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Von wegen stilles Örtchen! Eigentlich wollen Chloé und ihre Freundinnen auf der prunkvollen Schultoilette bloß die Hausaufgaben abschreiben, als sie eine Entdeckung machen: Ihre Klassenkameradin Pauline wurde über Nacht in einer der Kabinen eingesperrt. Chloé ist überzeugt, dass Oberzicke Angelique dahintersteckt. Kurzerhand beschließt sie, Angelique mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Und welcher Ort wäre dafür geeigneter als … nun ja, das stille Örtchen? Doch schon bald droht Chloés genialer Plan ein gewaltiger Griff ins Klo zu werden. Sie hat am Welttoilettentag Geburtstag und sammelt kuriose Fakten über Toiletten - und wenn Freunde sich in Not befinden, kennt Chloé kein Pardon! Die neue Mädchenbuchreihe der Scary Harry-Autorin mit vielen witzigen Illustrationen von Vera Schmidt!
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Seitenzahl: 167
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Für Chris –
Überraschung auf dem Mädchenklo
Soll ich euch ein Geheimnis verraten? Neulich habe ich herausgefunden, dass jeder Mensch einen Lieblingsort besitzt. Einen geheimen oder auch nicht so geheimen Platz, an den man sich gerne zurückzieht, wenn das Leben es nicht gut mit einem meint. An dem sprichwörtlich immer die Sonne scheint. Und an dem man sich einfach wohlfühlt. Jeder Mensch kennt so einen Ort, und wenn ihr genau nachdenkt, fällt euch sicher auch einer ein.
Mama zum Beispiel liebt ihre Hängematte. Wenn sie nichts zu tun hat, verkriecht sie sich dort mit einem dicken Buch und bleibt darin liegen, bis es dunkel wird. Papa wiederum steht am liebsten im Tonstudio und singt Popsongs. Das ist nämlich sein Hobby, auch wenn er der schlechteste Sänger der Welt ist, aber das darf man ihm natürlich nicht sagen.
Mein Lieblingsort, und da führt ganz sicher kein Weg daran vorbei, ist das Schulklo. Die Mädchentoilette des Notburga-von-Sorgenfrey-Gymnasiums.
Ja, richtig gelesen. Und ja, ich weiß, wie das jetzt klingt. Wie kann ein stinknormales Schulklo denn mein Lieblingsort sein? Eine Schultoilette besteht doch aus nichts weiter als Kabinen, Waschtischen, Kritzeleien und meist uralten, wackeligen und, im schlimmsten Fall, ekligen Porzellanschüsseln. Und viel unternehmen kann man auf so einem Schulklo ebenfalls nicht, abgesehen von … na ja, ihr wisst schon. Das tägliche Geschäft verrichten.
Allerdings ist unser Mädchenklo alles andere als ein stinknormales Klo. Und auf die Gefahr hin, dass ihr jetzt über mich lacht – aber ich habe mich nach der Grundschule tatsächlich nur wegen des Klos für diese Schule entschieden. Denn wenn man das Wort »Klo« bereits im Namen trägt und am weltweiten Toilettentag geboren ist, dann darf man das.
Bevor ihr jetzt eure Augenbrauen hochzieht: Nein, ich heiße nicht Klothilde. Sondern Chloé. Eigentlich spricht man meinen Namen Klo-eh aus, mit Betonung auf der zweiten Silbe, aber viele Leute machen das falsch und betonen stattdessen die erste. Und dass mein Geburtstag dann auch noch auf den Welttoilettentag, den 19.November, fällt, kann kein Zufall sein.
Trotzdem habe ich meinen Namen früher gehasst. Denn mein bester Freund Ernst hat felsenfest behauptet, der Name Chloé stamme aus dem Griechischen und bedeute übersetzt so viel wie »die auf dem Klo Geborene«. Das fand ich nicht so nett. Wer will schon auf einem Klo geboren werden? Igitt.
Als ich alt genug war, einen Computer zu bedienen, habe ich die Bedeutung meines Namens im Internet nachgelesen und Ernst frech unter die Nase gerieben, dass Chloé tatsächlich griechisch ist, allerdings so viel wie »die Grüne« bedeutet. Außerdem habe ich ihm gesagt, dass ich mich ganz sicher nicht von einem Jungen ärgern lassen würde, der den Namen Ernst Fröhlich trägt. Das passt doch gar nicht zusammen. Beinahe so, als hieße man Dämlich Klug.
