Scary Harry (Band 3) - Meister aller Geister - Sonja Kaiblinger - E-Book

Scary Harry (Band 3) - Meister aller Geister E-Book

Sonja Kaiblinger

4,7

Beschreibung

Seit gegenüber von Otto und Tante Sharon eine Wahrsagerin namens Madame Olga eingezogen ist, gehen dort seltsame Dinge vor sich. Sensenmann Harold macht eine Entdeckung: Madame Olga ist von einem Poltergeist besessen! Diese Art von Geistern ist extrem gefährlich und normale Sensenmänner sind machtlos gegen sie. Um einen Poltergeist einzufangen, muss eine Spezialeinheit des SBI anrücken: die Meister aller Geister. Blöd, dass die gar keine Lust dazu haben! Der dritte Band der kultigen Kinderbuchreihe um Otto, Emily und Sensenmann Harold - ein spannendes, lustiges und Geist-reiches Abenteuer mit witzigen Bildern für kleine und große Leser.

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Ein Torero im Exil

Bei Otto zu Hause, im Radieschenweg Nummer acht, war es normalerweise nie leise. Noch nicht einmal nachts. Das lag daran, dass hier nicht nur Otto selbst wohnte, sondern eine ganze Reihe außergewöhnlicher Zeitgenossen. Seine Tante Sharon, der das Haus gehörte, sammelte Uhren und hatte einen ausgeprägten Putzfimmel. Sie liebte es, beim Staubsaugen mächtig Lärm zu machen, und das Ticken der Uhren konnte einem mitunter gewaltig auf den Wecker gehen. Aber noch außergewöhnlicher waren Ottos Hausgeister, Sir Tony, Bert und Molly, ein Haufen ganz und gar nicht gruseliger Pappnasen, die ständig Unfug trieben – und zu guter Letzt Ottos Hausfledermaus Vincent, die nicht nur sprechen konnte, sondern obendrein rotzfrech war.

Doch an diesem späten Nachmittag war es beinahe gespenstisch ruhig im Salon. So ruhig, dass Otto gleich ein mulmiges Gefühl beschlich. Kein Staubsaugerlärm und kein Sir Tony, der sich darüber beschwerte, dass er bei diesem Krach nicht schlafen konnte. Bloß Tante Sharons Uhren tickten vor sich hin. Von den anderen Geistern fehlte ebenfalls jede Spur, und, was noch viel beunruhigender war, auch Tante Sharon schien nicht zu Hause zu sein. Noch nicht einmal eine Notiz hatte sie hinterlassen. Das sah ihr gar nicht ähnlich.

Auf der Suche nach Essen ging Otto schließlich in die Küche, wo er auf Bert traf. »Mann, Otto, ich sterbe vor Hunger«, stöhnte der Hausgeist, als Otto die Kühlschranktür öffnete. Weil Bert im Kühlschrank lebte, traf man ihn meistens dort an. »Hast du vielleicht etwas zu essen mitgebracht? Sieh dir das an.« Er deutete auf die Fächer und seufzte. »Hier herrscht gähnende Leere.«

»Verhungern kannst du gar nicht, du bist doch schon tot, Bert«, grinste Otto und blickte sich in der Küche um. »Wo steckt eigentlich Tante Sharon?«

Bert hob die Schultern. »Wenn ich das nur wüsste. Am Vormittag ist sie aus dem Haus gegangen, aber sie ist immer noch nicht zurückgekehrt«, murmelte er niedergeschlagen. »Ich hatte gehofft, dass sie einkaufen geht.« Aus der hintersten Ecke des Kühlschranks förderte er einen Joghurtbecher zutage und betrachtete ihn argwöhnisch. »Der ist letztes Jahr abgelaufen. Bäh. Den esse ich nicht mehr. Und diese alte, schrumpelige Kiwi kannst du auch behalten. Ich hoffe, hier kommt bald etwas Essbares ins Haus, sonst verputze ich vor lauter Hunger deine Fledermaus.«

»Bei dir piept es wohl, du Vielfraß!«, meldete sich jetzt Vincent zu Wort. Ottos Hausfledermaus musste gerade aufgewacht sein, nachdem sie den ganzen Nachmittag lang in Ottos Schulranzen geschlafen hatte. Wie so oft war Vincent Otto heute heimlich in die Schule gefolgt und hatte dort für Turbulenzen gesorgt.

