Chiara - Alice Romanus-Ludewig - E-Book

Chiara E-Book

Alice Romanus-Ludewig

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Beschreibung

Die Ärztin Chiara arbeitet in einer psychiatrischen Klinik und lebt als Alleinerziehende mit ihrer Tochter in Hannover. Seit ihrer Trennung will es mit den Beziehungen nicht so recht klappen, auch ihr neuer Freund Luis geht wieder auf Abstand. Als Ablenkung kommt ihr der Auftrag für ein spannendes psychologisches Gutachten im sogenannten "Mistgabelmord" wie gerufen. Durch ihre Neugier und Impulsivität bringt sie sich dabei aber in Teufels Küche. Ein psychologisch sensibler Roman über ein Frauenleben im Spannungsfeld von Beruf, Muttersein und Beziehung.

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Seitenzahl: 325

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Alice Romanus-Ludewig

Chiara

Ärztin mit Grenzen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Chiara- Ärztin mit Grenzen

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

10.Kapitel

11.Kapitel

12.Kapitel

13.Kapitel

14.Kapitel

15.Kapitel

16.Kapitel

17.Kapitel

18.Kapitel

19.Kapitel

20.Kapitel

21.Kapitel

22.Kapitel

23.Kapitel

24.Kapitel

25.Kapitel

26.Kapitel

27.Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Chiara- Ärztin mit Grenzen

Chiara – Ärztin mit Grenzen

1.Kapitel

„Nein, natürlich kannst du nichts dafür, das kann jederzeit passieren.“ Chiara legte ihren Arm um die schluchzende junge Assistenzärztin. Es war an ihr wohl vorbeigegangen, dass der gerichtliche Beschluss für die geschlossene Unterbringung des suizidgefährdeten Patienten verlängert worden war. Die unerfahrene Kollegin hatte ihm die Tür der geschlossenen Station geöffnet. Nun war er natürlich über alle Berge und die Gefahr war sehr groß, dass er sich etwas antat.

Chiara wusste, dass so ein Fehler tödlich sein konnte und es eigentlich nichts zu beschönigen gab. Trotzdem konnte sie nicht anders als diese junge Frau zu trösten, die von Anfang an mit der Arbeit auf der geschlossenen Station hoffnungslos überfordert war. Vielleicht war Chiara auch ein wenig neidisch auf ihre Naivität und die Nachsicht, die sie als neue Mitarbeiterin genoss.

„Wir müssen jetzt sofort bei der Polizei eine Fahndung herausgeben, kannst du bitte diese Nummer anrufen und den Patienten so genau wie möglich beschreiben?“ Chiara zeigte auf die am Stationstresen in Leuchtziffern angebrachte Telefonnummer der örtlichen Polizei. Um weitere Nachfragen zu vermeiden drehte sie sich sofort um und fügte im Weggehen hinzu: Ich muss jetzt in Zimmer 12, Frau Seidel braucht Notfallmedikamente.“

Ein lauter Schrei tönte durch den Stationsflur, wie eine Bestätigung von Chiaras Aussage.

Das Wetter war eindeutig gegen sie. Es schien, als ob der Regen immer dann einsetzte, wenn sie auf ihr Fahrrad stieg. Mit einem „verdammt!“ musste sie mal wieder feststellen, dass sie dringend eine neue Regenhose brauchte, sie spürte nach wenigen Minuten die Nässe auf ihren Oberschenkeln. Doch allein der Gedanke, heute nochmal in die Innenstadt zu fahren um eine neue zu kaufen, stresste sie. Also würde sie wohl noch einige male mehr fluchen müssen.

Zuhause angekommen, brachte sie ihr Fahrrad in den Keller. Nachdem sie sich in ihrer Wohnung endlich umziehen konnte, hängte sie die triefenden Klamotten über den Badewannenrand.

Sie widerstand der Versuchung einen weiteren Kaffee zu trinken, der ihr um diese Zeit nicht mehr guttun und ihren Nachtschlaf stören würde. Stattdessen entschied sie sich für eine Tasse Tee, mit der sie es sich auf dem Chaise-longe- Teil ihrer Couch bequem machte.

In einer Stunde würde Luis kommen. Da war wieder dieses zerrissene Gefühl in ihr, dass sie kannte. Einerseits freute sie sich, denn mit Luis einen Abend zu verbringen war alles andere als langweilig. Er war intelligent, witzig und charmant. Sie hatten vor gemeinsam italienisch zu kochen, sie musste also nichts vorbereiten. Trotzdem spürte sie auch den Impuls, einfach kurzfristig abzusagen. Einfach so, um sich freier zu fühlen. Zumindest für eine kleine Weile. Danach würde sie sich wieder selbst Vorwürfe machen und sich einsam und verlassen fühlen.

Ihr Kopf wusste, dass das keine Lösung war und deshalb unterdrückte sie den Fluchtimpuls. Sie ging in den Flur und warf einen Blick in den Spiegel: „ Gut siehst du aus!“ sprach sie sich zu. Zumindest war sie mit ihren Haaren zufrieden seit dem Friseurbesuch am Samstag. Auf die Frage hin, wie kurz denn ihre ohnehin recht kurzen hellblonden Haare geschnitten werden sollten hatte sie „raspelkurz“ geantwortet. Und ausnahmsweise hatte sich die Friseurin daran gehalten.

Für diesen extrem kurzen Schnitt hatte sie sich vor längerer Zeit entschieden, nachdem sie gelesen hatte, dass dadurch Gesichtszüge eher härter wirkten, Falten eher betont würden und man deshalb ab einem bestimmtem Alter als Frau darauf verzichten sollte. Doch Chiara wollte älter wirken. Immer wieder zu hören, wie jung sie wirkte, störte sie enorm, vor allem im beruflichen Kontext.

Ihr Handy brummte, sie ging zurück ins Wohnzimmer, suchte kurz und fand es halb unter einem Kissen der Chaise-Longue.

„Kann leider doch nicht. Lukas Mutter ist krank, ich muss ihn abholen. Tut mir leid. Melde mich morgen. Schönen Abend für dich. Kuss, Luis.“

Chiara fühlte eine Welle von Wut und Enttäuschung in sich aufsteigen. Vor allem ärgerte sie sich über sich selbst. Wie konnte sie so naiv sein, einfach davon auszugehen, dass er auf jeden Fall kommt? Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er kurzfristig absagte. Vielleicht war es auch völlig blauäugig gewesen zu meinen, dass eine Beziehung mit zwei Alleinerziehenden funktionieren könnte.