Gott sei Dank hat Ernst als Junge keinen Zutritt zu unserem tollen Mädchenklo, das Katja, Melanie und ich in diesem Augenblick betreten. Deshalb hat er auch keine Möglichkeit, heimlich vor der ersten Stunde die Mathehausaufgaben abzuschreiben. In der sechsten Klasse sind wir nun bei quadratischen Gleichungen angelangt und die meisten von uns haben in der letzten Mathestunde nur Bahnhof verstanden. Aber auf unser Mathegenie Melanie ist zum Glück immer Verlass.
»Wir haben zehn Minuten, bevor die Stunde beginnt«, ruft Katja, als sie die Tür aufreißt und in den Vorraum stürmt. »Und ich muss noch Deutsch, Mathe und Englisch von euch abschreiben. Ich hab doch schon zwei Verweise. Wenn ich noch einen kassiere, fliege ich von der Schule! Das wäre eine absolute Katastrophe! Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ein stinknormales Schulklo zu benutzen.«
Ich muss kichern, während ich ihr folge. Stinken tut es auf unserem Mädchenklo tatsächlich nicht. Das liegt daran, dass an der Decke kleine, moderne Zerstäuber hängen, die aussehen wie Rauchmelder, aber Vanille-Duft versprühen. Außerdem riecht das Klopapier nach Kaugummi. Darauf herumkauen würde ich aber trotzdem nicht. Wenn man Lust auf Kaugummi hat, gibt es stattdessen einen Kaugummi-Automaten neben den Waschbecken, an dem man kostenlos Kaugummi in allen Geschmacksrichtungen ziehen kann.
Und das ist noch längst nicht alles. Katja hat wirklich recht, denke ich mir, als ich beginne, die erste quadratische Gleichung aus Melanies Heft zu kopieren. Niemand aus unserer kleinen Clique könnte sich mehr vorstellen, zwischen den Unterrichtsstunden auf ein gewöhnliches Klo zu gehen. Dann müsste man vermutlich beim Abschreiben unbequem auf dem Klodeckel hocken anstatt hier, auf diesem glitzernden Plüschsofa neben den Waschbecken, während Giovanni, unser Schulkater, zwischen unseren Beinen herumtänzelt.
Selbst der edle Perserkater Giovanni fühlt sich hier wohl. Er hat hier sein Katzenklo und auch daran hat unsere Schule nicht gespart. Es gleicht eher einem Palast als einer Plastikschüssel.
»So, und jetzt Englisch«, befiehlt Katja und zieht Melanies Englischheft aus der Tasche. »Hier müssen wir allerdings ein paar Fehler einbauen, Chloé. Frau Kümmel glaubt uns nie im Leben, dass wir so gut sind wie Melanie –« Sie bricht plötzlich ab und blickt zu den Kabinen, die sich links neben uns aneinanderreihen. »Habt ihr das gehört?«
»Was denn?« Ich halte inne und sehe mich um. Wir sind die Einzigen hier. Was meint sie?
»Schscht. Hier ist jemand.« Katja lässt ihren Stift sinken und steht auf. Sie schreitet die Kabinentüren ab und späht in den kleinen Spalt zwischen den Toilettentüren und den rosafarbenen Fliesen. »Es klingt fast so, als ob hier jemand … schnarcht.«
Jetzt höre ich es auch. Wir sind tatsächlich nicht alleine. Und jetzt, wo ich genauer hingucke, fällt mir auch etwas an der letzten Kabinentür auf, die sich so weit hinten befindet, dass man sie vom Sofa aus nicht sehen kann. Der silbern glitzernde Türgriff liegt am Boden. Er sieht aus wie ein achteckiger Diamant und normalerweise muss man ihn ganz leicht zur Seite drehen, um die Tür zu öffnen und das Klo darin zu benutzen.
»Fallt nicht drauf rein«, warnt Melanie, die auf dem Sofa sitzen geblieben ist. Skeptisch mustert sie den glitzernden Griff auf dem glänzenden Fliesenboden. »Das ist ein Streich. Ich wette, das haben sich die Jungs ausgedacht, um uns zu ärgern. Bestimmt kommt das schnarchende Geräusch von einem … iPod und soll uns in die Kabine locken. Und wenn ihr die Kabinentür öffnet, ergießt sich ein Eimer mit widerlichem Zeug auf eure Köpfe. Mit Schnecken und Würmern. Oder mit Fleischresten aus der Cafeteria von letzter Woche.« Melanie würgt.