Obwohl Otto es ihm strengstens verboten hatte, ignorierte Vincent seine Anweisungen konsequent. Heute Morgen nach dem Aufstehen musste er unbemerkt in Ottos Federmäppchen geschlüpft sein und hatte bis nach der Doppelstunde Sport tief und fest darin geschlafen. Im Anschluss hatte er sich fit und ausgehungert gefühlt, war aus dem Schulranzen gekrochen und hatte sich heimlich auf Erkundungstour durch die Sigmund-Schwefelkopf-Schule begeben.

Dabei hatte er mehrere Zwischenstopps eingelegt, sich einmal in der Augenhöhle des menschlichen Skeletts im Biologiesaal versteckt, beinahe Rattles, den Schulhamster, gebissen und im Anschluss ein Stück Kreide gefressen, das er irrtümlich für eine fette weiße Made gehalten hatte.

Otto konnte von Glück sagen, dass es niemandem gelungen war, Vincent einzufangen. Müde, ausgelaugt und weiße Kreidewölkchen spuckend war die Fledermaus schließlich wieder in den Ranzen zurückgekehrt und hatte den Tag als vollen Erfolg verbucht.

Für Otto war der Tag dafür umso mühsamer gewesen und inzwischen knurrte sein Magen. Blieb bloß zu hoffen, dass Tante Sharon bald nach Hause kommen und Essen mitbringen würde – für Otto und für Bert, der noch immer nicht verstanden hatte, dass Geister für gewöhnlich nichts aßen oder tranken.

»Schon okay, Vincent, war bloß ein Scherz.« Bert rieb sich seinen Bauch. »Ich finde es nur einfach unerhört, dass sich Ottos Tante nicht um mein leibliches Wohl sorgt und einfach verschwindet.«

Otto nickte geistesabwesend. Tante Sharon wusste natürlich nichts von der Existenz von Bert und seinem leiblichen Wohl, aber die Tatsache, dass sie auch für Otto nichts zu essen vorbereitet hatte, machte ihn doch etwas stutzig. Wo um alles in der Welt steckte sie?

»Vielleicht ist sie ausgewandert?«, schlug Sir Tony vor, den Otto nach längerem Suchen in der geheimen Bücherkammer unter seinem Zimmer entdeckte. Dieser Gedanke schien dem ältesten Hausgeist äußerst gelegen zu kommen. »Die alte Schachtel hat endlich eingesehen, dass die Villa mein Haus ist und sie hier drin nichts zu suchen hat. Ich frage mich nur, warum sie ihre nervigen Uhren nicht mitgenommen hat.«

Otto kratzte sich am Kopf. Er war sich ziemlich sicher, dass Tante Sharon nicht ausgewandert war. Sie würde ihn doch nicht einfach alleinlassen. Oder etwa doch?

»Die Wäsche hat sie auch nicht gewaschen«, jammerte Molly, die auf dem Globus hockte und sich drehte. »Die stapelt sich immer noch in den Wäschekörben. Vielleicht ist ihr ja etwas zugestoßen? Womöglich wurde sie gekidnappt?« Molly purzelte ein Lockenwickler aus dem Haar. »Entführt? In Geiselhaft genommen? Von Verbrechern, Gaunern oder anderen Ganoven, die es auf ihre wertvolle Uhrensammlung abgesehen haben.«

»Auf ihre Uhrensammlung? Du tickst wohl nicht richtig, Molly!«, empörte sich Sir Tony. »Was sollen die Verbrecher denn mit den hässlichen Dingern? Die kauft ihnen doch niemand ab.« Dann schien ihm ein neuer Gedanke zu kommen. »Aber vielleicht … wollen sie ja … den neuen Staubsauger stehlen! Der ist bestimmt viel wert.« Er stieß einen verzweifelten Schrei aus. »Und was soll ich bloß ohne meinen Staubsauger machen? Der Staubsauger ist doch mein Zuhause!«

Otto ignorierte Tonys Gejammer und kletterte über die Leiter zurück in sein Zimmer. Er spürte, wie sich in seinem Bauch ein dicker, fetter Knoten zusammenzog, während er aus dem Dachfenster blickte, um nach Tante Sharon Ausschau zu halten. Auch wenn Mollys und Sir Tonys Geplapper nicht ganz ernst zu nehmen war, der Gedanke, dass Tante Sharon etwas zugestoßen sein könnte, ließ sich nicht abschütteln.

