Cherish Kisses - Nalini Singh - E-Book
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Cherish Kisses E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Er spielt außerhalb ihrer Liga - doch sie stellt die Regeln auf

Als Charlotte Baird von einem Unbekannten in ihrem Büro überrascht wird und ihm vor Schreck einen Tacker an den Kopf wirft, ist dies die missglückte erste Begegnung mit Gabriel Bishop, ihrem neuen Chef. Doch statt sie auf der Stelle zu feuern, ernennt er sie zu seiner persönlichen Assistentin! Ein Schock für Charlotte, die sich lieber unauffällig im Hintergrund hält - und die schon jetzt spürt, dass sie Gabriels Charme nicht gewachsen ist!

"Nalini Singh erinnert mich mit diesem Buch daran, warum ich Liebesromane liebe!" FICTION VIXEN

Dieser Roman ist auch unter dem Titel ROCK KISS - ICH BERAUSCHE MICH AN DIR erhältlich

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Seitenzahl: 497

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

TEIL I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

TEIL II

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Die Autorin

Nalini Singh bei LYX

Impressum

NALINI SINGH

CHERISH KISSES

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Als Charlotte Baird spät nach Feierabend von einem unbekannten Mann in ihrem Büro überrascht wird, weiß sie sich vor Schreck nicht anders zu helfen, als einen Tacker nach dem attraktiven Eindringling zu werfen. Leider bemerkt sie fast im selben Moment, dass es sich bei dem Unbekannten um Gabriel Bishop handelt – ihren neuen Chef! Charlotte ahnt, dass von nun an nichts mehr so sein wird wie vorher. Schließlich verlief ihr Leben bis jetzt nach der einfachen, aber bewährten Regel: Verhalte dich so unauffällig wie möglich! Als Charlotte am nächsten Tag von Gabriel in sein Büro zitiert wird, macht sie sich auf ihre Kündigung gefasst – und staunt nicht schlecht, als er sie zu seiner persönlichen Assistentin ernennt. Die schüchterne Charlotte mit dem analytischen Verstand kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als rund um die Uhr mit dem Mann zusammen zu sein, der ohne Rücksicht auf Verluste wie ein T. Rex durch die Firma stürmt und im nächsten Moment nur mit einem Augenzwinkern all ihre Sinne vernebelt und ihr Herz zum Rasen bringt …

TEIL I

1. KAPITEL

CHARLIE-MAUS BEGEGNET T. REX … UND DIE DINGE NEHMEN IHREN LAUF

Lächelnd schloss Charlotte den letzten aktualisierten Ordner.

Nachdem sie den Computer heruntergefahren hatte, stand sie vom Schreibtisch auf und streckte sich, um ihre verspannten Muskeln zu lockern. Sie würde noch eben zur Toilette gehen und dann mit dem Bus um Viertel nach sechs heimfahren. Die Chancen standen gut, dass er angenehm leer sein würde, da die meisten Leute samstagabends in die Stadt kamen, während sie selbst in entgegengesetzter Richtung unterwegs wäre.

Sie könnte am Fenster sitzen und Leute gucken, derweil sich der Bus aus dem Hauptgeschäfts- und Vergnügungsviertel der Stadt hinausschlängelte. Vielleicht würde sie in der Informationsbroschüre schmökern, in der die Wellnessanwendungen beschrieben wurden, mit denen sie sich morgen verwöhnen wollte. Ihre beste Freundin hatte ihr vor ein paar Monaten zum Geburtstag einen Gutschein geschenkt, doch aufgrund der Hektik in der Arbeit, wo das Übergangsmanagement versuchte, alles am Laufen zu halten, und die nötigen Vorbereitungen für die Ankunft des neuen Chefs kommenden Montag getroffen werden mussten, hatte sie bisher nicht die Zeit gefunden, ihn einzulösen.

Beim Verlassen der Toilette rückte Charlotte ihre Metallrandbrille zurecht, in Gedanken ganz bei den Behandlungen, die sie gebucht hatte. Fast hätte sie gekichert, als sie sich das therapeutische Schlickbad vorstellte. Das hatte sie gewählt, um Molly hinterher erzählen zu können, dass sie den Gutschein für Luxusschlamm verjubelt hatte. Ihre Freundin würde sich totlachen.

Doch heute Abend hatte sie erst einmal ein Rendezvous mit ihrem Backofen. Charlotte konnte es kaum erwarten, ein neues Rezept für Bananen-Nuss-Muffins mit Buttercremeglasur auszuprobieren. Sie musste nur noch ihre Handtasche und ihren Mantel holen, mit dem Aufzug nach unten fahren, die fünf Minuten zur Haltestelle spazieren und würde, so der Bus pünktlich war, kurze Zeit später zu Hause sein.

Als sie gerade die vierte Zelle des Großraumbüros passierte, hörte sie es. Eine Tür rumste leicht gegen eine Wand, so, als hätte jemand sie etwas zu fest aufgestoßen … oder wäre dagegengerumpelt bei dem Versuch, sich verstohlen zu bewegen.

Ausgeschlossen.

Hier war niemand außer ihr. Und es erschien ihr ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendjemand in den wenigen Minuten ihrer Abwesenheit gekommen war. Ihre Kollegen waren längst heimgegangen, an den Arbeitsplätzen herrschte Stille. Sie musste es sich eingebildet haben.

Ein weiteres Geräusch, dumpfer diesmal. Wie ein übervoller Aktenordner es erzeugte, wenn er auf einem Teppich landete.

Eine unsichtbare Hand schloss sich um ihre Kehle.

Charlotte zitterte am ganzen Leib, fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Nein. Sie straffte die Schultern. Ich bin kein Opfer. Jetzt nicht mehr. Niemals wieder.

Sie wiederholte dieses Mantra, das ihr in den vergangenen fünf Jahren ihre geistige Gesundheit bewahrt hatte, während sie ihr Handy aus der Hosentasche zog. Sie trug es immer bei sich, sogar zu Hause unter der Dusche – geschützt von einer wasserdichten Hülle, die sie zusammen mit dem Gerät erstanden hatte. Es war eine Marotte, aber – wie Molly gesagt hatte – eine verzeihliche.

Das Handy stets in Reichweite zu haben erlaubte es ihr, zu funktionieren und sich in der Welt dort draußen zu bewegen, anstatt in einem Käfig zu vegetieren. Niemand hatte das Recht, sie deswegen zu kritisieren. Es war ein langer Prozess gewesen, doch inzwischen schämte Charlotte sich dieses Bedürfnisses nicht mehr. Gemessen an ihrer extrem angeschlagenen Psyche war ihre Abhängigkeit von dem Sicherheitsnetz, das ihr ein Handy bot, nur ein kleiner Punkt auf dem Radar.

Mit eiskalten Fingern entsperrte sie das Display, dann kauerte sie sich hinter die dunkelblaue Wand einer Arbeitsnische, die einer Mitarbeiterin der Buchhaltung gehörte, und betätigte die Kurzwahltaste für ihre beste Freundin. »Geh ran, geh ran«, murmelte sie fast lautlos, während sie einen vorsichtigen Blick ums Eck riskierte.

Sie spitzte die Ohren und konnte die Geräusche andauernder Bewegungen dem Archivraum zuordnen. Als Schriftgutverwalterin besaß Charlotte detaillierte Kenntnisse darüber, was sich in diesem Zimmer befand: Computer mit sensiblen Geschäftsinformationen, außerdem reihenweise rechtliche Dokumente inklusive Verträgen und Ausschreibungsunterlagen, ganz zu schweigen von den persönlichen Akten über jeden einzelnen Mitarbeiter der Firma Saxon & Archer.

Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, realisierte Charlotte, dass sie versehentlich Mollys Festnetzanschluss anstelle ihrer Handynummer gewählt hatte. Sie linste auf ihre Armbanduhr. Molly war Bibliothekarin und arbeitete auch samstags, trotzdem hätte sie inzwischen zu Hause sein sollen. Vielleicht war sie nur in einem anderen Raum. »Molly«, flüsterte sie nach dem Signalton und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. »Bitte, heb ab.«

Nichts. Keine Reaktion.

Sie wollte schon auflegen und es auf Mollys Handy versuchen, als sie hörte, wie abgenommen wurde. »Charlie? Was ist passiert?« Mollys Ton klang scharf vor Sorge.

»Oh, du bist zu Hause.« Charlotte schluckte in dem vergeblichen Bemühen, ihre Kehle zu befeuchten, die so trocken war, dass es sich anfühlte, als steckten splittrige Kiesel darin fest. »Es ist nur …« Sie holte tief Luft, während ihr dröhnendes Herz alles andere zu übertönen drohte. »Da ist irgendjemand im Büro, was eigentlich nicht sein dürfte. Ich kam von der Toilette zurück und hörte Geräusche.«

»Verschwinde von dort«, beschwor Molly sie.

Es war ein vernünftiger Rat, aber Charlotte wollte nicht weglaufen oder sich verstecken. Sich nicht feige verhalten, wie sie es so oft tat.

Der tiefe, schmerzvolle Frust in ihrem Inneren stärkte ihren Mut. »Nein«, sagte sie. Ihre Haut fühlte sich fiebrig an, ihr Atem ging flach, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, trotzdem erhob sie sich aus ihrer gebückten Haltung. »Wahrscheinlich ist es nur der Wachmann, der eine zusätzliche Runde dreht«, fügte sie hinzu, um sich selbst zu überzeugen, dass kein Grund zur Panik bestand. »Aber könntest du in der Leitung bleiben, während ich nachsehe?«

»Natürlich bleibe ich dran.«

Sie schnappte sich ein Heftgerät aus der Arbeitsnische gegenüber, schlüpfte aus ihren flachen Sandalen und tapste über den beigefarbenen Teppichboden, während sie sich mit rationalen Gedanken zu beruhigen versuchte. Es gab absolut keinen Grund,warum jemand einbrechen sollte, um Industriespionage zu betreiben – jeder wusste, dass Saxon & Archer das Wasser bis zum Hals stand, und zwar so schlimm, dass selbst jene Haie, die sonst um sterbende Unternehmen kreisten, kein Interesse an der Firma zeigten.