»Ach Quatsch, das kann ich mir nicht vorstellen. Los, kommt mit«, erkläre ich Katja und Melanie, auch wenn mir ein bisschen mulmig ist. Seit September müssen die Jungs die Mobiltoiletten draußen bei der Fahrradhalle benutzen, weil das Jungsklo dringend sanierungsbedürftig ist. Und sie waren schon immer neidisch auf unser schönes Mädchenklo. Was, wenn sie also … Schnell schiebe ich den Gedanken beiseite, schnappe mir mutig den Türknauf und versuche, ihn wieder zu befestigen. Nach einigen Versuchen klappt es und ich ziehe die Tür auf.
»Was zum Geier –«, rufe ich und starre verblüfft in die Kabine. Es ergießt sich zwar zum Glück kein Eimer voll Ekelzeug über uns, aber ich bin mir dennoch nicht sicher, was das hier zu bedeuten hat. Vor uns hockt unsere Klassenkameradin Pauline Schramm, die an der Wand der Kabine lehnt – genauer gesagt am Aquarium, das sich in der Rückwand der Toiletten befindet. Sie hat die Arme auf den Klodeckel gelegt und ihren Kopf daraufgestützt; aus ihrem offenen Mund rinnt ein wenig Speichel.
Katja, Melanie und ich wechseln unschlüssige Blicke. In diesem Moment gibt Pauline einen letzten lauten Schnarcher von sich, blinzelt und starrt uns an.
»Chloé?« Mit einem Ruck hüpft sie auf, dabei verrutscht ihre Brille. »Wie … wie spät ist es? Hat der Unterricht etwa schon angefangen?«
Okay, das ist echt schräg. Ich meine, Pauline Schramm, die seit September in unsere Klasse geht, ist schon ziemlich seltsam: Sie trägt die Latzhosen ihrer Brüder, hat Haare, die aussehen, als wären sie in ihrem Leben noch nie mit einer Bürste in Berührung gekommen, und leidet außerdem unter einem Dutzend Nahrungsmittelallergien. Deswegen hat sie in der Cafeteria immer ihr eigenes Essen dabei – irgendein merkwürdiges Zeug aus dem Naturkostladen, das aussieht wie schon mal gegessen. Außerdem hat sie eine ganze Reihe an eigenartigen Hobbys, zum Beispiel steht sie total auf uralte Disneyfilme, liebt es zu häkeln und zu stricken und bedruckt sogar ihre T-Shirts selbst. Sie ist der Inbegriff eines weiblichen Nerds.
Melanie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es ist sieben Uhr fünfundzwanzig. In fünf Minuten haben wir Englisch. Hast du etwa auf dem Klo geschlafen, Pauline?«
Melanies Worte klingen wie ein Vorwurf, aber ich weiß genau, dass sie das nicht so meint. Pauline sieht jämmerlich aus. Wie es scheint, hat sie tatsächlich die ganze Nacht auf dem Klo verbracht, denn sie trägt noch dieselben Klamotten wie gestern: ein ausgewaschenes T-Shirt mit Disneys Arielle, die Meerjungfrau, dazu einen bunten Faltenrock, der fast bis zum Boden reicht und vielleicht in der Jugend ihrer Mutter der letzte Schrei war. Sie hat mir in diesem Aufzug schon gestern ziemlich leidgetan. Nur heute sind ihre Sachen noch verknitterter und ihre Augen ganz verquollen, als hätte sie geheult. Und dann ist da noch etwas: ein großer blauer Fleck an ihrem Oberarm. Schnell zähle ich eins und eins zusammen – der Griff auf dem Boden, der Bluterguss – und komme zu dem Schluss, dass Pauline wohl kaum freiwillig die Nacht auf dem Klo verbracht hat. Es sieht eher danach aus, als habe jemand sie unsanft in die Kabine geschubst und dann den Griff abmontiert.
Schließlich räuspert sich Pauline. »Ja, ich hab auf dem Klo geschlafen.« So würdevoll wie nur möglich steht sie auf, hebt ihr Kinn und klopft sich die Klamotten ab.
Wir drei warten darauf, dass noch eine Erklärung folgt, aber es kommt keine. Stattdessen schnappt sich Pauline ihren Schulrucksack und zwängt sich an uns vorbei aus der Kabine. »Aber ich sehe nicht den geringsten Grund, warum euch das interessieren sollte. Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss in den Englischunterricht.«
Ach ja, bevor ich es vergesse: Abgesehen von ihren schrägen Outfits ist Pauline auch noch eine echte Kratzbürste. Sie hält sich für überdurchschnittlich klug und redet mit ihren zwölf Jahren wie eine Erwachsene.