Es wäre nicht die erste Tragödie in Ottos Leben gewesen. Nachdem seine Eltern vor etwas mehr als zwei Jahren von einer Ausgrabung nicht mehr heimgekehrt waren, war Tante Sharon zu seiner einzigen Bezugsperson geworden. Was, wenn ihr tatsächlich etwas passiert war? Wenn Otto nun ganz auf sich selbst gestellt war?

In diesem Augenblick hörte er, wie unten die Haustür ins Schloss fiel. »Hallo, Otto«, flötete es kurz darauf aus dem Flur. Tante Sharons Stimme! Otto fiel ein Stein vom Herzen. In Windeseile stürmte er nach unten, wo seine Tante gerade ihren Mantel aufhängte. »Da bist du ja«, rief sie. »Es tut mir leid, dass ich dir noch nichts zu essen gekocht habe.«

Wie vom Donner gerührt starrte Otto sie an. Sie schien unversehrt – mehr noch, sie wirkte glücklich und entspannt und nicht im Geringsten so, als hätte sie in Lebensgefahr geschwebt. Außerdem hatte sie eine riesige Wanduhr mitgebracht, die aussah wie die große Uhr in der Bahnhofshalle.

»Tante Sharon! Was für ein Glück, dass du da bist. Wo warst du?«, wollte er wissen.

Tante Sharon grinste. »Oh Otto, du wirst es nicht glauben, aber wir haben neue Nachbarn. Genauer gesagt, eine neue Nachbarin namens Madame Olga. Und sie wohnt direkt gegenüber, in MrOlsens altem Haus.«

Otto überlegte. In MrOlsens altem Haus? Dort wohnte doch eigentlich Fernando, der spanische Geist, den Otto erst kürzlich kennengelernt hatte.

»Madame Olga ist die netteste und unterhaltsamste Nachbarin, die man sich vorstellen kann«, erzählte Tante Sharon weiter und legte die Uhr vorsichtig auf dem Esstisch ab. »Sie ist von Beruf Wahrsagerin, und stell dir vor, sie hat früher bei einem Zirkus gearbeitet. Sie war dort ein richtiger Star.«

Ein Star? Selbst wenn das stimmte, bezweifelte Otto stark, dass Fernando sein Haus freiwillig teilen würde. Er war davon ausgegangen, dass das kleine, in die Jahre gekommene Nachbarhaus lange leer stehen würde, aber da hatte er sich wohl leider geirrt.

»Madame Olga ist ein bisschen … wie soll ich sagen … eigenwillig«, fuhr Tante Sharon fort. »Sie hat alle elektrischen Geräte aus ihrem Haus verbannt und benutzt bloß Kerzen. Sie meint, jede Art von elektrischer Spannung störe sie bei der Kommunikation mit Geistern. Sie besitzt noch nicht mal einen Fernseher.«

Otto biss sich auf die Unterlippe. Okay, es bestand kein Zweifel, Fernando tobte bestimmt. Otto wusste, dass der Torero absolut versessen auf eine schmalzige spanische Telenovela war, die jeden Vorabend im Fernsehen lief. Otto empfand beinahe Mitleid mit seinem Geisterfreund, auch wenn er selbst nichts mit spanischen Serien anfangen konnte. Er verstand sie ja noch nicht einmal.

»Und außerdem mag sie Uhren, genau wie ich«, erzählte Tante Sharon weiter, doch Otto hörte nur mit halbem Ohr zu. Sein Blick war plötzlich auf die Uhr auf dem Esstisch gefallen, die Tante Sharon offensichtlich von ihrem Besuch mitgebracht hatte. Die Zeiger drehten sich wie durch Geisterhand gegen den Uhrzeigersinn. Otto bekam eine Gänsehaut.

