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Sigrid Damms Recherche Christiane und Goethe ist die erste authentische Lebensgeschichte Christianes und ihrer Partnerschaft mit Goethe, die über achtundzwanzig Jahre währte – »spannend wie ein Roman und doch in allen Einzelheiten verbürgt« (Andreas Nentwich, Neue Zürcher Zeitung).
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Seitenzahl: 834
Die Erzählerin Sigrid Damm hat mit jedem Buch neu ihre einzigartige Kunst des genauen Beobachtens und präzisen Aufarbeitens von Alltagsdetails unter Beweis gestellt. Ihre Recherche Christiane und Goethe – die erste authentische Lebensgeschichte von Goethes Frau und ihrer Partnerschaft mit Goethe in den Jahren 1788 bis 1816 – ist Sigrid Damms bislang erfolgreichstes Buch: Es stand mehr als zwei Jahre auf allen Bestsellerlisten, dabei über mehrere Monate auf Platz 1, und es war das bei weitem erfolgreichste der 1999 zum 250. Geburtstag Goethes erschienenen Bücher. »Meisterhaft und erschütternd geschrieben«, urteilte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nach der Lektüre, »wo haben wir in den letzten Jahren Bücher gehabt, die so ergreifend wären wie dieses Buch über Christiane Vulpius?« Ein »Kunstwerk aus Akten« sei ihr gelungen, »ein Lebensbild aus biographischen Fragmenten – Alltagsgeschichte, Sozialgeschichte und Lektüre zwischen den Zeilen, spannend wie ein Roman und doch in allen Einzelheiten verbürgt«. (Andreas Nentwich, Neue Zürcher Zeitung).
Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des PEN und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Thüringer Literaturpreis.
Im insel taschenbuch liegen unter anderem vor:
Wohin mit mir (it 4275); Goethes letzte Reise (it 3300); Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung (it 3232); Caroline Schlegel-Schelling. Ein Lebensbild in Briefen
Sigrid Damm
eBook Insel Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4380.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1998
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlag: Anke Rosenlöcher
Umschlagabbildung: Christiane Vulpius: akg-images
Goethe: Schattenriß, anonym, um 1783-1785
Blick auf WeimarAquarell von G. M. Kraus
Christiane Vulpius. Christiane von Goethe. Über ein Vierteljahrhundert lebte sie mit Goethe, achtzehn Jahre in freier Liebe, zehn Jahre als seine Ehefrau. Dreiundzwanzig Jahre war sie alt, er achtunddreißig, als sie sich im Juli 1788 erstmals trafen und fast von einem auf den andern Tag ein Liebespaar wurden. Goethe, von der Begierde getrieben, die Pyramide seines Daseyns … so hoch als möglich in die Lufft zu spizzen, schuf in seiner Lebenszeit mit Christiane ein großes Werk.
Wer war diese Frau? Ein schönes Stück Fleisch, un bel pezzo di carne, gründlich ungebildet, wie Thomas Mann sagt, eine nullité d'esprit, eine geistige Null, wie Romain Rolland sie nennt, die Frau mit dem halb unanständigen Namen, die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers, wie es in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« heißt?
Die Mitwelt spricht von ihr als Mätresse und Hure, von Goethes Kreatürchen, seiner Füchsin, seinem Mensch, seiner dicken Hälfte; für Wieland ist sie Goethes Magd, und ihre offizielle Bezeichnung achtzehn Jahre lang in Weimar ist: die von Goethische Haushälterin. Charlotte von Schiller nennt sie ein rundes Nichts, Bettina von Arnim eine Blutwurst, die toll geworden sei. Herzog Carl August schreibt: Die Vulpius habe alles verdorben. Christiane als Fußnote in Goethes Leben. Als Peinlichkeit, Verirrung seinerseits.
Spätere Bücher über sie enthalten viel bildungsbürgerliche Betulichkeit. A la Paul Burgs Eheroman »Meine Christel. Erster und Zweiter Teil«: Wer seinen Goethe lieb hat, liest diesen Roman. Dieses Werk ist eine Sache aller Deutschen. Klischees. Erfundenes. Wenig Bewiesenes. Sentimentale Verklärungen oder böse Angriffe. Selbst rassistische. Hofer ordnet 1920 Christiane dem negroiden Typ zu. Von ihrer zähen Schlauheit, ihrem plebejischen Trotz und der Niedrigkeit ihrer Seele ist die Rede. Der Gedanke, Christiane irgendwie als gleichberechtigte Ergänzung Goethes betrachten zu wollen, muß im übertragenen Sinne genau so grotesk erscheinen wie etwa die Zumutung, eine der farbigen Frauen der Kolonien für die würdige Genossin eines großen Kolonialmannes halten zu sollen.
