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Adam Zamoyski

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Beschreibung

Eine brillant geschriebene Biografie des berühmtesten Klaviervirtuosen und Komponisten der Romantik.

Frédéric Chopin ist nicht nur der berühmteste Komponist und Pianist der Romantik, er gilt auch als Inbegriff des romantischen Künstlers. In seiner exzellent geschriebenen Biografie macht Adam Zamoyski den Leser mit dem Menschen Chopin und seinem Leben bekannt: das kurze, von Krankheit geprägte Dasein, seine Kindheit, in der er in den polnischen Adelssalons auftrat, seine schillernde Karriere als Klaviervirtuose, -lehrer und innovativer Komponist in Paris, seine fast 10-jährige Liebesbeziehung zu der exaltierten Schriftstellerin George Sand. Dabei gelingt es dem Autor meisterhaft, die charakterliche Entwicklung Chopins nachzuzeichnen und ein farbiges Gesellschaftsbild des frühen 19. Jahrhunderts zu entwerfen. Und schließlich entkräftet Zamoyski auf verblüffende Weise den Mythos vom romantischsten aller Künstler.

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Talent in Fesseln
Schuljahre
Das musikalische Genie
Copyright
Für Emma
Talent in Fesseln
Am Vormittag des 30. Oktober 1849 versammelte sich eine große Menschenmenge in der Pariser Kirche La Madeleine, Hunderte Kutschen versperrten die umliegenden Straßen und verursachten einen Stau, der bis zur Place de la Concorde reichte. Die Fassade der gewaltigen, tempelartigen Kirche war mit Bahnen aus schwarzem Samt verhängt, auf die mit Silberfaden die Initialen F.C. aufgestickt waren. Nur die Besitzer von Eintrittskarten wurden eingelassen, wer es nicht geschafft hatte, eine Karte zu ergattern, drängte sich mit den anderen auf den monumentalen Stufen.
»Um zwölf Uhr erschienen die Leichenträger mit dem Sarg des großen Künstlers am Eingang der Kirche. In diesem Augenblick ertönte vom Chor herab ein allen Bewunderern Chopins bekannter Trauermarsch, den man eigens für diesen düsteren Anlass orchestriert hatte. Ein Todesschauer durchrieselte die ganze Hörerschaft«, erinnert sich der französische Dichter Théophile Gautier. »Uns selbst kam es vor, als würde die Sonne erbleichen und der Glanz in den Kuppeln eine fahle, drohende Färbung annehmen…«1
Mozarts Requiem wurde gesungen, und zu den Solisten gehörten die legendäre Mezzosopranistin Pauline Garcia-Viardot und der berühmte Bassist Luigi Lablache. Begleitet wurden sie vom Orchester und vom Chor des Pariser Konservatoriums, den besten in ganz Europa. Als Offertorium spielte der Organist der Madeleine zwei von Chopins Préludes.
Nach dem Gottesdienst brachte man den Sarg von der Madeleine zum Friedhof Père Lachaise. Der Trauerzug wurde von Fürst Adam Czartoryski angeführt, der als der ungekrönte König von Polen galt, und zu den Sargträgern zählten Giacomo Meyerbeer, der berühmteste Opernkomponist jener Zeit, und der Maler Eugène Delacroix. Hinter dem Sarg folgten Dutzende Musiker und Künstler und Tausende Freunde und Bewunderer des Toten. Selbst die ranghöchsten Damen gingen zu Fuß, und ihre wappengeschmückten Kutschen fuhren in einer langen Prozession hinterher. Auf dem Friedhof wurde der Sarg ohne Predigt in das Grab hinabgelassen, und die Trauergäste entfernten sich schweigend.2
Kein Musiker hatte jemals ein so prächtiges Begräbnis erhalten, und nur wenige wurden so aufrichtig betrauert. Das ein Jahr später errichtete Grabmal entwickelte sich rasch zu einer Pilgerstätte, an der bis zum heutigen Tag Besucher Briefe und Botschaften ablegen. Manche äußern lediglich Bewunderung und Dankbarkeit, doch bei den meisten handelt es sich um persönliche, häufig ungemein leidenschaftliche Zeilen, aus denen manchmal sogar eine geradezu krankhafte besitzergreifende Liebe spricht.
Chopin wurde nicht allein wegen seiner Musik verehrt, sondern auch als Person, und er wurde nicht nur verehrt, sondern begehrt und vereinnahmt. Dieser extrem diskrete, schüchterne Mensch wurde von Musikern, Musikwissenschaftlern, Künstlern, Biografen, Filmemachern und sogar Politikern in Besitz genommen, die ihn zu verstehen und sein Innerstes zu kennen glaubten und sein Bild ihren eigenen Zielen entsprechend gestalteten. Musiker haben seine Musik ihren persönlichen, oft sehr subjektiven Interpretationen unterworfen, Musikwissenschaftler haben sie neu geschrieben, Künstler ihn so gemalt, wie sie ihn sehen wollten, Biografen verflochten ihre eigene dramatische Schöpfungskraft mit seinem Leben, Filmemacher ließen Blut auf die Tasten tropfen, und auch Politiker haben versucht, Anspruch auf ihn zu erheben, für Frankreich, für Polen, für das Slawentum, ja sogar für die jüdische Gemeinschaft Polens.
Chopin war von Natur aus zurückhaltend und sehr verschlossen, wenn es um private Angelegenheiten ging. Er war zu träge, ein Tagebuch zu führen, und hatte eine zu geringe Meinung von sich selbst, um seine Memoiren zu schreiben. Er hinterließ auch keine Witwe oder Nachkommen, die sein Bild für die Nachwelt hätten formen können. So blieb dieses Feld weitläufigen Bekannten überlassen, die, wie in solchen Fällen üblich, Tatsachen verfälschten oder erfanden, um sich selbst im gewünschten Licht zu präsentieren. Der Großteil von Chopins persönlichen Unterlagen wurde in zwei Weltkriegen, einer Revolution und einem privaten Rachefeldzug zerstört. Aus diesem Grund verlegten sich Biografen auf Spekulationen und Fantasie, um die Lücken zu füllen, und jede Generation projizierte ihre eigene Ästhetik und ihre eigenen Sehnsüchte auf die weiße Leinwand. Erst in vergleichsweise jüngerer Zeit wurde auch die Geschichtswissenschaft hinzugezogen, sodass die Herkunft des Komponisten vollständig geklärt werden konnte.
Seine Wurzeln liegen in einer armen Bauernfamilie namens Chapin, die am Ende des siebzehnten Jahrhunderts aus dem Dorf Saint-Crépin in der französischen Region Dauphiné in das reichere Herzogtum Lothringen zog. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Familie zu Weinbergbesitzern und Stellmachern im Vogesendorf Marainville-sur-Madon hochgearbeitet, und ihr Name hatte sich zu Chopin gewandelt. In jener Zeit wurde Lothringen von König Stanisław Leszczyński regiert, dem Schwiegervater von Ludwig XV., der das Herzogtum 1737 als Entschädigung für den Verlust des polnischen Thrones erhalten hatte, und viele seiner polnischen Unterstützer und Höflinge hatten dort eine neue Heimat gefunden. Der Vater des Komponisten, Nicolas, wurde 1771 in Marainville als Sohn des Dorfeinnehmers François Chopin geboren (auch wenn sich hartnäckig das - später angeblich sogar von Nicolas selbst geschürte - Gerücht hielt, er sei in Wahrheit der uneheliche Sohn des örtlichen Schlossherrn, eines Höflings von König Stanisław).
1780 erwarb ein polnischer Adliger namens Michał Jan Pac das Schloss von Marainville. Sein Verwalter Adam Weydlich, ebenfalls ein Pole, war mit einer Frau aus dem Pariser Bürgertum verheiratet, die dem jungen Nicolas Chopin offenbar Lesen, Schreiben und möglicherweise auch das Flötespielen beibrachte. Als die Weydlichs nach Pacs Tod und dem Verkauf des Anwesens 1787 nach Polen zurückkehrten, nahmen sie den sechzehnjährigen Nicolas mit. In Warschau brachten sie ihn im Haushalt von Weydlichs Bruder Franciszek unter, der an der Kadettenakademie Deutsch und Latein unterrichtete. Seinen Lebensunterhalt verdiente Nicolas durch die Arbeit als Buchhalter in der Warschauer Tabakfabrik und, als diese 1789 schloss, als Hauslehrer für die Kinder der Weydlichs. Er war ehrlich und verlässlich und muss in der Zwischenzeit nicht nur eine beachtliche Bildung erworben, sondern auch hochgestellte Förderer gewonnen haben, denn anschließend wurde er Hauslehrer des Sohnes des Warschauer Bürgermeisters Jan Dekert und 1792 Hauslehrer der Kinder der Familie Dziewanowski auf deren Landgut in Szafarnia.
