagspause geschickt. Er war geradezu schockiert über ihre Antwort gewesen: Das Foto ist der Hammer! Danke.
Das war der netteste Austausch, der je zwischen ihnen stattgefunden hatte.
Was seine eigenen Hände betraf, so waren sie wegen der Gewichte, die er stemmte, um sich in Form zu halten, das Gegenteil von weich. Zudem war Rugby nicht gerade als Gentleman-Sportart bekannt.
»Danke.« Sowie Juliet dem Wagen entstiegen war, gab sie seine Hand frei.
»Na, halt meine Hand bloß nicht zu lange«, brummte er, dabei hätte er eigentlich für ihren Rückzug dankbar sein müssen.
Ein weiteres oscarreifes, unaufrichtiges Lächeln. »Oje, der kleine Jakey möchte, dass ich ihm das Händchen halte. Na dann komm, Baby.« Sie streckte ihm die Hand hin.
Jake schloss den Knopf an seinem Jackett. »Hast du heute Morgen vergessen, deine Pillen zu nehmen? Du benimmst dich wie eine wildgewordene Irre.« Jake konnte nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hatte. Niemand außer Juliet schaffte es, ihn so sehr zu reizen, dass er sich zu einem siebzehnjährigen Flegel zurückentwickelte.
Ihr dunkles, rauchiges Lachen wirkte auf ihn wie eine körperliche Liebkosung. »Du bist schlagfertiger geworden«, bemerkte sie mit blitzenden Augen. »Zu Schulzeiten beschränkte sich deine Retourkutsche meistens auf einen überheblichen Machoblick.«
Was daran lag, dass sie wie eine fremde Spezies für ihn gewesen war, mit der er nichts gemein hatte.
»Juliet! Jake!« Seine Mutter winkte sie herbei.
Sie setzten sich in Bewegung.
Der Chauffeur hatte die Limousine zwischen der Rotunde und dem Winter Garden geparkt, welcher zwei große Gewächshäuser beherbergte, in denen neben einer Vielfalt von Blumen auch tropische Pflanzen zu bestaunen waren. Jake hatte hier mit Esme schon manch verregnetes Wochenende verbracht, wenn ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war.
Gewöhnlich hielten sie auf dem Weg dorthin bei seinem Bruder und holten Emmaline ab, die sich für die geflügelten Kannenpflanzen begeisterte, während Esme am besten der Kakaobaum gefiel, wenn er Früchte trug. Waren die Mädchen brav gewesen, lud Jake sie im Anschluss an einen gemütlichen Spaziergang durch den Winter Garden in ein nahe gelegenes Café ein.
Erstaunlicherweise zeigten beide sich an solchen Tagen stets von ihrer Schokoladenseite.
Fast hätte ihm der Gedanke ein Lächeln entlockt, während er die beiden kleinen Mädchen betrachtete, die Hand in Hand zwischen Ísa und Alison gingen. Vor ihnen fungierten Molly und Mei als Charlottes Schleppenträgerinnen, damit die lange Schleppe nicht über den Asphalt des Parkplatzes schleifte. Der Fotograf war mit seiner Assistentin schon frühzeitig eingetroffen und winkte das Brautpaar nun zur Rotunde; dabei nutzte er die Gelegenheit für ein paar Schnappschüsse.
Währenddessen kümmerte seine Assistentin sich um die Ausrüstung für die offiziellen Fotos.
Erwartungsgemäß erregte die Hochzeitsgesellschaft die Aufmerksamkeit zahlreicher Besucher, die diesen sonnigen Samstagnachmittag auskosteten. Über ihre Gesichter ging unwillkürlich ein Lächeln. In der Rotunde spielten ein paar Kinder, die Charlotte aber sofort unaufgefordert den Weg frei gaben. Sowie sie Gabe, Jake und Danny erblickten, rissen sie die Augen auf und gaben ein Japsen von sich.
Eindeutig Rugbyfans.
Jake nahm sich vor, die Kinder für ihr freiwilliges Platzmachen mit einem Autogramm oder einem Foto von sich und Danny zu entschädigen. Bestimmt würden sie sich nicht weit entfernen, während die Hochzeitsbilder gemacht wurden. Eben erst hatte eines der Kinder einem Paar, das auf einer Picknickdecke saß, etwas zugerufen. Es waren vermutlich ihre Eltern.
