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Pferdeabenteuer satt! Aufregende Geschichten um Pferdeliebe, Stallgeruch und wahre Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Dieser Doppelband enthält die beiden Einzelbände "Schlossgeflüster" und "Ein Pferdesommer an der Nordsee". Lena ist überglücklich: Ein Pferd zum Geburtstag! Und Reitstunden gleich dazu - besser geht es nicht. Nur leider ist das Glück von kurzer Dauer, denn ihre Reitkolleginnen auf Gut Trautenstein erweisen sich als eingebildete Zicken. Wie gut, dass da noch Ben in dem Gestüt aushilft, ein Junge mit veilchenblauen Augen. Doch Lena wird nicht ganz schlau aus Ben - irgendetwas verheimlicht er. Malina muss dagegen ihre Ferien mit Rentnern auf einer kleinen Nordseeinsel verbringen statt mit ihrem süßen Pflegepferd Alfie. Doch aus dem langweiligen Urlaub wird schnell ein Abenteuer, als sich herausstellt, dass Omas Bekannte eine Tierauffangstation betreibt - inklusive Pferden. Besonders an die schöne Stute Lavendel verliert Malina ihr Herz. Umso größer ist ihr Schreck, als ausgerechnet Lavendel verkauft werden soll.
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Seitenzahl: 328
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Ein Pferdesommeran der Nordsee
Mathe
Wenn es etwas gibt, das ich noch mehr hasse als Matheunterricht, dann sind das Mathehausaufgaben. Dreimal pro Woche trichtert uns unser Mathelehrer die kniffligsten Berechnungen ein, nur um uns dann komplett andere Übungen aufzugeben. Morgen ist der letzte Schultag vor den Ferien, doch er macht wieder mal keine Ausnahme.
Ich sitze auf dem Gatter der Koppel, balanciere mein Rechenheft auf den Schenkeln und male in ein verwackeltes Dreieck einen noch viel verwackelteren rechten Winkel.
Okay. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ich könnte mit meinen Hausaufgaben ein wenig sorgfältiger sein. Aber eine klitzekleine Mitschuld an den zittrigen Linien trägt Alfie, der mit seinem Kopf zärtlich an meinen Ellbogen stupst. Aber das hätte ich ihm natürlich nie vorgehalten, denn ich liebe Alfie über alles.
Alfie ist übrigens ein strohblondes, norwegisches Fjordpony. Das Besondere an ihm ist seine aufrecht stehende zweifarbige Mähne. Ein echter Blickfang. Er ist einfach wunderschön mit seinem falbfarbenen Fell, das wie Gold in der Sonne glänzt.
Kein Zweifel. Alfie ist ein echter Superstar.
Und der Superstar hat nur Augen für mich. Während Alfies Stallgefährten Jolly und Jill ausgelassen über die Koppel toben, trabt Alfie am Gatter auf und ab und weicht nicht von meiner Seite. Kurzerhand knalle ich mein Rechenheft und das Buch auf den Kiesweg und vergrabe meine Hände in seiner Mähne. Alfie schnauft zufrieden und legt seinen warmen Kopf in meinen Nacken. Einen Moment lang rührt sich keiner von der Stelle und wir genießen die traute Zweisamkeit.
Ich bin total verliebt in ihn, auch wenn er nicht mir gehört. Alfie ist das Pferd meiner besten Freundin Kathi, die hier auf diesem riesigen Bauernhof am Stadtrand lebt. Weil Kathis Eltern vor Kurzem eine ziemlich eitle Araberstute namens Primadonna gekauft haben, die den ganzen Tag gestriegelt, gefüttert und liebkost werden will, kümmere ich mich nun allein um Alfie.
Jeden Nachmittag laufe ich von der Schule zu Kathis Bauernhof, miste Alfies Box aus und mache mit Primadonna und Kathi einen ausgedehnten Ausritt entlang der Kuhweiden. Danach erledige ich am Gatter meine Hausaufgaben, bis mich Papa pünktlich um sechs abholt und zurück in unsere Stadtwohnung bringt.
