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Aktionspreis! - gültig bis 31. Mai 2020 In unserer globalisierten Welt kommen Menschen unterschiedlicher Herkunft täglich miteinander in Berührung. Für ein friedliches Zusammenleben auf Augenhöhe ist ein besseres Kennenlernen der jeweiligen Kulturen und Religionen unerlässlich. Dies bedeutet für beide Seiten eine Herausforderung, bietet aber im Besonderen gläubigen Menschen auch die Chance, die jeweils eigene Religion tiefer zu reflektieren, sowie der säkularen Gesellschaft die Möglichkeit, sich neu mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen. Der Theologe Matthias Beck skizziert die Hintergründe europäischer Werte und stellt die Grundfesten des christlichen Glaubens dar. Fragen zum Menschen- und Gottesbild sowie zum interreligiösen Dialog laden zum vertiefenden Nachdenken ein. Ein Buch für Christen, die Argumente für ihren Glauben suchen, aber ebenso für Menschen aus anderen Kulturen und Religionen, die sich über die zentralen Aussagen des Christentums informieren wollen.
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Seitenzahl: 184
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Matthias Beck
Christ sein
Was ist das?
Glauben auf den Punkt gebracht
Cover
Titel
Vorwort
SCHLAGLICHTER – Eine kurze Gegenwartsanalyse
1. Worum geht es?
2. Braucht der Mensch Religion?
3. Die „Werte“ Europas
Was ist Ethik?
Die Frage nach dem Glück
Zum Begriff der Menschenwürde
4. Judentum und Christentum
CHRISTENTUM – Zentrale Inhalte
1. Erster Zugang
2. Die Zwei-Naturen-Lehre Jesu
3. Trinität – die Dreifaltigkeit Gottes
Dreifaltigkeit vor Erschaffung der Welt
Dreifaltigkeit in der Welt
4. Was ist christliche Spiritualität?
Unterscheidung der Geister – erster Zugang
Unterscheidung der Geister – konkret
Die inneren Stimmungen im Menschen
5. Die Freiheit des Menschen
6. Erlösung
Erlösung durch das Kreuz?
Auferstehung
7. Das Leid in der Welt
8. Maria
9. Sakramente als Symbole der Integration
Taufe
Kommunion – Eucharistie
Firmung
Beichte – Sünde und Schuld
Krankensalbung
Ehe
Priesterweihe
CHRISTENTUM – Alltag und Wissenschaften
1. Christentum und die Reifung des Menschen
Geburt – Kindheit – Pubertät
Lebensmitte und Alter
2. Wie treffe ich eine gute Entscheidung?
Hinführung
Was behindert eine gute Entscheidung?
Was macht eine gute Entscheidung aus?
3. Christentum und Psychologie
4. Christentum und Medizin
5. Christentum und Naturwissenschaft
6. Christentum und Bildung
Allgemeines
Sachverstand und Empathiefähigkeit
Spiritualität und Ethik
7. Christentum und Politik
8. Christentum und Wirtschaft
9. Christentum und interreligiöser Dialog
Resümee
Anmerkungen
Literatur
Weitere Bücher
Impressum
Demokratieverdrossenheit, der Austritt der Briten aus der Europäischen Union, Terroranschläge, die Flüchtlingsproblematik, ungerechte Ressourcenverteilung, wirtschaftliche Probleme, Bankenkrisen, Armut, Arbeitslosigkeit, Orientierungsnot, Überforderung vieler Jugendlicher, Fragen der Bildung, Säkularisierungsprozesse und die Integration von Migranten lassen Europa nicht zur Ruhe kommen. Mehr noch, sie stellen den Kontinent und seine Bürger vor die Aufgabe, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Gerade das bei vielen Menschen gegenwärtig vorhandene Gefühl der Bedrohung durch den Islam fordert heraus, sich der eigenen Wurzeln zu besinnen. Manche Menschen haben Angst vor einer „Islamisierung“ Europas. Andersherum fragen Muslime, was das Christentum eigentlich ist. Vielfach bekommen sie darauf kaum Antworten. Christen wissen oft wenig über ihre eigene Religion.