Natürlich hatte man so Verständnis für die Situation des anderen, aber was half das, wenn es kaum ungestörte Zeit zu zweit gab?

Sie ließ sich auf das Sofa fallen und las die Nachricht erneut. Warum hatte er sie eigentlich nicht einfach angerufen? Echtes Bedauern und echte Sehnsucht in seiner Stimme zu hören, hätte sie bestimmt ein wenig beruhigt. Und warum ist er nicht auf die Idee gekommen, sie zu sich einzuladen? Lukas hätte irgendwann geschlafen und sie hätten so wenigstens ein wenig Zeit miteinander verbringen können. Wollte er sie vielleicht gar nicht sehen und das Ganze war der Anfang vom Ende?

Chiara wusste, dass sie jetzt wieder katastrophisierte und ihre Erfahrung war, dass sie in solchen Situationen etwas mit ihren Händen machen musste. Sie warf das Handy auf das Sofa und ging in die Küche. Dort lagen schon die Zutaten für das geplante Essen.

Sie hatte etwas unkompliziertes Vegetarisches ausgesucht. Parmesankartoffeln mit Rote Beete Carpaccio. Plötzlich merkte sie, wie ausgehungert sie war. Seit dem Frühstück hatte sie nur den Müsliriegel zwischendurch gegessen, oder besser gesagt nebenbei heruntergedrückt, denn es hatte an der Arbeit mal wieder keine Pause gegeben.

Sie machte Chillout-Musik an und begann die Kartoffeln in kleine Würfel zu schneiden. Mit dem großen extrem scharfen japanischen Messer. Damit hantierte sie bewusst schnell und mit einer kleinen aggressiven Note, so dass die Geräusche des Messers auf dem Holzbrett regelrecht durch die Küche hallten. Ihre Wohnung war zwar kein Altbau, aber die Räume waren sehr hoch. Bevor sie den Parmesan rieb, naschte sie ein Stück und stellte befriedigt fest, dass es sich gelohnt hatte, den etwas teureren länger gereiften auszuwählen. Sie mischte die Kartoffelwürfel mit dem Parmesan und ein wenig Olivenöl und stellte sie zum Durchziehen zur Seite. Das Rote Beete Carpaccio war im Handumdrehen angerichtet: Die gekochten roten Kugeln in Scheiben schneiden, Rucola darauf verteilen, eine Mischung aus Zitronensaft und Olivenöl darüber träufeln und zu guter Letzt ein paar mit der Hand zerbröselte Walnüsse obendrauf- fertig. Dann verteilte sie die Parmesankartoffeln auf ein Backblech und schob es in den bereits vorgeheizten Backofen. Während diese garten bereitete sie noch einen Dip aus kleingeschnittenem Fetakäse, selbstgemachtem Joghurt und Dill zu. Anschließend deckte sie den kleinen Esstisch im Wohnzimmer so festlich wie es nur ging mit Serviette, Kerze und dem gerade aufgehenden Tulpenstrauß, den sie sich regelmäßig vom Discounter holte. Bei all diesen Vorbereitungen spürte sie zwar weiterhin Wut, Enttäuschung und Verlassenheitsgefühle, aber sie waren besser aushaltbar. Als das Essen dann fertig auf dem Esstisch stand, betrachtete sie zufrieden ihr Werk und spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Es schmeckte alles sehr köstlich und sie musste daran denken, dass sie auch als Kind schon früh gerne sich Essen schön auf dem Teller anrichtete, um es dann genüsslich alleine in ihrem Kinderzimmer zu verspeisen. Solange sie dies zwischen den Familienmahlzeiten machte, wurde es von ihrer Mutter positiv konnotiert, als sie dann aber in der Pubertät sich immer mehr weigerte an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen, weil sie lieber alleine in ihrem Zimmer essen wollte, gab es regelmäßig Ärger.

Wie durch eine Gedankenübertragung klingelte ihr Handy und sie sah, dass es ihre Mutter war. „Ari, mein Schatz, wie geht es dir? Wie war es an der Nordsee?“

Chiara mochte den Spitznamen Ari nicht besonders gerne. Sie war der Meinung, man sollte einfach akzeptieren, dass es keine Koseform von Chiara gab. Da Chiari sich nicht gut aussprechen ließ, war man in der Familie irgendwann zu Ari übergegangen.

„Mama, ich fahre erst nächstes Wochenende.“ Typisch, sie konnte sich nie merken, wann ihre Tochter wo hinfuhr, das hatte Chiara längst akzeptiert. Oder besser gesagt, akzeptieren müssen, nach wie vor war sie immer etwas genervt von dieser „Vergesslichkeit“, die sie eher als Desinteresse interpretierte.

„Mama, ich kann jetzt nicht lange, vor mir steht mein fertiges Essen, kannst du mich in einer Stunde nochmal anrufen?“

„Ja klar, lass es dir schmecken, was gibt´s denn?“

„Parmesankartoffeln und Rote Beete Carpaccio.“

„Hört sich gut an, wir haben gestern Ratatouille und Pasteten gegessen, das war super lecker, dein Vater hat sich so den Bauch vollgeschlagen, dass er nicht einschlafen konnte.“

Es war wie immer. Ja, ihre Mutter stellte anscheinend interessierte Fragen. Aber die Antworten, die Chiara gab, nutzte sie eigentlich nur als Sprungbrett dafür von sich zu erzählen. Chiara hatte sich daran gewöhnt.

„Ich habe Hunger, wir sprechen später. Mach´s gut.“

Das Gute war, dass sie es nicht übel nahm, wenn man sie kurz hielt. Und dass sie in einer Stunde nicht noch einmal anrufen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Es schien, als ob die Anrufe bei ihrer Tochter einfach spontane Impulse waren, die so schnell verflogen waren, wie sie auftauchten.

Ihre Mutter war Französin, so sagte sie es zumindest. Eigentlich war sie nur eine halbe Französin, weil nur Chiaras Großvater Franzose war, die deutsche Großmutter war lediglich in einem kleinen Ort im Elsass aufgewachsen, wenige Autominuten von der deutsch-französischen Grenze entfernt.

Trotzdem bestand ihre Mutter darauf, Französin zu sein. Sie flocht so oft wie möglich französische Wörter in ihre ausufernden Erzählungen ein, bestand zum Leidwesen von Chiaras Vater darauf nahezu jeden Urlaub in Südfrankreich zu verbringen und zelebrierte die französische art de vivre wo und wie sie nur konnte.