Zwei Jahre zuvor hatte sich ihm die Möglichkeit geboten, seine Familie in Marainville zu besuchen, da jemand zurück nach Frankreich reisen sollte, um einige Angelegenheiten in Zusammenhang mit Pacs Besitz zu regeln. Aber Nicolas Chopin nutzte weder diese Gelegenheit, noch scheint er irgendwann später den Versuch unternommen zu haben, noch einmal mit seinen Angehörigen Kontakt aufzunehmen. Vermutlich schreckte ihn auch die Aussicht, im revolutionsgeschüttelten Frankreich eingeschlossen oder womöglich sogar in die Armee eingezogen zu werden. Doch das bewahrte ihn nicht vor einem Krieg, denn 1792 marschierte die russische Armee in Polen ein. Nach einer kurzen militärischen Auseinandersetzung verlor das Land einen großen Teil seines Territoriums an Russland und einen kleineren Teil an Preußen, außerdem wurde das verbleibende Gebiet vollständig von russischen Truppen besetzt. 1794 brach ein Aufstand gegen die russischen Besatzer los. Nicolas Chopin trat in die Warschauer Miliz ein und wurde beim russischen Angriff auf die Stadt, mit dem der Aufstand endgültig niedergeschlagen wurde, verwundet.3
Im weiteren Verlauf dieses Jahres oder zu Beginn des nächsten zog er auf das Landgut Kiernozia, um dort als Vaterfigur und Hauslehrer für die kürzlich verwaisten Kinder von Maciej Łączyński zu fungieren (eine seiner Schutzbefohlenen, Maria, sollte nach ihrer Hochzeit mit Anastazy Walewski als Napoleons Geliebte Berühmtheit erlangen). Nicolas Chopin blieb dort bis 1802, als er eine vergleichbare Stellung im Haushalt des Grafen Skarbek auf dem Gut Żelazowa Wola annahm, wo er sich um die vier Kinder des Grafen kümmerte. 1806 heiratete der inzwischen fünfunddreißigjährige Nicolas Chopin Tekla Justyna Krzyżanowska, die allem Vernehmen nach schöne und sanftmütige vierundzwanzigjährige Tochter eines verarmten Adligen, der als Gutsverwalter für Skarbek gearbeitet hatte.
Im darauffolgenden Jahr bekamen die Chopins eine Tochter namens Ludwika und bezogen ein paar Zimmer in einem der Nebengebäude des Gutes, einem geräumigen einstöckigen Haus mit strohgedecktem Dach. Und in einem dieser weiß getünchten Räume mit Lehmfußboden kam 1810 ihr Sohn zur Welt. Sie ließen ihn nach seinem Paten, dem jungen Grafen Fryderyk Skarbek, und Nicolas Chopins Vater François auf den Namen Fryderyk Franciszek taufen. Im Taufregister der Pfarrkirche von Brochów bei Żelazowa Wola ist vermerkt, dass das Kind am 22. Februar geboren wurde, aber die Familie Chopin und auch der Komponist selbst nannten als sein Geburtsdatum später immer den 1. März. Um die Sache noch komplizierter zu machen, wurde sein Alter durchgängig um ein Jahr erhöht, wenn er als Kind in der Presse erwähnt wurde oder öffentlich auftrat, sodass selbst bei einigen Freunden der Eindruck entstand, er sei bereits 1809 geboren worden. Das Taufregister ist kein Geburtsregister, und das dort festgehaltene Datum werden Nicolas Chopin oder seine Frau selbst angegeben haben. Es gibt daher keinen Grund, einem der beiden Daten den Vorzug zu geben, aber zumindest das Geburtsjahr 1810 steht zweifelsfrei fest.4
Bereits sechs Monate nach der Geburt ihres Sohnes zogen die Chopins nach Warschau. Die Stadt und die umliegende Region waren nach Napoleons Sieg in Jena 1806 von der Fremdherrschaft befreit worden und 1807 als ein neuer Staat, das Herzogtum Warschau, wieder unabhängig geworden. Politisch ein Satellitenstaat Frankreichs, war das Herzogtum nach französischem Modell aufgebaut, und die Kenntnis der französischen Sprache wurde vom Luxus zur Notwendigkeit, was für Nicolas Chopin ein günstiges Umfeld schuf. Ab Oktober 1810 erhielt er eine Stelle als Französischlehrer am Warschauer Lyzeum, später unterrichtete er zusätzlich an einer der Kadettenanstalten.
Warschau war eine ungewöhnliche Metropole, deren äußere Gestalt ihre wechselvolle Geschichte widerspiegelte. Über dem Steilufer der Weichsel drängten sich die von mittelalterlichen Mauern umschlossene Altstadt und das königliche Schloss, das sich damals in einem tristen, heruntergekommenen Zustand befand. Südlich davon erstreckten sich einige elegante Straßenzüge aus dem achtzehnten Jahrhundert und dahinter eine seltsam ländlich anmutende Stadt aus vielfach von weitläufigen Anwesen umgebenen Residenzen und Villen, bescheideneren Wohnhäusern und einfachen Holzhütten. Ein Reisender verglich die Stadt einmal mit einem Salon voller teils ausnehmend eleganter Möbelstücke, die niemals richtig arrangiert worden seien. Viele der einstigen Stadtresidenzen wurden als öffentliche Gebäude genutzt, während man andere in einzelne Wohnungen aufgeteilt hatte.
Das Lyzeum war in einem verschwenderisch ausgestatteten, von den sächsischen Königen Polens errichten Palais untergebracht, einem prunkvollen weißen Stuckbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, der drei Seiten eines Hofs umschloss. Da die Schule für Schüler vom Land keine Unterkunftsmöglichkeit vorsah, wurde den Lehrern angeboten, in einen der Flügel des Palais zu ziehen, falls sie sich im Gegenzug bereit erklärten, zahlende Kostschüler aufzunehmen. Der sparsame Nicolas Chopin war dankbar für diese Gelegenheit, sein Einkommen aufzubessern, und zog mit seiner Familie in das Sächsische Palais. Er nahm sechs Jungen auf, die in zwei Zimmern schliefen und alle Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie einnahmen.
Er identifizierte sich inzwischen voll und ganz mit seiner neuen Heimat und betrachtete sich selbst als Polen. Und mit dieser Haltung war er nicht allein. Die meisten seiner Kollegen im Lyzeum, angefangen beim Rektor Samuel Bogumił Linde, waren ausländischer Herkunft und trugen Namen wie Kolberg, Ciampi oder Vogel, doch mit der Zeit hatten sie sich zu überzeugten Polen gewandelt. Nicolas Chopin bestand darauf, ausschließlich Polnisch zu sprechen, er duldete keine andere Sprache in seinem Haushalt, auch wenn er selbst das Polnische nur schlecht beherrschte und beim Briefeschreiben auf Französisch zurückgreifen musste.
Er war ein fähiger Lehrer und ein strenger, nüchterner Mensch, und einer seiner Schüler beschrieb ihn als einen »recht steifen, würdevollen Mann von durchaus elegantem Auftreten«.5 Er war weder religiös, noch erfüllten ihn die Institutionen Monarchie und Aristokratie mit besonderer Ehrfurcht, aber er war auch kein Revolutionär; er war der festen Überzeugung, dass man die herrschenden Machtverhältnisse respektieren und die Grenzen akzeptieren müsse, die einem die Gesellschaft auferlegte, in der man lebte. Seine Haltung zu Kunst und Musik war eher prosaisch, auch wenn er selbst ein wenig Flöte spielte, bis sein Sohn im Kleinkindalter das Instrument zerbrach, und er sich später der Geige zuwandte.
Der einzige künstlerische Einfluss in der Familie kam von Justyna, die gut Klavier spielte und recht passabel sang. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie sehr religiös. Sie besaß ein sanftmütiges, stilles Naturell, und obwohl ihre Rolle in der Familie sich auf die der Hausfrau und Mutter beschränkte, zeichnete sie sich durch ein würdevolles Auftreten und ihre gepflegten gesellschaftlichen Umgangsformen aus. Ihre Anwesenheit war ihrem Sohn ein großer Trost, denn sie bildete ein Gegengewicht zum strengen, gewissenhaften und pedantischen Vater. Ludwika, die älteste Tochter, war intelligent und talentiert und spielte ebenfalls schon seit frühester Kindheit sehr gut Klavier. Izabela, die ein paar Jahre nach Fryderyk zur Welt gekommen war, war ein lebhaftes Mädchen ohne besondere intellektuelle oder künstlerische Ambitionen, aber Emilia, die Jüngste, fiel durch eine außergewöhnliche literarische Begabung auf und schrieb schon im Alter von acht Jahren Gedichte.
Zwar war der kleine Chopin nicht das todkranke Kind, als das er häufig dargestellt wurde, aber er hatte eine schwache Konstitution. Von schmächtigem Wuchs, mit Fassthorax und chronisch untergewichtig, war er anfällig für alle Leiden der Kindheit. Dabei drohten nicht nur die gängigen Krankheiten wie zum Beispiel Pocken, auch ein Kontakt mit der allgegenwärtigen Tuberkulose, die eine seiner Schwestern, mindestens einen seiner Lehrer, mehrere Kostschüler seines Vaters und schließlich auch seinen Vater selbst dahinraffen sollte, ließ sich kaum vermeiden. Er brauchte eine ruhige, stabile Kindheit und eine gesunde Umgebung, wenn er überleben sollte.
1817 wurde das Lyzeum in ein nicht ganz so prunkvolles, aber für den Schulbetrieb geeigneteres Gebäude, das Kazimierzowski-Palais, verlegt. Diese mehrmals umgebaute ehemalige königliche Residenz aus dem siebzehnten Jahrhundert war ein großer Bau, dessen Hauptgebäude von zwei separaten Flügeln flankiert wurde. Die Chopins bezogen eine Wohnung in einem der Flügel und erhöhten die Zahl ihrer Kostschüler auf zehn. Das Palais hatte eine besonders schöne Lage. Es war von einem ehemaligen botanischen Garten umgeben, der hinter dem Hauptgebäude sanft zur Weichsel hin abfiel, und die Kinder der Familie Chopin nahmen zusammen mit denen der übrigen Lehrer und den Kostschülern das Gelände in Besitz.