Schon nach wenigen Minuten verzichtete der Fotograf darauf, Gabriel und Charlotte Anweisungen zu geben – die beiden waren dermaßen verliebt ineinander und euphorisch, dass jede Aufnahme wie von selbst gelang. Irgendwann hob Gabe Charlie ohne Vorwarnung auf seine Arme, sodass ihr Schleier sich wie ein seidiger Wasserfall auf die Erde ergoss. Jakes knallharter Bruder war die personifizierte Glückseligkeit, in Charlottes Gesicht zeigte sich pure Verzückung.
Unterdessen standen er und Juliet still und reglos nebeneinander. Aber es war kein behagliches Schweigen, sondern ein höchst unbehagliches. Nervenzerreißend. Typisch Juliet eben. Voll scharfer Kanten, um die Welt auf Abstand zu halten. Calypso war die Einzige, die Zugang zu ihr gefunden hatte.
»Du hast also damals die Schule gewechselt«, sagte er, nur um irgendeinen Kontakt herzustellen, ein Gespräch anzukurbeln im Gedenken an den Menschen, der eine zentrale Rolle in ihrer beider Leben gespielt hatte, »weil du rausgeworfen wurdest?« Jake hatte Calypso zu jener Zeit kaum Fragen gestellt, er war einfach nur froh gewesen, dass sie sich nicht länger über das Verschwinden ihrer Freundin den Kopf zermarterte.
Das hatte sich damals nämlich schon über drei Monate hingezogen.
»Besagten das die Gerüchte?« Juliet schnitt eine Grimasse. »Hoffentlich hat man mir zumindest einen aufsehenerregenden Skandal unterstellt.«
Er beugte sich vor, nahm ihren berauschenden Duft in sich auf. »Ja, eine Affäre mit dem Rektor.«
»Igitt!« Sie knuffte ihn in den Oberarm. »Das hast du dir ausgedacht.«
»Meinst du?«
Ihr Blick kündete von Rache – wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, würde diese Furie Vergeltung üben. »Sie haben mich nach Samoa geschickt«, klärte sie ihn schließlich auf. »Und mir strenge Disziplinarmaßnahmen auferlegt. Mein Handy wurde konfisziert und jede außerschulische Aktivität wurde gestrichen. Ich konnte Callie nur dank einer Lehrerin benachrichtigen, die Mitleid mit mir hatte, dem aus Neuseeland verpflanzten armen Wicht, und mir ihr altes Prepaid-Handy überließ. Ich habe gegen Bezahlung die Hausaufgaben anderer Schüler gemacht, um mir ein größeres Datenvolumen kaufen zu können.«
Juliet hatte sich immer zu helfen gewusst, sie war sehr klug. Einmal hatte er im Matheunterricht beobachtet, wie sie in ihr Buch kritzelte, und gedacht, dass sie einfach nur Männchen malte. Doch als er über ihre Schulter spähte, hatte er erkannt, dass sie die schwierige Gleichung löste, die der Lehrer gerade mit Engelsgeduld erklärte. Ihre schlechten Zensuren waren vermutlich dem Umstand geschuldet, dass sie an den meisten Abenden sowie Wochenenden arbeitete.
Er hatte selbst neben der Schule gejobbt, sich aber nie so abgerackert. »Was ist mit dem Geld passiert, das du hier verdient hattest?« Jake erinnerte sich noch gut daran, wie er manchmal zu später Stunde mit einem seiner älteren Brüder im Supermarkt einkaufen war und Juliet an der Kasse gesessen hatte. Gegenüber seinen Brüdern war sie ausnehmend freundlich und zuvorkommend gewesen.
Ihr wunderliches Verhalten hatte dazu geführt, dass er eines Tages unter dem Vorwand, einen Schokoriegel zu holen, den er absichtlich zurückgelassen hatte, noch einmal in den Laden gegangen war und sie gefragt hatte, ob sie von einem freundlichen Dämon besessen sei.
Juliets Reaktion hatte gezeigt, dass sie immer noch ganz die Alte war.