„Und? Alle Knochen heil, Malina?“, fragt Papa, als ich im Auto sitze. Prüfend lässt er seinen Blick im Rückspiegel über meine Klamotten schweifen.
Papa. Den muss ich euch natürlich auch noch vorstellen. Pferde und Papa, das ist so eine Sache. Bis zu meinem elften Geburtstag hatte er mir das Reiten verboten. Er hatte unsägliche Angst, mir könnte etwas zustoßen. Aber dank Mamas Überredungskünsten bin ich seit zwei Jahren die größte Pferdenärrin unter der Sonne.
Trotzdem frage ich mich, warum gerade ich bei der Geburtslotterie das große Pech hatte und den strengsten Vater des Universums abbekam. Er behütet mich und meine Schwester Chrissi, als wären wir noch im Kindergarten. Fehlt nur noch, dass er einen Detektiv anheuert, der in der Eiche neben meinem Fenster wohnt und mit einem Fernglas in mein Zimmer späht.
Dabei bin ich doch schon dreizehn. Aber in Papa lebt die Hoffnung, dass diese fiese Pubertät wie eine Erkältung vorüberzieht und ich mich bald wieder in die pausbäckige Dreijährige zurückverwandle, die ihren Vater „Dada“ nennt und sich ständig wie ein Äffchen an sein Bein klammert.
Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich ein Junge wäre. Jede Wette, dann wäre ich ein Riesenweichei und alle würden über mich lästern. Dabei finden mich die Leute aus meiner Klasse als Mädchen mit totalem Pferdetick schon seltsam genug.
„Alles heil. Nicht mal ein Kratzer“, versichere ich ihm stolz. Mein Outfit ist dreckig, wie immer. Aber darunter habe ich nicht mal die kleinste Schramme abbekommen. Wie auch? Alfie ist das reinste Lämmchen.
Papa antwortet mit einem skeptischen Brummen. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich von Alfies Rücken stürze. Dreimal dürft ihr raten, warum ich ausgerechnet auf einem Pony reite und nicht auf einem Pferd. Alles über einem Stockmaß von 1,48Meter bereitet Papa schlaflose Nächte.
Das Auto rollt über die Hauptstraße und schließlich halten wir vorm Einkaufszentrum. Meine große Schwester Chrissi schiebt sich neben mich auf den Rücksitz.
„Bäh!“ Sie hält sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. „Malina, dein Shirt stinkt nach Pferd“, verkündet sie, holt ein mini Parfumfläschchen heraus und schickt einen Sprühstoß in die Luft.
Klebriger Erdbeerduft umnebelt mich. Ich halte den Atem an. Gehen diese Duftproben denn nie zur Neige?
Seit Chrissi diese Misswahl im Einkaufszentrum gewonnen hat, versorgen sie die Läden mit unzähligen Produktproben. Dabei gebührt ihr der Titel eigentlich gar nicht. Die Teilnahme war erst ab sechzehn erlaubt. Meine Schwester hatte sich kurzerhand ein Jahr älter gemogelt. Total frech!
Aber da niemand gepetzt hat, lacht Chrissi nun von den dazugehörigen Postwurfsendungen, die in unserem Bundesland in jedem Briefkasten stecken. Weil in der aktuellen Verkaufsaktion vor allem Haushaltsartikel beworben werden, posiert sie darin mit einem Wischmop im Arm und spitzt die Lippen wie Heidi Klum. Sie sieht aus, als werbe sie nicht für Putzmittel, sondern für Chanel Nummer Fünf. Wirklich lächerlich ist das.
Damit wisst ihr eigentlich schon das Wichtigste über mich. Eigentlich bin ich ganz normal. Ich heiße Malina, habe ein Pflegepferd, das mir bei den Hausaufgaben hilft, einen ängstlichen Papa und eine Schwester, die nur mit Wäscheklammer auf der Nase in einen Pferdestall geht.