Die unterschiedlichen Geschichten, die zutage gefördert wurden, um zu illustrieren, wie empfindsam Chopin schon als Säugling gewesen sei, dass er in Tränen ausbrach, wenn jemand schlecht Klavier spielte, oder stundenlang verzückt unter dem Instrument sitzen blieb, können getrost übergangen werden. Sie gehören zu jener Art von »Erinnerungen« Einzelner, die, selbst wenn sie den Tatsachen entsprechen, weitgehend bedeutungslos sind, denn es gibt sicher nur wenige Säuglinge, die nicht entweder aus vollem Halse schreien oder fasziniert zuhören, wenn in ihrer Gegenwart ein Instrument gespielt wird. Diese Reaktionen können genauso wenig auf eine besondere künstlerische Empfindsamkeit im Säuglingsalter zurückgeführt werden, wie man einer nach dem Tod des Komponisten aufgekommenen Geschichte Glauben schenken darf, derzufolge er eines Nachts aus seinem Bettchen krabbelte, sich auf den Klavierschemel zog und zum größten Erstaunen seiner Familie, die von der Musik aus den Betten gelockt wurde, Polonaisen zu improvisieren begann.
Chopin wurde im Alter von vier Jahren von seiner Mutter ans Klavier herangeführt, und als er sechs Jahre alt war, bewältigte er nicht nur schon vergleichsweise schwierige Stücke, sondern war auch in der Lage, mit ein paar Noten oder einem Motiv herumzuspielen und einfache Melodievariationen zu komponieren. 1816 erhielt er erstmals Klavierunterricht von einem alten Freund seines Vaters, dem sechzigjährigen Adalbert Żywny. Żywny war aus seiner Heimat Böhmen nach Polen gekommen und hatte Geige im Hoforchester eines polnischen Adligen gespielt, ehe er sich als Musiklehrer in Warschau niedergelassen hatte. Er war ein großer, zahnloser Mann mit einer gewaltigen, violett verfärbten Nase. Er trug eine schief sitzende, altmodische, vergilbte Perücke und einen wattierten Gehrock im Schnitt des achtzehnten Jahrhunderts, der genau wie seine Krawatte, seine Weste und sogar seine großen ungarischen Stiefel vollständig mit Schnupftabak durchsetzt war. Er badete nie, sondern beschränkte sich darauf, sich an heißen Sommertagen mit Wodka abzureiben, und sein einziger Versuch, elegant zu erscheinen, erschöpfte sich in einer Sammlung ausgefallener Westen. Diese hatte er aus einem Posten Kniehosen schneidern lassen, den er günstig erworben hatte, als nach der letzten Teilung Polens im Jahr 1795 die Garderobe von König Stanisław August versteigert worden war. Es ist nicht ganz klar, ob diese etwas eigenartige Verbindung mit Polens ruhmreicher Vergangenheit beabsichtigt war oder nicht, aber auch Żywny war zu einem überzeugten Polen geworden, was nicht zuletzt ein Grund dafür war, warum Nicolas Chopin ihn mochte. Der kleine Chopin verehrte ihn, und er wurde zu einem regelmäßigen Gast in ihrer Wohnung, wo er gewöhnlich mit der Familie zusammen aß und häufig auch den Abend verbrachte.6
Żywny war ein Musiker des achtzehnten Jahrhunderts, seine Götter hießen Bach, Haydn und Mozart. Die einzigen zeitgenössischen Komponisten, die er gelten ließ, waren Hummel und Moscheles, für Beethoven oder Weber hatte er nichts übrig, und die neue italienische Schule von Spontini und Rossini verabscheute er von ganzem Herzen. Seine pädagogischen Methoden entsprachen weitgehend dem, was man erwarten würde. »Abgesehen von seiner ausladenden Schnupftabaksdose, in die ein halbes Pfund Pulver passte und deren Deckel mit einem Porträt von Mozart oder vielleicht auch Haydn verziert war, und seinem großen karierten Schnupftuch«, schrieb einer seiner Schüler, »hatte Żywny immer einen riesigen vierkantigen Bleistift bei sich, mit dem er die Fehler der Drucker in den Noten korrigierte und seinen weniger fleißigen oder unaufmerksamen Schülern auf den Kopf oder die Fingerknöchel klopfte.«7 Er war in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher Mann. Dennoch erwies er sich als idealer Lehrer, um einen der revolutionärsten Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts in die Musik einzuführen, und zwar nicht trotz seiner begrenzten Möglichkeiten, sondern gerade deswegen.
Als Żywny damit begann, Chopin zu unterrichten, hatte dieser bereits eine Vertrautheit mit der Klaviatur entwickelt, die die seines Lehrers wahrscheinlich übertraf. »Du weißt, dass Dich die technische Seite des Spielens wenig Zeit gekostet hat und Dein Geist mehr damit beschäftigt war als Deine Finger«, schrieb Nicolas Chopin später einmal an seinen Sohn. »Während andere ganze Tage über den Tasten zubrachten, verbrachtest Du kaum jemals mehr als eine Stunde damit, die Werke anderer zu spielen.«8 Angesichts dieser Begabung verzichtete Żywny klugerweise darauf, sich in die Spieltechnik des Wunderkindes einzumischen. Da er selbst kein Pianist war, hätte er Chopin lediglich den üblichen Fingersatz und die traditionelle Handhaltung bei der Bewegung über die Klaviatur beibringen können. Doch in Anbetracht der instinktiven Fingerfertigkeit des Jungen ließ er solche technischen Aspekte vollkommen außer Acht. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, seinen Schüler mit der großen Musik vertraut zu machen, indem er ihn durch die Tastenwerke von Bach, Haydn und Mozart, zum Teil auch Hummel führte und ihm dabei die Theorie erklärte, die den Kompositionen zugrunde lag.
Diese unorthodoxe musikalische Ausbildung ermöglichte es Chopin, eine ganz eigene Spielweise zu entwickeln; er schlug die Tasten mit den Fingern an, die er dafür geeignet hielt, nicht mit denen, die die Lehrbücher dafür vorsahen. Gleichzeitig weckte sie in ihm die lebenslange Liebe zu den großen klassischen Komponisten, die ihn von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheiden würde, und vermittelte ihm ein grundlegendes Verständnis ihrer Werke.
Vervollständigt wurde seine musikalische Bildung durch die Musik, die er in den Häusern und Salons von Warschau hörte. Manches davon stammte aus den populären italienischen Opern jener Zeit, aber vieles hatte auch nationalen Charakter. Die polnische Klaviermusik wurde von der Polonaise dominiert, die auf dem Rhythmus eines langsamen, menuettartigen höfischen Tanzes aus dem sechzehnten Jahrhundert aufbaute. Dieser Rhythmus war früher schon zahlreichen Komponisten bekannt gewesen, darunter auch Bach, Telemann und Mozart, aber sie hatten ihn lediglich als Tempo für eigene Melodien verwendet. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts schließlich hatten polnische Komponisten damit begonnen, authentischere Polonaisen zu schreiben. Diese Tendenz war von dem begabten Amateurkomponisten Fürst Michał Kleofas Ogiński und der Pianistin Marya Szymanowska aufgegriffen worden, und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erlebte die Polonaise als kurzes Klavierstück einen neuen Aufschwung.
Es war daher nicht verwunderlich, dass Chopins erste Schritte als Komponist dieser Form galten. Mit sieben Jahren komponierte er bereits kurze Stücke, die er mit Żywnys Hilfe aufschrieb, da er diese Fertigkeit selbst noch nicht beherrschte. Nur wenige davon sind erhalten geblieben. Die heute bekannten Kompositionen sind nicht sonderlich bemerkenswert und beeindrucken nur, wenn man das Alter des Jungen berücksichtigt. 1817 erschien auch Chopins erstes gedrucktes Werk, privat herausgegeben vom Kanonikus Cybulski von der Kirche der Heimsuchung Mariens, einem Freund der Familie Chopin. Es trug den Titel »Polonaise in g-Moll, gewidmet Ihrer Exzellenz der Gräfin Wiktoria Skarbek, komponiert von Frederick Chopin, Musiker, acht Jahre alt«. Wahrscheinlich hatte sein Pate, Graf Fryderyk Skarbek, der kürzlich von seinem Auslandsstudium zurückgekehrt war und eine Stelle als Professor an der Warschauer Universität angenommen hatte, die Veröffentlichung finanziell unterstützt, was die Widmung an seine Schwester erklären würde. Er war ebenfalls verantwortlich für eine Randnote über Chopin, die im Januar 1818 in den Warschauer Notizen (Pamie¸tnik Warszawski) erschien und den jungen Komponisten als ein »wirkliches Musikgenie« pries. »Er kann nicht nur mit größter Leichtigkeit und außerordentlichem Geschmack die schwierigsten Stücke auf dem Klavier spielen«, schrieb Skarbek, »sondern er hat bereits einige Tänze und Variationen komponiert, die Musikkenner in Verwunderung setzten.«9
Der erste bekannte Hinweis auf einen Auftritt Chopins außerhalb des Familienkreises findet sich im Tagebuch einer jungen Dame, die eine Soiree im Haus der Gräfin Grabowska besucht hatte: »Im Laufe des Abends spielte auf dem Klavier der junge Chopin, ein Kind im achten Lebensjahr, das, wie Kenner behaupten, Mozart zu ersetzen verspricht«.10 Die Gräfin Grabowska war verheiratet mit einem der Präsidenten der Warschauer Universität, der später zum Vorsitzenden der Kommission für das nationale Erziehungswesen werden sollte. Er gehörte einem konservativen patriotischen Milieu an, das eine pragmatische Haltung gegenüber den Realitäten der polnischen Verhältnisse vertrat.