»Sie hat mir ihre alte Wanduhr mitgegeben, damit ich sie für sie repariere«, erklärte Tante Sharon, die inzwischen in der Küche werkelte und von dem merkwürdigen Spuk nichts mitbekam. »Und jetzt rate mal, was sie mir als Gegenleistung angeboten hat.«

»Pssst … Buenos días, amigo«, ertönte eine leise, flüsternde Stimme aus der Uhr. Otto hielt den Atem an. Hatte er sich verhört? »Ich bin es, Fernando«, zischte die Stimme. »Ich muss mit dir reden, Otto. Es ist dringend!«

Fernando steckte in der Uhr! Otto konnte den Torero zwar nicht erkennen, aber es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich in einer Uhr verkrochen hatte und an den Zeigern herumdrehte.

»Otto? Du hörst mir ja gar nicht zu.« Tante Sharon streckte den Kopf aus der Küche. »Ich wollte dir gerade erzählen, was mir Madame Olga als Gegenleistung für die Reparatur der Uhr angeboten hat.«

Otto sah seine Tante an und versuchte sich zu konzentrieren. »Äh … hmm … vielleicht Geld?«, riet er. Ihn interessierte viel brennender, was Fernando zu sagen hatte – aber er konnte unmöglich vor Tante Sharon mit dem Geist sprechen. Sie würde ihn für komplett durchgeknallt halten.

»Vielleicht ein Haus auf den Bahamas?«, schlug Sir Tony vor, der hinter Tante Sharon aufgetaucht war. »Dann hätte ich als rechtmäßiger Eigentümer der Villa endlich wieder das Sagen und nicht diese Hausbesetzerin da.« Er deutete auf Ottos Tante und schnitt eine Grimasse. Otto war froh, dass Tante Sharon Tony weder sehen noch hören konnte.

»Einen riesigen Laib Käse?«, versuchte es auch Bert und rieb sich seinen Bauch vor Hunger.

»Etwas viel Besseres als Geld«, erklärte Tante Sharon zufrieden und wies auf die Uhr hinter sich. Die Zeiger standen nun wieder still, auch wenn sie jetzt eine ganz andere Uhrzeit anzeigten als vorhin. »Sie hat mir versprochen, dass wir demnächst eine Séance abhalten werden. Das ist eine Geistersitzung.« Tante Sharon strahlte Otto an. »Sie will mir helfen, mit Onkel Archibald in Kontakt zu treten. Ist das nicht wundervoll?«

Otto rang nach Worten. Diese Wahrsagerin von nebenan wollte Kontakt ins Jenseits herstellen? Um mit Tante Sharons verschwundenem Ehemann Archibald zu sprechen? Oje!

»Madame Olga meint, du sollst sie unbedingt auch mal besuchen kommen«, setzte Tante Sharon hinzu und pflückte die Einkaufsliste vom Kühlschrank. »Sie würde dich gerne kennenlernen. Sie sagte, sie möge Kinder.« Sie schmunzelte. »Ich gehe noch schnell zum Supermarkt und kaufe uns etwas zum Abendessen ein. Vielleicht kannst du dich inzwischen nützlich machen und mir mein Werkzeug aus dem Abstellraum holen. Dann kann ich gleich heute Abend mit Madame Olgas Uhr loslegen.« Sie rieb sich die Hände. »Ich kann die Séance kaum erwarten.«

Einen Augenblick später hatte sich Tante Sharon auch schon ihren Einkaufskorb geschnappt und war abgerauscht. Otto blieb verdattert stehen. Dutzende Fragen geisterten ihm durch den Kopf. Fragen wie: Wohnte tatsächlich eine echte Wahrsagerin nebenan? Eine, die vielleicht sogar mit Onkel Archibald Kontakt aufnehmen konnte? Was, wenn sie Tante Sharon eines von Ottos Geheimnissen verriet?