»Pauline. Warte«, flüstere ich, weil mir vor Schreck die Stimme wegbleibt. Der blaue Fleck schiebt sich zurück in mein Gedächtnis und ich deute mit dem Finger darauf. »Wer … wer war das?«
Pauline bleibt stehen und sieht mich mit ihren großen grünen Augen an. Unser Schulkater Giovanni liebkost ihre Beine, etwas, das Giovanni normalerweise nur bei ausgewählten Personen tut. Für einen kurzen Augenblick sieht Pauline aus, als würde sie gleich losheulen.
»Das waren … die Jungs. Aus der Zwölften«, murmelt sie dann und schluckt. »Kevin und seine dämlichen Kumpels. Die, die letzte Woche ›Leer, Lehrer, Oberlehrer‹ in großen Buchstaben auf die Turnsaalwand gesprayt haben. Die halten sich wohl für besonders witzig. Aber das ist nicht euer Problem, verstanden?«
Melanie runzelt die Stirn. »Aber ist Kevin nicht letzte Woche von der Schule geflogen und besucht nun –«
»Nicht. Euer. Problem«, knurrt Pauline und fletscht die Zähne wie Steve Mops, der streitlustige Hund unserer Nachbarin. Dann latscht sie in ihren Gesundheitsschuhen zur Tür, die in den Flur führt. »Adios, ihr Tussis.«
Wie versteinert stehen wir da, als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt und die Schulglocke läutet. Dass jemand so unhöflich mit uns spricht, sind wir nicht gewohnt. Katja ist eigentlich bei allen beliebt, weil sie echt cool ist und immer einen flotten Spruch auf den Lippen hat. Melanie ist unser Superbrain und wird für ihre guten Noten bewundert, und ich, tja, ich bin einfach Chloé, die eigentlich recht normal ist, aber ziemlich viel unnützes Wissen über Klos parat hat. Wusstet ihr zum Beispiel, dass wir zeit unseres Lebens drei Jahre auf dem Klo verbringen? Bei Pauline ist das dann vermutlich noch viel mehr Zeit, wenn sie sich hier regelmäßig von Kevin und seinen Jungs einsperren lässt.
Aber mein Gefühl sagt mir, dass Kevin diesmal gar nichts damit zu tun hat. Was in aller Welt ist gestern wirklich auf dem Mädchenklo vorgefallen? Während ich ohne Hausaufgabe in den Englischunterricht marschiere, fällt mir ein, dass wir auf dem Klo zwar allen erdenklichen Luxus besitzen, aber eine entscheidende Sache fehlt: Überwachungskameras.
Das riecht nach Ärger!
Gut. Ich nehme es zurück. Sofort. Überwachungskameras auf dem Klo sind keine gute, sondern eine echt bescheuerte Idee. Wer will schon auf dem stillen Örtchen gefilmt werden? Ganz sicher niemand. Und wer auch immer sich solche Videobänder ansehen muss, tut mir richtig leid.
Es muss doch eine andere Möglichkeit geben herauszufinden, was gestern mit Pauline passiert ist. Wer hat sie im Klo eingesperrt und wieso? Versucht sie etwa, den Übeltäter zu decken? Außerdem müsste eigentlich irgendjemand etwas mitgekriegt haben. Die Jungs hatten gestern Nachmittag Sport, bei uns Mädchen ist der Unterricht ausgefallen. Da ich in Englisch neben Ernst sitze, beschließe ich, ihn zu fragen. Er und seine Kumpels verirren sich nämlich ganz gerne mal aufs Mädchenklo, um Kaugummi zu stibitzen. Manchmal legen sie auch Plastikspinnen auf die Toilettendeckel und freuen sich diebisch über unser Gekreische. Jungs eben.
»Psst. Ernst«, flüstere ich und beuge mich etwas zu ihm hinüber, ohne dabei Frau Kümmel, die Englischlehrerin, aus den Augen zu lassen. Flüstern ist gefährlich, vor allem wenn man in der zweiten Reihe sitzt. »Ernst, ich habe eine Frage. Eine wirklich dringende.«
»Kann jetzt nicht. Ich muss aufpassen«, knurrt Ernst zurück und starrt in sein Englischbuch. Wie immer hat er es aufgeschlagen auf das Pult gestellt und seinen Kopf dahinter versteckt, als wollte er mit dem zerfledderten Schulbuch einen Schutzwall zwischen sich und Frau Kümmel errichten.