Dazu gehörte auch die französische Küche. Chiaras Mutter war eine ausgezeichnete Köchin, so dass Chiara früh eine Vorliebe für die mediterrane Küche entwickelt hatte. Genauso betonte Chiara es: die mediterrane Küche. Um sich noch deutlicher von der Mutter zu unterscheiden, hat sie sich irgendwann der italienischen Küche verschrieben. Noch dazu überwiegend der vegetarischen italienischen Küche, weil ihre Mutter sehr viel Wert auf regelmäßigen Fleischkonsum legte.

Chiara war zwar noch nie in Italien gewesen, aber hatte zahlreiche italienische Kochbücher in ihrem Küchenregal stehen und mehrere entsprechende Kochkurse belegt. Manchmal diskutierte sie mit ihrer Mutter über die Frage, ob denn nun die französische oder die italienische Küche besser sei, so als könne man in Geschmacksfragen zu einem „richtigen“ Urteil kommen.

Chiara betonte vor allem das Argument, die italienischen Gerichte seien tendenziell naturbelassener, woraufhin ihre Mutter immer entgegnete, dafür seien die französischen aber „raffinierter“, damit endete meistens die Debatte.

In gewisser Weise genoss Chiara diese sinnlosen Diskussionen, denn die französische Küche abzuwerten war die einzige Möglichkeit indirekt etwas Kritisches über ihre Kindheit zu äußern. Ihre Mutter ertrug keine Kritik. Chiara hatte es ein paar Mal versucht, damals nach der Trennung von Tim, als es ihr so schlecht ging und so viele Erinnerungen aus der Kindheit hochkamen. Aber diese Versuche waren kläglich gescheitert. Ihre Mutter verstand es, im Handumdrehen die Opferhaltung einzunehmen. Sie vergoss dann viele Tränen und Chiara fühlte sich elend und schuldig, bereit alles wieder zu relativieren.

Der Geruch der dampfenden Parmesankartoffeln riss sie aus ihren Gedanken und als sie anfing zu essen, spürte sie erst wie ausgehungert sie war.

Sie dehnte die Mahlzeit aus, indem sie sich noch einen koffeinfreien Espresso mit ihrer neuen Siebträgermaschine zubereitete und von den selbstgemachten Pralinen naschte, die ihre Freundin Liz ihr „einfach mal so zwischendurch“ geschenkt hatte.

Schon beim Wegräumen des Geschirrs spürte Chiara, wie sich ein tiefes Einsamkeitsgefühl anschlich. Es fühlte sich an wie ein bedrohliches schwarzes Loch. Ob sie jetzt nochmal Luis anrufen sollte? Nein, schließlich hatte er abgesagt und sie wollte sich nicht aufdrängen.

Wie schön wäre es jetzt mit Leonie, ihrer achtjährigen Tochter zu telefonieren, ihre Stimme zu hören. Aber Tim hatte ihr erst letzte Woche vorgeworfen, dass sie zu häufig mit Leonie Kontakt aufnehme, wenn sie bei ihm war. Angeblich könne sie sich dann gar nicht so richtig auf die Vaterzeit einlassen.

Sie sah auf die Uhr, es war schon halb elf. Sie könnte auch einfach mal vernünftig sein und ins Bett gehen, dann wäre sie zur Abwechslung mal ausgeschlafen. Sich bei unguten Gefühlen in den Schlaf flüchten, das funktionierte erstaunlicherweise ziemlich gut. Es konnte zwar sein, dass sie dann in der Nacht nochmal wach wurde und das Gefühl noch da war, aber spätestens am nächsten Morgen war meistens alles anders. Welch ein Segen.

2.Kapitel

Am nächsten Morgen fühlte sie sich deutlich energiegeladener als sonst und erschien überpünktlich auf der Station. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Um diese Zeit, wenige Minuten vor der täglichen Stationsbesprechung saß meistens schon ein Teil des Personals mit Kaffeetasse in der Hand im Besprechungsraum oder war auf dem Weg dorthin.

Heute hetzten alle noch über die Flure ohne den Blick zu heben. Als dann der Oberarzt mit ernster Miene um die Ecke kam, war ihr schlagartig klar, was passiert war. Jetzt eilten auch alle Richtung Besprechungsraum, ein kleiner, stickiger, fensterloser Raum mit einer kleinen Dachluke in der Decke.

Der Oberarzt eröffnete die Runde mit „ ich gehe mal davon aus, alle wissen inzwischen, was passiert ist. So etwas darf nicht passieren, es wird eine Untersuchung geben, warum unsere Sicherheitsstandards nicht funktionierten.“

Sibylle, die Stationsleitung des Pflegedienstes, schien sehr aufgebracht und mit der ihr eigenen direkten Art ließ sie Dampf ab. „Vielleicht sollte die Ärzteschaft mal genauer hinschauen, wer hier auf der Geschlossenen eingesetzt wird. Solche jungen unerfahrenen Dinger schaffen das einfach nicht.“

„Dinger“ hätte sie natürlich nicht sagen sollen. Jetzt sah sich der Oberarzt genötigt, mit seiner belehrenden Art einen Vortrag darüber zu halten warum jeder Assistenzarzt auch eine bestimmte Zeit auf der geschlossenen Station arbeiten müsse. Eigentlich war Jannik Ebert ein netter Oberarzt, nur wenige Jahre älter als Chiara. Doch seine belehrende Art konnte nervtötend sein und in dieser Sache war Chiara ganz auf Sibylles Seite.

Aus Chiaras Sicht war die Assistenzärztin Lea- Sophie einfach zu jung und zu zart besaitet für diesen Job. Und sie war kein Einzelfall. Das traf auf einige der jungen Kolleginnen zu, die wegen des Turboabis teilweise schon mit 17 das Studium angefangen hatten. Sie schienen als „Lernmaschinen“ das Studium zu durchlaufen, waren dann nach Studienabschluss nicht mal Mitte zwanzig und brachten kaum Lebenserfahrung mit. Mit der Dramatik und Härte, die sich in der Psychiatrie und insbesondere auf den geschlossenen Stationen abspielte, waren sie häufig überfordert. In diesem Fall hatte es ein Menschenleben gekostet.

Der junge Mann hatte gestern die Chance der geöffneten Tür genutzt um sich vor die Bahn zu werfen.