Gerade zuckte sie mit den Achseln, wodurch sein Blick beinahe auf ihr aufreizendes Dekolleté gelenkt wurde. »Weil ich noch minderjährig war, hatte meine Tante Zugriff auf mein Bankkonto. Sie hob meine Ersparnisse ab, um mir ein Flugticket nach Samoa zu kaufen.«
Jake sah sie von der Seite an und suchte in ihren Zügen nach all den Dingen, die sie ungesagt ließ. Aus ihren Worten hatte kein Zorn gesprochen, was unerklärlich war angesichts einer solch dramatischen und erzwungenen Veränderung – die sie auch noch mit ihrem schwer verdienten Geld hatte bezahlen müssen. Die Juliet, die er kannte, war ausnahmslos immer wütend gewesen.
»Bei wem hast du in Samoa gelebt? Bei deinen Großeltern?«
»Ja. Väterlicherseits.«
»Wie war es, dort zur Schule zu gehen?«
Kurzes Schweigen. »Ich musste eine Klasse wiederholen.« Zwischen den Zeilen noch mehr Unausgesprochenes. »Sagen wir einfach, die Dinge liefen nicht besonders gut.«
Jake zuckte gelassen die Schultern. »Ich musste auch mal eine Ehrenrunde drehen.«
Der Blick aus ihren dunklen Augen traf seinen, und der sanfte Ausdruck darin verursachte ihm weiche Knie, weil er so gar nicht zu dieser widerspenstigen, streitbaren Frau zu passen schien.
»Du bist ein wirklich guter Vater, Jake«, bemerkte sie. »Callie wäre mit Sicherheit überglücklich darüber, wie du eure Tochter aufziehst. Sie hegte wundervolle Träume für ihr kleines Mädchen.«
Jake sprach nicht oft über dieses Thema, nicht einmal mit seinen Brüdern. Und einen besten Freund hatte er schon lange nicht mehr. Die meisten seiner gleichaltrigen Rugbykollegen trugen noch nicht die Verantwortung für eine Familie und führten ein Leben, das er sich weder erlauben konnte noch wollte. Für ihn gab es keine trinkfreudigen Partynächte, keine kurzfristig geplanten Wochenendtrips.
Er kam besser mit den älteren Teammitgliedern zurecht, mit denen, die wie er familiäre Verpflichtungen hatten, was jedoch gleichzeitig bedeutete, dass sie nur selten gesellig zusammenkamen. Aber sie verstanden, dass Esme oberste Priorität hatte, dass er sie liebte und für sie da sein wollte. Sie hatte keine Mutter mehr, nur noch ihn.
Obwohl seine ganze Familie ihm stets hilfreich zur Seite stand, war trotzdem er derjenige, der ihr abends einen Gutenachtkuss gab und sie am Morgen weckte. Der mit ihr Schulsachen einkaufen ging und gelernt hatte, ihr die Haare zu flechten.
All das und noch mehr sprach er normalerweise nicht laut aus.
Doch heute machte er eine Ausnahme, vielleicht, weil Juliet Calypso nahegestanden hatte. »Das hoffe ich. Sie wäre eine fantastische Mutter geworden.« Calypso war voller Pläne gewesen, sie hatte ganze Listen mit Dingen erstellt, die ihr Baby brauchen würde.
»Sie hat den Namen Esme ausgesucht, stimmt’s?«
Es überraschte ihn nicht, dass Calypso mit ihrer besten Freundin darüber geredet hatte. »Stimmt. Und sie hat sich oft dabei gefilmt, wie sie während der Schwangerschaft mit Esme sprach.« Mit ihrem »süßen Baby«, während sie sanft ihren Bauch streichelte. »Esme liebt diese Videos.«
Danny hatte Jake geholfen, sie in die Cloud hochzuladen und ein Backup zu erstellen, damit sie seiner Tochter niemals verloren gingen. »Wir sehen sie uns an jedem Muttertag gemeinsam an.« Esme war von klein auf in der Gewissheit aufgewachsen, dass ihre Mummy sie sehr geliebt hatte. »Ich wünschte, Calypso könnte miterleben, wie toll Esme sich entwickelt. Sie wäre unendlich stolz auf sie.«
Juliet blinzelte und schaute weg. Gemeinsam beobachteten sie, wie Gabriel Charlotte auf das überflüssige Stichwort des lockenköpfigen Fotografen hin küsste. Er konnte die Hände nicht von seiner frisch Angetrauten lassen, und Charlie spielte bereitwillig mit.
»Wie ich hörte, starb sie sehr schnell an dieser Meningitis!« Juliets Stimme hatte einen heiseren Beiklang.