Noch bevor Otto überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sich eine schmächtige Gestalt mit rotem Umhang und Schnauzbart vor ihm aufgebaut. Fernando standen Schweißtropfen auf der Stirn, er wirkte aufgeregt und zitterte am ganzen Körper. »Otto, was für eine Gluck, dass ich dich hier finde. Ich habe mich in der Uhr aus dem Haus geschmuggelt, um dich um Hilfe zu bitten. Wir … wir haben eine emergencia – eine Notfall!«

* * *

»Ai, ai, ai, was für eine Desaster«, jammerte der spanische Geist, während sein Blick unruhig zwischen den Bücherregalen hin und her huschte. Otto hatte ihn kurzerhand mit in die Bücherkammer genommen, wo er sich sofort in die hinterste Ecke verzogen hatte. Fernando wirkte vollkommen verstört. Er hatte seinen roten Umhang ängstlich um den Körper geschlungen und der gezwirbelte Bart hing traurig herunter. »Otto, du musst dafür sorgen, dass dieses entsetzliche Weibsbild aus meine casa verschwindet. Sie ist eine Katastrophe. Womit zur Paella habe ich denn das verdient?«

»Jetzt beruhige dich doch erst mal, Fernando«, redete Otto auf den Torero ein.

»Beruhigen?«, rief Fernando aufgebracht. »Nie in die Leben!«

»Jetzt erzähl uns doch mal der Reihe nach, was passiert ist«, schaltete sich Sir Tony ein. »Seit wann wohnt Madame Olga in deinem Haus?« Er wirkte geradezu besorgt. Wenn es um vermeintliche Hausbesetzer ging, schien er plötzlich Mitgefühl für andere zu entwickeln.

Fernando schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ging … alles so schnell. Ich hatte es mir gerade mit einer Packung Tortillachips vor dem Fernseher gemutlich gemacht, da stand plötzlich dieses Monster in meine casa.« Er schniefte. »Sie hat mich angebrullt, ich soll verschwinden, sonst wurde sie mir alle Barthaare einzeln ausreißen. ¡No me gusta!« Wehleidig vergrub er das Gesicht in den Händen. »Was für ein Ungluck.«

Otto riss die Augen auf. »Moment mal. Sagtest du gerade, Madame Olga hat dich angeschrien? Das heißt, sie hat dich tatsächlich gesehen? So wie ich dich sehen kann?«

»Sí«, bestätigte Fernando und nickte eifrig. »Sie hat mich direkt angesehen und dabei haben ihre Augen hellbraun geglüht … wie die von eine Stier in die Arena. Es war gruselig, amigos.«

Armer Fernando. Otto betrachtete den Geist, der wie ein Häuflein Elend vor ihm hockte. Jedoch neigte der spanische Torero nicht selten zu Übertreibungen. Tante Sharon fand die neue Nachbarin doch unglaublich faszinierend und nett. Warum schien Fernando sie so zu hassen? Vielleicht gab es dafür gar keinen Grund. Fernandos Abneigung richtete sich bestimmt gegen jeden, der neu in seine vier Wände zog. Bei Sir Tony war das ja ganz genauso. Allerdings – merkwürdig klang diese Geschichte schon, das musste Otto zugeben.

»Denkst du, Madame Olga kann wirklich Geister sehen?« Sir Tony sah Otto fragend an. »Könnte sie die gleiche Fähigkeit besitzen wie du?«

Otto dachte einen Moment lang nach. Bis zu seinem Einzug bei Tante Sharon hatte er selbst nichts von seiner mysteriösen Gabe geahnt. Bevor seine Eltern verschwunden waren, war sein Leben gänzlich normal verlaufen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. Denkbar war es schon, dass es auf der Welt noch mehr Menschen gab, die Geister sehen konnten. Vielleicht war Madame Olga einer davon.

»Könnt ihr die alte Schreckschraube nicht irgendwie vertreiben?«, unterbrach Fernando Ottos Gedanken. »¿Por favor? Das wäre wirklich grandioso! Und vielleicht könnt ihr mir danach euren Fernseher leihen, damit ich wieder meine Lieblingsserie schauen kann.« Er seufzte. »Wenn ich ein paar Folgen verpasse, kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus.«

»Madame Olga vertreiben? Das wird bestimmt schwierig«, murmelte Otto ratlos. »Tante Sharon meinte, sie sei ganz nett. Kannst du dich nicht irgendwie mit ihr arrangieren?«

»Keine Chance«, knurrte der Torero und verschränkte die Arme.