Wenig fundierte Sachdarstellung. Eine Arbeit von Edda Federsen. Wolfgang Vulpius' 1949 erschienenes und 1957 erweitertes Christiane-Buch. 1992 Eckart Kleßmanns Essay über Christiane. Wolfgang Vulpius schreibt, Christianes eigenes Leben würde keinen Geschichtsschreiber finden, wenn es nicht vom Goethischen Lebenskreis umspannt wäre. Eckart Kleßmann geht es darum, sich Christianes Persönlichkeit zu nähern und zu verstehen, was es wohl gewesen sein könnte, daß Goethe sich gerade diese Frau als weibliche Ergänzung seiner Persönlichkeit gewünscht hat. Nicht, wie er betont, um die Rekonstruktion ihres Lebenslaufes zwischen 1765 und 1816.
Das große Verdienst von Hans Gerhard Gräf, der den Briefwechsel zwischen Christiane und Goethe herausgab; 1916, zu Christianes hundertstem Todestag, erschien die Edition. Die überlieferte Korrespondenz umfaßt 601 Briefe. 247 Briefe Christianes an Goethe, 354 Briefe von ihm an sie. Sein Erotikon nennt Goethe sie, seine liebe Kleine, seinen Haus- und Küchenschatz, seine vieljährige Freundin, später seine Frau. Für Goethes Mutter ist sie ein herrliches unverdorbenes Gottesgeschöpf.
Ich lese Christianes Briefe. Erstaunlich sind sie, gestisch und genau. Detailfreudig. Eine Frau findet eine Sprache für ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität. Ungewöhnlich für ihre Zeit. Ebenso ungewöhnlich ist, wie sie Alltagsarbeit beschreibt. Eine Frau tritt mir entgegen, unablässig tätig, zwei Haushalte, ein Landgut, zwei Gärten, Krautland. Sie erledigt Erbschaftsangelegenheiten, bereitet den Erwerb von Land und Kaufabschlüsse vor, tätigt Geldgeschäfte. Sie kann einen Schlitten kutschieren. Geht allein auf Reisen, trägt zwei Pistolen bei sich. Sie ißt gern, trinkt gern, am liebsten Champagner. Sie tanzt ausgezeichnet, als Fünfundvierzigjährige nimmt sie noch bei einem Tanzmeister Unterricht. Sie liebt die Komödie, weniger das Lesen, das tut sie nur bei üblen Wetter oder aus langer Weile. Heiter ist sie, witzig, stets gutgelaunt.
Aus den Briefen – ich lese zwischen den Zeilen, gehe einem Halbsatz, einer Andeutung nach, überdenke, was der Zensur der Liebe zum Opfer gefallen sein mag, vergegenwärtige mir überlieferte Fakten – tritt mir auch eine ganz andere entgegen: eine Frau, deren Körper von fünf Schwangerschaften gezeichnet ist, die unter dem Tod von vier ihrer Kinder leidet, die lebenslang von Krankheiten gequält wird, Bluthochdruck, Nierenprobleme. Eine Frau, die ihr Altwerden zu fürchten hat. Die ständig überfordert ist, weil sie eine Rolle spielen muß, für die niemand ihr den Text vorgibt; und dennoch hat sie Tag für Tag die Bühne zu betreten, für die sie nicht geschaffen ist. Eine Frau, die stets zuviel Arbeit hat. Die murrt, launisch ist. Stimmungen unterliegt. Depressionen hat. Verletzbar ist. Und einsam. Sehr einsam. Ihre schwere Krankheit in den letzten Lebensjahren. Ihr einsames Sterben, ihr früher Tod.
Der tiefe Widerspruch zwischen ihren Selbstzeugnissen und dem Urteil von Mit- und Nachwelt über sie. Meine Neugier ist wach.