»Sie musste nicht leiden.« Bestimmt war Calypsos beste Freundin seit Kindheitstagen froh, das zu hören. »Eines Abends fühlte sie sich plötzlich nicht gut, und weil die Geburt erst so kurz zurücklag, fuhren meine Eltern uns zur Notaufnahme. Wir hofften auf eine Bestätigung, dass es nichts Ernsteres war als eine Grippe. Stattdessen wurde sie stationär aufgenommen. Doch die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun – sie starb wenige Stunden später.«
Es kam ihm immer noch surreal vor, dass die lebenssprühende junge Frau, die er inniglich liebte, von einer Krankheit dahingerafft worden war, die keine Rücksicht darauf nahm, dass Calypso einen Säugling zurückließ, den sie innig liebte. Dazu einen verängstigten Partner, der alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um schnell erwachsen zu werden und dem Kind die Unterstützung zu geben, die es brauchte.
»Daddy!« Ein zartes Elfchen tänzelte aufgeregt vor ihm herum. Der Anblick wärmte ihm das Herz und scheuchte die traurigen Erinnerungen zurück in die Vergangenheit, wo sie hingehörten. Dies hier war seine Zukunft, und sie erforderte einen Jake, dessen Seele heil war, der die Bedeutung von Freude verstand.
Er ging vor Esme in die Hocke und sagte: »Entschuldigung, kenne ich dich?«
»Ich bin es, Esme!«
»Nein, das glaube ich nicht.« Er kratzte sich am Kinn. »Meine Tochter ist noch ein kleines Mädchen, du dagegen bist eine wunderhübsche junge Dame.«
Sie kicherte. »Ich hab dich lieb!« Sie gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, dann sprang sie davon und gesellte sich zu Emmaline und den anderen Kindern.
Ja, er machte seine Sache gut. Auch wenn er in ständiger Angst lebte, es zu vermasseln.
Er spannte die Bauchmuskeln an und atmete tief ein … dabei schmeckte er den Duft einer hinreißend sinnlichen Frau auf der Zunge, er sickerte in jede Zelle seines Körpers. Ihre nackten Beine waren nur Zentimeter von ihm entfernt; er wollte über die seidige, gebräunte Haut streicheln, bis Juliet schnurrte wie eine Katze. Er stellte sich vor, wie sie die Schenkel um seinen Kopf anspannte, während er sie mit der Zunge verwöhnte und ihren Ecken und Kanten dadurch vielleicht endlich die Schärfe nahm.
Zuzusehen, wie Jake vor Esme in die Hocke ging und sie ihre Händchen an seine Wangen legte, damit er stillhielt, während sie ihn überschwänglich küsste, lenkte Juliet von den kummervollen Erinnerungen ab. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, ihr Herz vollführte einen übermütigen Salto. Mit seinen breiten Schultern, dem leicht gelockten Haar, der verspielten Stimme, mit der er sein kleines Mädchen neckte, zielte dieser Mann direkt auf ihre Libido.
Ihr Unterleib kribbelte. Juliet biss die Zähne aufeinander und befahl ihm, sich verdammt noch mal zu benehmen. Sie würde ihm eine solche Reaktion auf Jacob Esera nicht erlauben. Derweil der Fotograf Alison und Joseph zusammen mit den Jungvermählten ablichtete, richtete Jake sich wieder auf, und der Duft seines Aftershaves – Wald und Regen und sexy Mann – strich an ihr vorbei. Nun spielten auch ihre Brüste verrückt, sie schienen in den Körbchen ihres BHs anzuschwellen.
»So, das hätten wir.« Der Fotograf klatschte in die Hände. »Jetzt die Hochzeitsgesellschaft.«
Gott sei Dank.
Juliet konzentrierte sich verbissen auf den schlaksigen Mann, der zwar sehr attraktiv war, aber keinerlei Kribbeln bei ihr bewirkte. Genau das wollte und brauchte sie.
»Als Erstes die Damen«, sagte er. »Danach alle zusammen, gefolgt von einigen zusätzlichen Einzel- und Gruppenaufnahmen. Den krönenden Abschluss bilden die Trauzeugen des Bräutigams.«
Es war wundervoll und chaotisch, und am Ende taten Juliet vom vielen Lächeln die Gesichtsmuskeln weh. Vielleicht würde sie ihren Liebesroman-Bann aufheben, denn das hier war in jeder Hinsicht ein wahr gewordenes Happy End. Ganz im Gegensatz zu ihrer eigenen Situation.