„Pferdeduft ist der beste Duft der Welt“, mache ich ihr klar und rieche heimlich an meinem Shirt. „Außerdem kann Mama meine Klamotten ja waschen.“
„Dieser Mief hat sich doch längst ins Gewebe gefressen“, pflaumt Chrissi zurück.
Sie duftet natürlich nicht nach Pferdestall, sondern nach irgendeinem Parfum von Lady Gaga oder sonst wem. Außerdem trägt sie ein nagelneues glitzerndes T-Shirt mit der Abbildung einer Flamencotänzerin, daneben steht in dicken Lettern „Spanish Beauty“ geschrieben.
Das ist übrigens eine von Chrissis Eigenheiten. Tag für Tag trägt sie ein T-Shirt mit passendem Slogan. Obwohl ich den heutigen Spruch erklären muss. Auch wenn sich Chrissi für eine Schönheit hält, spanische Wurzeln haben wir keine.
Chrissi trägt das T-Shirt, um Papa zu überreden, doch noch mit uns nach Spanien zu fliegen. Am Wochenende haben Papa und Mama nämlich verkündet, dass unser Sommerurlaub dieses Jahr ins Wasser fallen wird.
Chrissi hat deswegen total die Krise bekommen. Der Urlaub ist ihr jährliches Sommerhighlight. Schon ab Mai bräunt sie sich vor, lackiert ihre Nägel und kauft sich fünfunddreißig neue Bikinis und Strandkleider.
„Wie gefällt dir mein Shirt, Papa?“, startet Chrissi einen Versuch. „Ich habe es extra für Spanien gekauft. Können wir nicht doch noch fahren? Bitte? BITTE?“
„Wie oft denn noch?“, seufzt Papa und sieht Chrissi durch seine Rahmenbrille im Rückspiegel an. „Es bleibt keine Zeit für einen Urlaub. Mama und ich haben alle Hände voll mit unserer neuen Firma zu tun.“
„Oh Mann. Eure beknackte Firma“, bockt Chrissi und verschränkt die Arme.
Die beknackte Firma ist Papas und Mamas neuer Job als Unternehmensberater. Das hört sich total wichtig und kompliziert an. Und wenn man Papa glaubt, ist es das auch. Immerhin kümmern sich die beiden darum, dass Läden nicht bankrott gehen und zusperren müssen.
„Die ‚beknackte Firma‘ hat heute ihren allerersten Auftrag an Land gezogen, Chrissi“, kontert Papa triumphierend und reiht sich in den Kreisverkehr ein. „Die Sache hat nur einen Haken. Mama und ich müssen verreisen. Richtung Süden. Schon morgen.“
Bei Chrissi läuten alle Alarmglocken. „Ihr fahrt doch nach Spanien!“, empört sie sich. „Gebt es zu! Ihr fahrt ohne uns!“
„Ich meinte den Süden von Deutschland“, korrigiert Papa lahm. „Wir beraten ein Metzgereiunternehmen im Bayerischen Wald.“
Chrissi schneidet eine Grimasse. „Da könnt ihr ohne mich hinfahren.“
„Wir können euch auch nicht mitnehmen“, grummelt Papa. „Deshalb haben wir beschlossen, dass ihr morgen nach der Zeugnisvergabe für zwei Wochen zu Oma fahrt.“
Mir fällt die Kinnlade runter. Damit hätte ich niemals gerechnet. Unzählige Male bin ich meinem Vater schon damit in den Ohren gelegen: Urlaub, alleine bei Oma. Aber nie hat mir Papa erlaubt, mit dem Zug und anschließend der Fähre auf die friesische Insel Seeholm zu fahren. Ich glaube, Papa hatte Angst, der Dampfer könnte während der dreißigminütigen Fahrt übers seichte Wattenmeer einen Eisberg rammen.