Nach Napoleons katastrophalem Russlandfeldzug von 1812 war ganz Polen von russischen Truppen überrannt worden, und Zar Alexander war entschlossen, so viel wie möglich davon unter russischer Kontrolle zu behalten. 1815 gelang es ihm, auf dem Wiener Kongress die von ihm vorgeschlagene Lösung für das polnische Problem durchzusetzen, und er schuf ein kleines, aber liberales Königreich Polen, dessen verfassungsmäßiger König der Zar von Russland war. Das war ein heikler Kompromiss, und während diese Situation in den Augen vieler Patrioten kaum besser war als Gefangenschaft, bemühte sich eine Gruppe Adliger, das nationale Anliegen innerhalb der begrenzten Autonomie zu fördern, die der Zar ihnen zugestand.
Der wichtigste Salon dieses Zirkels war der des Blauen Palais, der Warschauer Residenz von Graf Stanisław Zamoyski. Das Palais war gleichzeitig der Warschauer Wohnsitz seines Schwagers, des Fürsten Adam Czartoryski, der aufgrund seiner engen Freundschaft zu Zar Alexander, seiner erfolgreichen diplomatischen Karriere und seiner Stellung als Oberhaupt der zweifellos wohlhabendsten und einflussreichsten Familie des Königreichs zu einer Schlüsselfigur in der polnischen Gesellschaft und Politik geworden war. Im Blauen Palais verkehrten die ehrwürdigsten Vertreter der Vergangenheit genauso wie die jüngsten Mitglieder der polnischen Aristokratie. Gräfin Zamoyska und ihre Schwester Maria Herzogin von Württemberg organisierten unterhaltsame Veranstaltungen und Tanztees für Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, bei denen ihnen gute Manieren und patriotische Werte vermittelt werden sollten und die wahrscheinlich auch Chopin besuchte.11
Die Gräfin war auch die Gründerin der Warschauer Wohltätigen Gesellschaft, und es dauerte nicht lange, bis sie Chopins Potenzial erkannte, das Spendenaufkommen ihrer Organisation zu erhöhen. Der Dichter und Nestor der polnischen Literatur, Julian Niemcewicz, ein eifriger Anhänger des Blauen Palais, schildert ein Treffen der Gesellschaft in einem seiner Einakter:
Die Gräfin: Sie sehen, wie wenig Geld wir haben; all unsere Bemühungen sind vergebens. Wir betteln, wo wir nur können, aber alle sind taub für unsere Bitten oder, besser gesagt, für die Stimme der Armen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit unseren herkömmlichen Methoden weiterzumachen, aber wir sollten ein paar Veränderungen vornehmen. Ich kann mit Stolz sagen, dass Monsieur Łubieński und ich unsere Technik vervollkommnet haben. Nächsten Dienstag findet ein Konzert statt, bei dem der kleine Chopin spielen soll; wenn wir auf die Programmzettel drucken ließen, dass Chopin erst drei Jahre alt ist, würden die Menschen nur so herbeiströmen, um das Wunderkind zu sehen. Stellen Sie sich nur vor, wie viele Zuschauer kommen würden und wie viel Geld wir einnehmen könnten!
Alle: Bravo! Bravo! Eine wundervolle Idee, ausgezeichnet! Lassen Sie uns auf die Programmzettel drucken, dass Chopin erst drei Jahre alt ist!
Fürstin Sapieha: Ich glaube, es würde noch größeres Aufsehen erregen, wenn wir auf die Programmzettel schrieben, dass der kleine Chopin von seiner Kinderfrau hereingetragen wird. Alle: Bravo! Bravo! Welch großartiger Einfall, Durchlaucht!12
Das vermutlich erste dieser Konzerte fand am 24. Februar 1818 statt. Was auch immer schließlich auf die Ankündigungen gedruckt wurde, die Pressemeldung jedenfalls schenkte Chopin ein zusätzliches Jahr und behauptete, er sei bereits neun Jahre alt. Das Konzert fand im Ballsaal des früheren Radziwiłł-Palais statt, eines häufig für solche Veranstaltungen genutzten öffentlichen Gebäudes, und Chopin spielte ein Klavierkonzert des tschechischen Komponisten Adalbert Gyrowetz. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass er ein Werk dieser Länge aufführte, und es war mit Sicherheit sein erster Auftritt vor einem so großen Publikum.
Nach diesem Konzert verbreitete sich Chopins Ruhm in der gesamten Hauptstadt, und es dauerte nicht lange, bis eine Kutsche bei der Wohnung der Familie Chopin vorfuhr, um den Achtjährigen ins Schloss Belvedere zu bringen, die Residenz von Großfürst Konstantin, dem Bruder von Zar Alexander und Oberbefehlshaber der polnischen Armee. Konstantin war ein Zuchtmeister, der seine Tage damit zubrachte, seine Soldaten erbarmungslos zu schinden, und sie häufig zu Anstrengungen zwang, die nur mit ihrem Tod oder dem ihrer Pferde enden konnten. Er war der Inbegriff der Brutalität der russischen Herrschaft in Polen und allseits verhasst.
Doch Nicolas Chopin hätte die Zukunft seines Sohnes niemals solch emotionalen Bedenken geopfert. Es war eine Ehre für den Jungen, aufgefordert zu werden, im Belvedere zu spielen, und ein Triumph, als sich herausstellte, dass er mit seinem Spiel die berüchtigten Wutausbrüche des Großfürsten zu besänftigen wusste. Chopin schenkte Konstantin einen von ihm selbst komponierten Militärmarsch, und es hieß, der Großfürst sei davon so begeistert gewesen, dass er ihn für ein komplettes Militärorchester arrangieren und bei Paraden spielen ließ. Noch bemerkenswerter jedoch war die Tatsache, dass Chopin nicht nur geholt wurde, um dem Großfürsten und seiner Gemahlin vorzuspielen, sondern auch, um mit Konstantins geliebtem unehelichem Sohn und der Tochter von dessen Erzieher, Alexandrine de Moriolles, zu spielen.13
Chopin wurde dadurch eine sehr ungewöhnliche Erziehung zuteil; aus seinem behüteten Zuhause mit seiner soliden, bürgerlichen Atmosphäre wurde er unversehens in einige der elegantesten Salons von ganz Europa katapultiert, wo er vor den höchsten Persönlichkeiten des Landes auftrat, von ihren Frauen verhätschelt wurde und als ebenbürtiger Gast mit ihren Kindern spielen durfte. Da er schon in jüngsten Jahren in diese Gesellschaft eingeführt wurde, entwickelte er rasch perfekte Umgangsformen und die Fähigkeit, sich in der gehobensten Gesellschaft völlig ungezwungen zu bewegen. Er lernte, mit den verschiedensten Menschen umzugehen, und wurde gesellig und ein wenig frühreif, aber, wie übereinstimmend berichtet wurde, nicht eingebildet. Über einen seiner ersten öffentlichen Auftritte wird eine glaubwürdige Anekdote berichtet: Als er nach Hause kam, fragte ihn seine Mutter, was denn dem Publikum am besten gefallen habe, worauf er geantwortet haben soll: »Mein neuer englischer Kragen.« Selbst wenn es sich nicht so zugetragen haben sollte, würde es zu ihm passen, denn sein Leben lang blieb er in Bezug auf seine Musik außergewöhnlich bescheiden. Das lag vor allem an seinem Vater, der mit Nachdruck dafür sorgte, dass dem jungen Fryderyk seine offensichtliche Begabung nicht zu Kopf stieg, indem er darauf beharrte, das Talent seines Sohnes als einen erfreulichen Vorzug anzusehen, nicht jedoch als zentralen Aspekt seines Lebens. Das ist Nicolas Chopin hoch anzurechnen, bedenkt man, wie gnadenlos die meisten Wunderkinder von ihren Eltern ausgebeutet wurden.
Nicolas Chopin war ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts, und in seinen Augen war der Beruf eines Musikers kaum ehrbarer als der eines Schauspielers. Nachdem er sich selbst schon in der Gesellschaft hochgearbeitet hatte, war er fest entschlossen, dass sein Sohn diesen Aufstieg fortsetzen sollte. Auch wenn er nicht umhinkonnte, die außergewöhnliche Begabung seines Sohnes anzuerkennen, erlaubte er ihm nicht, diese in einer Art und Weise zu nutzen, die er als sozial erniedrigend empfunden hätte.
Chopin wurde vorgeführt, wann immer die Aussicht darauf bestand, dass dies seiner Zukunft förderlich sein könnte. 1818 kam Kaiserin Maria Feodorowna, die Mutter von Zar Alexander und Großfürst Konstantin, nach Warschau und besuchte, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, öffentliche Einrichtungen und Schulen. Als sie Chopins Klasse im Lyzeum mit ihrer Anwesenheit beehrte, schenkte ihr der achtjährige Fryderyk zwei Polonaisen. Und als die berühmte Sängerin Angelica Catalani Ende 1819 einige Konzerte in Warschau gab, durfte der Junge auch ihr vorspielen. Sie war davon so beeindruckt, dass sie ihm eine gravierte goldene Uhr schenkte. Außerdem trat er regelmäßig im Rahmen von Konzerten der Wohltätigkeitsgesellschaft auf und spielte häufig bei Abendgesellschaften in adligen Häusern. Wohltätigkeitsveranstaltungen wurden ihm erlaubt, weil er dabei an der Seite von adligen Amateurmusikern oder Kindern zu sehen war, die Gedichte vortrugen, doch keinesfalls hätte der Junge für Geld spielen oder an kommerziellen Konzertveranstaltungen teilnehmen dürfen, denn das hätte ihn als professionellen Musiker gebrandmarkt.