Es gilt, ein neues Bewusstsein dafür zu entwickeln, aus welcher Tradition heraus die Werte einer freiheitlichen Demokratie gewachsen sind. Es besteht die Gefahr, dass der Europäischen Union das geistige Fundament der errungenen demokratischen Werte langsam abhandenkommt. Die Wirtschaft allein kann diese Grundwerte nicht aufrechterhalten. Auch die Rechtssysteme können dies nur bis zu einem gewissen Grad leisten und eine Wirtschaftsgemeinschaft allein genügt nicht als Grundlage. Zum Erhalten des Errungenen bedarf es eines tieferen Verständnisses der geistigen Hintergründe Europas. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“,1 heißt es bei Goethe. Der letzte Grund der Werte muss immer neu erschlossen werden, sonst geht das Erworbene langsam verloren.
Immer mehr Menschen stellen sich die Frage nach einem einheitlichen Wertesystem unseres Kontinents. Gleichzeitig suchen sie über eine allgemeine Ethik hinaus nach persönlicher Orientierung, Lebenssinn und Spiritualität. Orientierungslosigkeit, Unübersichtlichkeit, Pluralismus der Meinungen und die allgemeine Beliebigkeit führen dazu, dass viele wieder nach dem „starken Mann“ rufen, der Ordnung schafft.
Das Christentum ist in der Krise, zumindest in Europa. Viele Menschen haben die Kirchen verlassen, nicht wenige sagen, dass es ohne Religionen friedlicher sei, und der Dalai Lama hält Ethik für wichtiger als Religion.2 Allerdings zitiert er oft die Bergpredigt aus dem Neuen Testament und dort ist von Gewaltverzicht (Mt 5,5) und Feindesliebe (Mt 5, 43–48) die Rede. Etliche Menschen wissen gar nicht mehr, was das Christentum ist, und es interessiert sie auch nicht. Kaum jemand erhofft sich Antworten aus dem Christentum für das eigene Leben. Man spricht nicht darüber oder schämt sich, ein Christ zu sein. Und doch sind viele auf der Suche nach Spiritualität und Ethik. Das vorliegende Buch versucht diese Lücke zu schließen, das heißt eine Verbindung zwischen Ethik und christlicher Spiritualität herauszuarbeiten und in kurzen Skizzen darzustellen, was das Christentum in seinem Zentrum darstellt. Es soll für den Alltag taugen und gegenüber der säkularen Welt einen Mehrwert darstellen.
Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern der Versuch einer komprimierten Zusammenfassung der wichtigsten Glaubensinhalte des Christentums. Natürlich kann das Buch nicht der ganzen Komplexität des christlichen Glaubens gerecht werden. Aber es will die zentralen Aussagen herausstellen und Anregungen geben, wie der Einzelne weiterdenken und die Inhalte für den Alltag fruchtbar machen kann. Insofern hat es eher eine praktische Ausrichtung.
Jeder Leser hat seine eigenen Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Den einen interessiert er gar nicht. Der andere mag alles schon kennen und das tiefere Eindringen in die Glaubensinhalte vermissen. Ein Weiterer hat mit der Kirche abgeschlossen, sie ist ihm fremd geworden und hat ihm vielleicht sogar Verletzungen zugefügt. Ein Vierter befindet sich in solch einer Krise, dass ihm das alles zu fern und abgehoben erscheint. Der Nächste fühlt sich vielleicht intellektuell unterfordert. Manch einer wird sagen: Das Buch ist fragmenthaft. Ja, das ist es. Es ist nur eine Bauanleitung, das Haus muss jeder selbst bauen. Der rote Faden ist die Reflexion über das Christentum in seiner Auswirkung auf den Menschen und den Staat. Vielleicht kann der Einzelne im Buch Passagen finden, die ihn ansprechen und seine Sehnsucht wecken. Womöglich kann es helfen, sich einzulassen auf die tiefe und revolutionäre Botschaft des Christentums. Sie ist einfach und klar. Sie ist für jeden Menschen da.