„Ich weiß, es ist ganz schön weit“, gibt Papa zu und macht ein Gesicht, als schicke er uns mutterseelenallein in den Regenwald. „Und angeblich wohnen bei Oma jetzt sogar noch mehr Katzen als früher.“
„So weit ist es doch gar nicht nach Seeholm“, bremse ich seine Zweifel aus. „Und Omas Katzen sind bestimmt superniedlich!“
Eine Sache muss ich euch unbedingt über Oma erzählen. Oma ist verrückt nach zwei Dingen. Zum einen ist das Kleidung mit Blümchendruck. Und zum Zweiten sind das Katzen. Oma ist die größte Katzennärrin auf Erden. Seit sie auf Seeholm lebt, beheimatet sie in ihrem Häuschen herrenlose Streunerkatzen. Dort gewesen bin ich leider noch nie, doch laut Omas Erzählungen haben sich Kitty, Minka und die anderen jeden Winkel ihres Häuschens unter den Nagel gerissen. Man findet sie überall. Auf dem Sofa, in der Schublade, sogar in Omas Wäschekorb.
„Tierlieb“ sage ich dazu. „Verrückte Katzenlady“ nennt sie mein Papa.
„Zu Oma? Bei Oma ist es längst nicht so cool wie in Spanien“, jammert meine Schwester und sieht noch unglücklicher aus als vorher.
„Auf Seeholm gibt es auch Strand“, kontert Papa.
„Aber keine Spanier!“ platzt es aus Chrissi heraus.
Jetzt wird mir einiges klar: Chrissi geht es um Jungs.
„Kann ich nicht hierbleiben?“, bettelt Chrissi, während Papa in die Tiefgarage unserer Wohnung fährt. „Meine Modelkarriere kommt gerade in Schwung und du schickst mich auf eine lahme Nordseeinsel?“
„Keine Chance, mein Fräulein.“
Chemie
„Chrissi, du hast dreimal so viel Gepäck wie Malina“, lacht Oma und späht in Chrissis große Tasche. „Was ihr alles mitgebracht habt. Was ist denn das da?“
Oje. Oma hat das Spray mit dem riesigen, sechsbeinigen Floh darauf entdeckt. Papa hat uns die Chemiekeule noch schnell zugesteckt, aus Angst, dass wir mit Katzenflöhen im Gepäck zurückreisen. Total peinlich.
„Ist nur Sonnenöl“, flunkere ich und stopfe das Spray tiefer in die Tasche.
Oma nickt und scheint mir zu glauben. „Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, habt ihr eure Klamotten miteinander geteilt. Ihr hattet einen Micky Maus-Pullover, den jeden Tag eine andere tragen durfte, nicht wahr?“
„Das ist wirklich ewig her“, murrt Chrissi, als wäre es in einem anderen Leben passiert.
Es ist echt lange her. Seit Oma auf Seeholm lebt, haben wir sie nicht mehr gesehen. In ihrem neuen Zuhause führt sie ein ruhiges und beschauliches Leben und kommt kaum noch von der Insel runter. Eigentlich schade.
Oma ist wirklich zum Knuddeln, mit ihren wirren Locken und der großen altmodischen Brille auf der Nase. Passend dazu stecken ihre Beine in einer viel zu weiten Hose mit dem typischen Blümchenmuster. Chrissi findet, dass nur noch das Nudelholz fehlt. Aber das war ja klar, dass Chrissi über Omas Stil lästert.
Wir folgen Oma über den belebten Hafenplatz mit den unzähligen Fischerbooten. Sie hält vor einer offenen Kutsche mit Verdeck. Davor, aufgeschirrt und vor den Wagen gespannt, scharren zwei braune Pferde.
„Wollen wir ein Inseltaxi nach Hause nehmen?“, schlägt Oma vor. „Dann könnt ihr unser schönes Seeholm besser kennenlernen.“
„Das sind eure Inseltaxis?“, staune ich.