Niemand kann heute wissen, wie Chopin selbst sich als Achtjähriger sah, aber eines ist sicher: Er wusste bereits, dass die Musik für ihn die geeignetste Ausdrucksform war, um seine innersten Gedanken zu formulieren. Jedes Jahr erhielt Nicolas Chopin zu seinem Namenstag im Dezember handgeschriebene Glückwünsche von seinem Sohn. Die Zeilen des Jahres 1818 beginnen mit den Worten: »Lieber Papa! Obwohl es mir leichter fiele, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, wenn man sie in Klänge umsetzen könnte …«14
Er hatte in der Zwischenzeit das Notenschreiben gelernt, wie man an der wunderschön notierten Polonaise erkennen kann, die er Żywny 1821 zu dessen Geburtstag widmete und schenkte. Die Polonaise ist eine der wenigen erhaltenen Kompositionen jener Zeit. Die meisten Stücke, die er damals komponierte, bewahrte er entweder in Manuskriptform zusammen mit seinen persönlichen Dokumenten auf, die später von den russischen Truppen zerstört wurden, oder er schrieb sie in Stammbücher, von denen die meisten das gleiche Schicksal ereilte. Den ein, zwei heute noch bekannten Stücken nach zu urteilen, waren sie zwar geschickt konstruiert, aber kaum von großem künstlerischem Wert.
Etwa zur gleichen Zeit wurde offensichtlich, dass Żywnys Aufgabe abgeschlossen war und er Chopin nichts mehr beibringen konnte. Er blieb nach wie vor ein enger Freund der Familie und brachte häufig seine Geige mit, wenn er zu Besuch kam, um mit seinem Schüler Duette zu spielen, aber er erteilte ihm keinen Unterricht mehr.
Obwohl kein anderer Lehrer an Żywnys Stelle trat und Chopin sich in der Folge weitgehend allein am Klavier fortbildete, blieb er doch nicht ganz ohne Anleitung. Der Klavier- und Orgellehrer des Warschauer Konservatoriums, der aus Böhmen stammende Wilhelm Václav Würfel, der eine Zeit lang in Wien gelebt hatte, wo er die Bewunderung Beethovens errungen hatte, war ein Freund der Familie Chopin und förderte den Jungen auf freundschaftlicher Basis.
Darüber hinaus trug auch Józef Elsner, ein Schlesier, der sich etwa dreißig Jahre zuvor in Warschau niedergelassen hatte, zu Chopins musikalischer Ausbildung bei. Er war ein äußerst produktiver Komponist von Opern, Messen, Oratorien, Symphonien und Kammermusik, dessen kürzlich dem Vergessen entrissene Werke seinen damaligen Ruhm rechtfertigen und ihn als einen interessanten und originellen Musiker ausweisen. Außerdem war er ein hervorragender Lehrer, und so hatte man ihn zum Leiter des neu gegründeten Warschauer Konservatoriums berufen.
Er wollte Chopin gerne an seine Hochschule holen und gab ihm daher ein paar Lektionen in Musiktheorie und schenkte ihm ein Buch über die Grundlagen der Harmonielehre. Doch vorerst siegten Nicolas Chopins Vorstellungen von der Zukunft seines Sohnes, und so erhielt dieser während der folgenden vier Jahre keinen systematischen Musikunterricht.
Schuljahre
Der Bericht über ein Wohltätigkeitskonzert, an dem Chopin im Februar 1823 teilgenommen hatte, endet mit der folgenden Bemerkung:
»Die letzte Leipziger Musikalische Zeitung informierte uns in einem Artikel aus Wien, dass auch dort ein junger Amateur namens List [Liszt] alle durch Genauigkeit des Spiels, Sicherheit und Stärke des Tones, mit der er ein Konzert Humels [Hummels] spielte, in Erstaunen versetzte. - Nach diesem 6. Musikalischen Abend werden wir ganz sicher nicht mehr Wien um den Hochwohlgeborenen Herrn List beneiden, unsere Hauptstadt besitzt nämlich einen ihm gleichen, oder vielleicht vollkommeneren, in der Person […] des jungen Hochwohlgeborenen Herrn Chopin.«1
Chopin selbst hätte das Wiener Wunderkind sicher nicht beneidet. Denn während der um ein Jahr jüngere Liszt in die zermürbende Laufbahn eines Konzertpianisten gedrängt wurde, genoss Chopin eine ganz normale Kindheit. Im Herbst jenes Jahres streifte er die halbmilitärische Schuluniform, einen blauen, einreihigen Gehrock, dessen hoher Kragen mit einem weißen Streifen verziert war, über und trat wie ein ganz gewöhnlicher Schüler in die vierte Klasse des Warschauer Lyzeums ein.
Er war zwar kein besonders kräftiger Junge, aber beileibe auch nicht kränklich oder schüchtern, und er gehörte zu den beliebtesten Schülern in seiner Klasse. Natürlich und unbefangen wie er war, fand der »kleine Frycek« leicht Freunde. Er freundete sich mit älteren Jungen an, dem fünf Jahre älteren Jan Białobłocki etwa oder dem zwei Jahre älteren Tytus Woyciechowski, die eine väterlich anmutende, leicht fürsorgliche Beziehung zu ihm entwickelten. Aber gleichzeitig stand er auch im Mittelpunkt einer Bande aus lebhafteren Schülern seiner eigenen Klasse, der auch Dominik Dziewanowski, Julian Fontana und Jan Matuszyński angehörten.
Chopin verfügte über einen respektlosen Witz, einen scharfen Blick für alles Lächerliche und eine besondere parodistische Begabung. Er zeichnete bissige Karikaturen und imitierte spöttisch französisch sprechende Polen oder polnisch sprechende Ausländer. Er alberte auf dem Klavier herum, erfand musikalische Späße oder begleitete Geschichten mit seiner Musik. Aber vor allem sein parodistisches Talent verblüffte seine Mitmenschen. Er konnte nicht nur seinen Gesichtsausdruck, sondern seine gesamte Erscheinung verändern und war kaum wiederzuerkennen, wenn er einen der Lehrer des Lyzeums oder eine bekannte Persönlichkeit imitierte. Viele Jahre später würde der gefeierte französische Schauspieler Pierre Bocage über ihn sagen, dass Chopin sein Talent verschwendet habe, indem er Musiker wurde.
Doch obwohl Chopin keine Gelegenheit zu einem Spaß ausließ, lernte er fleißig, und im Juli 1824 erhielt er am Ende des Schuljahres zusammen mit Jan Matuszyński den Preis der vierten Klasse. Die eigentliche Belohnung jedoch war eine Einladung, den Sommer mit seinem Klassenkameraden Dominik Dziewanowski auf dem Land zu verbringen.
Abgesehen von den gelegentlichen kurzen Besuchen der Familie Chopin bei den Skarbeks in Żelazowa Wola war dies Chopins erste wirkliche Begegnung mit dem Leben auf dem Land. Szafarnia, das Gut der Familie Dziewanowski, lag nicht weit von Żelazowa Wola entfernt in der flachen Masowischen Tiefebene nordwestlich von Warschau, dem einzigen Teil des ländlichen Polen, den Chopin jemals näher kennenlernen sollte. Die Landgüter in dieser Region waren nicht reich, und das spiegelte sich auch in den Herrenhäusern wider. Das Gutshaus von Szafarnia ist nicht erhalten geblieben, aber wahrscheinlich bestand es wie alle vergleichbaren Gutshäuser aus Holz oder verputzten Ziegeln, ein lang gestreckter, niedriger Bau im klassischen Stil mit einem Säulenvorbau am Eingang. Diese Häuser waren von ihrer Konzeption her oft elegant, manchmal sogar prunkvoll, doch die Ausführung war mitunter recht schlicht. Das Gleiche galt für das Leben in ihrem Inneren, bei dem die Bequemlichkeit im Vordergrund stand; in einem eleganten Salon stand natürlich ein Klavier, aber es war keine Seltenheit, dass Gänse hinter dem Haus herumspazierten.
Ein Grund dafür, dass Chopin nach Szafarnia geschickt wurde, war zweifellos die Sorge um seine Gesundheit. Möglicherweise hatte er sich zu dem Zeitpunkt schon mit Tuberkulose angesteckt, und wenngleich ungewiss ist, ob diese Tatsache seinen Eltern bewusst war, sorgten sie sich doch ganz offensichtlich um seinen Zustand. Er wurde mit Medikamenten ausgerüstet und auf eine strenge Diät gesetzt: sechs, sieben Tassen Eichelkaffee pro Tag, verschiedene Kräutertees, Unmengen an Essen, etwas süßen Wein, sehr reifes Obst, aber - zu seinem großen Kummer - kein Brot.
Das konnte seine Freude jedoch nicht trüben, und aus den Briefen, die er nach Hause schickte, spricht die Begeisterung über all die neuen Erfahrungen. Die Bücher, die er aus Warschau mitgebracht hatte, wurden kaum geöffnet, und obwohl er viel Klavier spielte, komponierte er während seines Aufenthalts nur wenig. Die meiste Zeit verbrachte er draußen im Freien, wo er mit seinem Freund Dominik umherrannte, Kutschfahrten durch das Umland unternahm, ihren gemeinsamen Freund Jan Białobłocki besuchte, dessen Eltern ganz in der Nähe ebenfalls ein Landgut besaßen, und sogar ritt. »Frag nicht, ob gut«, schrieb er einem Freund in Warschau, »doch vermag ich es wenigstens in der Weise, dass das Pferd langsam hintrottet, wohin es ihm beliebt, während ich wie ein Affe auf einem Bären mit Schrecken darauf sitze. Bis jetzt bin ich noch nicht heruntergeflogen, weil mich das Pferd noch nicht abgeworfen hat …«2 Kaum verwunderlich, wurde das Tier doch von Dominiks Tante Ludwika Dziewanowska am Zügel geführt.