Chiara wusste, das würde jetzt hier in der Klinik ganz hohe Wellen schlagen, aber es würde sich gar nichts ändern. Lea-Sophie tat ihr leid, gleichzeitig war Chiara aber auch wütend. Die Kollegin war natürlich jetzt erst einmal krankgeschrieben. Wenn sie wiederkäme, würden sie alle schonen und trösten.

Vielleicht war sie auch ein wenig neidisch. Als erfahrene Assistenzärztin kurz vor der Facharztprüfung wurde man überhaupt nicht geschont. Kritik von allen Seiten war allgegenwärtig, täglich spürte man die Last der Verantwortung.

Chiara hatte trotzdem von Anfang an ganz gut in diesem System funktioniert, weil sie eine gewisse Robustheit mitgebracht hatte. Zumindest eine Robustheit nach außen. Mit der Nebenwirkung, dass Kollegen oft versuchten, Aufgaben auf sie abzuwälzen.

Auch jetzt würde sie in den nächsten Wochen erst einmal wieder die Station alleine bewältigen müssen.

Es folgte in der Runde eine ausführliche Situations- und Verantwortlichkeitsanalyse, die natürlich überflüssig war. Die Sache war doch eigentlich glasklar. Die Tür auf einer geschlossenen Station für einen hochgradig suizidgefährdeten Patienten zu öffnen war natürlich zu hundert Prozent Fehler dessen, der die Tür aufgeschlossen hatte. Es sei denn, die Kollegin war nicht ausreichend informiert worden.

Chiara wurde noch einmal ausführlich gefragt, ob sie denn die junge Kollegin ausreichend geschult hätte. „Klar“ war ihre knappe Antwort, doch diese Frage machte sie so wütend, dass sie sich mit einem „muss einiges regeln“ erhob und den Besprechungsraum verließ.

Eigentlich wollte sie sich kurz in ihrem Arztzimmer beruhigen, da klingelte das Telefon und sie sah die Durchwahl der Chefärztin. „Hallo Frau Deichgraf, ich hab wieder was für sie.“ Das klang verheißungsvoll für Chiara, sofort waren die Geschehnisse auf Station vergessen.

Es gab eine große Sympathie zwischen den beiden Frauen. Sie teilten ein gemeinsames Interesse für gerichtsmedizinische Gutachten. Das war noch nichts Ungewöhnliches, alle Ärzte des Klinikums erstellten gelegentlich Gutachten. Was die beiden besonders interessierte waren genau die Fälle, die andere nur mit spitzen Fingern anfassten, weil sie ihnen zu gruselig waren. Mysteriöse Fälle und Verbrechen waren ihre Spezialität.

„Worum geht es?“

„Hier ist wieder eine Anfrage des Gerichtes, über eine Tatverdächtige ein Gutachten zu erstellen. Wir können das allerdings im Detail erst morgen Mittag besprechen, Sie wissen ja, womit ich mich heute befassen muss. Können Sie morgen um 12 Uhr zu mir kommen?“

„Ja, das kann ich schaffen. Danke. Bis morgen.“

Chiara wusste zwar noch nicht wie sie das schaffen sollte, denn ohne die ausgefallene junge Kollegin war sie alleine auf Station. Aber Nora von der Nachbarstation würde sie bestimmt für ein Stündchen vertreten können.

Der Rest des Arbeitstages ließ sich mit dem Wissen um einen „neuen Fall“ und der Spannung und Neugier, die damit verbunden war, besser ertragen.

Sie hatte fest vor, heute pünktlich die Station zu verlassen und musste der Versuchung widerstehen noch mit dem Abarbeiten des Stapels auf ihrem Schreibtisch anzufangen. Sollten die Arztbriefe doch warten, außer ein paar ungeduldigen Nachfragen von Arztpraxen konnte eigentlich nichts passieren.

Chiara sah aus dem Fenster ihres kleinen Arztzimmers, ein winziges Stückchen Privatsphäre im fordernden Stationsbetrieb, in dem man sich als Person geradezu verlieren konnte.

Draußen war alles grün. Es war Ende Mai und seit einer Woche war es warm geworden, zwischendurch gab es auch immer wieder Schauer. Diese Mischung aus Wärme und Feuchtigkeit hatte die Natur geradezu zum Explodieren gebracht. Sattes Grün und Blütenpracht, wohin man auch blickte.

Die Klinik befand sich am Stadtrand von Hannover, inmitten eines großzügigen Parks voller Kastanienbäume. Mit den weißen und rosafarbigen kerzenförmigen Blüten sahen die Bäume wie geschmückt aus.

Sie sah sich selbst mit Luis Arm in Arm durch den Park schlendern. Die Parkanlage war so riesig, dass man sich in Bereichen aufhalten konnte, in denen man die Klinik nicht sah, so dass Chiara auch in ihrer Freizeit gerne dort spazieren ging.

Luis….Sie widerstand dem Impuls gleich auf ihrem Handy nachzuschauen, ob er sich nochmal gemeldet hatte. Sie wollte nicht schon wieder dieses Gefühl von Abhängigkeit spüren, wenn man unbedingt möchte, dass jemand sich meldet und sich wie in einer Art Dauerwarteschleife fühlt.

Ob die Sache mit Luis überhaupt eine Zukunft hatte? Nach der Trennung von Tim hatte sie zwei On-Off-Beziehungen gehabt und davon die Nase gestrichen voll.

Morgen würde Leonie wiederkommen, da würde sie als Mutter wieder voll gefordert sein. Somit wäre heute Abend die letzte Chance, Luis zu sehen und die schroffe Absage gestern zum Thema zu machen.

Sie gab sich einen Ruck, schnappte ihren Rucksack, schickte im Vorbeigehen noch ein kurzes „bis morgen“ in Richtung Stationszimmer und schloss die Stationstür auf. Das alles musste möglichst schnell passieren, am besten ohne Blickkontakt und ohne Stehenbleiben, sonst könnte ein „Chiara, könntest du bitte noch….“den pünktlichen Feierabend torpedieren.

Der Weg zwischen der Klinik und ihrer Wohnung war in 20 Minuten mit dem Fahrrad zu bewältigen. Das hatte sie beim letzten Umzug auch bewusst so gewählt. Sie hatte es satt, täglich zur Rushhour mit dem Auto im Stau zu stecken. Sie hatte ihre kleine Wohnung aufgeben müssen, weil der Vermieter wegen Eigenbedarfs gekündigt hatte. Der „Eigenbedarf“ war sein Sohn gewesen, ein stark übergewichtiger ungepflegter Nerd, der bei allen Absprachen in puncto Abstandszahlungen arrogant durchblicken ließ, dass er der Sohn des Vermieters war.