Eine kurze Gegenwartsanalyse
Wenn über Europa gesprochen wird, geht es immer um die Menschen, die dort leben. Vom Gelingen ihres Lebens hängt auch das Gelingen der Staaten und Kontinente ab. Daher wird im Buch nicht über Politik gesprochen, sondern über das menschliche Leben. Es wird über die innere Befreiung des Menschen gesprochen, über persönliche Selbstwerdung, Reifung durch Lebenskrisen hindurch, das Finden der eigenen Berufung. Es wird aber auch reflektiert über die äußere Freiheit mit den Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten. Die innere und äußere Befreiung von Unterdrückung hat wiederum mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild zu tun.
Es wird über das Christentum nachgedacht, das mit seinem dreifaltigen Gottesbild Pluralität und Polarität in sich vereinigt. Es zeigt die Freiheit Gottes, die sich im Menschen und in der Gesellschaft als innere und äußere Befreiung erweisen sollte. Es wird ein Christentum beschrieben, das den Menschen zu seinem tiefsten Wesen führen will und damit für das Leben etwas „bringt“. Es wird über Grundwerte wie Nächstenliebe und Feindesliebe gesprochen, die auch die Sorge um den Armen, Kranken und Gefangenen beinhaltet. Es wird ein Christentum dargestellt, das aufgrund seines Aufrufs zur Selbstreflexion zur Säkularisierung neigt, das die Errungenschaft der Trennung von Kirche und Staat aufweisen kann und eine gute Grundlage für die moderne Demokratie darstellt.
Ohne diese Grundlagen, die zunächst in jedem Menschen selbst zu legen sind und dann in den Strukturen der Gesellschaft, werden weder die einzelnen Staaten Europas noch Europa als Ganzes auf Dauer zusammenhalten. Die Einheit kommt aus dem Geist, nicht aus der Materie. Aber auch das Christentum selbst braucht eine Vertiefung des Geistes im Sinne einer Re-Spiritualisierung, die dem Menschen den Sinn des Christentums für den Alltag erschließt. Spirituelle und intellektuelle „Nachrüstung“ ist gefordert. Diese Grundlage ist auch notwendig, um mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen. Dazu sollte man die eigenen Grundlagen kennen.
Im ersten Kapitel geht es um eine kurze philosophische Reflexion, aus welchen Quellen sich das Wertesystem Europas speist. Im zweiten großen Kapitel werden zentrale Inhalte des Christentums in seiner menschenprägenden Kraft dargestellt. Schließlich wird in einem dritten Kapitel erläutert, was das Christentum dem Einzelnen für sein konkretes Leben „bringt“ und wie sein Verhältnis zu den Wissenschaften ist. So ist der Weg des Buches ein Dreischritt: Zunächst wird die aktuelle Lage der gewordenen Wertüberzeugungen dargestellt, dann das Thema zu den Grundfragen des Seins vertieft, um von da aus verändert wieder aufzutauchen in den Alltag.
In der heutigen pluralistischen Gesellschaft geht es vor allem um die geistigen Auseinandersetzungen zwischen den Menschen. Wenn die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Arbeit einigermaßen gestillt sind, geht es um den geistigen Dialog der Kulturen. Wie sich zeigt, ist Religion keine Privatsache, sondern zum Teil höchst politisch. Menschen werden durch Religionen geprägt und prägen ihrerseits Gesellschaften. Der Frieden zwischen den Menschen und den Religionen kann nur gewahrt werden, wenn Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Religionen benannt werden. So ist es notwendig, bereits in den Schulen über unterschiedliche Grundwerte, religiöse Hintergründe sowie Grundstrukturen der Demokratie zu sprechen. Frühzeitig sollten Reflexionsprozesse über Menschenbilder, Gottesbilder, Normen, ethische Tugenden eingeleitet werden. Autoritätsargumente wie „Gott will das so“ oder „Das ist der Wille Allahs“ haben in einer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz. Das theologische Argument muss – soweit möglich – philosophisch durchreflektiert und vernünftig begründet werden.3
Für das Christentum waren dazu Einflüsse von außen hilfreich. Im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Renaissance waren es die kosmologischen Entdeckungen des Nikolaus Kopernikus, die eine Hinwendung zum heliozentrischen Weltbild herbeiführten. Dieses besagt, dass die Sonne als Lichtquelle im Mittelpunkt des Sonnensystems steht und nicht die dunkle Erde. Das hat auch theologisch mit der Lehre von Christus als dem Licht der Welt sehr viel mehr Sinn gemacht als jene von der dunklen Erde im Mittelpunkt. Die deutsche Aufklärung appellierte an die Vernunft des Menschen und rief ihn auf, sich aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien (Immanuel Kant). Auch das entspricht der Vernunftstruktur des Christentums. Die Französische Revolution, wiewohl sie blutig verlief, trat für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein. Auch dies sind christliche Werte. Da die Kirche nicht immer ihre eigenen Werte verwirklicht hat, waren Inspirationen von außen für die Fortentwicklung des Christentums von großer Bedeutung.