Otto überlegte fieberhaft. »Und was ist, wenn du einstweilen hierbleibst? Bis wir, na ja, eine Lösung für dein Problem gefunden haben.«

»Kommt gar nicht infrage«, wehrte sich nun Sir Tony vehement. Wenn es um »sein« Haus ging, hörte sein Mitleid offenbar doch auf. »Das Thema hatten wir doch schon, Otto. Drei Geister sind ohnehin schon zu viel für die Villa. Und außerdem ist dieser Wicht eine Strapaze für meine armen Nerven.« Er schnaubte. »Dagegen ist die garstige Fledermaus ja richtig angenehm.«

»Was soll das heißen? Das klingt ja so, als würde ich Ärger bereiten!« Ottos Hausfledermaus war durch den Spalt in der Falltür geschlüpft und raste auf Sir Tony zu, der sich flink in Luft auflöste und in der anderen Ecke des Raumes erschien. »Bei dir piept es wohl.« Vincent flatterte auf die Bücherleiter und warf sich in die Brust. »Ich bin das allerpraktischste, pflegeleichteste und treuste Haustier auf Erden. Fange mir selbst mein Essen. Pupse nicht. Und bin stubenrein. Okay, zugegeben, besonders niedlich bin ich vielleicht nicht, aber dafür kann ich ja wohl nichts. Nichts und niemand ist mit dreihundertsechsundzwanzig Jahren auf dem Buckel noch niedlich. Und trotzdem würde Otto mich für kein kulleräugiges Kaninchen der Welt hergeben wollen, stimmt’s?«

Otto verdrehte die Augen und musste unwillkürlich grinsen. Fernando war nicht der Einzige, der gern übertrieb.

Sir Tony seufzte. »Na fein. Alles, was ich sagen wollte, war, dass ich mir dieses Haus immerhin auch mit einer alten nervigen Hausbesetzerin teilen muss. Also warum sollte es dem vorlauten Bohnenzwerg da besser ergehen?«

Der Torero warf Sir Tony einen bösen Blick zu.

Otto kam eine Idee. »Wie wäre es, wenn du zeitweilig in den Geräteschuppen in MrOlsens Garten ziehst, Fernando?«, schlug er vor. »Und ich leihe dir inzwischen den batteriebetriebenen Campingfernseher, den Tante Sharon seit Ewigkeiten im Keller aufbewahrt. Den vermisst sie bestimmt nicht. Er zeigt die Bilder zwar nur in Schwarz-Weiß, aber damit kannst du im Schuppen fernsehen.«

»Das würdest du für mich tun?« Fernando schwebte auf Otto zu und gab ihm einen dicken Schmatz auf die Backe. »Muchas gracias, Otto – du bist der beste Freund, den sich Geister wunschen können. In der Zwischenzeit richte ich mir meinen Geräteschuppen wohlig warm ein und bereite uns ein paar leckere Tacos vor. Und wenn du mich besuchen kommst, feiern wir hier eine hubsche fiesta.«

Otto nickte, aber gleichzeitig kamen ihm leise Zweifel. Ob dieses Problem wirklich so einfach aus der Welt zu schaffen war? Es half nichts, er musste sich unbedingt selbst einen Eindruck von dieser Madame Olga verschaffen.

Die Schreckschraube von nebenan

Tante Sharon reparierte Madame Olgas riesige Wanduhr in Windeseile. Schon am kommenden Nachmittag funktionierte sie wieder einwandfrei. Zufrieden drückte Tante Sharon Otto die Uhr in die Hände.

»Lieb von dir, dass du Madame Olga die Uhr persönlich vorbeibringen möchtest«, sagte sie. »Dann sieht sie gleich, was für einen wohlerzogenen Neffen ich habe. Und wie nett, dass du Emily mitnimmst. Olga freut sich über jeden Besuch.« Otto warf seiner Freundin Emily einen verstohlenen Blick zu. Sie hatten gerade eine schwierige Mathehausaufgabe erledigt und konnten etwas Abwechslung gebrauchen. Außerdem hatte Otto ihr heute in der Schule alles brühwarm erzählt und wusste, dass Emily genau wie er schon darauf brannte, die mysteriöse Wahrsagerin mit eigenen Augen zu sehen.