Schweren Herzens hatte Chiara ihm ihre geliebte Wohnung überlassen. Es war die erste Wohnung nach der Trennung von Tim gewesen, und sie war wirklich sehr klein. Wenn Leonie bei ihr war, musste Chiara zum Schlafen auf die Schlafcouch im Wohnzimmer ausweichen.

Sie hatte auch diesen Stadtteil ihrer alten Wohnung geliebt, in dem viele Studenten wohnten. Ihr Freundeskreis hatte allerdings immer mal wieder Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sie sich dort wohlfühlte. Beatrice, eine Freundin seit Studientagen hatte geäußert „Wenn dir das so reicht, ich könnte so nicht wohnen“.

Auch wegen solcher Bemerkungen hatte Chiara sich nun eine größere Wohnung in einem besseren Stadtviertel ausgesucht. Der Haken daran: Sie war eigentlich zu teuer. Das ahnte natürlich niemand, denn ihre Umgebung hatte die Erwartung, dass das für sie als Ärztin kein Problem sein dürfe. Bis auf ihre besten Freundinnen Liz und Mette wusste niemand, dass sie durch die Trennung von Tim und dem daraus folgenden übereilten Verkauf der gemeinsamen Eigentumswohnung verschuldet war. Merkwürdig auch, dass man in den Augen anderer als Ärztin immer „Besserverdienerin“ war, selbst wenn man in Teilzeit arbeitete.

Chiara hatte kräftig in die Pedalen getreten und spürte jetzt einen Riesenhunger. Sie schloss das Fahrrad am Zaun an statt es in den Keller zu bringen, so als könnte sie damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich noch eine schöne Unternehmung am Abend ergibt.

Auf dem Weg zur Haustür des Mehrfamilienhauses sah sie den blühenden Fliederbusch und brach sich einen der lilafarbenen Blüten ab.

In ihrer Wohnung angekommen öffnete sie als erstes die Fenster. Das geräumige Wohnzimmer war Südseite und hatte sich im Tagesverlauf enorm aufgeheizt. Vom Wohnzimmer aus öffnete sie die Tür zum Balkon und machte es sich dort auf ihrem neuen Balkonstuhl bequem. Vom Balkon aus konnte man auf ein Gartenstück sehen, welches allen Mietern zur Gemeinschaftsnutzung zur Verfügung stand. Der Rasen war ungepflegt und vermoost, niemand im Haus fühlte sich so richtig zuständig für die Pflege des Grundstücks. Der Balkon hatte sich zu Chiaras Lieblingsplatz in der Wohnung entwickelt, hier konnte sie nach der Arbeit am besten entspannen. Verschiedene Kräuter in Terracotta-Töpfen hatte sie aufgestellt, dazu Lavendel und ein paar Tomatenpflanzen, an denen bereits kleine grüne Früchte hingen.

Ihr Blick fiel auf die Majoranpflanze und erinnerte sie an die Idee, die ihr auf der Heimfahrt gekommen war. Sie wollte Frittate zubereiten, eine Art italienischer Eierkuchen, mit Kartoffelstückchen und kleingeschnittenen in Öl eingelegten getrockneten Tomaten, dazu Majoranbutter.

Jetzt fiel ihr Luis wieder ein und sie empfand ein wenige Stolz darauf, dass sie es geschafft hatte, einige Stunden nicht auf ihr Handy zu schauen. Er hatte tatsächlich geschrieben. „Hey, warum hast du gestern gar nicht auf meine Nachricht reagiert? Bin heute ohne Kind und würde dich WIRKLICH gerne sehen. LG, Luis.“ Chiaras Herz machte einen Sprung und sie antwortete sofort „Komm doch einfach, bin schon zuhause.“

Es dauerte keine halbe Stunde bis es an der Tür klingelte. Vom Fahhradfahren und die Treppe Heraufsprinten noch außer Atem, begrüßte er sie mit einer stürmischen Umarmung und einem langen Kuss. Dann ging er einen Schritt zurück und sah ihr tief in die Augen.

„Was war los, warum hast du nicht reagiert?“ Chiara drehte sich sofort um und ging Richtung Küche, dabei sagte sie „Wollen wir Frittate machen? Ich habe Kartoffelreste.“

Er ging ihr nach, drehte sie sanft um und fragte, diesmal leiser aber eindringlicher „Warum hast du mich hängen lassen?“

„Wer hat hier denn wen hängenlassen? Warum hast du nur eine Nachricht geschrieben, statt mich anzurufen?“ zischte Chiara.

„Genau deshalb, weil ich weiß, wie aggressiv du wirst, wenn du enttäuscht bist. Ich wollte dir Gelegenheit geben, die Enttäuschung erstmal wegzustecken.“

„Komische Ausrede“ sagte sie nur und ging wieder Richtung Küche und ohne sich umzudrehen, jetzt in leiserem Ton „ Wie wär´s wenn wir einfach den Abend genießen?“.

Luis ging ihr nach „ Bleib doch einfach mal stehen und sieh mich an, wenn du mit mir redest.“

Sie wusste, dass er das hasste, aber manchmal konnte sie einfach nicht anders, wenn sie ihre Wut kontrollieren wollte. Sie blieb stehen und er drehte sie noch einmal vorsichtig um.

„Ja, Chiara, genau deswegen bin ich gekommen, um mit dir den Abend zu genießen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, dir das nochmal zu sagen, dass du bitte nicht einfach abtauchst und gar nicht mehr reagierst. Das kann und will ich nicht aushalten! Aber jetzt habe ich auch alles gesagt und will auch unseren Abend genießen.“

Chiara bewunderte Luis Fähigkeit, emotionale Dinge einfach und klar zu benennen und dabei einigermaßen ruhig zu bleiben. Manchmal machte sie das noch wütender, doch diesmal hatte es eine beruhigende Wirkung. Luis hatte Wirtschaftspsychologie studiert und arbeitete in einer Werbeagentur. Aber Chiara fand, dass er auch ein guter Therapeut geworden wäre. Zumindest ein besserer als sie, die oft impulsiv reagierte, wenn es um Gefühle ging.