Wie eingangs erwähnt, glauben manche Menschen, Ethik sei wichtiger als Religion, da religiöse Überzeugungen oft zu Aggressionen führten. Es wird gesagt, monotheistische Religionen neigten wegen ihres Absolutheitsanspruches zur Gewalt. Umgekehrt ist vermerkt worden, der Mensch brauche Religion, da er sonst mit dem Leben nicht zurechtkomme. Er schaffe sich Götter als Erklärung für das Unerklärliche, die er dann anbeten und gnädig stimmen könne.4 Hier soll es um etwas anderes gehen, nämlich um die Frage, ob der Mensch nicht „von Haus aus“ schon auf das Absolute ausgerichtet ist.
Offensichtlich steht der Mensch als Wesen des Geistes immer schon im Raum des Absoluten. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hat formuliert, dass der Mensch das Relative überhaupt nur als relativ erkennen könne, weil er immer schon im Raum des Absoluten stehe. Stünde er nicht in diesem Raum des Absoluten, könnte er das Relative nicht als relativ und das Endliche nicht als endlich erkennen. Dieses Absolute zeigt sich indirekt als „Hintergrund“ und Horizont, der in allem ganz still „da“ ist. Es ist der Horizont des Seins.
Etwas konkreter: Überall dort, wo der Mensch nach Wahrheit sucht oder die Lüge als Abweichung von der Wahrheit erkennt, hat er eine Ahnung von Wahrheit. Dort, wo er etwas als ungerecht bezeichnet, hat er eine Ahnung von Gerechtigkeit, ohne diese womöglich genau definieren zu können. Wo er Unglück als Unglück wahrnimmt, hat er eine Ahnung von Glück. Er spürt auch, dass in der irdischen Welt in allem ein Zuwenig ist. Er will über die Welt hinauswachsen. Im Sport heißt es: höher, schneller, weiter! Er will auch mehr als das irdische Glück, da dieses immer wieder entschwindet. „Alle Lust will Ewigkeit“, heißt es im „Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche (1844–1900). Und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) lässt seinen „Faust“ ebenfalls nach einer tieferen Erkenntnis streben: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“5
Die Sehnsucht des Menschen geht über das Endlich-Relative hinaus. „Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen“, heißt es bei Blaise Pascal (1623–1662).6 Selbst der Rauschgiftsüchtige sucht etwas, was sein innerweltliches Erleben übersteigt. Allerdings findet er auf Dauer nicht das Absolute und das Glück, sondern das Endliche und Tötende. In mancher Suche nach dem besonderen „Kick“ steckt eine richtige Sehnsucht nach dem „Mehr“. Wenn aber die falschen Mittel angewendet werden, zeigt sich nicht das Große, sondern der Untergang.
Das Stehen im Raum des Absoluten und die Suche nach dem ganz anderen gehört zum Wesen des Menschen. Es abzuschneiden hieße, ihn nicht in seiner Ganzheit zu erfassen. Dieses Absolute kann es-haft sein wie ein Schicksal, a-personal wie vielfach in Asien, aber auch ganz explizit Du-haft wie in den monotheistischen Religionen. Aus deren Sicht hat das Absolute die Gestalt eines personalen Gegenübers. Dieses nennen die Juden Jahwe, die Christen Gott und die Muslime Allah. Ob es ein und derselbe Gott ist, bleibt zu hinterfragen, zumindest haben die Religionen unterschiedliche Gottesbilder.