Oma nickt. „Auf Seeholm sind Inseltaxis beliebte Touristenattraktionen. Autos gibt es hier nicht viele. Das ist das Besondere.“
Während sich der Kutscher um Chrissis Gepäckberg kümmert, zieht es mich zu den Pferden. Die braunen Zugpferde an der Kutsche wirken zwar kräftig, trotzdem blutet mir beim Anblick das Herz. Die beiden müssen sich bei Wind und Wetter hier abrackern. Nichts und niemand könnte mich dazu bringen, Alfie je vor eine Kutsche zu spannen. Der soll seine Tage mal schön auf der Koppel beim Herumtollen mit Jolly und Jill verbringen.
Alfie. Wie es ihm jetzt wohl geht? Zwei Wochen ohne meinen vierbeinigen Liebling, das ist der einzige Wermutstropfen an dieser Reise.
Zumindest kann ich mir sicher sein, dass Alfie gut versorgt sein wird. Ab Montag fallen nämlich Horden von Reiturlaubern auf Kathis Hof ein, da bekommt Alfie wie jeden Sommer mächtig viel Aufmerksamkeit. Trotzdem tut die Trennung weh. Alfie ist mein engster Vertrauter. Er kennt mich glücklich und genauso tief betrübt.
In Gedanken versunken fasse ich in meine Jackentasche und, ha, finde noch eine von Alfies Möhren. Ich breche sie in zwei Hälften und reiche sie den Pferden. Prompt fressen sie mir aus der Hand.
„Mach schon, Pferdefreak“, drängt Chrissi und winkt mich in die Kutsche.
Kaum habe ich Platz genommen, setzt der Kutscher die Braunen in Bewegung. Unter Hufgetrappel rollt das Gefährt an Fischkuttern und Promenadencafés vorbei. Bald verlässt unsere Kutsche die hohen Backsteinbauten und rumpelt auf einem Kiesweg zwischen grünen Salzwiesen entlang. Kühler Nordseewind bläst uns um die Ohren.
„Hast du schon mal geguckt, wie langweilig es hier aussieht?“, flüstert mir Chrissi ins Ohr und starrt unbeeindruckt auf den Streifen Sand, der in der Ferne die Insel umsäumt. „Wir könnten jetzt in Spanien sein.“
Da kann ich nicht widersprechen. Hier, weit weg vom Hafendörfchen, herrscht gähnende Einöde. Es gibt nur einen Leuchtturm und ein winziges Café am Strand. Mit Spanien hat Seeholm nichts gemeinsam. Keine Strandpartys, kein Sonnenschein und erst recht keine spanischen Jungs.
Endlich biegen wir von den windigen Feldern in eine Siedlung. Sie besteht aus vier Backsteinhäuschen, die aussehen, als hätte sie jemand im Dutzend billiger gekauft: dieselben Heckenrosen, dieselben weißen Fenster, dieselben Sanddornsträucher mit den leuchtenden orangefarbenen Beeren. Vor dem letzten Häuschen zieht der Kutscher die Zügel. Die beiden Braunen schnaufen und halten an.
„Da sind wir“, verkündet Oma und klettert aus der Kutsche. „Klein Schönhorst. Ein ruhiges Nest.“
Ruhig und verträumt ist es hier wirklich. Geradezu verschlafen liegt die kleine Siedlung vor uns. Keine Menschenseele ist unterwegs, nur eine einsame schwarze Katze schleicht den Bürgersteig entlang, als hätte sie alle Zeit der Welt. Im Haus gegenüber wird ein Rollo hochgelassen und eine alte Frau guckt aus dem Fenster, ein buntes Windrad quietscht, irgendwo weiter hinten geht ein Rasensprenger.
Ja, hier ticken die Uhren tatsächlich langsamer.
Chrissi sieht aus, als wäre sie in den falschen Film geraten. Ihr Blick fährt unruhig herum, als wäre sie dringend auf der Suche nach einem Kino oder einem Laden. Nach irgendwas!
„Ein ruhiges Nest?“, echot sie schockiert.
Und da steht es tatsächlich, unübersehbar und riesengroß, an einem bunten Schild am Ortseingang: „Klein Schönhorst. Ein ruhiges Nest“. Darunter ist ein Seeadler im Adlerhorst abgebildet, der unter seinem Gefieder ein Junges wärmt. Der Buchstabe O im Wort Schönhorst hat die Form einer Sonne. Und das, obwohl sich seit unserer Ankunft eine dicke Wolkendecke über den Himmel spannt.