Dann fingen sie an, gemeinsam zu kochen, die anfangs noch frostige Stimmung lockerte sich immer mehr auf. Luis neckte sie, indem er immer wieder von Omeletts statt Frittate sprach, und Chiara konnte es diesmal tatsächlich mit Humor nehmen. Luis hatte in Chiaras Augen einen kleinen Schönheitsfehler, er besaß nämlich zusätzlich zur Deutschen auch die Französische Staatsbürgerschaft, weil er in Frankreich geboren war. Chiara betrachtete es als merkwürdigen Zufall, dass sie nicht nur eine französische Mutter, sondern jetzt auch einen Freund mit französischen Wurzeln hatte. Aber im Gegensatz zu dieser machte es Luis nie zum Thema, außer beim Kochen und dann auch nur mit viel Humor.

Als die Frittate in der Pfanne war, ließ sie die Butter in einem Topf schmelzen, Luis hatte ein paar Majoranblätter vom Balkon geholt, gewaschen und kleingezupft. Nachdem er sie in die Butter gestreut hatte, wurde die Küche von einem Butter-Majoranduft erfüllt. „Was machst du dann mit der Majoranbutter?“ wollte Luis wissen. „ Sie wird über die Frittate geträufelt, wenn sie dann zusammengeklappt auf dem Teller liegt.“ Ohne zu fragen, nahm sich Luis noch zwei große Tomaten aus der Gemüseschale und schnitt sie in Scheiben, würzte sie und stellte sie mit einem „Für die Vitamine“ auf den Esstisch. Sie genossen die Harmonie, die sich meistens beim gemeinsamen Kochen und Essen einstellte.

Chiara war eine Meisterin darin, den Tisch so zu decken, dass sich selbst einfache Gerichte wie ein Festmahl anfühlten. Sie hatte eine ganze Sammlung von unterschiedlichen schönen Sets und Tischdecken, dazu ein sehr schönes etwas verspielt verziertes Besteck. Von ihrer Freundin Mette hatte sie sich ein original italienisches Geschirrservice aus deren Toscanaurlaub mitbringen lassen. Es war eine Art „running gag“, dass ihr Freundeskreis sie immer mal wieder fragte „Die hast du bestimmt aus dem Italienurlaub.“ Das war dann liebevoll-ironisch gemeint, denn alle wussten, dass Chiara merkwürdigerweise als Fan der italienischen Küche noch nie in Italien gewesen war.

Auch heute hatte sie das graue, an den Rändern mit Punkten verzierte Geschirr auf einer fliederfarbenen Tischdecke gedeckt. Dazu passend die Fliederblüte in einer weißen bauchigen Vase.

Inzwischen war das Ei mit den Kartoffelstücken in der Pfanne leicht gestockt, für weitere zehn Minuten stellte sie nun die Frittata in den vorgeheizten Ofen. Luis hatte eine Rotweinflasche geöffnet, einen leichten Merlot. Bei Wein war Chiara nicht wählerisch. Sie mochte bei Rotwein die Farbe, bei Weißwein die Kühle und bei Alkohol grundsätzlich die entspannende Wirkung, alles andere interessierte sie nicht.

Nach dem Essen saßen sie noch lange auf dem Balkon, und genossen mit zunehmender Intensität den verklingenden Abend.

3.Kapitel

„Du mal unpünktlich?“ spöttelte Ralf, der älteste Pfleger auf Station. Er schien von Jahr zu Jahr zuzunehmen, entsprechend wurde er immer behäbiger. Nur seine Zunge nicht, die war eine nicht enden wollende Quelle von provokativen Sprüchen. Chiara hatte gelernt, sie zu ignorieren.

Es wartete bereits vor der Morgenbesprechung eine ganze Reihe von dringenden Aufgaben auf Chiara. Blutabnahmen, Spritzen, Medikamtentenverordnungen für Patienten, die den Nachtdienst überstrapaziert hatten und dringend etwas Beruhigendes oder Angstlösendes benötigten. Sie bekam mit, dass auch schon drei Neuaufnahmen in Richtung Klinik unterwegs waren, einer davon ein von allen gefürchteter Patient, dessen aggressive Ausbrüche nicht einmal mit starken Medikamenten handelbar waren. Er gehörte zu den sogenannten „Drehtürpatienten“, so nannte man diejenigen, die -kaum entlassen- schon wieder Probleme bekamen und kurz darauf erneut als Notfall angekündigt wurden.

An solchen Tagen zweifelte Chiara daran, ob sie hier richtig war. Was sie aber immer wieder davon abhielt, die Stelle zu wechseln war das nette Kollegium und die Aussicht darauf, dass sie in wenigen Monaten auf die private Psychotherapiestation wechseln würde. In ihrer Fantasie malte sie sich aus, wie viel angenehmer es wohl dort sein würde im Vergleich zur geschlossenen Akutstation.

Ein weiterer Grund für ihr Bleiben in der Klinik war die Chefärztin Annette Schömburger und ihr gemeinsames Interesse an den Gerichtsgutachten, das würde ihr bei einem Klinikwechsel sehr fehlen.

Heute Mittag sollte das Gespräch mit der Chefin sein, Chiara freute sich auf den Termin. Die Erwartung, bald schon wieder an einem spannenden Fall dran zu sein, hielt sie nach der kurzen Nacht wach und ließ sie den täglichen Wahnsinn auf Station besser aushalten.

Chiara war eine Meisterin darin, sich bei äußerem Druck in ihre inneren Welten zurückzuziehen. Gerade bei gewohnten Abläufen konnte sie wunderbar auf Autopilot schalten und sich innerlich mit Dingen wie dem Zubereiten des nächsten italienischen Menüs oder Details des gerade laufenden Gutachtenfalles beschäftigen. Und sie hatte noch eine Vorliebe, von der aber nur wenige wussten. Sie liebe Gedichte, vor allem alte.

Ihr Lieblingsdichter war kein geringerer als Dante Alighieri, der als „Vater der italienischen Sprache“ bezeichnete italienische Dichter. Sie kannte zahlreiche Gedichte und Aphorismen von ihm auswendig und konnte gleichzeitig arbeiten und sich innerlich ein Gedicht von ihm vorsagen.