Für mich könnte der Reiz nur sein, ihrem Lebensweg nachzuspüren. Von ihr aus zu erzählen. Aber nicht im Sinne einer poetischen Erfindung, eines neu hinzugefügten Bildes, sondern einer Annäherung an die tatsächlichen Vorgänge, an das authentisch Überlieferte. Durch die Recherche, die Rekonstruktion, die nüchterne Spurensuche in den Archiven.
1995 geht die Nachricht durch die Zeitungen, daß die Stiftung Weimarer Klassik den Vulpius-Nachlaß ankauft. Der letzte Nachfahre der Vulpius-Familie, Melchior Vulpius, Schauspieler und Musikpädagoge, hat im Jahr 1990 seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Aufschlüsse über Christiane durch diesen Nachlaß? Im Thüringer Staatsarchiv existieren Akten über Christianes Vater, über ihren Bruder. Der Editor der Christiane-Briefe berichtet 1916 von drei Jahrgängen des Gothaischen Schreibkalenders, die seit Goethes Tod im vergilbten Papierumschlag in seinem Arbeitszimmer neben den Sedezbänden seiner Werkausgabe letzter Hand und dem Briefwechsel mit Schiller stehen und Tagebucheintragungen aus Christianes letztem Lebensjahr enthalten. Niemand hat die Spur verfolgt. Existiert das Tagebuch noch? Die Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv über Goethes Haushalt; Ausgabenbücher, Rechnungen, Belege. Sollten sich darin nicht Spuren von Christianes Alltag, den achtundzwanzig gemeinsam gelebten Jahren finden?
Christiane vor ihrer Begegnung mit Goethe. Ihrem Lebensweg nachgehen. Ihrer Jugend. Kindheit. Herkunft. Ihren Vorfahren.
Der Name Vulpius taucht in den Weimarer Kirchenbüchern erstmals am Ende des 16. Jahrhunderts auf. Ein Melchior Vulpius. Durch ihn haben wir einen Hinweis auf den Namen Vulpius. Die Latinisierung des deutschen Namens ist damals wohl modern. Als Melchior in die Stadt kommt, heißt er noch Vuchs. Erst als er auf seinem Berufsweg in der Graduierung aufsteigt, sich zu den viris doctis et gradatis zählt, latinisiert er seinen Namen. Der Beleg dazu findet sich im Weimarer Taufregister von 1597. Am 11. Februar dieses Jahres wird ihm ein Sohn geboren, hinter dem Namen Vuchs steht mit roter Tinte vermerkt: Vulpio.
Melchior Vulpius ist Kirchenmusiker. Er kommt aus Wasungen, wurde dort 1560 geboren und war in Weimar Stadtkantor und Lehrer am Gymnasium. Eine Komposition von ihm ist überliefert, eine vierstimmige Passion nach Matthäus Das Leiden und Sterben unseres Herrn Erlösers Jesu Christi, auß dem heiligen Evangelisten Matthäo, 1613 ist sie in Erfurt ediert. Und 1604 erscheint in Leipzig ein von ihm für vier beziehungsweise fünf Stimmen gesetztes Kirchengesangbuch Kirchen Geseng und Geistliche Lieder/ D. Martini Lutheri und anderer frommen Christen so in der Christlichen Gemeine zu Weymar und deroselben zugethanen, auch sonsten zu singen gebreuchlich.
Es kann nicht zweifelsfrei belegt werden, daß auf diesen frühbarocken Kirchenmusiker die Familie Vulpius in direkter Linie zurückgeht.
Der erste nachweisliche Vorfahre von Christiane Vulpius väterlicherseits soll ein 1611 in Wickerstedt an der Pest gestorbener Pastor sein. Ihm folgen mehrere Generationen von Geistlichen, die ihre Pastorate in Dörfern im nördlichen Thüringen haben. Es ist der gleiche Raum, in dem die Vorfahren Goethes, des Mainfranken, lebten, im nördlichen Thüringen, in Badra, Canna und Berka, Artern und Sondershausen, wo es den Namen Göte noch heute gibt. Sie waren Bauern und Handwerker, Landvermesser, Altaristen und Branntweinbrenner. Der Urgroßvater Hans Christian Goethe war Hufschmied, Zunftmeister und Ratsdeputierter in Artern. Der Großvater Georg Friedrich Goethe Schneidermeister und Gasthalter. Er ist der erste, der Thüringen verläßt, nach Hessen auswandert, sich in Frankfurt am Main niederläßt. Bei Christiane Vulpius' Vorfahren setzt mit dem Wechsel vom Stand der Pastoren zu dem der Juristen der Wechsel vom ländlichen in den städtischen Raum ein. Christianes Großvater Johann Friedrich Vulpius siedelt sich in Weimar an.