Diese katastrophale Lage war die Ursache dafür, dass man den neuen Geschäftsführer, dem der Ruf eines unerbittlichen Verhandlungsführers mit messerscharfem Verstand vorauseilte, an Bord geholt hatte. Gerüchten zufolge waren die Entscheidungsträger derart scharf darauf gewesen, sich seiner Dienste zu versichern, dass sie ihm als Teil seines Gehaltspakets Anteile an dem nicht öffentlich gehandelten Unternehmen überschrieben hatten.

Natürlich würden diese wertlos sein, sollte es ihm nicht gelingen, ein Wunder zu vollbringen, indem er Saxon & Archer aus der fatalen Abwärtsspirale herauszog. Charlotte konnte nicht einmal an die Gefahr, ihren Job zu verlieren, denken, ohne in kalten Schweiß auszubrechen. Darum verdrängte sie diese Überlegungen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

Es ergab keinen Sinn, dass es irgendjemand auf die Daten einer vom Untergang bedrohten Firma abgesehen haben könnte. Und etwas anderes gab es nicht zu stehlen. Es sei denn, es steckte ein extrem aggressiver Headhunter dahinter, der vorhatte, das Personal von Saxon & Archer abzuwerben, und nun die Vorarbeit leistete. Ein höchst unwahrscheinliches Szenario.

Vermutlich waren nur ein paar Akten auf den Boden gefallen, oder der Luftzug der Klimaanlage hatte eine Tür bewegt, oder –

Sie schrie auf, als ein sehr großer, sehr muskulöser Mann aus dem Archivraum trat, und warf das Heftklammergerät nach ihm.

Er fing es mit einer mächtigen Pranke und musterte es kurz, bevor er seine stahlgrauen Augen auf Charlotte richtete und eine Braue hochzog. »Sie sollten wohl besser antworten.«

Sie realisierte, dass er von ihrem Handy sprach, das sie mit steifen Fingern umklammerte und aus dem Mollys Stimme schallte, die panisch ihren Namen rief. Charlotte hielt es ans Ohr, während flammende Röte ihr Gesicht überzog. »Alles in Ordnung«, versicherte sie ihrer besten Freundin.

»Das freut mich zu hören.« Mit diesen Worten streckte ihr der dunkelhaarige und überaus vertraute Mann den Hefter hin. »Möglicherweise brauchen Sie den noch … Ms?«

»Baird«, krächzte sie und räusperte sich. »Charlotte Baird.« Sie drückte das Handy an ihre Brust und zwang sich, den durchdringenden Blick des ein Meter fünfundneunzig großen, breitschultrigen und irrsinnig attraktiven Hünen zu erwidern, den sie leider erst einen Sekundenbruchteil nach ihrer Wurfattacke erkannt hatte.

Nur wenige Menschen im Land hätten den ehemaligen Profi-Rugbyspieler Gabriel Bishop nicht erkannt. Er war nicht nur ausgezeichneter Kapitän der Nationalmannschaft gewesen, sondern hatte auf dem Spielfeld Rekorde erzielt, die in den sieben Jahren, seit eine schwere Achillessehnenverletzung ihn in den Ruhestand gezwungen hatte, nie eingestellt worden waren. »Danke … Sir.«

Sein Haar glänzte blauschwarz im Deckenlicht, als er nickte, dann zog er mit einer Akte in der Hand ab.

Auf wackligen Beinen kehrte Charlotte in ihre Arbeitsnische zurück, ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte den Ellbogen auf dem Tisch auf und schlug die Hand vors Gesicht. »Ich habe gerade meinen neuen Chef kennengelernt«, ächzte sie in ihr Mobiltelefon. »Genauer gesagt habe ich ihm einen schweren Hefter an den Kopf geworfen.«

Molly lachte erleichtert auf.

»Oh Gott, Molly, was, wenn er mich feuert?« Charlotte hatte keine Ahnung, wie sie einen neuen Job finden sollte. Das Vorstellungsgespräch für ihren jetzigen hätte sie nervlich nicht überstanden, wäre der Personalleiter nicht ein älterer Herr kurz vor der Rente gewesen, der sie an ihren Vater erinnerte.

»Das wird er nicht«, beruhigte Molly sie. »Du warst im Büro, weil du eine Arbeitsbiene bist.«

»Ja, das stimmt. Ich –«

»Ms Baird.«

Charlotte fuhr zu der tiefen männlichen Stimme herum. »Ja?«, kiekste sie.

»Waren Sie den ganzen Tag hier?« Gabriel Bishop durchbohrte sie mit einem kalten, harten, prüfenden Blick, gleichzeitig versperrte sein Körper das Licht.

Sie nickte, die Stimme versagte ihr nun vollends. Der Mann war der reinste Muskelberg; er erinnerte an eine griechische Götterstatue, erschaffen von einem verehrungsvollen Bildhauer.

»In diesem Fall sind Sie sicherlich hungrig. Ich kenne ein Bistro in der Nähe, dort werden wir zu Abend essen.« Es war keine Einladung, sondern ein Befehl. »Dann können Sie mich zu bestimmten Themen auf den aktuellen Stand bringen.« Sein Blick schweifte zu ihrem Handy. »In fünf Minuten.«

Charlotte wartete, bis sich seine Schritte entfernten, dann gab sie an Molly weiter, was er gesagt hatte. Ihr war flau im Magen. Selbst Todeskandidaten bekamen eine Henkersmahlzeit. Hielt Gabriel Bishop es mit Angestellten, die er entlassen wollte, ebenso?

»Dann mal los«, ermunterte Molly sie. »Bestell das teuerste Gericht auf der Karte.«

»Bestimmt werde ich mich übergeben.« Ihre Nerven standen kurz vor dem totalen Kollaps. »Ich muss jetzt gehen. Er hat mir fünf Minuten gegeben.«

Molly wünschte ihr viel Glück, dann legten sie auf. Charlotte brachte ihren Pferdeschwanz in Ordnung, aus dem sich mehrere feine blonde, knapp schulterlange Locken gelöst hatten, die sich um ihr Gesicht kringelten, dann stand sie auf und schlang sich den Riemen ihrer Handtasche um die Schulter. Sie legte sich ihren warmen, wenngleich unförmigen braunen Mantel über den Arm, schlüpfte in ihre Schuhe und ging zum Fahrstuhl.

Ein Gefühl sagte ihr, dass ihr neuer Boss ein ganz bestimmtes Edelbistro im Sinn hatte. Obwohl er die Aufmerksamkeit nicht suchte, spionierten ihm die Boulevardmagazine hinterher, und er war schon mehrere Male dort fotografiert worden. Meist mit Geschäftsfreunden, gelegentlich jedoch auch mit einem hinreißenden Model, einer Profisportlerin oder einer Herzchirurgin. Einmal war er mit einem aufstrebenden Parlamentsmitglied dort gesehen worden. Es war das Klatschthema des Tages gewesen.

Er schien ausschließlich auf bildschöne Frauen mit Endlosbeinen zu stehen.

Dies würde das erste Mal sein, dass er sich mit einer bebrillten, schlecht gekleideten, kleinen Blondine dort zeigte.

Wenigstens bestand nicht die Gefahr, dass ein sensationshungriger Reporter sie ins Visier nehmen würde. Es war zu eindeutig, dass sie keine Affäre hatten. Ein weiterer positiver Aspekt war der, dass das Bistro nur einen zweiminütigen Fußmarsch entfernt lag und sie damit ihren Mantel nicht überziehen musste, sondern ihre abwechselnd zitternden und verkrampften Hände unter dem braunen Ungetüm verbergen konnte.

»Ms Baird.«

Charlotte erschrak zum dritten Mal in sieben Minuten. Als sie hastig den Blick hob, stellte sie fest, dass ihr neuer Boss – den sie mit einem Heftgerätattackierthatte!– die Treppe genommen hatte, um sie auf ihrer Etage abzuholen, anstatt sie unten in der Lobby zu treffen. »J-ja.« Diesmal war es kein Kieksen, sondern ein Wimmern.

Charlotte hielt das nicht zwingend für einen Fortschritt.

Gabriel Bishop drückte den Fahrstuhlknopf und wies mit dem Kinn, das ein Bartschatten verdunkelte, zu ihrem Mantel. »Es ist windig draußen.«

Ihre Hände fühlten sich blutleer an, als sie hervorpresste: »Das macht mir nichts aus.« Es war nicht ganz gelogen, weil sie anstelle eines überweiten Kostüms – ihr übliches Arbeitsoutfit – Jeans und einen marineblauen Pullover mit Rundhalsausschnitt trug. Saxon & Archer hatte schon immer eine etwas altmodische Ansicht in Bezug auf ordnungsgemäße Bürokleidung vertreten, doch am Wochenende ging es zwangloser zu.

Selbst der neue Chef trug keinen Anzug, sondern abgetragene Jeans mit einem Riss am Knie und ein schiefergraues Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren und den Blick auf gebräunte, von einem Flaum schwarzer Haare bedeckte Unterarme freigaben. Die hervortretenden Adern zeugten selbst im Ruhezustand von seiner Kraft. Nicht zu sehen war hingegen die Tätowierung, die seinen linken Brustmuskel, seine Schulter und einen Teil seines Oberarms zierte.

Gabriel Bishop war definitiv kein »normaler« Geschäftsführer im landläufigen Sinn.