In ihrem Freundeskreis sprach sie kaum darüber, denn sie hatte schon mehrmals die Erfahrung gemacht, dass sie belächelt wurde. Selbst Liz, von der sie sich am besten verstanden fühlte, hatte nur geschmunzelt und gesagt „Du und alte Gedichte- das passt doch gar nicht!“ Chiara hasste die vorgefertigten Meinungen darüber, was zu jemandem passte. Überhaupt hasste sie Schubladen. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus, in Diskussionen etwas zu äußern, das eigentlich gar nicht ihrer Überzeugung entsprach, einfach nur um andere zu irritieren.

Auf den Kommentar von Liz hin hatte sie nur entgegnet „ Ach Liz, wegen solcher Sprüche hatte Dante recht mit „Niemand ist uns ein näherer Freund, als wir uns selber sind.“ Dann wechselte sie das Thema und sprach nie wieder darüber.

Pünktlich um 12 Uhr saß Chiara wie vereinbart vor dem Zimmer der Chefärztin, wissend dass diese zwar pünktliches Erscheinen erwartete, aber auch gerne die pünktlich Erschienenen warten ließ. Diesmal dauerte es nur etwa zwanzig Minuten bis die Chefsekretärin Judith Talmann erschien. Frau Talmann war eine große, sehr schlanke Frau mit hochgestecktem pechschwarz gefärbtem Haar, dass sie noch größer wirken ließ. So knapp und bissig sie allen gegenüber sein konnte, die etwas von ihr wollten, so unterwürfig verhielt sie sich ihrer Chefin gegenüber. „Frau Schömburg erwartet sie jetzt“, ließ sie Chiara wissen, wobei sie den Namen „Schömburg“ etwas sanfter und leiser aussprach als den Rest des Satzes.

Chiara betrat das Zimmer ihrer Chefin. In dem eher kleinen Zimmer stand mittig ein überdimensionierter Schreibtisch aus dunklem Holz. Die vier Kanten des rechteckigen Klotzes waren abgeflacht und mit Schnitzereien verziert, alles afrikanische Motive. Das ganze Zimmer zeugte von der Afrikaliebe der Chefin, holzgeschnitzte Tiere, Wandteppiche. Nicht von der Sorte, der man ansah, dass sie -massenhaft industriell gefertigt- als angebliche Handarbeit verkauft wurde. Diese hier waren edler, feiner geschnitzt, die Teppiche sehr fein gewebt.

Ein Gegenstand fiel ins Auge und bot immer wieder Gesprächsstoff im Kollegium. Es handelte sich um einen echten ausgestopften Antilopenfuß, der in einen Aschenbecher integriert war. Echt skurril, aber Chiara mochte ihn, vielleicht als Symbol ihrer beider Neigung zu Makabrem.

Die Chefärztin, klein und drahtig mit grauem, zu einem Bob geschnittenen Haar, begrüßte sie mit einem Lächeln. Dieses Lächeln sah Chiara bei ihr nur, wenn sie mit ihr alleine war. In den großen Runden war sie sehr ernst und geschäftsmäßig. Sie war eine faire Chefin, mit ihrer etwas unterkühlten Art konnte allerdings nicht jeder umgehen.

„ Kommen wir gleich zur Sache Frau Deichgraf“ jetzt wich das Lächeln dem üblichen ernsten Gesichtsausdruck, „ich habe hier etwas für sie.“

Sie nahm die obere Akte eines Aktenstapels auf ihrem Schreibtisch und schlug sie auf.

„Es handelt sich um den Fall einer Frau, die ihren Liebhaber getötet haben soll. Mit einer Mistgabel.“ Chiara erkannte, dass die aufgeschlagene Seite auch Fotos enthielt, sah jedoch bewusst nicht genauer hin.

„Es läuft ein aufwendiger Indizienprozess am Landgericht Hamburg, Vieles spricht für die Frau als Täterin. Wie sie vielleicht wissen, gestehen die meisten Täter nach einer Beziehungstat, wenn die Beweise erdrückend werden. Diese Frau bleibt jedoch ganz klar dabei, die Tat zu leugnen. Es soll ein Gutachten zur aktuellen psychischen Verfassung der Tatverdächtigen erstellt werden mit Fokus auf ihrer Persönlichkeit.“

Die Chefin hatte bisher nur auf die Akte geschaut, in der sie beiläufig geblättert hatte, jetzt blickte sie Chiara an.

„Ich dachte natürlich an sie, als die in forensischen Gutachten am meisten Erfahrene im Kollegium. Könnten sie das übernehmen?“ Wieder huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht.

Jetzt lächelte auch Chiara, die Anerkennung tat ihr gut. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Frau Schömburg fort, den Blick wieder auf die Akte gesenkt.

„Wir wissen bereits, dass sie wegen psychischer Probleme mehrmals in Behandlung war, aber die Therapeuten berufen sich aktuell noch auf ihre Schweigepflicht.“

„Ich dachte, wenn es um Verbrechen geht, endet die ärztliche und therapeutische Schweigepflicht“ entgegnete Chiara.

„ Das ist eine durchaus umstrittene Frage, Frau Deichgraf. Ganz sicher muss die Schweigepflicht gebrochen werden, wenn es darum geht, ein Verbrechen zu verhindern. Bei der Aufklärung von bereits verübten Verbrechen streiten sich die Geister.“

Chiara war jetzt voll drin im Thema, sie liebte es, mit ihrer Chefin solche Dinge zu diskutieren, sie hätte noch Stunden über den Fall weiterreden können.

Nach einer kurzen Schweigepause sah die Chefin wieder auf „Und?“

Chiara sah sie irritiert an, weil sie nicht wusste, was sie jetzt von ihr wollte.

„ Ich meine, übernehmen sie das Gutachten?“

„ Ja, gerne“, Chiara hatte ganz vergessen, dass sie die Frage vorhin noch gar nicht beantwortet hatte. Eigentlich war es auch eine rhetorische Frage, denn Frau Schömburg wusste genauso gut wie sie selbst, dass Chiara gerne solche spannenden Gutachten übernahm.

Chiara hatte die Zeit aus den Augen verloren. „Oh, ich muss leider jetzt los, meine Tochter abholen.“ Frau Schömburg, die keine Kinder hatte, sah sie irritiert an und überwand sich mit abgewandtem Blick zu einem Verständnis signalisierenden „na dann fahren sie mal, das Wichtigste haben wir ja besprochen. Frau Talmann wird die Akten in ihr Fach legen.“

So gut sich die beiden Frauen in Bezug auf das Fachliche verstanden, wenn es um Chiaras familiäre Verpflichtungen ging, war sofort Eiszeit. Frau Schömburg hatte Chiara kürzlich eine volle Stelle angeboten. Als Chiara dann signalisiert hatte, dass das wegen ihrer Tochter leider nicht machbar war, hatte die Chefin sie angesehen, als spräche sie eine andere Sprache.