Pestzecke Reid hatte sie nie so angeschaut, wie Gabriel Charlotte ansah.
Als der Fotograf ihn zu den anderen Männern schickte, griff Gabriel sich ans Herz und gab sich untröstlich, während er die Stufen der Rotunde hinunterging. Charlotte warf ihm lachend eine Kusshand zu, und der Kameraauslöser klickte.
Juliet seufzte.
Aroha stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. »Siehst du? Ich hab doch gleich gesagt, dass du von der Gefühlsduselei angesteckt werden wirst.«
»Ist nur das Hochzeitsvirus. Das vergeht, sobald dieser Tag vorüber ist.«
»Bist du dir da so sicher? Ich hab vorhin gesehen, wie du mit Jake auf Tuchfühlung gegangen bist.« Sie wackelte mit den Augenbrauen. »Lechz-lechz.«
»Ich hab ihn in der Schule mal verkloppt.« In Wahrheit hatte sie aus unerfindlichen Gründen eine Tomate nach ihm geworfen, er war ausgewichen. Ende der Geschichte.
Aroha klappte der Mund auf. »Im Ernst? Du hast mit Jacob Esera die Schulbank gedrückt?«
»He, lass dieses Groupie-Gehabe.« Aroha war ein eingefleischter Rugbyfan. »Apropos lechz-lechz. Harry ist ziemlich heiß.« Um Aroha vom Thema Jake abzulenken, hätte sie das auch gesagt, wenn er ein dreiköpfiger Rüsselkäfer gewesen wäre.
Ihre Freundin schlug mit einem für sie untypisch schüchternen Lächeln die Augen nieder, worauf Juliet Harry einer eingehenderen Betrachtung unterzog. Er war groß und muskelbepackt – etwas zu sehr für ihren Geschmack –, mit breiten Schultern, ausgeprägtem Unterkiefer und kantigem Gesicht. Das Gefühl sagte ihr, dass er Wert auf Zuverlässigkeit und Korrektheit legte.
Aroha hingegen war wild, farbenfroh und offenherzig.
Andererseits lag so viel Liebe in der Luft, da konnte alles Mögliche passieren. Solange nur Juliet nicht davon infiziert wurde. Ihre Zukunftsplanung sah ein langes und erfülltes Single-Dasein vor, inklusive mindestens fünf Katzen, die sie bei sich aufnehmen würde, sobald sie nicht mehr berufsbedingt reisen musste.
»Treib doch ein bisschen Bettgymnastik mit ihm – der Kerl sieht aus, als könnte er ein paar Lockerungsübungen vertragen.« Ihre Bemerkung brachte Aroha zum Lachen, was prompt von dem Fotografen eingefangen wurde.
Als schließlich die Trauzeugen an der Reihe waren, entschieden sie, sich unter den uralten Bäumen ablichten zu lassen, die überall auf dem Gelände der Auckland Domain zu finden waren. Obwohl nicht alle blutsverwandt, sahen diese stattlichen, überaus attraktiven, lächelnden Männer aus wie aus einem Guss. Dieser Eindruck änderte sich auch nicht, als Harlow und Joseph sich zu einem weiteren Foto zu ihnen gesellten.
Jacketts wurden abgestreift, Krawatten gelockert und beiseite geworfen, Arme umeinander gelegt. Als irgendwann Emmaline und Esme durch das Bild rannten, schnappten die Männer sie sich und setzten sie sich auf die Schultern. Die Kamera klickte und klickte.
Bevor die Hochzeitsgesellschaft sich zu den Gewächshäusern begab, wo weitere Aufnahmen gemacht werden sollten, legten die Männer grummelnd ihre Sakkos und Krawatten wieder an. Mehrere von ihnen, darunter auch der Bräutigam, nahmen sich einen Augenblick Zeit, um sich mit den Kindern, die bei ihrer Ankunft in der Rotunde gespielt hatten, fotografieren zu lassen und ihnen Autogramme zu schenken.
Juliet mied unterdessen hartnäckig Jakes Blick. Und er den ihren. Gut so. Sie hatten ihren Moment der Zweisamkeit gehabt – es würde in einer Katastrophe enden, wenn sie den Bogen überspannten.
Irgendwann bückte sie sich, um die Schärpe von Esmes Kleid zu richten, als ein Klicken ihr verriet, dass der Fotograf die Szene eingefangen hatte.