Wenn es diesen Gott „gibt“, stellt sich die Frage, ob es sich um einen fernen Gott handelt, von dem man sich kein Bild machen und dessen Namen man nicht nennen darf, oder um einen nahen Gott, der mit dem Menschen nahezu auf Augenhöhe kommunizieren will. Ist es ein jenseitiger Gott, dem man sich blind unterwerfen muss, ohne ihn zu kennen, oder ist es ein gütiger, liebender und barmherziger Gott, den der Mensch kennenlernen kann? Ist er ein strenger Richter, der den Menschen beobachtet, klein macht und aburteilt, oder ein Gott, der den Menschen groß machen und zum Leben verhelfen will. Wenn der Mensch sich auf diesen Gott einlassen will, sollte er ungefähr wissen, welche „Eigenschaften“ er hat. Bevor auf diese Fragen eingegangen wird, sollen zunächst einige philosophische Fragen zum Leben beantwortet werden.
Europa hat sich durch eine lange Geschichte hindurch mit Kaiser- und Königreichen, mit Diktaturen und Kriegen, mit Vernichtung und Neuaufbau langsam durchgekämpft zu einigermaßen stabilen Demokratien, die allerdings in Osteuropa noch relativ jung sind und erst seit 1989 anfangen zu wachsen. Allerdings sind in manchen Teilen (zum Beispiel in der ehemaligen DDR) infolge des Kommunismus keine christlichen Grundwerte vermittelt worden. Der Wertekanon der europäischen Demokratien beruht meist auf den Vorstellungen der Menschenwürde und den daraus abgeleiteten Menschenrechten, der Gewaltenteilung im Staat mit Legislative, Exekutive und Judikative, der Presse- und Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Wahlfreiheit, dem Demonstrationsrecht. Auch die Werte der katholischen Soziallehre wie Personalität, Solidarität und Subsidiarität finden Berücksichtigung, ebenfalls jene von der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Trennung von Kirche und Staat sowie die Verpflichtung zur Hilfeleistung und zur Unterstützung der Armen, Kranken, Gefangenen. Viele von diesen Werten gehen auf christliche Grundüberzeugungen zurück.
Alle Menschen haben durch ihre Eltern, ihre Kultur und ihre Umgebung eine bestimmte Moral gelernt. Man schlägt einander nicht ins Gesicht, man sagt „Guten Tag“ und geht fair miteinander um. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu“, lautet die sogenannte „Goldene Regel“, die in vielen Kulturen Geltung hat. So gibt es für den Alltag Verhaltensregeln. Über diese Handlungsweisen kann man nachdenken und fragen, warum wir so handeln und nicht anders. Die Ethik ist der philosophisch-theologische Bereich, in dem darüber nachgedacht wird. Ethik ist die wissenschaftliche Reflexion auf gelebte Moral, so eine Kurzdefinition.
In jeder Ethik steckt eine bestimmte Auffassung vom Menschen. Wenn von Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen die Rede ist, hängt dies mit einem bestimmten Menschenbild zusammen. Wenn von Nächstenliebe oder Feindesliebe gesprochen wird und davon, auch dem Armen, Bedürftigen und in Not Geratenen zu helfen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter –, hat dies ebenfalls mit einem bestimmten Menschenbild zu tun. Auch der von Immanuel Kant (1724–1804) entwickelte „kategorische Imperativ“ mit dem Begriff der Menschenwürde hat ein solches Menschenbild im Hintergrund. Kant war der Meinung, dass eine Ethik universal gültig sein müsse und nicht haltmachen dürfe bei der eigenen Bevölkerung, Nationalität oder Religion.