„Natürlich ist es hier nicht immer so ruhig, meine Engelchen“, erklärt Oma mit einem Augenzwinkern und in Chrissis Augen flackert ein hoffnungsvolles Leuchten auf. „Heute Abend wartet schon die erste Überraschung auf euch. Wir sind auf eine Party eingeladen!“
„Willkommen in Klein Schönhorst“, schallt es uns entgegen, als Oma uns ins Häuschen ihres Nachbarn führt. Der ganze Raum ist mit bunten Luftballons geschmückt, aus dem Radio dudelt ein Schlager und auf dem Couchtisch türmen sich alte Zeitschriften, Karten und Brettspiele. Auf dem Sofa dahinter sitzen drei Senioren und durchbohren uns mit erwartungsvollen Blicken.
Verblüfft sehe ich mich um. Als Oma von einer Party gesprochen hat, dachte ich an die Art von Festen, die meine Klassenkameradinnen feiern. Mit fetziger Popmusik, Jungs, eiskalten Limonaden und Guitar Hero. In einem ruhigen Nest feiert man wohl auch ruhigere Partys.
„Schön, dass ihr da seid“, begrüßt uns ein älterer Herr im Rollstuhl. Er hat weißes Haar und lebhafte blaue Augen. „Ich bin Herr Eisenböck und wohne hier. Fühlt euch ganz wie zu Hause.“
„Und ich bin Helga Kinkel.“ Eine alte Dame mit maskenhafter Schminke und grellen Ohrringen gesellt sich dazu. „Wir haben einiges für euch vorbereitet. Herr Eisenböck hat sogar extra zwei Folgen Tatort aufgenommen.“
„Wow“, macht Chrissi und sieht sich skeptisch um. Der dritte Rentner schenkt gerade Orangensaft in ein Glas.
„Da staunt ihr, was?“, lacht Oma. „Ganz Klein Schönhorst ist heute hier. So gute Stimmung hatten wir hier noch nie. Und wenn uns doch langweilig wird, könnten wir einen Apfelkuchen backen. Oder alte Fotoalben ansehen.“
„Das klingt ja spannend“, murmele ich lahm.
Ich weiß nicht, wie ich das alles finden soll. Eigentlich wirken Omas Freunde nett. Doch der Gedanke, zwei Wochen mit Rentnern zu verbringen, drückt mir ein wenig aufs Gemüt.
Chrissi schweigt. Ich weiß genau, was sie denkt. Klein Schönhorst liegt am Rande von Nirgendwo. Es gibt weit und breit keine Unterhaltung für Teenager, bloß vier gleiche Häuschen mit vier kleinen Gärten, in denen vier Rentner wohnen. Und wir stecken mittendrin.
Oma hat keinen blassen Schimmer von meinen trüben Gedanken. Ganz aufgekratzt nimmt sie uns an der Hand und stellt uns ihren Nachbarn vor. Neben der schrillen Frau Kinkel und Herrn Eisenböck gibt es noch den schwerhörigen Herrn Popinski, der seine Zeitung nie aus der Hand legt. Und die er – keiner weiß, warum – ständig verkehrt herum hält.
Eine Weile herrscht ein großes Hallo, dann kehrt im Wohnzimmer wieder Ruhe ein. Chrissi und ich lümmeln auf dem Sofa und blättern durch Herrn Eisenböcks Seniorenzeitschriften. Golf ist ein heißes Thema. Weiter hinten werden die zehn schönsten Luftkurorte gekürt. Ich muss gähnen.
„Hier.“ Oma setzt sich zu uns und drückt mir ein Set Spielkarten in die Hand. „Wenn du gern Uno spielst, findest du in Helga Kinkel die perfekte Partnerin. Spielt doch eine Partie! Na?“
Ich spähe zu den anderen. Herr Popinski ist über seiner Zeitung eingeschlafen und Herr Eisenböck guckt die Parade der Volksmusik im Fernsehen. Auf dem Bildschirm singt ein Typ in Lederhosen auf einer Kuhweide.