»Als ob dich Englisch interessieren würde«, gebe ich zurück und ziehe ihm das Buch weg. Mit einem Schlag wird Ernst nervös. Blitzschnell lässt er sein Handy unter dem Tisch verschwinden und lächelt unschuldig in Frau Kümmels Richtung. Seit Wochen ist er süchtig nach einem neuen Handyspiel, in dem Dinosaurier schwerelos durchs Weltall fliegen und Roboter fressen.
»Hey, sag mal, spinnst du?«, flucht Ernst. »Das kostet mich meine kompletten Punkte. Jetzt muss ich einen neuen Tyrannosaurus Rex züchten, um die feindlichen Cyborgs zu vernichten. Und das nur deinetwegen!« Er versucht, unter dem Tisch nach mir zu treten, verfehlt mich aber. »Ich hasse dich, Chloé.«
»Handys sind sowieso eklig«, erkläre ich, als Ernst das Telefon in seinen Schulrucksack pfeffert. »Wusstest du zum Beispiel, dass sich auf der Oberfläche eines durchschnittlichen Handys circa zweihundertmal so viele Bakterien tummeln wie auf einer Klobrille?«
»Du immer mit deinen Klo-Fakten«, schnaubt Ernst und zieht seine Baseballmütze tiefer in die Stirn, als wollte er sich darin verstecken. »Dank dir weiß ich Dinge übers stille Örtchen, die ich nie im Leben wissen wollte.«
»Genau darum dreht sich meine Frage: das stille Örtchen! Auf dem Mädchenklo ist gestern etwas vorgefallen, das mir Rätsel aufgibt und bei dem du mir weiterhelfen könntest.«
Jetzt zieht Ernst die Augenbrauen hoch. »Ich? Chloé, du redest gerade vom Mädchenklo! Vielleicht ist es dir ja entgangen, aber wir Jungs müssen schon seit Anfang des Schuljahres diese unsäglichen Mobiltoiletten unten bei den Mülltonnen benutzen. Dort stinkt es bestialisch, das ist menschenverachtend!«
Ich muss kichern, obwohl ich eigentlich Mitleid mit Ernst und den anderen Jungs haben müsste. Angeblich sollte das nagelneue Jungsklo nach den Sommerferien fertig sein, aber im Moment befindet sich dort immer noch eine riesige Baustelle. Unser Direktor macht aus den Plänen für das Jungsklo ein großes Geheimnis und natürlich hoffen alle, dass es ein ebenso glänzender, wundervoller Ort werden wird wie das Mädchenklo. Bis dahin müssen die Jungs allerdings mit den Mobiltoiletten vorliebnehmen, und je kälter es draußen wird, desto weniger passt ihnen das.
»Ja, ich weiß, Ernst«, sage ich und tue so, als täte mir der arme Ernst schrecklich leid. »Aber du musst mir helfen. Es geht um einen Überfall. Ein Überfall auf dem Klo.«
Ich hatte gehofft, damit Ernsts Interesse zu wecken, aber der gähnt nur müde vor sich hin. »Ein Überfall? Etwa Klopapierraub?« Er tut so, als fische er nach seinem Handy. »Warte. Ich rufe mal schnell Sherlock Holmes an.«
»Quatsch. Klopapier gibt’s genug«, sage ich, und stelle mir vor, wie Sherlock Holmes mit seiner Lupe auf der Suche nach geraubten Klopapierrollen unser Schulgebäude durchstreift. »Jemand wurde über Nacht gewaltsam auf dem Klo festgehalten.«
»Ach?« Nun scheint Ernst wirklich interessiert. »Und da bist du dir wirklich sicher?«
»Ich schwöre«, sage ich und hebe feierlich die Hand. »Auf Cloacina, die Kloakengöttin.«
Jetzt muss Ernst grinsen. Die Sache mit der Kloakengöttin muss ich euch unbedingt erzählen. Von unserem Geschichtslehrer haben wir nämlich erfahren, dass die alten Römer tatsächlich einen eigenen Kloakengott hatten. Danach haben wir wochenlang gerätselt, wie der wohl heißen könnte. Ich tippte auf »Toilettikus« und »Lokus«, Ernsts Vorschläge waren noch viel widerlicher. Inzwischen wissen wir, dass es kein Kloakengott, sondern eine Kloakengöttin namens Cloacina war. Auf Cloacina schwören wir nur, wenn es uns wirklich ernst ist. Wenn man lügt, so glaubt Ernst, rächt sich Cloacina – und wer will schon wissen, wie die Rache einer Kloakengöttin aussehen könnte? Ich jedenfalls nicht.