Der Aufzug hielt, und Bishop ließ Charlotte den Vortritt. Die Kabine war ihr noch nie beengt erschienen, andererseits hatte sie auch noch nie mit einem Mann darin gestanden, dessen Schultern doppelt so breit waren wie ihre. Obwohl er kein Profi-Rugby mehr spielte, hielt er sich eindeutig weiterhin in Form. Doch das wusste sie längst, immerhin hatte sie die Fotos für die neue Firmenbroschüre ausgewählt.

Eigentlich hätte Anya sich darum kümmern sollen, doch in diesem Fall hatte es Charlotte nichts ausgemacht, ihrer Kollegin die Arbeit abzunehmen und Fotos des neuen Chefs durchzusehen, auch wenn sie immer wieder von jenen abgelenkt wurde, die ihn während seiner aktiven Zeit als Sportler zeigten. Sie fand ihn darauf mehr als beeindruckend, aber ihn in persona zu sehen, war noch einmal etwas vollkommen anderes.

Die Fotos wurden ihm nicht gerecht.

Gabriel Bishop war nicht einfach nur stark und muskelbepackt – er war eine Naturgewalt.

Die Aufnahmen von ihm auf dem Rugbyplatz waren unglaublich heiß, doch die letzten sieben Jahre hatten ihm einen Feinschliff verpasst, ihn noch attraktiver gemacht. Kein Wunder, dass sich ihm Frauen jeglicher Kategorie an den Hals warfen. Erst vergangene Woche hatte sie einen neckischen Blog-Eintrag gesehen, in dem eine kürzlich mit Platin ausgezeichnete Sängerin Gabriel Bishop als den einzigen Mann bezeichnet hatte, der in ihrem Bett sogar ungestraft herumkrümeln dürfe.

Im Erdgeschoss angekommen sog sie die kühle Luft in ihre Lungen und bedachte Steven, den Wachmann, mit einem unsicheren Lächeln, als dieser sich von seinem Arbeitsplatz hinter der Rezeption, die werktags als Hauptempfang diente, erhob.

»Mr Bishop, Charlotte, ich wünsche einen schönen Abend.«

»Danke, Steven«, entgegnete Gabriel Bishop. »Bis morgen.«

Sie setzten ihren Weg zum Ausgang fort, der auf die Hauptverkehrsstraße der Stadt führte. Es war relative Ruhe eingekehrt, Touristen und Einkäufer hatten den Heimweg angetreten, die Läden bereits zu oder schlossen gerade, während die Clubbesucher und Partygänger noch auf sich warten ließen. Vor ihnen würde erst der Gästeansturm auf die Restaurants ringsum und unten am Hafen erfolgen.

Auf der anderen Straßenseite erspähte Charlotte eine Gruppe von Männern und Frauen in gestreiften Rugby-Trikots samt Fanschals. Ihr fiel ein, dass heute Abend im Eden Park ein besonderes Doppelmatch stattfand. Allem Anschein nach trudelten die Zuschauer der ersten Austragung schon in der Innenstadt ein, um sich nach dem Spiel einen Drink zu genehmigen.

Ungeachtet all dieser mentalen Ablenkungsversuche war sie sich des kraftstrotzenden Riesen an ihrer Seite überdeutlich bewusst. Sie verknotete die Finger unter ihrem Mantel und ermahnte sich, Smalltalk zu machen, um das Risiko einer Entlassung zu mindern, aber jedes Mal, wenn sie den Mund öffnete, kam kein Wort heraus.

Vor Frustration den Tränen nahe platzte sie schließlich heraus: »Ich muss mich entschuldigen, aber ich hatte Sie für einen Einbrecher gehalten.«

»Ich lebe noch.« Kein Zorn in seiner Stimme, doch sein Blick war abschätzend, als er sie ansah. »Der Hefter war zu schwer für Sie, als dass Sie ihn mit Treffgenauigkeit hätten werfen können. Versuchen Sie es beim nächsten Mal mit einem Locher.«

War das ein Witz?

Nachdem er tatsächlich nicht sauer zu sein schien und Charlotte kein Verlangen verspürte, auf dem Thema herumzureiten, verstummte sie wieder. Kurz darauf betraten sie das Bistro, wo Gabriel Bishop mit Namen begrüßt und zu einem traumhaften Tisch am Fenster geführt wurde, obwohl er erst vor wenigen Minuten reserviert haben konnte.

»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

Charlotte, die sich dabei ertappt fühlte, dass sie ihn wie eine Schutzdecke an sich presste, überließ ihn errötend dem Kellner, der gut genug geschult war, um nicht die Nase zu rümpfen, weil es sich eindeutig nicht um ein Designerstück handelte. »Danke«, sagte sie und zog ihren Stuhl selbst hervor, bevor Gabriel Bishop es tun konnte, weil sie nicht sicher war, ob sie ihn hinter sich ertragen hätte. Er war zu groß, zu überwältigend – und sie hasste es generell, fremde Menschen in ihrem Rücken zu haben.

Er beobachtete kommentarlos, wie sie sich abmühte, den schweren Stuhl unter ihr Gesäß zu bugsieren.

Mit glühenden Wangen konzentrierte sie sich auf die handgeschriebene Speisekarte aus dickem strukturierten Papier, aber die Worte hätten ebenso gut auf Suaheli sein können.

»Haben Sie gewählt?«

Er schaute sie an, als wartete er auf eine Entscheidung, darum tippte sie wahllos auf eine Zeile und hoffte, dass es sich nicht um Hirn in Minzsoße oder etwas ähnlich Unappetitliches handelte. Schon im nächsten Moment wurden ihr die Karte abgenommen und Wasser an den Tisch gebracht.

»Nun, Ms Baird.«

Sein Tonfall verriet, dass er ihre volle Aufmerksamkeit verlangte, und sie sah auf. Der Blick seiner stahlgrauen Augen war allein auf sie fokussiert. »J-ja«, stammelte sie kaum vernehmbar.

»Wie steht es derzeit mit den Verhandlungen über den Grundbesitz der Hamiltons? Es ist unverkennbar, dass die potenziellen Käufer das alte Fabrikgelände erwerben wollen. Ebenso liegt auf der Hand, dass Saxon & Archer das Kapital dringend benötigt. Was ist der Grund für die Verzögerung?«

Die Datei öffnete sich in Charlottes Kopf, ihr visuelles Gedächtnis funktionierte einwandfrei. Sie hörte, wie ihre geistige Stimme die Fakten klar und knapp zusammenfasste, nur konnte sie die Worte nicht artikulieren, grub stattdessen die Fingernägel in ihre Handflächen. Ihr Herz flatterte vor Panik wie ein gefangener Vogel, der mit seinem spitzen Schnabel nach ihr pickte und hackte.

2. KAPITEL

ES WIRD GEKNURRT

»Lassen Sie uns die Frage für den Moment zurückstellen«, meinte Gabriel, als es den Anschein hatte, dass Ms Baird nahe dran war zu hyperventilieren. »Es ist Samstagabend, und Sie haben einen langen Arbeitstag hinter sich.«

Sie nickte heftig und trank einen Schluck Wasser, sah überall hin, nur nicht zu ihm.

Er war daran gewöhnt, bei Frauen Reaktionen hervorzurufen. Die großen, sinnlichen, selbstbewussten flirteten mit ihm. Die weniger selbstbewussten lächelten ihn scheu an, und sogar die, die sich von seiner Statur abschrecken ließen, änderten meist ihre Meinung, sobald sie sich ein paar Minuten mit ihm unterhalten und festgestellt hatten, dass er kein hirnloser Muskelprotz war.

Er wusste, dass viele der Frauen, die ihn anbaggerten, nicht an ihm als Person interessiert waren. Einige waren einfach nur auf etwas raueren Sex aus, andere auf einen Sportstar als Trophäen-Ehemann – ohne sich darum zu scheren, dass er längst nicht mehr aktiv war. Dann gab es noch jene, die einen reichen Geschäftsmann suchten, der sie mit Diamanten behängen konnte.

Die Tatsache, dass er jung und gut in Schuss war, wurde von den Goldgräberinnen lediglich als Bonus betrachtet – die eigentliche Anziehungskraft ging von seinem Vermögen aus. Solange sie Zugriff auf ein ansehnliches Bankkonto hatten, würden diese Frauen sogar einem zahnlosen, achtundneunzigjährigen Greis süße Belanglosigkeiten ins Ohr säuseln. Gabriel war sich seiner Attraktivität durchaus bewusst und fand problemlos jederzeit eine Gespielin für eine heiße Nacht, trotzdem hielt er sich nicht für ein Gottesgeschenk an die Frauen. Doch ein abstoßendes Ungeheuer war er ebenso wenig.

Allerdings schien Charlotte Baird, deren Personalakte er sich nach ihrer ersten Begegnung vorgeknöpft hatte, da komplett anderer Meinung zu sein. Das hübsche, zierliche Persönchen ließ das Abendessen derart versteinert über sich ergehen, dass man hätte glauben können, er habe sie attackiert anstatt anders herum. Ihre Beklommenheit machte ihn gereizt, was wiederum dazu führte, dass sie die Hände so fest um ihr Besteck verkrampfte, bis sich ihre zarten Knochen unter der hellen, golden getönten Haut abzeichneten. Und das fachte seinen Zorn weiter an.

Sie würde noch verhungern, wenn er sie nicht gehen ließe, darum winkte er den Kellner zum Tisch. »Packen Sie Ms Bairds Essen zum Mitnehmen ein. Und dazu ein Stück von dem Brombeer-Käsekuchen.«

Ihre haselnussbraunen Augen schimmerten hinter der Brille, als sie aufblickte. »Nein, ist schon gut«, wiegelte sie mit rauer Stimme ab, doch der Kellner nahm ihren Teller bereits mit.