Eigentlich würde ich lieber rüber in Omas Häuschen gehen. Um mein Zimmer zu beziehen und den Koffer auszupacken. Danach könnte ich mit den Katzen spielen und mir den Strand ansehen. Aber das kann ich Oma so natürlich nicht sagen. Immerhin sind wir bei ihren Nachbarn eingeladen. Die haben sogar Götterspeise mitgebracht.
Höflich nehme ich das Kartendeck und setze mich zu Frau Kinkel. Neugierig rollt auch Herr Eisenböck an den Tisch. Vorher dreht er noch die Schlagermusik lauter, damit er sie bis hinten hören kann.
Aus Langeweile spielt sogar Chrissi mit. Erst verläuft das Spiel ziemlich ausgeglichen, doch am Ende gewinne ich die Partie. Frau Kinkel wird Zweite. Chrissi bleibt mit einem ganzen Stapel Karten über und wirkt noch frustrierter als zuvor.
„Keine Sorge.“ Frau Kinkel klopft ihr aufmunternd auf die Schulter. „Das lernst du schon noch. Hier ist sonst nichts los. Wir können jeden Tag spielen. Uno, Canasta, Rommé, Mau Mau …“
Ich kann sehen, wie Chrissi schluckt.
„Seht mal“, ruft Herr Popinski dazwischen und zieht ein Werbeprospekt aus seiner Zeitung. „Ist das nicht Chrissi? Die mit dem Wischmop im Arm?“
Frau Kinkel und Herr Eisenböck spähen über seine Schulter. „Tatsächlich“, staunt Herr Eisenböck und sieht Chrissi an wie eine Erscheinung. „Das Wischmopmädchen. Das bist du!“
Meine Schwester macht ein empörtes Gesicht, als hätte er ihr geraten, dringend mal abzunehmen. „Na, hören Sie mal! Ich bin doch kein Wischmopmädchen!“
„Ist doch nicht schlimm.“ Frau Kinkel streicht Chrissi übers Haar. „Ist doch toll, wenn du Sauberkeit schätzt. Die wenigsten Mädchen in deinem Alter wissen, wie man richtig in die staubigen Ecken wischt.“
„Das war doch nur fürs Shooting“, stellt Chrissi klar und springt auf. Mit einem Schlag wirkt sie fürchterlich aufgebracht. „Ich bin Model und keine Putzfrau. Kapiert? Sie haben doch keine Ahnung.“ Kurzerhand knallt sie ihre Karten auf den Tisch, funkelt uns an und stürmt durch die Hintertür in den Garten.
Seufzend sehe ich ihr nach. Mich wundert es gar nicht, dass Chrissi durchdreht. Ich verrate euch jetzt mal ein Geheimnis. Meine Schwester mag zwar eine Landplage sein, aber unter ihrer rauen Schale ist sie total empfindlich.
Ich lasse Frau Kinkel und die Uno-Karten links liegen und renne unter dem verwunderten Blick meiner Oma in den Garten. Einen Moment überlege ich, wohin Chrissi gelaufen sein könnte. Dann fällt mir ein, dass es hier nichts gibt, abgesehen vom Wattenmeer im Süden und dem Strand im Norden.
Aber klar! Der Strand. Ich kann den Küstenstreifen vom Garten aus sehen. Hinter dem Zaun verläuft ein ausgetretener Dünenweg. Ich folge ihm durch den Strandhafer bis an den breiten, endlos langen Sandstrand.
Der Anblick raubt mir den Atem. Hier ist es unglaublich schön. Das Wetter hat endlich aufgeklart und jetzt schickt die untergehende Sonne rote und orangefarbene Strahlen über die spiegelnde Meeresoberfläche. Die Brandung rauscht sanft und ruhig, es riecht nach Fisch und Algen und irgendwo in der Ferne kreist ein krächzender Schwarm Möwen durch die Lüfte.