»Wer wurde denn festgehalten?«, erkundigt sich Ernst.
»Ich sag’s dir. Aber du darfst es niemandem verraten.«
»Ja, ja.«
»Schwörst du?«
»Auf Cloacina.« Ernst hebt feierlich die Hand. »Und jetzt sag schon.«
»Okay. Es war Pauline.«
»Oh.« Ernst dreht sich um und guckt in die fünfte Reihe, wo Pauline gerade gelangweilt mit Filzstift Figuren auf die Tischplatte zeichnet. Das ist natürlich verboten, aber Pauline scheint das nicht zu kümmern. »Ja. Pauline ist schräg.«
»Schau nicht so auffällig hin!«, ermahne ich ihn.
»Ja, ja.« Er scheint zu überlegen. »Und? Wer hat sie auf dem Klo eingesperrt?«
»Ich dachte, du wüsstest das.«
»Ich? Warum ich?«
»Ihr hattet doch gestern Nachmittag Sport.«
»Pff, na klaro! Und da unser Sportunterricht immer auf dem Mädchenklo stattfindet, weiß ich auch ganz genau, was passiert ist«, brummt Ernst missmutig. »Chloé, warum glaubst du eigentlich, dass ein Junge Pauline eingesperrt hat? Für den Fall, dass du es noch nicht kapiert hast – Jungs haben keinen Zutritt zum Mädchenklo. Das ist die verbotene Zone.«
Jetzt muss ich lachen. »Als ob ihr Jungs nie heimlich aufs Mädchenklo schleichen würdet, um uns dort Streiche zu spielen«, rufe ich empört. »Was ist mit den Gummispinnen? Und hast du etwa vergessen, wie ihr Schokoladenpudding in die Toilettenschüsseln gekippt habt und jeder dachte, es wäre –«
»Ernst! Chloé!« Vor lauter Empörung ist mir gar nicht aufgefallen, dass Frau Kümmel direkt vor unserem Pult steht. »Wie schön, dass euch die Abenteuer von Huckleberry Finn so sehr interessieren, dass ihr nicht aufhören könnt, darüber zu sprechen.«
Huch! Siedend heiß fällt mir ein, dass wir als Hausaufgabe einige Kapitel aus Huckleberry Finn lesen sollten. So ein Mist. Ich beschließe zu bluffen.
»Ja. Es ist ein wirklich ganz tolles Buch«, antworte ich mutig. Vielleicht klappt es ja und unsere Englischhexe merkt nicht, dass ich gar keine Ahnung habe. »Großartig. Ein wahres Meisterwerk.«
»Ja?« Frau Kümmel mustert mich eindringlich und kommt noch näher. »Dann kannst du uns sicher erzählen, worum es in dem Buch geht.«
Meine Hände beginnen zu schwitzen. Komm schon, Chloé, sage ich zu mir selbst. Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Irgendetwas musst du doch über dieses Buch wissen. Fieberhaft überlege ich, ob ich nicht wenigstens eine Verfilmung kenne, aber ich kann mich einfach nicht erinnern.
»Also, es geht um Abenteuer«, stottere ich los. Angelique, die zwei Reihen weiter rechts sitzt, beginnt zu kichern. »Abenteuer, die dieser Junge erlebt. Finn. Finn erlebt also diese Abenteuer –«
»Huck«, macht Frau Kümmel plötzlich.
»Gesundheit«, antworte ich, weil ich denke, dass Frau Kümmel geniest hat. Kein Wunder bei ihrer großen Nase. Angelique kichert noch lauter und selbst Ernst grinst jetzt blöd.
»Huck«, macht Frau Kümmel erneut. »Der Vorname des Jungen aus dem Buch ist Huckleberry.«
»Oh.«
»Hast du das Buch überhaupt gelesen, Chloé?«, will Frau Kümmel jetzt wissen.
Ich spüre, wie ich immer verlegener werde. Verdammt! In der 6b gibt es einen Jungen namens Finn, deswegen habe ich angenommen, das sei auch der Vorname des Jungen aus dem Buch. Ich meine, wer um alles in der Welt heißt denn Huckleberry? Der Name ist ja noch schlimmer als Ernst.