»Ich bezahle dieses vermaledeite Essen, Ms Baird. Also könnten Sie es ebenso gut genießen.« Das Geld kümmerte ihn nicht, doch es irritierte ihn, dass die Frau in einer Viertelstunde nicht mehr als zwei winzige Häppchen zu sich genommen hatte. Sie hatte schon jetzt kein Gramm zu viel am Körper. Doch sie war auch nicht nur Haut und Knochen, nein, ihr Gewicht stand in perfektem Einklang mit ihrer zierlichen Statur. Folglich aß sie. Nur eben nicht mit ihm.

Auf seine barsche Bemerkung hin wurde sie blass und sagte nichts mehr, bis sie das Bistro verlassen hatten.

»Wo haben Sie Ihren Wagen geparkt?«, fragte Gabriel. Wegen der vielen Rugby-Fans, die während ihres Restaurantbesuchs in die Stadt geströmt waren, wollte er nicht, dass Charlotte allein unterwegs war. Die meisten waren in guter, entspannter Stimmung, allerdings hatten einige schon früh zu trinken begonnen.

»Ich nehme den Bus«, erwiderte sie, ihre Schultern eingezogen in dem grässlichen Mantel, der sie geradezu verschluckte. »Ich wohne gleich hinter St. Lukes.«

Instinktiv wollte Gabriel ihr anbieten, sie in den Vorort zu fahren. Das hätte er bei jeder anderen Frau in dieser Situation getan.

Aber es stand zu befürchten, dass Ms Baird vor Angst zu schlottern anfangen würde bei der Vorstellung, mit ihm allein in einem Auto zu sitzen.

Also brachte er sie zu einem Taxistand. »Fahren Sie nach Hause, und reichen Sie die Quittung am Montag als Spesenabrechnung ein.«

»Aber ich –«

»SteigenSie in das verdammte Taxi«, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor. Allein der Gedanke, dass irgendein Mann eine Frau verletzen würde, ließ ihn rot sehen. Umso mehr kränkte es ihn, dass Charlotte ihm zuzutrauen schien, er könnte ihr wehtun.

Sie zuckte zusammen, sparte sich jedoch weitere Widerworte, als er ihr die Tür aufhielt und dem Fahrer den Zielort mitteilte.

»Vergessen Sie die Spesenabrechnung nicht, Ms Baird«, erinnerte er sie, sobald sie im Fond saß. »Ich werde mich persönlich davon überzeugen, dass Sie sie abgegeben haben.«

Für einen kurzen Moment versenkten sich ihre Blicke ineinander. SiehatwunderschöneAugen, dachte Gabriel. Ein klares Haselnussbraun mit goldenen und grünen Einsprengseln, das prächtig mit ihren weichen blonden Locken harmonierte. Einzelne Strähnen hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und umrahmten ihre makellose honigfarbene Haut. Er konnte seinen Blick nur mühsam abwenden.

Sie war ein echter Leckerbissen, zierlich und trotzdem reizvoll. Zu dumm, dass sie sich schon vor seinem Anblick fürchtete.

Charlotte bedankte sich nicht für das Taxi, sondern saß stocksteif auf ihrem Sitz, bis Gabriel Bishop die Tür geschlossen hatte und der Wagen sich in Bewegung setzte. Es war vermutlich nicht das klügste Verhalten, wenn man einer Kündigung entgehen wollte, aber sie war mit den Nerven am Ende. Noch eine einzige Minute in seiner Gegenwart, und sie wäre vermutlich in Tränen ausgebrochen.

Wiearmselig,Charlotte.DujämmerlichesAbziehbildeinerFrau.

Das hässliche Echo von Richards Stimme ließ sie die Zähne aufeinanderbeißen und so heftig die Fäuste ballen, dass ihre Knochen schmerzten. Sie hasste es, dass trotz all der Mühe, die sie sich gegeben, all der Fortschritte, die sie dabei erzielt hatte, das entsetzlichste Jahr ihres Lebens hinter sich zu lassen, sich die Angst nach wie vor auf diese Weise in ihr Herz stehlen und sie ohne Vorwarnung lähmen konnte. Doch am schlimmsten war, dass Richards Stimme auch jetzt noch die Macht besaß, sich in ihre Gedanken zu bohren und mit den hässlichen Dingen, die er gesagt hatte, Gift in ihre Venen zu träufeln.

Montag würde ein Albtraum werden. Charlotte konnte nur hoffen, dass Gabriel Bishop die unwichtige graue Maus, die er zum Essen ausgeführt hatte, vergessen und sich auf die höhergestellten Mitarbeiter konzentrieren würde.

3. KAPITEL

T. REX RICHTET EIN MASSAKER AN

Ms Baird hatte die Spesenabrechnung eingereicht. Gabriel legte nach seinem Anruf bei der Buchhaltung den Hörer auf. Wie sie wohl reagieren würde, wenn er ihr einen Besuch abstattete und sich erkundigte, ob sie einen schönen Sonntag verbracht hatte? Wahrscheinlich würde sie vor Schreck aus der Haut fahren.

Mit finsterer Miene vertiefte er sich wieder in die Dokumente auf seinem Schreibtisch. Saxon & Archer war ein alteingesessenes Unternehmen mit einem soliden, gesunden Kern. Nur leider war dieser Kern aufgrund des fatalen Missmanagements des früheren Geschäftsführers unter mehreren Schimmelschichten begraben. Der Mann hatte nur den Anschein von Kompetenz erweckt, in Wahrheit jedoch den Großteil seiner Zeit damit zugebracht, mit seinen Kumpels Golf zu spielen. Er war dicht davor gewesen, die Firma in den Bankrott zu führen.

Als Resultat davon schwächelten die Luxuskaufhäuser, einst die Juwelen in der Krone von Saxon & Archer. Die Stimmung unter den Einzelhandels- und Unternehmensmitarbeitern war auf dem Nullpunkt, der Personalabgang hoch wie nie zuvor. Was die Fertigungsbetriebe betraf, die unter dem Namen Saxon & Archer – früher eine Premiummarke – Waren produzierten, waren sie derart schlecht geführt worden, dass auf Bewertungsseiten im Internet inzwischen gewitzelt wurde, Billigkopien dieser Produkte seien besser als die Originale.

Als der Vorstand endlich aufgewacht war und den Vertrag mit dem unfähigen Geschäftsführer gekündigt hatte, war zeitgleich der einstimmige Beschluss gefällt worden, Gabriel den Posten anzubieten. Zwei Hauptgründe lagen dieser Entscheidung zugrunde: seine durchweg positive Bilanz darin, finanziell notleidende Unternehmen aus der Patsche zu ziehen und ihnen zu neuem Erfolg zu verhelfen. Außerdem seine Fähigkeit, notwendige Entlassungen vorzunehmen.

Nachdem er vergangene Woche zu Hause die Personal- und Finanzakten durchgegangen war und die Details am Wochenende noch einmal überprüft hatte, lag ihm jetzt eine lange Liste vor. »Anya«, sagte er über die Gegensprechanlage. »Schicken Sie den Anwalt zu mir herauf.«

Der beleibte, kahlköpfige sechzigjährige Hausjurist erschien fünf Minuten später in Gabriels Büro, seine Schultern steif, die Lippen in seinem dunkelbraunen Gesicht zu einem blutleeren Strich zusammengepresst.

»Ich werde Sie nicht feuern.« Gabriel bedeutete dem Mann, sich zu setzen. »Tatsächlich sind Sie eine unserer wenigen kompetenten leitenden Führungskräfte.« Das Alter spielte für Gabriel keine Rolle; es zählte nur, was der Einzelne einbrachte.

Verdutzt blinzelnd nahm der Anwalt Platz und zog einen Packen Dokumente aus seinem Aktenkoffer. »Ich nehme an, Sie möchten wissen, ob irgendwelche rechtlichen oder vertraglichen Probleme drohen, über die Sie Bescheid wissen sollten, bevor Sie anfangen, Verträge zu kündigen?«

Gabriel setzte sein »Haifisch-Lächeln« auf, wie es ein Kontrahent einmal genannt hatte. »Wie schon gesagt: Sie sind kompetent.«

Charlotte versteckte sich in ihrer Bürozelle, nachdem sie dort angelangt war, ohne Gabriel Bishop zu begegnen. Am Vormittag sickerte durch, dass er im oberen Management ein Massaker anrichtete. In den letzten zwei Stunden waren mehr Büros geräumt worden als während der ganzen Zeit, die Charlotte bei Saxon & Archer arbeitete.

»Psst.«

Sie sah auf und entdeckte Tuck, der sich mit den Armen auf die Trennwand ihrer Zelle lehnte.

Sie lächelte den schlaksigen neunzehnjährigen Mitarbeiter der Poststelle an. Er gehörte zu den wenigen Männern, in deren Gegenwart sie sich komplett wohlfühlte. »Pass bloß auf, dass du nicht beim Faulenzen erwischt wirst. Sonst könnte Mr Varma beschließen, dass er eigentlich keine rechte Hand braucht.« Charlotte selbst hatte nonstop gearbeitet, seit sie an ihrem Schreibtisch saß. Anya trieb sie gnadenlos an, weil Gabriel Bishop eine Forderung nach der anderen stellte.

»Glaub ich nicht.« Tuck schaute sich verstohlen um, dann lehnte er sich noch weiter über die Wand und flüsterte: »Mr Varma hat zu viel Angst um seinen eigenen Job. Hast du gehört, dass Mrs Chang gerade gefeuert wurde?«

Charlotte machte große Augen. »Ach du liebes bisschen.« Dolly Chang hatte mehr als zehn Jahre die PR-Abteilung geleitet … allerdings neigte sie dazu, sich lange Lunch-Pausen mit ihren Freundinnen zu gönnen und das Essen anschließend der Firma in Rechnung zu stellen. Ganz zu schweigen davon, dass sie ständig alte Kampagnen ausländischer Unternehmen abkupferte und gerade genug veränderte, um damit durchzukommen. Entweder entging ihr, dass diese kaum eine Relevanz für den neuseeländischen Markt hatten, oder es war ihr schlichtweg egal.