Doch weit und breit keine Spur meiner beleidigten Schwester. Nur verlassene Strandkörbe. Ich will schon umkehren, da entdecke ich eine rosa Handtasche, die achtlos neben einem der Strandkörbe liegt. Bingo.
„Kann man auf dieser Insel denn nirgendwo seinen Frieden haben?“, schimpft Chrissi, als ich näher komme. Sie trägt eine verspiegelte Sonnenbrille, hat einen Kopfhörer im Ohr und starrt aufs Meer.
„Bist du wütend, weil du dieses dumme Spiel verloren hast?“, erkundige ich mich und setze mich ungefragt in den Strandkorb.
„Quatsch. Das Spiel ist mir doch egal. Es liegt am Urlaub. Dieser Trip ist eine Katastrophe“, schnaubt Chrissi und dreht die Musik an ihrem iPod lauter.
Ich kenne den Song. Das ist der neueste Sommerhit, irgendein Schmachtfetzen, den meine Schwester ständig hört.
„Ich habe mir unseren Urlaub ohne Eltern auch etwas anders vorgestellt“, gebe ich zu.
Lange schlafen. Bücher lesen. Freundschaften schließen. Souvenirs kaufen. Den neuen Film mit Zach Efron im Kino ansehen. Aber hier gibt’s weder einen Laden noch ein Kino. Hier gibt es nichts.
Mir drückt es schwer in den Magen. Würden das die langweiligsten Ferien aller Zeiten werden? Wären wir bloß daheim geblieben. Ich hätte sicher bei Kathi wohnen können. Dann würde ich in diesem Moment mit Alfie einen ausgedehnten Ausritt durch unser Wäldchen unternehmen, mit einer Pause am Schotterteich.
„Ich will einfach nach Hause“, unterbricht Chrissi meine Träumereien. Traurig sieht sie aus. Ihre Augen sind total verquollen und die schwarze Wimperntusche hat hässliche Kleckse auf ihren Wangen hinterlassen. Mit einem Werbemodel hat sie jedenfalls keine Ähnlichkeit mehr.
Schon komisch. Verheult und ungeschminkt sieht mir Chrissi immer noch nicht ähnlich. Dass wir Schwestern sind, ist schon eine Laune der Natur. Ich habe lange dunkle Haare, bin blass und eine der kleinsten in meiner Klasse. Chrissi dagegen ist blond, hat schon einen richtigen Busen und wird gerne auf sechzehn geschätzt.
Hätten wir nicht die gleichen blauen Augen mit den braunen Sprenkeln drin, hätte ich Mama längst schon gefragt, ob ich adoptiert wurde. Aber Schwester bleibt nun mal Schwester. Ich gebe mir einen Ruck und lege meine Hand auf ihre Schulter. „Was hältst du davon, wenn wir für zwei Wochen nicht ständig aufeinander rumhacken?“, biete ich ihr an. „Du akzeptierst meinen Pferdetick und ich mache mich nicht mehr über deine Modelkarriere lustig. Wie findest du das?“
Chrissi seufzt. „Wir können es ja mal versuchen“, willigt sie ein, während die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwinden. Dann deutet sie mit dem Finger auf mein Gesicht. „Aber nur, weil wir uns auf einer verlassenen Insel befinden, kapiert?“
Ich rolle dramatisch mit den Augen und Chrissi entschlüpft ein kleines Kichern.
„Fein“, lache ich und schüttele ihre Hand. „Dann eben Freundschaft auf Zeit.“
Naturkunde
In der folgenden Nacht liege ich in Omas Gästebett und starre an die Decke. Ich bringe einfach kein Auge zu. Überall knarzt und quietscht es. Tapsgeräusche ertönen vom Treppenhaus. Dort ein Rumpeln, da ein Kratzen. Ruhig ist es in Omas Häuschen nie. Kein Wunder! Denn hier wohnen zehn nachtaktive Katzen.
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