Vor allem zwei Begriffe sind im Kontext von Ethik bedeutsam: Ethos und Aethos. Ethos ist die Sitte und bezeichnet eher das, was Gesellschaften betrifft und durch Normen sowie Gesetze zu regeln ist. Aethos wiederum meint den Charakter des Menschen. Hier geht es um innere Haltungen. Der Charakter bildet sich durch das tägliche Handeln: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, ein Charakter sich im Strom der Welt“,7 heißt es bei Goethe. Ein gerechter Mensch wird man, indem man immer wieder gerecht handelt, hat schon Aristoteles (384–322v.Chr.) sinngemäß formuliert. Diese inneren Haltungen werden auch als Tugenden bezeichnet. Tugend ist ein etwas veraltetes Wort, es hat mit Tauglichkeit zu tun. Ethik soll für das eigene Leben taugen, aber auch für das der anderen und der Gemeinschaft. Ethik ist für den Menschen da, damit sein Leben gelingt, aber auch für Gesellschaften, damit sie funktionieren. So gibt es philosophische Ethiken, die rein mit der Vernunft erarbeitet werden können, und theologische Ethiken, die religiöse Hintergründe mitberücksichtigen.
Ethik vollzieht sich im Alltag. Die Entscheidung, dieses Buch zu lesen, ist auch eine ethische Entscheidung. Wenn ein Anruf käme, dass ein geliebter Mensch im Sterben läge, würde wahrscheinlich jeder das Buch beiseitelegen und dorthin eilen. Wenn etwas Wichtigeres an die Stelle tritt, wird eine neue Entscheidung getroffen. Ethik hat mit Güterabwägungen und Entscheidungen zu tun. Auch Lesen und Schreiben zu lernen ist eine ethische Entscheidung. Ohne dieses Vermögen kann man nur wenige Berufe ergreifen und verliert an Wahlmöglichkeiten.
Der Mensch muss sich ständig entscheiden und dafür braucht er Kriterien. Dieses Entscheiden-Müssen hat Jean-Paul Sartre (1905–1980) zu der Einsicht gebracht, dass der Mensch zur Freiheit verdammt sei. Er hat zur Freiheit selbst keine Wahl, er muss immer wieder neu entscheiden. Auch wenn er nicht entscheidet, entscheidet er. Woran soll der Einzelne sich dabei orientieren? An anderen Menschen, an der eigenen Intuition, an der Religion, an einer säkularen Ethik? Das immer wieder neue Finden einer guten und richtigen Entscheidung ist ein zentraler Punkt für ein gelingendes Leben.
Die erste ethische Entscheidung, die unser Leben betrifft, haben andere für uns getroffen: Die Eltern haben uns gezeugt. Keiner ist gefragt worden, ob er leben will. Der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) hat es so formuliert, dass der Mensch ein ins Leben Hineingeworfener sei. Religiöse Menschen würden eher sagen, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist. Aber viele können mit dieser Formulierung nichts mehr anfangen. So kommt der Mensch fremdbestimmt auf die Welt und muss sich dann immer mehr zum eigenen einmaligen Leben durchringen. Er sucht nach der Schule nach einer richtigen Ausbildung, einem guten Beruf, einer eigenen Familie. Manchen Menschen genügen diese Lebensinhalte, andere fragen tiefer nach dem Sinn des eigenen Lebens und nach dem Weg zum Glück. Aristoteles ist dieser Frage nach dem Glück in seiner „Nikomachischen Ethik“ nachgegangen. Er fragt darin, wonach Menschen im Tiefsten ihres Herzens streben, und kommt zu dem Ergebnis, dass sie glücklich werden wollen. Was aber heißt das? Wie findet der Einzelne den Weg zum Glück?
Jeder Mensch muss täglich Entscheidungen treffen. Dazu braucht er Kriterien, äußere Normen und innere Haltungen. Den inneren Haltungen hat sich Aristoteles zugewendet. Er entwickelte seine „Nikomachische Ethik“ in einer Krisenzeit des Staates. Krise kommt vom Griechischen krinein und bedeutet „unterscheiden/entscheiden“. Der Mensch muss unterscheiden lernen, was zu tun ist.