»Wahrscheinlich sollte mich das nicht überraschen«, meinte sie bedächtig. »Mr Bishop ist bekannt dafür, dass er hart durchgreift.«

Er wurde diesem Ruf während der nächsten acht Stunden mehr als gerecht. Bis zum Ende des Tages mussten zwei Drittel der leitenden Angestellten ihren Hut nehmen, während das verbliebene Drittel nichts anderes mehr im Kopf hatte, als gute Arbeit abzuliefern. Fünf der Nachwuchskräfte wurden überraschend befördert, andere dagegen degradiert oder gewarnt, dass sie ihre Leistung steigern müssten, wenn sie am Ende des Monats noch einen Job haben wollten.

Tuck hatte noch mehr Klatsch auf Lager. »Ich hab mitbekommen, wie eine von Dollys Assistentinnen erzählt hat, dass der neue Boss sie für ihre schlampige Arbeit nicht zur Rechenschaft ziehen will, weil sie eine lausige Vorgesetzte hatte«, berichtete er, als sie zusammen das Büro verließen.

»Das ist nett von ihm.« Eigentlich hätte Charlotte dieses Adjektiv nicht mit dem Mann assoziiert, der sie angeraunzt hatte, sie solle in das verdammte Taxi steigen. Wie ein schlecht gelaunter T. Rex, ging es ihr durch den Kopf.

Tuck zog den Reißverschluss seiner knallbunten, mit zig Taschen versehenen Jacke zu. »Ja, aber dannhat er hinzugefügt, dass sie sich in den nächsten drei Monaten gewaltig verbessern muss, sonst war’s das.« Er schnitt sich mit dem Finger über die Kehle. »Das ist doch echt fair, oder? Besonders weil sie jetzt, wo Dolly nicht mehr da ist, die ihren Lieblingen immer die besten Posten zugeschanzt hat, die Chance auf eine Beförderung hat.«

»Ja«, bestätigte Charlotte. »Es ist sehr fair.« Hart, aber gerecht.

Doch falls sie geglaubt hatte, das Gemetzel wäre damit beendet, so sollte sie sich irren. Als sie am nächsten Tag zur Arbeit kam, wurde ihr schnell klar, dass T. Rex noch nicht fertig war. Auf ihrer Etage herrschte eine gedrückte, angespannte und zugleich hyperaktive Atmosphäre, die Leute gaben alles, um ihre beruflichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Anya hielt Charlotte dermaßen auf Trab, dass dieser kaum fünf Minuten blieben, um ihr Mittagessen am Schreibtisch hinunterzuschlingen. Sie war weder naiv noch dumm, daher wusste sie genau, dass ihre Kollegin sie ausnutzte. Charlotte war Archivarin und nicht Anyas Assistentin – aber solange diese zu faul war, um ihre Arbeit zu erledigen, war Charlottes Job sicher. Denn das Archiv war – dank Charlotte – inzwischen fast vollständig auf Computer umgestellt, womit sie allen Grund zur Sorge hätte, als überflüssig eingestuft und entlassen zu werden.

Vor allem, da Gabriel Bishop es sich zur Mission gemacht hatte, gründlich aufzuräumen.

Er erinnerte tatsächlich an einen T. Rex, wie er durch die Firma polterte, Mitarbeiter um Mitarbeiter verschlang und das, was von ihnen übrig blieb, nach allen Seiten ausspie. Charlotte hingegen nahm er nicht ins Visier, und darüber war sie froh. Sie würde still wie ein Mäuschen in ihrer Ecke hocken, zu unauffällig, um sich näher mit ihr zu befassen, gleichzeitig zu fleißig, um sie rauszuwerfen.

Schließlich nahm die fleischfressende Kreatur doch Notiz von ihr.

Tuck händigte ihr an diesem Nachmittag gerade einen Stapel Post aus, als der gefürchtete Anruf erfolgte. »Der Boss will dich sehen«, verkündete Anya mit Häme in der Stimme. »Unverzüglich. Und vergiss deinen Laptop nicht.«

Mit heftig pochendem Herzen und fiebrigen Wangen strich Charlotte ihren dunkelbraunen, wadenlangen Leinenrock glatt, bevor sie die zugehörige Jacke über ihre weiße Bluse zog. »Er wird mich bei lebendigem Leib fressen«, sagte sie zu Tuck in dem vergeblichen Bemühen, einen Witz über ihre drohende Entlassung zu reißen.

Der Gedanke an diese kalten grauen Augen, ihren durchdringenden Blick, verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie packte ihren Laptop in eine Tasche, weil sie sich nicht zutraute, ihn in den Händen zu tragen, ohne ihn fallen zu lassen, und hängte sich mit zittrigen Fingern den Riemen über die Schulter.

»Falls er dich feuert«, meinte Tuck mit einem Ausdruck tiefer Sorge in seinen braunen Augen, »ist er ein Idiot.«

Charlotte fragte sich, ob er das auch sagen würde, wenn er wüsste, dass sie einen Hefter nach dem Boss geworfen hatte. Einen viel schlechteren ersten Eindruck hätte sie kaum machen können. Dann hatte sie noch einen draufgelegt, indem ihr beim Abendessen mit besagtem Boss die Fähigkeit zu sprechen abhandengekommen und sie zu einer Statue mutiert war.

Ihr drehte sich der Magen um bei der Erinnerung daran, wie katastrophal sie es vermasselt hatte. Die mitleidigen Blicke, die sie erntete, als sie ihre Bürozelle verließ, verrieten, dass ihre Kollegen ahnten, wohin sie ging und warum. Was nicht weiter erstaunte. Drei andere dieser Etage hatten denselben Marsch angetreten. Keiner von ihnen war wiedergekommen, sogar ihre persönlichen Dinge hatten andere für sie einpacken müssen.

Einige riefen ihr leise ermutigende Worte zu, aber Charlotte merkte ihnen trotz ihres Mitgefühls an, dass sie sie für erledigt hielten.

Eine der älteren Mitarbeiterinnen der Rechtsabteilung reagierte unverblümter, als Charlotte ihr Büro passierte. »Ich hatte Ihnen doch geraten, sich für Anyas Posten zu bewerben, solange er vakant war.«

Ja, das hatte sie, doch dabei war ihr wohl das Ausmaß von Charlottes Schüchternheit entgangen. Ihre Unfähigkeit, sich als förderungswürdige Kraft zu verkaufen, war wirklich armselig. Nach ihrer Entlassung würde sie vermutlich von zu Hause aus für einen Versandhandel arbeiten und mit keiner Menschenseele mehr sprechen, außer mit Molly. Bis sie sich irgendwann in eine verrückte Frau mit Haaren wie ein Vogelnest verwandelte, die kleine Kinder und Telefonverkäufer in Angst und Schrecken versetzte.

Hör auf, Charlotte. Das ist nicht hilfreich.

Wenig später stieg sie die Stufen zur Management-Etage hinauf. Am oberen Treppenabsatz angekommen atmete sie mehrmals tief durch, schloss die Finger um den Tragegurt ihrer Laptoptasche und trat in den Flur. Hier oben waren alle zu beschäftigt, um sie zu beachten, und mehr als ein Büro war verwaist, die Leute entlassen.

Viel zu bald stand sie vor der automatischen Glastür, die den Bereich des Geschäftsführers schützte und an die sich beidseitig ebenfalls aus Glas bestehende Wände anschlossen. Die kostspielige Renovierung war im Auftrag von Bernard Hill, dem früheren Geschäftsführer, erfolgt. Anyas Büro lag gleich auf der anderen Seite der Tür und bot rechter Hand dank eines deckenhohen Fensters, das den Raum mit Tageslicht durchflutete, eine phänomenale Aussicht.

Das Büro des Geschäftsführers, welches Gerüchten zufolge über einen noch grandioseren Blick auf die Stadt verfügte, befand sich hinter dem der persönlichen Assistentin und dem daran angrenzenden Wartebereich. Es hatte eine eigene Tür, doch gab es weit und breit kein Glas. Wahrscheinlich damit Bernard heimlich ein Nickerchen hatte halten können, während Saxon & Archer den Bach runterging.

Anya sah auf, als Charlotte eintrat, und bedeutete ihr mit einem Handzeichen, die Höhle des T. Rex zu betreten. Sie machte sich nicht die Mühe, von ihrem imposanten Schreibtisch – der selbstverständlich aus Glas war – aufzustehen. Sie war perfekt geschminkt und zurechtgemacht, ihr glänzendes braunes Haar kunstvoll geföhnt, und ihr violettes Kleid schmiegte sich an ihre grazile Gestalt wie eine zweite Haut, wirkte aber dennoch geschäftsmäßig.

Es wurde gemunkelt, dass sie die Angel nach Gabriel Bishop ausgeworfen hatte. Jemand aus der Verwaltung hatte gehört, wie Anya der persönlichen Assistentin der Finanzchefin anvertraut hatte, dass sie beabsichtige, Mrs Bishop zu werden, und er ihr binnen einer Woche aus der Hand fressen würde.

Charlotte glaubte nicht, dass Gabriel Bishop sich gegen seinen Willen manipulieren lassen würde, aber zumindest optisch entsprach Anya genau seinem Typ: Sie war groß, bildhübsch und selbstbewusst.