Die meisten seiner Briefe nach Hause schrieb Chopin in der Form und unter dem Titel des Szafarnischen Kuriers, einem Pastiche des Warschauer Kuriers, aus dem er die Rubriken »Inlandsnachrichten«, »Auslandsnachrichten« und »Gesellschaftsnachrichten« übernahm. Der gewohnte Zensurstempel wurde in diesem Fall von Fräulein Ludwika angebracht. Der Szafarnische Kurier sprüht vor Schülerwitz und enthält detaillierte Berichte über die Zahl der Fliegen, die sich auf seiner Nase niederließen, schalkhafte Beschreibungen der Kämpfe zwischen den Hoftieren, homerische Schilderungen der Streitigkeiten unter den Bediensteten und Aufzeichnungen über die Vergehen der Hauskatze. Ausführlich wird auch über das Kommen und Gehen der jüdischen Kaufleute berichtet, die einen allgegenwärtigen Bestandteil des Landlebens bildeten und die Chopin mit erwartbarem Spott behandelt. Aber der Szafarnische Kurier vermittelt auch einen Eindruck von seinem trockenen, überzeichnenden Humor und von seiner Neigung, sich selbst, den Pichon der Nachrichten, ins Lächerliche zu ziehen:
»Am 26. d. M. besuchte Monsieur Pichon das Dorf Golub. Neben weiteren Sehenswürdigkeiten und Wundern an diesem exotischen Ort erblickte er ein importiertes Schwein, das für eine ganze Weile die Aufmerksamkeit des vornehmen voyageurs fesselte.«3
»Monsieur Pichon leidet großen Verdruss wegen der Stechmücken, auf die er in Szafarnia in unvorstellbarer Zahl gestoßen ist. Sie stechen ihn am ganzen Körper, verschonen jedoch gnädigerweise seine Nase, die ansonsten noch größer werden würde, als sie bereits ist.«4
»Am 1. d. M. spielte Monsieur Pichon gerade den ›Juden‹ [eine kurz zuvor entstandene Mazurka, die auf der Melodie eines jüdischen Tanzes basierte], als Monsieur Dziewanowski einen seiner jüdischen Pächter, mit dem er Geschäftliches zu bereden hatte, um seine Meinung zum Spiel des jungen jüdischen Virtuosen bat. Moses trat ans Fenster, steckte seine Hakennase ins Zimmer und lauschte, worauf er erklärte, dass Monsieur Pichon, so er denn auf einer jüdischen Hochzeit spielen sollte, wenigstens zehn Taler verdienen würde. Diese Feststellung ermutigte Herrn Pichon, mit Eifer diese Form der Musik zu studieren, und wer weiß, ob er sich nicht eines Tages vollständig diesem Kunstzweig zuwenden wird.«5
Für den Vierzehnjährigen waren alle Aspekte des Landlebens neu und interessant, am meisten jedoch faszinierten ihn die ungewohnten Klänge. Die einzige Form volkstümlicher Musik, die er je gehört hatte, waren die Darbietungen von Volksliedern und -tänzen der Warschauer Straßenmusiker. Doch als er die Bauernmädchen ihre Lieder von Liebe und Leid singen hörte, den monotonen Gesang der alten Frauen auf den Feldern und die Trinklieder, die aus den Dorfschenken schallten, eröffnete sich ihm eine völlig neue musikalische Welt. Als er im September nach Warschau zurückkehrte, war sein Kopf angefüllt mit diesen neuen Harmonien.
Er hatte inzwischen eine solche Meisterschaft auf dem Klavier erlangt, dass die Polonaisen, die er komponierte, in technischer Hinsicht die von Ogiński, die ihm als Modell dienten, weit übertrafen. Mit der Polonaise As-Dur, die er 1821 komponiert und Żywny gewidmet hatte, war er dazu übergegangen, im sogenannten style brillant zu schreiben. Dieser Stil, mit dem ihn Würfel bekannt gemacht hatte und der das zeitgenössische Klavierrepertoire beherrschte, kam Chopins wachsender Faszination für die technischen Möglichkeiten des Klaviers entgegen. Der bekannteste Vertreter des brillanten Stils war Johann Nepomuk Hummel. Die Komponisten, die gleichzeitig auch hervorragende Klaviervirtuosen waren, wandten sich von der klassischen Schlichtheit und der klaren Struktur der vergangenen Epoche ab und experimentierten mit neuen Formen. Zahlreiche Ornamente und pianistische Figuren stellten die technische Brillanz des Virtuosen in den Vordergrund, und eine bis dahin undenkbare rhythmische Vielfalt brach den klassischen homogenen Verlauf der Stücke. Parallel dazu fand ein neuer Ausdruck voller Überschwang, gefühlvollem Schwelgen, aber auch mit humorvollen, ironischen Zügen Eingang in die Klaviermusik. Ziel des neuen Stils war es, das Publikum zu überraschen und in Erstaunen zu versetzen, die technische Brillanz wurde zum Selbstzweck.
Insofern ist auch die Polonaise As-Dur ein funkelndes Bravourstück, das eher dazu dient, die Virtuosität des Pianisten hervorzuheben, statt die Tiefen musikalischen Ausdrucks auszuloten. Gleichzeitig war Chopin aber immer noch auf der Suche nach dem Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Sprache der Musik, wobei er seinem eigenen Instinkt folgte und jede Gelegenheit nutzte, sein Wissen zu erweitern.
Großen Einfluss übte auch die neue italienische Musik auf ihn aus, deren bedeutendste Schöpfungen, die Opern von Spontini und Rossini, zu jener Zeit in Warschau sehr beliebt waren. Der größte Verfechter dieser Musikrichtung in Warschau war der Dirigent und Komponist Karol Kurpiński, der selbst mehrere Opern in einem vergleichbaren Stil komponiert hatte. Chopin war beeindruckt von der melodischen Brillanz und der »singenden« Qualität, die die italienischen Komponisten schufen, und er bemühte sich, etwas davon auch in sein eigenes Spiel einfließen zu lassen.
Mit vierzehn begann er zusätzlich zu den Polonaisen auch Walzer und Mazurken (»Mazurka« ist die französierte Form von »Mazur«, dem bekanntesten Tanz der masowischen Bauern) zu komponieren, häufig auch für mehrere Instrumente. Da keines dieser Werke bis heute erhalten blieb, ist jede ernsthafte Analyse seines Schaffens unmöglich, und die wichtigste Informationsquelle zu den Kompositionen jener Zeit ist das Stammbuch der Gräfin Izabela Grabowska, das glücklicherweise von einem Musikwissenschaftler beschrieben wurde, ehe es im Krieg verloren ging. Die Gräfin war eine Cousine von Fryderyk Skarbek und eine begeisterte Violinistin, und da sie nicht weit von der Wohnung der Familie Chopin entfernt lebte, verbrachte der junge Komponist viel Zeit mit ihr.
Die meisten Stücke in ihrem Stammbuch entstanden, vermutlich in Zusammenarbeit mit der Gräfin, um das Jahr 1824. Das Buch enthielt eine große Zahl von Klavierkompositionen und eine Reihe von Duos für Klavier und Geige. Dem Musikwissenschaftler zufolge, der es untersuchte, handelte es sich bei vielen dieser Stücke um wenig bemerkenswerte Imitationen von Hummels Stil, außerdem stellte er einen Mangel an Erfahrung und eine gewisse Unsauberkeit in der Ausarbeitung der Harmonien fest. Andererseits war er jedoch überrascht von der Zahl der Passagen, die große Originalität verrieten und Chopins reiferes Werk anzukündigen schienen.6
Chopin erweiterte seine Kenntnisse und Erfahrung, indem er an einer ganzen Reihe musikalischer Veranstaltungen teilnahm, die meisten davon Amateurkonzerte. Es gibt nur wenig Zeugnisse über diese Aktivitäten, aber wir wissen, dass er intensiv an der von Józef Jawurek organisierten Konzertreihe mitwirkte, einem Freund von Nicolas Chopin und Kantor der protestantischen Kirche in Warschau, einem prächtigen klassizistischen Rundbau mit einer guten Akustik. 1824 und 1825 nahm Chopin zusammen mit seiner Schwester Ludwika und Jan Białobłocki an Aufführungen von Haydns Schöpfung und Werken von Elsner teil, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch an anderen vergleichbaren Veranstaltungen beteiligt war.7
Im April 1825 bereitete sich die Hauptstadt auf einen offiziellen Besuch von Zar Alexander vor, und Chopin wurde von dem Warschauer Instrumentenbauer Brunner und dem Erfinder Professor Hoffmann ausgewählt, bei einem öffentlichen Konzert ihre neueste Schöpfung, das Äolomelodikon, zu präsentieren. Dabei handelte es sich um eine Art Miniaturorgel, und im Rahmen eines großen Instrumental- und Vokalkonzerts im Konservatorium spielte Chopin am 27. Mai darauf einen Auszug aus einem Klavierkonzert von Ignaz Moscheles und eine eigene Improvisation. Wie die Erfinder gehofft hatten, erregten sowohl das Instrument als auch das Spiel des Jungen ein solches Aufsehen, dass es dem Zaren zu Ohren kam und eine spezielle Aufführung für ihn organisiert wurde. Diese kaiserliche Galavorstellung fand in der protestantischen Kirche statt, und Chopin trug dazu seine vollständige Schuluniform aus blauem Gehrock, Kniehosen, Strümpfen, Schuhen mit silbernen Schnallen und weißen Handschuhen. Der Zar war so angetan von Chopins Darbietung, dass er ihn und die beiden Erbauer des Instruments mit Diamantringen beschenkte.8
In den gleichen Zeitraum fiel auch die erste kommerzielle Veröffentlichung eines seiner Werke, des Rondos c-Moll (op. 1), am 2. Juni 1825. Die Wohltätigkeitsgesellschaft hatte alle Künstler, die an dem Konzert Ende Mai mitgewirkt hatten, davon überzeugen können, ihren Auftritt am 10. Juni zu Wohltätigkeitszwecken zu wiederholen, und bei dieser Gelegenheit präsentierte Chopin das kürzlich veröffentlichte Rondo auf dem seltsamen Instrument und spielte anschließend eine ausgedehnte Improvisation, die ihm die erste Erwähnung in der Presse außerhalb Polens bescherte. Die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung berichtete, dass das Instrument »unter den Händen des talentvollen jungen Chopin, der sich durch einen Reichtum musikalischer Ideen in seinen freien Fantasien auszeichnet und ganz Herr dieses Instruments ist, großen Eindruck machte«.9
Da dem Jungen nur noch ein Monat bis zu seinen Jahresabschlussprüfungen blieb, musste er sich von nun an seinen Studien widmen - diesbezüglich waren die Gesetze der Familie Chopin trotz aller internationalen Anerkennung unumstößlich. »Heute muss ich lange sitzen, immer noch sitzen und vielleicht die ganze Nacht hindurch sitzen«, schrieb er seinem Freund Białobłocki, der inzwischen aufs Land zurückgekehrt war, und fügte in einem späteren Brief hinzu, dass er die Prüfung bestenfalls mit Ach und Krach bestehen werde.10 Schließlich wurde er doch wieder Klassenbester, zusammen mit seinem Freund Julian Fontana. Gleich am nächsten Tag eilte er los, um ein neues Paar Cordsamthosen zu kaufen, und stieg anschließend mit Ludwika Dziewanowska, die nach Warschau gekommen war, um ihn und Dominik abzuholen, in die Kutsche nach Szafarnia.