Wenn Aristoteles – wie erwähnt – der Meinung war, dass Menschen glücklich werden wollen, und niemand will, dass sein Leben misslingt, stellt sich die Frage, wie der Weg dorthin zu finden ist. Glück kann man nicht machen, Glück stellt sich ein. Einen schwachen Stern kann man nur sehen, wenn man ihn nicht direkt fixiert. So kann man auch das Glück nicht direkt anzielen. Es stellt sich ein, wenn man „richtig“ lebt. Was aber ist das richtige Leben? Das griechische Wort für Glück heißt Eudaimonia. Eu heißt „gut“ und daimon ist der Geist. Also frei übersetzt: Das Glück findet der Mensch, wenn er dem guten Geist folgt. Was aber ist dieser gute Geist? Aristoteles gibt darauf eine erste Antwort: Glück kann sich einstellen, wenn der Mensch tugendhaft lebt. Tugenden sind tauglich zur Lebensbewältigung. Der Mensch auf dem Weg zum Glück soll vier Tugenden verwirklichen: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß.
Klugheit heißt zunächst, dass der Mensch all das, was er tut und entscheidet, im Blick auf das Ende bedenken soll: quidquid agis prudenter agas et respice finem8 (Was immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende). Selbst wenn man den Lauf der Dinge nicht voraussehen kann, gibt es doch Kriterien für kluge Entscheidungen. Gerade im Bereich der Politik und der Wirtschaft besteht die Gefahr, zu kurzfristig zu denken. Der Kluge denkt langfristig. Ein kleiner Gedankenfehler am Anfang kann zu einer Katastrophe am Ende führen, so hat es Thomas von Aquin (um 1225–1274) sinngemäß formuliert.
Ignatius von Loyola (1491–1556) hat dazu im ausgehenden Mittelalter eine wichtige Entscheidungsformel entwickelt. Wenn du heute eine wichtige Entscheidung zu treffen hast, dann versetze dich in die Stunde deines Todes und überlege, wie du aus der Perspektive des Lebensendes die heutige Entscheidung hättest treffen wollen. „Als wäre ich in der Todesstunde, bedenke ich die Form und das Maß, das ich dann hinsichtlich der jetzigen Wahl wünschte eingehalten zu haben; und danach richte ich mich und treffe im Ganzen meine Entscheidung.“9 Dahinter steht ein bestimmtes Menschenbild, dass jeder Mensch einmal Rechenschaft ablegen muss über sein Leben. Der Mensch weiß zwar nicht, was in den nächsten zehn Minuten geschieht, aber es gibt doch Anhaltspunkte, in welche Richtung sich das Leben entwickeln sollte. Dazu ein Beispiel: Wenn jemand immer nur viel Geld verdienen will, aber dabei seine menschlichen Beziehungen ruiniert, ist das langfristig nicht segensreich. Spätestens auf dem Sterbebett kommen all diese Fragen hoch und es fragt sich, was am Ende bleibt. Untersuchungen sagen: vor allem gute menschliche Beziehungen. Man könnte auch sagen: Am Ende bleibt nur die Liebe. So schaut der Kluge auf das Ganze.
Die Gerechtigkeit hat mehrere Aspekte: Es geht zum einen um eine Sachgerechtigkeit, die sich auf die angemessene Kenntnis dessen bezieht, was zu bearbeiten ist. Der Mensch muss mit seinen Entscheidungen dem Sachstand gerecht werden. Dann gibt es die Tauschgerechtigkeit, die darauf abzielt, faire Geschäfte zu tätigen und den anderen nicht zu übervorteilen. Hinzu kommt die Verteilungsgerechtigkeit, welche eine gerechte Verteilung endlicher Güter im Auge hat. Schließlich gibt es eine personenbezogene Gerechtigkeit, die darin besteht, dem einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Situation gerecht zu werden. Man soll in dem Sinne „jedem das Seine“ geben, suum cuique. Dabei ist Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.
Alle Menschen haben dieselbe Menschenwürde und sind von daher auch vor dem Gesetz gleich, und doch ist ein Kind anders zu behandeln als ein Erwachsener. Außerdem sind bei ähnlichen Biografien die Umstände einer konkreten Situation unterschiedlich. Deshalb gilt es oft um der größeren Gerechtigkeit willen besondere Einzelfallentscheidungen zu treffen. Dies nennt die Tradition von Aristoteles her Epikie.