»Rein mit dir«, befahl Anya und verdrehte die Augen, als Charlotte vor der geschlossenen Tür des Geschäftsführerbüros zögerte. »Er braucht nur eine Minute, um dir deine Entlassungspapiere auszuhändigen.«

Charlotte gab ihr nicht die Befriedigung zusammenzuzucken.

WerwirddanndeineArbeitmachen?

Sie brachte den spitzen Kommentar nicht heraus, ihre Kehle war zu trocken. Stattdessen schluckte sie, klopfte kurz an und trat ein, anschließend schloss sie sofort die Tür hinter sich. Sollte sie tatsächlich gefeuert werden, würde sie sich zumindest die Demütigung ersparen, dass Anya Zeugin davon wurde.

Die Aussicht war phänomenal, der Glasschreibtisch des letzten Geschäftsführers verschwunden. Charlotte wusste von dem Tisch, weil sie mitbekommen hatte, wie er geliefert worden war. Es war ein stylishes Designerstück gewesen, und Tuck hatte es sogar in dem Büro gesehen. Angeblich hatte Bernard die makellose glänzende Oberfläche von allem freigehalten, mit Ausnahme seines Telefons und eines vergoldeten Füllers.

Gabriel Bishop hingegen saß hinter einem massiven, zerschrammten Mahagonitisch, der mit Papieren, Heftmappen und zwei Laptops, auf denen unterschiedliche Programme liefen, überfrachtet war. Er starrte mit finsterer Miene auf ein Dokument, bei dem es sich um einen Vertrag mit einem ihrer Fertigungsbetriebezu handeln schien. Sein dunkelblauer Schlips hing locker um seinen Hals, so, als hätte er ungeduldig daran gezerrt, und die Ärmel seines weißen Hemds waren hochgekrempelt, wodurch ein Schemen eines seiner Tattoos sichtbar wurde. Er schien sich der atemberaubenden Aussicht auf den Hauriki-Golf, der hinter ihm im Licht der kühlen weißen Herbstsonne glitzerte, nicht bewusst zu sein.

»Ms Baird«, sagte er, ohne aufzusehen. »Warum um alles in der Welt haben wir noch immer einen Vertrag mit McElvoy Shoes, obwohl unsere Läden aufgrund schlechter Verarbeitung mehrfach Lieferungen zurückgehen lassen mussten?«

Mit schweißnassen Handflächen umklammerte Charlotte den Riemen ihrer Tasche noch fester.

T. Rex hob den Kopf, der Blick seiner stahlgrauen Augen scharf wie Laserstrahlen. »Setzen Sie sich, sonst kollabieren Sie mir noch.«

Charlotte gehorchte.

Er blätterte weiter durch den Vertrag. »Es wäre nett, wenn ich noch vor meinem fünfundachtzigsten Geburtstag eine Antwort bekäme, Ms Baird.«

Charlotte begriff, dass es keine rhetorische Frage gewesen war, und schloss die Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Mr Hill war mit dem alten Mr McElvoy befreundet«, erklärte sie. »Solange der Senior noch das Sagen hatte, war die Verarbeitung der Schuhe mustergültig, nie ist ein Liefertermin geplatzt. Doch seit er den Betrieb an seinen Sohn übergeben hat, laufen die Dinge aus dem Ruder.«

»Und keins der zahlreichen Mitglieder der Führungsetage, die allesamt davon gewusst haben müssen, hat meinen unfähigen Vorgänger darauf aufmerksam gemacht?«

Charlotte öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah, dass er noch immer den Vertrag durchging, seine Miene nun noch finsterer. »Ich denke, sie haben es versucht, aber Mr Hill war seinem Freund gegenüber sehr loyal.« Oder einfach zu faul, um sich mit dem Problem zu befassen, wo es doch so viel einfacher war, darüber hinwegzusehen und stattdessen zum Golfen zu gehen.

In Anbetracht seiner Arbeitsgewohnheiten – beziehungsweise deren Nichtvorhandenseins – konnte Charlotte sich nicht erklären, wie es Bernard Hill gelungen war, zum Geschäftsführer von Saxon & Archer aufzusteigen. Andererseits wurden nicht immer diejenigen belohnt, die es verdienten – wie es das Beispiel Anya belegte.

Es überlief sie kalt, als ihr wieder einfiel, dass sie bald so arbeitslos sein würde wie Mr Hill.

»Eins steht fest.« Gabriel Bishops Kiefermuskeln mahlten. »McElvoy Junior hat uns mit diesen Chargen verarscht.« Er griff zum Hörer und telefonierte mit der Rechtsabteilung. »Kündigen Sie den Vertrag mit McElvoy. Die haben jetzt zum zehnten Mal gegen die Klauseln verstoßen – und treiben Sie die verdammte Konventionalstrafe ein.«

Charlotte hatte die Unterbrechung genutzt, um den Laptop aus der Tasche zu nehmen, und wartete nun auf die Aufforderung, ihn auszuhändigen, weil er Firmeneigentum war. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie ihn selbst hatte herbringen sollen. Alle anderen waren mit leeren Händen in dieses Büro zitiert worden. Vielleicht wollte T. Rex sie auf besondere Weise bestrafen, weil sie ihn mit einem Heftgerät attackiert hatte.

»Berichten Sie mir von den Verhandlungen mit Khan.« Er legte den McElvoy-Vertrag beiseite und nahm einen anderen zur Hand, auf dem er sich mit dunkelblauer Tinte Notizen gemacht hatte. »Hills persönliches Dossier diesbezüglich ist bestenfalls lückenhaft. Wie ich die Sache verstehe, würde Khan uns das Areal für den Parkplatz gern verkaufen, nur hängt er aus sentimentalen Gründen an dem Gebäude, das dort derzeit steht. Ich nehme an, dass Sie als Archivarin eine vollständigere Dokumentation vorgenommen haben?«

Charlotte starrte ihn an.

Gabriel Bishop fuhr sich mit der Hand durch die Haare, dann beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch auf, dessen unzählige Kratzer und Kerben erahnen ließen, dass er ihn von Firma zu Firma mitgenommen hatte, während er das tat, was er am besten beherrschte. »Ms Baird«, sagte er und taxierte sie mit seinen kalten Augen, deren unerbittlicher Fokus sie jeden Muskel bis an die Schmerzgrenze anspannen ließ. »Nach den Memos zu urteilen, die ich in diesen Akten sehe und die offenbar alle an Ihrem Arbeitsplatz verfasst wurden, sind Sie äußerst intelligent. Ich will Sie nicht entlassen, trotzdem werde ich es tun, wenn Sie mir nicht die Information liefern können, die ich benötige.«

4. KAPITEL

WIEDER EINMAL BEWEIST SICH: ANYA IST EIN MISTSTÜCK

Es brachte Charlotte derart aus der Fassung, dass Gabriel Bishop sich die Mühe gemacht hatte nachzuforschen, wer die wahre Verfasserin der Memos war, für die Anya stets den Ruhm einheimste, dass sie fast wieder in eine Schockstarre des Schweigens verfiel.

Doch der alles entscheidende Satz »Ich will Sie nicht entlassen« verlieh ihr Mut.

Sie räusperte sich und heftete den Blick auf den Knoten seiner Krawatte, um T. Rex nicht in die Augen sehen zu müssen. »Mr Khan kämpft mit harten Bandagen, weil er weiß, dass Saxon & Archer dieses Grundstück braucht. Es ist kein anderes verfügbar.«

»Gründe für Ihre Schlussfolgerung?«, fragte Gabriel Bishop, dabei machte er mit geübtem Schwung und blutroter Tinte Anmerkungen auf einem anderen Dokument.

Das Sprechen fiel ihr leichter, wenn er sie nicht taxierte. »Ich habe drei oder vier seiner E-Mails an Mr Hill gesehen.« Bernard Hill war schändlich nachlässig im Archivieren wichtiger Mails gewesen, aber Anya hatte hin und wieder eine an Charlotte weitergeleitet, damit diese sie der betreffenden Akte hinzufügte. »Es ist klar ersichtlich, wenn man zwischen den Zeilen liest. Er schreibt Dinge wie ›Bestimmt können wir einen Kompromiss finden. Ich weiß, wie nützlich dieses Land für Saxon & Archer wäre, und ich bin ein vernünftiger Mann‹.«

Ihr neuer Boss legte den Füller weg und lehnte sich in seinem Sessel zurück, seine Aufmerksamkeit galt nun ganz ihr. »Ich verstehe. Hat Hill andere Optionen bezüglich der Parkplatz-Situation ausgelotet?«

Gott, es war so schwer, klar zu denken, während seine kraftvolle Persönlichkeit ihr den Kopf vernebelte. Charlotte heftete den Blick wieder auf seinen Schlips. »Nein«, sagte sie, dann biss sie sich auf die Lippe und ließ sich von ihrem Instinkt leiten, so konfus dieser momentan auch war. Aber nachdem T. Rex sie noch immer nicht gefeuert hatte … »Na ja, es gab da mal dieses Memo von Brent Sinclair.« Sie bezog sich auf eine der jungen Nachwuchskräfte. »Er schlug vor, dass wir einen kostenlosen Shuttle-Service von einem großen öffentlichen Parkplatz, der etwa eine Viertelstunde entfernt liegt, einrichten könnten.«

Bishop runzelte die Stirn. »Ich habe dieses Memo nicht gesehen. Leiten Sie es an mich weiter.«

Charlotte, die ihren Laptop bereits aufgeklappt hatte, fand es im Nu und schickte es ihm. Gabriel überflog es, dann stellte er ihr zahlreiche weitere Fragen über andere bestehende Probleme. Während der nächsten zwei Stunden bekam sie kaum die Gelegenheit, Luft zu holen, geschweige denn, ihrer Nervosität Raum zu geben. Bishops Verstand arbeitete rasiermesserscharf, und er erwartete von ihrem dasselbe. Charlotte hatte nicht den Hauch einer Ahnung, woher er überhaupt wusste, welche Fragen er stellen musste – Fragen, die mitunter unglaublich detailliert und profund waren.