Der Sommer 1825 war so herrlich, dass Chopin kaum zum Klavierspielen kam. Er verbrachte seine Tage im Freien, wo er mit seinem Freund spazieren ging, ritt, jagte und gelegentlich längere Ausflüge mit der ganzen Familie unternahm. Sie besuchten verschiedene benachbarte Landgüter, schauten bei Jan Białobłocki vorbei, der an Tuberkulose erkrankt war, und fuhren einmal sogar nach Thorn. Chopin bewunderte die gotischen Kirchen der Stadt, deren Alter ihn beeindruckte, probierte den berühmten Lebkuchen und besichtigte das Haus, in dem Kopernikus geboren worden war. Er war entsetzt über den Zustand des Gebäudes und empörte sich darüber, dass in dem Zimmer, in dem der große Astronom zur Welt gekommen sei, »das Bett irgendeines Deutschen [stand], der mit Kartoffeln angegessen nicht selten dort wohl Zephire fahren lässt«.11
Den Höhepunkt des Sommers bildete das Erntedankfest, das Chopin ausführlich in einem Brief an seine Eltern beschreibt: »Wir saßen beim Abendbrot und aßen gerade das letzte Gericht, als sich von Weitem Chöre falscher Diskante vernehmen ließen, aus alten Weibern, die durch die Nase schnatterten, und aus jungen Mädchen, die unerbittlich mit der größeren Hälfte des Mundes einen halben Ton höher kreischten, begleitet von einer einzigen Geige, und zwar von einer mit nur drei Saiten, die sich nach jeder gesungenen Strophe von hinten mit einer Altstimme vernehmen ließ.«12 Die beiden Jungen standen vom Tisch auf und gingen hinaus, um den Bauern zuzusehen, die sich in einer Prozession dem Haus näherten, angeführt von vier Mädchen, die die traditionellen Kränze und Ährenbündel trugen. Als sie das Haus erreicht hatten, sangen die Schnitterinnen ein langes Lied, in dem jedem der Gutshausbewohner eine Strophe gewidmet war. Als Chopin an die Reihe kam, neckten sie ihn wegen seines schmächtigen Äußeren und seines Interesses an einem der Bauernmädchen.
Die Mädchen trugen die Ährenbündel ins Haus, wo sie von zwei Stallknechten, die sich mit vollen Eimern im Eingangsflur versteckt hatten, mit Wasser übergossen wurden. Wodkafässer wurden vor die Tür gerollt, Kerzen hinausgetragen, und der Geiger stimmte eine schwungvolle Mazurka an. Chopin eröffnete den Tanz mit einer jungen Cousine der Dziewanowskis und tanzte anschließend mit anderen Mädchen weiter. Dann übernahm er von einem der Bauern einen Kontrabass, der nur noch eine einzige Saite hatte, und begleitete den erlahmenden Fiedler. Die warme, sternenklare Nacht war schon weit vorangeschritten, als Chopin und Dominik ins Bett geschickt wurden und die Bauern zurück ins Dorf zogen, um dort ihr Zechgelage fortzusetzen. Der Abend machte großen Eindruck auf Chopin und hinterließ ein wehmütiges Gefühl. Seine Erinnerungen an das fröhliche Fest waren von einem Hauch Melancholie durchzogen. Vielleicht ahnte er, dass er nicht mehr oft solche sorglosen Ferien auf dem polnischen Land verbringen würde.
Als er im September nach Warschau zurückkehrte, begann für ihn das letzte Jahr auf dem Lyzeum. Sein Vater hatte ihm endlich ein eigenes Zimmer gegeben, damit er sich in Ruhe seinen Studien widmen konnte. Der Raum wurde fast vollständig von seinem Klavier ausgefüllt und war schon nach kurzer Zeit mit Notenblättern übersät, die sich auf Regalen, Stühlen und Schränken stapelten. Die neben Bach, Mozart und Hummel am häufigsten vertretenen Komponisten waren Friedrich Wilhelm Kalkbrenner, ein berühmter Pianist, der hauptsächlich für dieses Instrument komponierte, und Ferdinand Ries, ein Schüler Beethovens, der ebenfalls vorwiegend für das Klavier schrieb.
Das Musizieren nahm jede freie Minute in Anspruch. Er übernahm die Stelle des Organisten im Kloster der Schwestern von der Heimsuchung Mariens und spielte jeden Sonntag in den Gottesdiensten des Lyzeums und der Universität. Zusammen mit seiner Schwester Ludwika und anderen Freunden sang er im Chor der protestantischen Kirche. Auch hörte man ihn oft in den Salons von Warschau. Ein zeitgenössisches Tagebuch liefert die erste ausführlichere Schilderung seines Klavierspiels während einer Abendgesellschaft bei Teresa Kicka. Der Eintrag beschreibt, wie er, nachdem er mehrere Stücke gespielt hatte, zu ausgedehnten Improvisationen überging. In dieser Form des freien Spiels zeigte sich Chopin von seiner poetischsten und fantasievollsten Seite, und es faszinierte alle, die das Glück hatten, ihn dabei zu hören. Doch die Anstrengung schwächte ihn sichtlich, und je länger er spielte, desto blasser und erschöpfter wirkte er, sodass der Dichter Niemcewicz schließlich auf ihn zutrat und seine Hände von den Tasten nahm.13
Chopin war viel zu unternehmungslustig für seine schwache Konstitution. Während der Weihnachtssaison etwa ging er häufig in die Oper und besuchte Konzerte oder Feste, was dazu führte, dass er nur selten vor zwei Uhr morgens ins Bett kam. Er war unfähig, sich zu schonen, und musste überall dabei sein, wo Unterhaltung geboten wurde. In einem witzigen gereimten Bericht schilderte er einen Abend, an dem er die halbe Feier damit zubrachte, den anderen Gästen zum Tanz aufzuspielen, ehe er selbst zu tanzen begann, aber keine feierlichen Polonaisen oder Quadrillen, sondern schwungvolle Mazurken und andere Volkstänze, sodass er bei einem davon ausrutschte und zu Boden fiel, wobei er sich den Fuß vertrat.14 Anfang 1826 wurde er krank. Sein Hals und seine Mandeln waren entzündet, und er legte sich mit einer Schlafmütze auf dem Kopf und Blutegeln am Hals ins Bett.
Seine schulischen Leistungen scheinen weder unter der Krankheit noch unter seinem aktiven Lebenswandel oder der inzwischen eindrucksvollen Menge an Kompositionen gelitten zu haben. Am Ende seines letzten Schuljahres, im Juli 1826, bestand er erneut seine Prüfungen, diesmal mit einer lobenden Erwähnung, genau wie auch Tytus Woyciechowski und Jan Matuszyński. Die Belohnung dafür folgte am Tag nach den Prüfungen: ein Besuch in der Oper, wo er die neue Inszenierung von Rossinis Diebischer Elster sah. Doch einen Monat auf dem Land sollte es in diesem Sommer nicht geben.
Seine jüngere Schwester Emilia litt an Tuberkulose, und die Krankheit hatte ein kritisches Stadium erreicht. Ihre Eltern setzten ihre letzte Hoffnung in eine Kur in einem Heilbad, und ihre Wahl war auf Bad Reinertz in Schlesien gefallen. Chopin sollte ebenfalls mitfahren, denn man war der Ansicht, dass eine Kur auch ihm nur guttun könne, und so machte sich Justyna Ende Juli mit den beiden auf den Weg.