»Richtet ihr liebe Grüße von mir aus«, flötete Tante Sharon den beiden noch hinterher, als sie durch die Haustür nach draußen traten.

Inzwischen war es Ende Februar und in Tante Sharons Garten war nun auch das letzte bisschen Schnee weggeschmolzen. Trotzdem ließ sich der Frühling noch nicht blicken und der Himmel trug ein schmutziges, tristes Grau. Otto und Emily bahnten sich ihren Weg durch einige Pfützen bis zum Gartentor und überquerten die Straße, bis sie vorm Nachbarhaus standen. Emily deutete auf ein glänzendes Messingschild neben MrOlsens alter Haustür. »Sieh mal, Otto. Dieses Schild ist neu.«

Otto warf einen Blick auf das Schild. In verschnörkelten Buchstaben stand dort:

Otto drückte auf den Klingelknopf und trat einen Schritt zurück. Drinnen rührte sich nichts.

»Ist wohl nicht zu Hause, diese Geister-Tante«, brummte Vincent, der vor Kälte zitterte. »Lasst uns gehen. Ich friere mich hier zu Tode, und das will was heißen, immerhin bin ich eine Halb-Geisterfledermaus.« Vincent schlang sich die Flügel um seine Brust. »Ich verstehe wirklich nicht, warum dieser Torero freiwillig ins kalte England gezogen ist. In Spanien ist es jetzt bestimmt schön warm. Können wir nicht dorthin fahren, Otto? Bitte, bitte! Spanische Würmer sind bestimmt feuriger und würziger als diese zähen englischen Insekten. Pfui!«

»Jetzt sei doch mal leise, Vincent.« Otto nahm die Fledermaus von seiner Schulter und steckte sie in die Seitentasche seines Rucksacks. In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein gelockter Kopf spähte heraus.

»Wer stört?«, blaffte eine tiefe, raue Stimme. Jetzt wurde die Tür vollständig geöffnet und eine untersetzte Dame mit rotem lockigen Haar und gehäkeltem Kleid stand vor Otto und Emily.

Otto hielt den Atem an. Ein furchtbarer Geruch nach Schießpulver und Räucherstäbchen schlug ihnen entgegen.

»Ich kaufe nichts«, brummte die Frau und rümpfte dabei ihre knollige Nase. Aus der Nähe konnte Otto erkennen, dass sie dicke Schminke im Gesicht trug und damit aussah wie ein exotischer Vogel. Außerdem schienen ihre Augen regelrecht bernsteinfarben zu glühen. »Keine Kekse. Keine Schokoladentafeln. Und wenn ihr Spenden für die Pfadfinder sammeln wollt, könnt ihr das auch gleich vergessen.«

Wie vom Donner gerührt starrte Otto die merkwürdige Frau an. Konnte es tatsächlich sein, dass das hier Tante Sharons neue Freundin war? Eine mies gelaunte, nach Schießpulver stinkende Schreckschraube?

»Was steht ihr noch hier, ihr Rotzlöffel?«, schrie Madame Olga jetzt aus voller Kehle und hob die Hand, als wollte sie Otto und Emily ohrfeigen. »Wollt ihr etwa eine Tracht Prügel kassieren? Ihr stört mich mitten in einer Sitzung!«

Otto lief ein kalter Schauer über den Rücken. Offenbar hatte Fernando ausnahmsweise mal nicht übertrieben. Otto konnte gut verstehen, dass er vor dieser alten Hexe Reißaus genommen hatte.

Emily ließ sich nicht einschüchtern. »Wir wollen Ihnen nichts verkaufen. Wir sind bloß hier, um Ihnen Ihre Uhr zurückzubringen«, erklärte sie. »Wir sind Ihre Nachbarn und haben gehört, dass Sie erst kürzlich in diese Gegend gezogen sind. Ich bin Emily. Und das ist mein bester Freund Otto.«

Die bernsteinfarbenen Augen der Dame musterten erst Otto, dann Emily. »Ach ja. Die Nachbarn«, knurrte sie und riss Emily die Uhr aus der Hand. Das Ding bestand aus Metall und war ganz schön schwer, aber Madame Olga hob es hoch, als wäre es federleicht. »Ich hoffe, ihr wohnt nicht gleich nebenan. Ich hasse Kindergekreische.«

»Tja, ich fürchte, ich wohne gleich gegenüber, bei meiner Tante Sharon«, gab Otto trocken zurück und deutete auf die Villa hinter seinem Rücken. Was bildete sich diese Person eigentlich ein? Otto war immerhin schon zwölf und kein kreischendes Kleinkind.