Sie beantwortete sie, so gut sie konnte, und zog für die komplizierteren Einzelheiten das elektronische Datenerfassungssystem heran. Als sie schon glaubte, sie seien fertig, wollte er wissen, wie sie für ihn an einem Freitag eine Last-Minute-Dienstreise zur Dependance von Saxon & Archer in Sydney samt Party für mehrere Geschäftspartner organisieren würde.

Charlotte blinzelte, schaffte es jedoch zu antworten. Sie hatte so etwas schon häufig arrangiert. In der Regel entwarf Anya ein Konzept, und sie kümmerte sich um die Ausführung. Vielleicht, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, wollte T. Rex sie offiziell zu Anyas Assistentin ernennen. Es war zwar alles andere als ihr Traumjob, weil sie dann den ganzen Tag mit ihrer herablassenden Kollegin in einem Büro sitzen müsste, trotzdem wäre es besser, als arbeitslos zu sein.

»Das reicht für heute.« Gabriel Bishop warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sagen Sie Anya, sie soll Sinclair zu mir schicken.«

Charlotte trat zügig die Flucht an und stahl sich eine Viertelstunde davon, um sich zur Nervenberuhigung in ihrem Lieblingscafé um die Ecke einen Kaffee zu genehmigen. Nach einem kurzen Spaziergang um den Block kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück, wo sie eine E-Mail von Anya vorfand, in der sie aufgefordert wurde, einen knappen Bericht über einen Arbeitskonflikt, den der frühere Geschäftsführer mehr als ein halbes Jahr ignoriert hatte, abzufassen.

Sie hatte hinzugefügt: P. S. Scheint, als wärst du doch noch nicht zur Kaffeefee degradiert worden.

Erleichtert über die Normalität dieses Auftrags und Anyas gewohnte Stutenbissigkeit machte Charlotte sich ans Werk.

Nachdem Gabriel dem jungen Sinclair auf den Zahn gefühlt und ihn für seine gute Idee gelobt hatte, schickte er ihn mit der Order weg, den Plan detaillierter auszuarbeiten. Dann dachte er über die graue Maus nach, die davor in seinem Büro gewesen war. Mit ihrem potthässlichen braunen Kostüm, dem Dutt, zu dem sie ihr weiches blondes Haar gezwirbelt hatte, und der Drahtgestellbrille vor ihren klaren haselnussbraunen Augen bemühte Charlotte Baird sich nach Kräften, unscheinbar zu wirken.

Doch wie Gabriel heute festgestellt hatte, arbeitete die Maus nicht nur hart, sie hatte auch eine gute Auffassungsgabe und einen wachen Verstand. In den Sekundenbruchteilen, in denen sie ihre Angst vor ihm vergaß, umgab sie ein Strahlen … als wäre da ein gleißendes Licht tief in ihr, das von einem lähmenden Mangel an Selbstvertrauen erstickt wurde.

Ms Baird war eine faszinierende Maus.

Sie weckte sein Interesse, dabei hatte er sich nie für graue Mäuse interessiert.

Er vertagte das Problem, dass eine seiner Mitarbeiterinnen eindeutig überqualifiziert für ihren Posten war, und richtete sein Augenmerk von der grauen Maus auf den schillernden Paradiesvogel.

»Anya«, sagte er durch die Gegensprechanlage. »Kommen Sie in mein Büro. Und bringen Sie Ihren Laptop mit.«

Mit dem Gefühl, einen Krieg durchlebt zu haben, futterte Charlotte an diesem Abend eine ganze Tüte Schokorosinen, während sie an ihrem Schreibtisch saß und eine Aufgabe für Anya zu Ende brachte. Ihr Gehirn schien die Konsistenz von Nudelsuppe zu haben.

Es war nicht die Arbeit, die sie erschöpft hatte – die war zwar hektisch, aber interessant gewesen –, sondern der Stress, nicht zu wissen, ob sie am Ende der Woche noch einen Job haben würde. Anyas »Kaffeefee«-Kommentar war pure Gehässigkeit gewesen, doch in Anbetracht von Charlottes unterirdischer Gesprächsführungskompetenz konnte sie von Glück reden, wenn zukünftige Arbeitgeber ihr auch nur zutrauten, Kaffee zu kochen.

Dieser niederschmetternde Gedanke beschäftigte sie noch immer, als Molly um sieben anrief und fragte, ob sie Lust hätte, im Hafenviertel, dem Viaduct Basin, zu Abend zu essen. Charlotte beschloss, die berufliche Situation für die nächsten Stunden aus ihrem Kopf zu verbannen, und sagte Ja.

Versehentlich entschlüpfte ihr, dass sie Gabriel für einen T. Rex hielt, was Molly urkomisch fand, doch die angespannte Lage bei Charlotte im Büro war nichts im Vergleich zu der Bombe, die ihre beste Freundin platzen ließ. Nachdem sie sich auf ein Dessert vor dem Abendessen geeinigt hatten, setzten sie sich mit Eiswaffeln in der Hand ans Wasser und warteten auf das Einlaufen einer Luxusjacht. Dann gestand Molly ihr, was nach der Cocktailparty, auf der sie vergangenen Freitag gewesen waren, passiert war: Sie hatte einen One-Night-Stand gehabt, und zwar mit Zachary Fox – seines Zeichens Rockstar und von einem Männermagazin das dritte Jahr in Folge zum »Amtierenden Sexgott« gekürt.

Charlotte klappte der Mund auf. »Du und Zachary Fox –« Sie fiel ihr um den Hals und drückte ihr einen Kuss auf die leicht gerötete Wange. »Meine Heldin!« Sie ließ sie gerade noch rechtzeitig los, bevor ihre Eiskugel aus der Waffel purzeln konnte. »Jetzt wird wenigstens eine von uns ihre zukünftigen Enkel mit einer unerhörten Geschichte schockieren können.«

Kichernd lehnte Molly, die ihre wilde schwarze Mähne zu einem strengen Zopf geflochten hatte, sich an sie. Sie richtete den Blick auf das Wasser, auf dem bunte Reflexe von den Lichtern der umliegenden Geschäfte tanzten, dann erzählte sie ihr, wie aus dem One-Night-Stand ein wesentlich komplizierteres Arrangement geworden war – eines, das das Potenzial besaß, bei Molly alte und nie ganz verheilte Wunden aufzureißen.

»Hältst du mich für kindisch?«, fragte sie danach leise. »Weil ich nicht will, dass die Presse Fox und mich zusammen erwischt?«

»Natürlich nicht.« Charlotte aß ihre Waffel auf, knüllte die Serviette zusammen, in die sie eingewickelt gewesen war, und warf sie zusammen mit Mollys in den Abfall. »Ich war dabei, erinnerst du dich?« Von tiefem Mitgefühl erfasst legte sie die Hand auf die ihrer Freundin. »Hast du Fox von deiner Vergangenheit erzählt? Damit er weiß, dass es nicht an ihm liegt?«

Molly schüttelte den Kopf und zeigte zu der glänzenden Luxusjacht, die am Horizont aufgetaucht war. Während sie zusahen, wie das anmutige Schiff näher kam, wechselten sie weitere Worte, die von altem Schmerz durchdrungen waren.

Bestärkt durch ihre Liebe zu der Frau, die ihre beste Freundin war, seit sie sich vor mehr als zwanzig Jahren im Kindergarten kennengelernt hatten, gestand Charlotte: »Ich habe Angst, Molly. Ununterbrochen.« Manchmal bekam sie kaum mehr Luft. »Du kennst den Grund.«

Molly umarmte sie und sagte mit fester Stimme: »Wir müssen nicht darüber reden.«

»Nein, ist schon gut.« Charlotte wandte ihr das Gesicht zu und blickte in diese warmen braunen Augen, die das Erste gewesen waren, das sie gesehen hatte, als sie vor ziemlich genau fünf Jahren im Krankenhaus aufgewacht war. Molly war nicht eine Sekunde von der Seite ihres Bettes gewichen. »Aufgrund meiner Furcht verpasse ich so vieles – und ich bin intelligent genug, das zu realisieren.« Charlotte war sich schmerzhaft bewusst, dass sie in einem Käfig lebte, den sie selbst erschaffen hatte. »Was es nur schlimmer macht.«

»Du stellst dein Licht unter den Scheffel«, rügte Molly sie. »Du hast mich ›mutig‹ genannt, aber ohne dich hätte ich die Highschool und meine Pflegeunterbringung niemals überstanden. Du warst mein Fels in der Brandung.«

»Und du meiner.« Charlotte schüttelte den Kopf. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Freundin sich von den traumatischen und leidvollen Erfahrungen, die ihre Teenagerzeit zerstört hatten, herunterziehen ließ. »Du darfst dich nicht von dem zähen, entschlossenen fünfzehnjährigen Mädchen abwenden, Molly. Betrüg dich nicht selbst um dein Leben, wie ich es tue.« Charlotte wusste, dass es zu spät dafür war, die Gitterstäbe ihres eigenen Käfigs zu zerbrechen, aber Molly hatte eine Chance, und Charlotte würde dafür sorgen, dass sie sie ergriff.

»Ist ein einziger Monat das alles wert?«, fragte Molly schließlich, und in jeder Silbe klang die qualvolle Erinnerung mit.