Das Leben in Bad Reinertz folgte einer strengen Routine. Um sechs Uhr morgens hatten sich die Chopins mit den anderen Kurgästen an der Quelle einzufinden, um das erste Glas Mineralwasser zu trinken. Später folgten dann Molke, die angeblich gut für die Lungen war, und weitere Gläser Mineralwasser, die in bestimmten Abständen über den Tag verteilt getrunken wurden. Ein pfeifendes Orchester spielte auf, während die Kurgäste in der Schlange standen und darauf warteten, dass ihr Glas gefüllt wurde, oder auf und ab gingen und an ihrem Wasser nippten. Für Chopin bestand die einzige Attraktion des Ortes in der umliegenden Landschaft: Er hatte noch nie etwas Aufregenderes gesehen als die flache masowische Ebene, und so war er beeindruckt von den Bergen, die rings um das Städtchen aufragten. Er ging häufig spazieren und schwärmte von den atemberaubenden Ausblicken, gleichzeitig war er deprimiert, weil er seine Empfindungen nicht in sein eigenes Medium übertragen konnte. »Dennoch fehlt mir etwas, was mir alle Schönheiten von Reinertz nicht ersetzen können«, schrieb er Elsner nach Warschau, »nämlich ein gutes Instrument. Stellen Sie sich vor, Monsieur, dass es hier nicht ein einziges gutes Klavier gibt.«15
Als jedoch ein Kurgast unerwartet starb und seine Kinder plötzlich als Waisen dastanden, bot Chopin ihnen seine Unterstützung an. Man besorgte ein Klavier, und er gab im Kurhaus ein Konzert, dessen Erlös ihnen zugutekam.16 Das Konzert wurde von den übrigen Gästen so begeistert aufgenommen, dass man ihn dazu überreden konnte, noch ein zweites Mal aufzutreten. Trotz des bescheidenen Rahmens bedeutete dieser Erfolg vor einem Publikum, das keine Ahnung hatte, wer er war, einen weiteren kleinen Ansporn für den Jungen. Darüber hinaus war er eine Waffe im Kampf gegen den Wunsch seines Vaters, dass er ein Studium an der Universität aufnehmen solle, statt das Konservatorium zu besuchen. Doch in Żywny und Elsner muss er überzeugende Verbündete gehabt haben, denn als Chopin nach Warschau zurückkehrte, war eine Entscheidung bezüglich seiner Zukunft gefallen. Es war ein Kompromiss: Er sollte sich am Konservatorium einschreiben und gleichzeitig auch einige Vorlesungen zu verschiedenen Themen an der Universität besuchen.
Das musikalische Genie
»Um neun gehe ich schlafen. Jegliche Tees, Abende, Bälle sind zum Teufel gejagt«, schrieb Chopin niedergeschlagen an Jan Białobłocki, nachdem er im Herbst 1926 mit dem Studium am Konservatorium begonnen hatte. Er hatte mit einer Serie kleinerer Beschwerden zu kämpfen, darunter Zahnschmerzen, Neuralgie und Verdauungsproblemen. »Ich trinke emetisches Wasser auf Anordnung von Malcz und futtere nur Haferschleim wie quasi ein Pferd.«1 Nicht gerade ein günstiger Start in sein hart erkämpftes Musikstudium.
Das 1821 gegründete Warschauer Konservatorium bot den Anfängern die Auswahl zwischen einer Reihe verschiedener Klassen. Das von Chopin gewählte Studium umfasste drei Jahre Musiktheorie und Kontrapunkt, in Letzterem sollten sich die Studenten mit praktischen Übungen befassen, etwa dem Komponieren von Messen und Oratorien zu polnischen und lateinischen Texten, Vokalkompositionen verschiedenster Art und Werken für Orchester und Kammermusik. Doch Chopin scheint sich von Beginn an einen eigenen Lehrplan zusammengestellt zu haben. Als er im September 1826 ins Konservatorium eintrat, besuchte er sechs Unterrichtseinheiten pro Woche im Fach Kontrapunkt bei Elsner und arbeitete die restliche Zeit über allein. Elsner war ein aufgeklärter Lehrer, der seine Rolle eher als die eines Ratgebers auffasste. »Kompositionsunterricht erteilen besteht nicht darin, dass man Regeln diktiert, insbesondere dann nicht, wenn man es mit Schülern von offensichtlicher Begabung zu tun hat«, erklärte er. »An diesen ist es, die Regeln selbst zu finden, um sie eines Tages durchbrechen zu können.«2 Der Unterricht bei Elsner war für Chopin von unschätzbarem Wert, auch wenn er selbst diese lockere Ausbildung oft schon als Belastung empfand. Seine Kompositionen zeigten kühne Einfälle, bewiesen eine reiche Klangvorstellung und gingen über die stilistischen Ideen seiner Zeit bereits deutlich hinaus. Von Natur aus besaß er ein Talent für schön klingende Melodien und brillante pianistische Figuren. Der Unterricht bei Elsner verschaffte ihm nun Einblick in den inneren Aufbau und die Logik von Musik, Prinzipien, denen er zeitlebens verpflichtet bleiben sollte. Stets überprüfte er seine Einfälle anhand dieser Kriterien, und seine Fantasie ging einher mit einer konsequenten Disziplin im Hinblick auf die Struktur seiner Kompositionen.
Dem Kompromiss entsprechend, den er mit seinem Vater geschlossen hatte, besuchte er auch Vorlesungen an der Universität. Obwohl ursprünglich vorgesehen gewesen war, dass er einem breiteren allgemeinbildenden Studium folgen sollte, schränkte er dies schon bald erheblich ein. Die einzige Vorlesung, die er ernsthaft besucht zu haben scheint, war die des Dichters Kazimierz Brodziński zur polnischen Literatur, die sich mit einer Vielfalt von Themen beschäftigte, von Ästhetik bis hin zur Folklore, die der Dichter in jener Zeit sammelte.3
Chopin war in eine Gesellschaft hineingeboren worden, die gerade im Begriff war, sich selbst neu zu erfinden: Das alte, durch die Adelsrepublik verkörperte Polen war gescheitert und am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zerschlagen worden, und die polnischen Patrioten, die entschlossen darauf hinarbeiteten, Polen als Staat wiederherzustellen, waren sich darüber im Klaren, dass sie erst ein neues Nationalverständnis schaffen mussten, auf das sich dieser Staat gründen konnte. Dazu war unter anderem eine kulturelle Neudefinition, ausgehend von einer Neubewertung der Vergangenheit, erforderlich, und auch die breite Masse der einfachen Leute musste in das nationale Projekt einbezogen werden. Bewusst oder unbewusst tat Chopin in seiner Musik genau das Gleiche, indem er auf der einen Seite den Kern der alten ritterlichen Ideale herauskristallisierte und auf der anderen Seite tief in die Seele der Volkskultur eintauchte und dadurch eine neue nationale Sprache schuf, die von allen unmittelbar verstanden wurde. Dadurch verkörperte er geradezu perfekt den Zeitgeist seiner Generation. Und doch gab es zwischen ihm und seinen Altersgenossen einige grundlegende Unterschiede.
In Anbetracht des Stellenwerts von Bildung und vor allem von Literatur in der Familie Chopin - seine Schwestern Ludwika und Emilia hatten Gedichte und sogar einen gemeinsam verfassten Roman für Kinder veröffentlicht - muss Chopin zwangsläufig bewusst gewesen sein, dass seine Generation Literaturgeschichte schrieb. Trotzdem ging ihm ein tieferes Verständnis für die zeitgenössischen Schriftsteller vollkommen ab. Er vertonte einige Gedichte des führenden Romantikers Adam Mickiewicz und auch Werke seines Freundes, des weit weniger bedeutenden Dichters Stefan Witwicki, aber er betrachtete das Leben viel zu nüchtern, um jene Exaltiertheit nachempfinden zu können, die die romantische Bewegung schätzte. Er sah sich selbst als Handwerker und strebte ausschließlich danach, größere Fertigkeiten und ein umfassenderes Wissen in der von ihm gewählten Kunst zu erlangen.
Und selbst innerhalb dieser Kunst, der Musik, blieb Chopin auffallend unberührt von zeitgenössischen Moden. Seine Verehrung für Bach hielt unvermindert an - mehr als zehn Jahre später konnte er sich immer noch ans Klavier setzen und alle Präludien und Fugen aus dem Gedächtnis spielen. »So etwas vergisst man nie!«, erklärte er.4 Je mehr er über die Musiktheorie lernte, desto größer wurde sein Respekt vor Haydn, den er wegen seiner »Erfahrung« schätzte, und vor Mozart, der zu seinem Gott wurde.5 Die einzige moderne Musik, für die er sich begeistern konnte, war die italienische Schule. Elsner hingegen verabscheute diese Richtung und brachte ihm die Musik von Hummel, Ignaz Moscheles und dem Iren John Field näher, die man schwerlich als Vertreter der romantischen Bewegung bezeichnen kann.
Chopins Einstellung zum Leben war weit entfernt vom Geist seiner Generation. Kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag machte er erstmals nähere Bekanntschaft mit dem Tod, als seine vierzehnjährige Schwester Emilia vor seinen Augen an Schwindsucht starb. Er war zutiefst erschüttert. Aber während die meisten seiner Zeitgenossen ihrer Trauer und ihren Emotionen freien Lauf gelassen hätten, schwelgte er nicht in seinem Schmerz - er verschloss ihn in einem Winkel seines Geistes, wo er ihn im Stillen immer wieder aufsuchen konnte.
Das Werk ist 2010 unter dem Titel »Chopin, Prince of the Romantics« bei HarperPress, einem Imprint von HarperCollins, London, erschienen.
Die Übersetzung wurde gefördert durch das ©POLAND Translation Program.
1. Auflage © der deutschen Erstausgabe 2010 by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH © der Originalausgabe 2010 by Adam Zamoyski
eISBN : 978-3-641-04619-4
www.edition-elke-heidenreich.de
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