Erstaunlicherweise verschwand der grimmige Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegenübers. Für einen Moment betrachtete Madame Olga Otto, dann zog sie ein Fernglas aus ihrer Tasche und richtete es auf die Villa. Sie schien jedes Detail des Hauses genauestens zu untersuchen, dann glitt ihr Blick zurück zu Otto. »Eine schöne alte Villa habt ihr da, du und deine Tante. Sieht sehr geheimnisvoll aus.« Sie lächelte, doch es wirkte eher wie eine Grimasse. »Und ich habe eine Schwäche für Geheimnisse«, fügte sie hinzu.

Eine Schwäche für Geheimnisse? Otto hob die Augenbrauen. Diese Person hatte wohl eher eine Schwäche für Schwefel und stinkende Räucherstäbchen.

»Geheimnisse sind mein Beruf. Ich bin Wahrsagerin«, brummte sie. Sie machte eine ausladende Geste. »Ich bin die großartige Madame Olga. Von mir habt ihr sicher schon gehört. Jeder hat von mir gehört.«

Otto und Emily wechselten einen kurzen Blick und schwiegen.

»Was? Ihr kennt mich nicht?« Madame Olga schien irritiert. »Früher war ich eine Legende. Ein Publikumsmagnet. Ich bin einst mit einer Zirkusgruppe durch ganz Russland gezogen, bevor ich sie wegen akuter Clown-Phobie verlassen musste.« Madame Olga schüttelte sich. »Ich finde Clowns immer noch gruselig. Die rote Nase. Die weiße Schminke. Brr.«

»Clowns sind bestimmt nicht so gruselig wie du am Morgen nach dem Aufstehen, du alte, bunte Schnepfe«, knurrte Vincent aus dem Rucksack.

»Schscht«, machte Otto, doch zum Glück bekam Madame Olga nichts davon mit. Tante Sharons Villa schien sie immer noch zu faszinieren. Es war auch wirklich ein schönes altes Haus, mit den Erkern und Türmchen und den vielen leer stehenden Räumen. Und was die Geheimnisse darin anbelangte, so hatte Madame Olga durchaus richtig vermutet.

»Wie auch immer.« Nun widmete die Wahrsagerin ihre Aufmerksamkeit wieder Otto und Emily. »Wenn ihr euch nützlich machen wollt, empfehlt euren Freunden die grandiose Madame Olga.« Während sie ihren eigenen Namen aussprach, führte sie erneut eine ausschweifende Handbewegung aus, dann machte sie kehrt und wackelte zurück ins Haus. »Macht bloß keinen Krach nach Einbruch der Dunkelheit. Und jetzt verzieht euch, ihr Plagegeister!«, knurrte sie und verpasste Otto und Emily einen festen Schubs. Emily taumelte nach hinten und wäre um ein Haar ins Rosenbeet gefallen. »Sonst hetze ich ein paar Geister auf euch. Die werden euch lehren, dass man Wahrsagerinnen nicht einfach mitten in einer Sitzung stört.«

Mit diesen Worten warf sie die Tür ins Schloss.

»Na, das ist ja mal eine alte griesgrämige Hexe«, murmelte Emily nach einer Weile und starrte immer noch auf MrOlsens Haustür, vor der ein Windspiel schräge Klänge von sich gab. »Ich fange an, unsere schlimmsten Lehrer plötzlich ganz gern zu mögen.«

»Jemand wie die hat uns gerade noch gefehlt«, meinte Otto. »Hey, wir könnten Harold fragen, ob er ihr einen ordentlichen Schrecken einjagen und sie damit vertreiben kann. Vor einem echten Sensenmann fürchtet sie sich vielleicht.«

Emily kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Wohl eher umgekehrt. Harold hat bestimmt mehr Angst vor ihr