»Diese Entscheidung kannst nur du selbst treffen.« Sie fächelte sich Luft zu. »Aber ich votiere dafür, dass du mit deinem Rockstar das Bett zum Einsturz bringst.«

Molly lachte tränenerstickt. »Vielleicht brauchst du auch einen Rockstar.«

»Niemals! Eher gehe ich mit T. Rex ins Bett.« Hinter der flapsigen Entgegnung verbargen sich zahlreiche Fantasien. Und es werden Fantasien bleiben, dachte Charlotte, nachdem Molly alles über ihren neuen Boss aus ihr herausgequetscht und sie ein Restaurant ausgewählt hatten. Denn die tiefe Angst in ihr würde nichts anderes zulassen, schon gar kein außergewöhnliches Leben, in dem sie die Aufmerksamkeit eines Mannes wie Gabriel Bishop errang und dauerhaft behielt.

Am nächsten Morgen war Charlotte in Gedanken noch immer bei Molly – sie hoffte, dass ihre Freundin einen Weg fand, ihrem Rockstar von ihrer Vergangenheit zu erzählen –, als Tuck, dieser liebenswerte Chaot, den Kopf um die Wand ihrer Bürozelle steckte. »Charlie, hast du schon gehört?«

Das schockierte Staunen in seinem Tonfall ließ sie aufhorchen. »Was denn?«

»Das mit Anya.« Seine Augen waren weit aufgerissen, seine dunkelblonden Haare standen nach allen Seiten ab. »Er hat Anya gefeuert.«

Mit weichen Knien lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. »Oh nein.« Wenn es Anya erwischt hatte, würde sie zwangsläufig die Nächste sein. Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, klingelte ihr Telefon, und sie zuckte zusammen.

»Ms Baird. In mein Büro.«

Ihre Hände zitterten, als sie auflegte und ihre Brille hochschob. Sie würde mit T. Rex und seinem Richtschwert fertigwerden, redete sie sich gut zu. Immerhin hatte sie schon weit Schlimmeres überlebt. Das musste sie stets im Gedächtnis behalten: Sie hatte überlebt. »Ich muss in die Höhle des Löwen«, sagte sie zu Tuck.

Die Miene des Neunzehnjährigen signalisierte Bestürzung. »Gott, Charlie.«

»Ist schon okay. Ich schaue danach bei dir vorbei.« Vorausgesetzt, sie durfte überhaupt noch zurück auf die Etage und wurde nicht ohne Umschweife vor die Tür gesetzt.

Dieses Mal starrte niemand sie offen an. Sie hätte das als Vertrauensbeweis werten können, wäre da nicht diese Beileidsbekundung in den Gesichtern ihrer Kollegen gewesen, als sie aus den Augenwinkeln zu ihr linsten. Die meisten von ihnen hatten die Feuerprobe bereits hinter sich gebracht und bestanden.

Aber sie besetzten auch keine überflüssigen Stellen.

Der Weg die Treppe hinauf und den Flur entlang zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin, bevor sie endlich durch T. Rex offene Tür trat. Er stand mit dem Rücken zu der Glaswand mit der herrlichen Aussicht und telefonierte mit dem Handy. Heute trug er einen dunkelgrauen Anzug, ein stahlgraues Hemd und einen anthrazitfarbenen Schlips. Die düsteren seriösen Farben hoben seine markanten Gesichtszüge eindrucksvoll hervor.

Gabriel Bishop war ein hinreißender Mann, das gestand Charlotte sich im Geheimen ein. Zu groß und muskulös und gefährlich, dabei aber prächtig anzusehen. Wie ein Tiger. Kurz bevor er einen fraß.

Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, das er dem Kontext nach mit einem ihrer Filialleiter auf der Südinsel führte, ging er zu seinem Schreibtisch, griff nach einem Becher Kaffee aus einem Coffee-Shop und reichte ihn ihr. Leise Hoffnung keimte in ihr auf, als sie ihn nahm. Entgegen ihrer ursprünglichen Überlegungen hatte T. Rex keineswegs die Angewohnheit, seinen Opfern eine Henkersmahlzeit beziehungsweise ein letztes Getränk anzubieten. Da sie nicht sicher war, ob ihre wackligen Knie sie länger tragen würden, setzte sie sich, während er telefonierend auf und ab schritt.

Nachdem sie einen flüchtigen Blick auf das pechschwarze Gebräu in seinem Becher auf der anderen Seite des Schreibtisches geworfen hatte, wappnete Charlotte sich für Gabriel Bishops Version von einem Kaffee, doch ihre Geschmacksknospen erlebten eine freudige Überraschung. Es war ein Latte macchiato, schaumig und cremig, wie sie es liebte.

Charlotte hatte es inzwischen aufgegeben, darüber zu sinnieren, woher er gewisse Dinge wusste. Aber allem Anschein nach wollte er ihr doch nicht kündigen … es sei denn, er war ein Sadist, der darauf abfuhr, Hoffnungen zu schüren, nur um sie anschließend zu zerstören. Es gab solche Männer. Das wusste sie nur zu gut.

Eiseskälte durchströmte sie bei diesem Gedanken, und sie umklammerte mit aller Kraft ihren Kaffeebecher, als T. Rex das Telefonat beendete und sich ihr widmete.

»Ms Baird, wir müssen uns ernsthaft über Ihre Zukunft unterhalten.«

5. KAPITEL

CHARLIE-MAUS GEGEN T. REX: RUNDE 1

Gabriel beobachtete, wie Charlottes schmale Finger den Kaffeebecher so fest drückten, dass er Dellen bekam.

Ihre Wangen waren blass geworden, aber sie hielt die Schultern gestrafft, als sie entgegnete: »Ja, Sir?«

Gut, dachte er. Ihre Schüchternheit und Nervosität in seiner Gegenwart waren zwar ein leichtes Defizit im Hinblick auf den Posten, den er ihr offerieren wollte, aber sie hatte Mumm, und sie hatte Grips. Damit konnte er arbeiten. »Ich brauche eine neue Assistentin.«

Charlotte blinzelte und lockerte den Griff um den Becher. »Möchten Sie, dass ich der Personalabteilung dabei helfe, die Bewerbungen zu prüfen?« Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem erleichterten Lächeln. »Ich weiß ziemlich gut, worauf es bei dem Job ankommt.«

»Nein.« Gabriel merkte, dass seine Größe sie einschüchterte, und setzte sich. »Es wird keine Bewerbungen geben. Sie werden meine neue Assistentin sein.«

Sie starrte ihn einfach nur an, dann drang ein lautloses Keuchen zwischen ihren weichen pinkfarbenen Lippen hervor. Es waren Lippen, die zum Küssen einluden. So unangebracht dieser Gedanke auch war, bekam er ihn trotzdem nicht aus dem Kopf. Wenn Ms Baird gerade einmal nicht vor Furcht zitterte, war sie mit ihrer wachen Intelligenz und den strahlenden Augen eine höchst faszinierende Person. Was den Rest von ihr betraf, konnte auch ihre unförmige Kleidung nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie gebaut war wie eine zierliche Venus. Man müsste nur noch ihren Pferdeschwanz lösen und ihr die Brille abnehmen – vielleicht würde er sie ihr auch auflassen –, schon wäre sie ein äußerst stimmiges Gesamtpaket.

Er fühlte sich zu dieser hübschen Maus hingezogen, aber natürlich hätte ihr das nicht ihren Job gerettet, wäre sie inkompetent gewesen. Andererseits hätte er sie in dem Fall nicht annähernd so faszinierend gefunden. Er hatte ein Faible für kluge Frauen.

Zu dumm, dass er ihr Boss war. »Sie werden Anyas Stelle übernehmen, und zwar mit sofortiger Wirkung.«

Ihre Augen weiteten sich. »Aber ich verstehe nichts von Anyas Job!«, protestierte sie mit krächzender Stimme.

Gabriel hob eine Braue. »Nein? Das ist eigenartig, denn für mich hat es den Anschein, als würden Sie ihn schon seit drei Jahren machen.« Es gab nichts, das er in der Geschäftswelt mehr hasste als Menschen, die für die harte Arbeit anderer den Ruhm einheimsten. »Anya konnte den Großteil der Fragen, die ich Ihnen gestern gestellt habe, nicht beantworten.«

Noch schlimmer war gewesen, dass sie – im Gegensatz zu Charlotte – nicht einmal gewusst hatte, von wem beziehungsweise aus welchen Dateien sie sich die Informationen beschaffen konnte. Sie hatte nur gleichmütig gelächelt und versichert, dass er die benötigten Auskünfte gleich am nächsten Morgen auf seinem Schreibtisch vorfinden werde. Ohne Zweifel hatte sie den Auftrag im Anschluss per E-Mail an Charlotte delegiert.

Ein erster Verdacht war ihm am Montag gekommen, als sie trotz der Arbeitslast, die er ihr aufgebürdet hatte, heiter und gelassen und jederzeit abkömmlich geblieben war. Jeder andere an ihrer Stelle hätte ihn mindestens ein Mal angefaucht und wäre niemals imstande gewesen, das Büro zu einer zivilisierten Uhrzeit zu verlassen. Gabriel hatte keine fünf Minuten benötigt, um auf die Dateien der Memos zuzugreifen, die auf seinem Schreibtisch landeten.

Der letzte Zugriffscode stammte ausnahmslos von Anya – wenn sie das Dokument ausdruckte. Jeder Vorherige ließ sich zu Charlottes Arbeitsplatz zurückverfolgen. Um jeden Zweifel auszuräumen, hatte er gestern beide Frauen derselben Befragung unterzogen. Er brauchte keine herausgeputzte Lügnerin an seiner Seite – er brauchte Charlotte mit ihrem Verstand und ihrem umfassenden Wissen über die Mitarbeiter und deren Fähigkeiten. Ohne sie hätte es ihn womöglich Wochen gekostet, Sinclair zu entdecken.

Anya hatte noch nicht einmal Kenntnis von Sinclairs Vorschlag gehabt.