Chiara fühlte sich gestresst, als sie -eigentlich schon zu spät- auf ihr Fahrrad stieg. Sie trat in die Pedalen und schimpfte vor sich hin. Dieser ewige Spagat zwischen Arbeit und Kind kostete irrsinnig Energie und Nerven. An der Arbeit kamen immer wieder ironische Sprüche, wenn sie die Station einigermaßen pünktlich verließ. Auf den letzten Drücker im Hort angekommen erntete man dort ebenfalls kritische Bemerkungen. Verdammt nochmal, wenn Leonie bis halb drei angemeldet war konnte man sie doch auch um halb drei abholen, und wenn es dann verdammt nochmal drei Minuten nach halb drei war, wo war das Problem? Die Erzieherinnen schienen doch – bis auf Frau Schaller, die älteste Kraft- sowieso überwiegend mit Kaffeetasse in der Hand zu plaudern.

Das schnelle Radeln und Schimpfen nutzte Chiara häufig als Ventil, wenn ihr alles mal wieder über den Kopf zu wachsen schien.

Diesmal war es leider fünf nach halb drei, Chiara hatte den Kampf gegen die Zeit mal wieder verloren. Wie immer erntete sie vorwurfsvolle Blicke. Sofort stellten sich bei ihr Fantasien ein, was die Erzieherinnen wohl dachten. „Da muss das arme Scheidungskind schon wieder auf seine Mutter warten, die einfach nichts auf die Reihe kriegt.“

Doch das arme Scheidungskind war noch mitten im Spiel statt sehnsüchtig auf ihre Mutter zu warten. Chiara begrüßte sie liebevoll, doch Leonie wehrte ab. „Ich wollte das noch mit Lotta fertigspielen.“ Es dauerte eine Weile bis sie Lotta davon überzeugt hatte, dass sie beide auch morgen noch das Puzzle vollenden könnten. „Vergessen Sie die Tasche nicht Frau Deichgraf.“

Oh nein, auch das noch, jetzt war das Bild der zerstreuten und überforderten alleinerziehenden Mutter perfekt. Fast hätte sie die Tasche vergessen, die bei Leonies Wechsel von Mama zu Papa und zurück ausgetauscht wurde.

Die „Wandertasche“, wie Leonie sie nannte, war so voll gestopft, dass sie kaum in Chiaras Fahrradkorb passte. „Mama nicht schon wieder fluchen“ schimpfte Leonie. Chiara hatte es gar nicht bemerkt, dass sie schon wieder vor sich hin gezischt hatte.

Die beiden fuhren mit dem Fahrrad nachhause, Leonie vorweg. Ihre Tochter so vor sich zu sehen, machte Chiara glücklich. Erst jetzt konnte sie auch wahrnehmen, wie blau heute der Himmel war und wie angenehm die Maisonne. Als sie dann vom Rad stiegen, hatte sich der Stress des bisherigen Tages verflüchtigt.

In der Wohnung angekommen frage Leonie „Mama, wann kaufst du eigentlich endlich Möbel?“ Sie rief es so laut, dass ihre Frage durch den leichten Widerhall in der wenig möblierten Wohnung unterstrichen wurde. „Wir haben doch Möbel“ entgegnete Chiara. „Die Wohnung ist aber trotzdem leer!“ konterte Leonie. Chiara wusste, dass sie Recht hatte. Sie hatte die Möbel aus der kleineren Wohnung beim Umzug mitgenommen aber nichts Neues gekauft.

Fast hätte sie noch gesagt „Das machen wir, wenn wir wieder mehr Geld haben“, besann sich dann aber eines Besseren. Sie wollte auf keinen Fall, dass Chiara sich Sorgen um Geld machte.

Wie belastend das sein konnte, wusste Chiara nur zu gut. Geld war bei ihren Eltern ständig Thema gewesen. Ihre Mutter konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Für sie diente Geld vor allem dazu, etwas darzustellen. Neue Klamotten, teure Handtaschen, Urlaube an exklusiven – natürlich französischen- Orten.

Dabei hatten beide Elternteile recht gut verdient, die Mutter war Grundschullehrerin, der Vater Beamter im Finanzamt. Aber die Ausgabegewohnheiten der Mutter passten nicht zu einem normalen guten Einkommen. Die Streits der Eltern zum Thema Finanzen wurden selten vor den Kindern ausgetragen. Aber man konnte sie durch die Türen hindurch hören.

Danach versuchte die Mutter sich ein wenig am Riemen zu reißen, was aber nie länger als ein, zwei Wochen gutging. Diese Zeit war skurril, die Mutter versuchte dann durch eine lächerlich übertrieben wirkende Sparsamkeit guten Willen zu zeigen. Das ging so weit, dass sie moralisch getönte Standpauken hielt, wenn Chiara oder ihr Bruder sich über das spartanische Essen beschwerten oder maulten wenn es am Wochenende Aufbackbrötchen statt der Frischen vom Bäcker gab. Wie bei einem Süchtigen, der keinen Stoff zur Verfügung hat, wurde ihre Laune dann immer schlechter, ihre Belehrungen in Richtung Sparsamkeit immer aggressiver. Irgendwann brach sie dann ein, warf alles über den Haufen mit der Begründung, diesen Lebensstil könne man den Kindern nicht zumuten, die würden sonst Schaden nehmen.

Bis auf die nur mit kurzfristigem Erfolg gekrönten Versuche des Vaters gegenzusteuern hatte er die Misere geradezu stoisch ertragen. Chiara war es immer ein Rätsel gewesen, wie er das aushalten konnte. Seine kleine Rache war, sich oft in seine eigene Welt zurückzuziehen. Er spielte Tennis, kannte dort genug Leute um immer jemanden zu finden, mit dem man abends „ein Bierchen trinken“ konnte. Dass er seine Frau in diese Kreise nicht integriert hatte nahm sie ihm sehr übel. Aber selbst bei gutem Willen wäre das aufgrund ihrer herausragenden Unsportlichkeit schwierig gewesen.

Nein, Leonie sollte aufwachsen mit dem Gefühl, das alles Notwenige selbstverständlich da war.