Goethes Vorfahren mütterlicherseits lebten in Frankfurt, Wetzlar und Marburg, waren Juristen, Hofgerichtsräte, Reichs- Stadt- und Gerichtsschultheiße, wie der Großvater Textor. Aber auch dessen Vorfahren weisen wieder nach Thüringen. Textor hatte einen thüringischen Urgroßvater, den in Pferdingsleben bei Gotha geborenen und 1639 als Bierbrauer in Frankfurt am Main verstorbenen Martin Walter. Christiane Vulpius' Vorfahren mütterlicherseits kommen aus Schwaben, waren Handwerker und Handelsleute. Während Goethes Großvater von Norden nach Südwesten zieht, wandert Christianes Großvater Johann Philipp Riehl, Sohn eines Sattlermeisters in Merklingen bei Leonberg, in die Gegenrichtung, läßt sich in Thüringen, in Weimar nieder.
Christianes Mutter und beide Väter, Goethes und Christianes, sind die ersten in ihrer Generation, die in der frei gewählten, neuen Heimat geboren werden, im hessischen Frankfurt am Main und im thüringischen Weimar.
Die Geschichte der Vorfahren. Spuren, die es noch in den Dörfern des nördlichen Thüringens geben mag. Von einer Grablegung unter einer Kanzel ist die Rede, von einem barocken Grabstein in der Turmhalle einer Dorfkirche. Einträge in alten Kirchenbüchern müßten noch existieren, könnten Aufschluß geben.
Von Weimar aus mache ich mich auf den Weg. Wickerstedt, wo der Pfarrherr Johann Heinrich Vulpius 1611 an der Pest gestorben sein soll. Ein Dorf etwa fünf Kilometer nordöstlich von Apolda. Das Pfarramt ist in Mattstedt. Mit dem Pfarrer fahre ich nach Wickerstedt.
Der Kirchturm steigt massiv und schmucklos über das Dach des Langhauses. Die Kirche ist 1719 erneuert worden. Grundmauerreste sind vielleicht erhalten, die Kirche aber, in der Vulpius gepredigt hat, muß eine vollkommen andere gewesen sein. Im Inneren ein alter Kanzelaltar, wie man ihn oft in Thüringer Dorfkirchen findet. In der Sakristei an der Wand ein Verzeichnis aller Pfarrherren. 1600-1611 steht da: Johann Heinrich Vulpius. Das Verzeichnis ist mit Schreibmaschine geschrieben, von wem, wann, auf welche Quelle geht es zurück?
Das Archiv im Gemeindehaus. Frühes 18., spätes 19. Jahrhundert, Hochzeits-, Tauf- und Sterberegister, Rechnungen, Berichte, Akten, Register. Schrank um Schrank. 20. Jahrhundert, Hitlerzeit, Armbinden, Listen des Kriegervereins fallen uns entgegen. Nur kein 17. Jahrhundert.
Dann ein Buch aus dem Jahr 1600. Auf der Deckseite steht: AGENDA. Das ist/ Kirchenordnung/ wie sich die Pfarrherrn und Seelsorger in jren Ampten und diensten halten sollen. Ein Ledereinband, seitlich ein kleines Schloß, die Schließe ist abgebrochen. Wenn das Buch 1600 erschienen ist, könnte Johann Heinrich Vulpius es benutzt haben. Verschiedene handschriftliche Einträge. Schließlich der Name des Besitzers: Wolfgangus Mylius, die Ortsangabe Flurstedt, daselbst Pfarrer. Diese Agenda also gehörte ins benachbarte Dorf, in die Flurstedter Kirche.
Wenn die Pest ganze Dörfer und Landstriche vernichtete, wer dachte da an Eintragungen. Existierte das Buch überhaupt? Der letzte Schrank läßt sich nicht öffnen. Darin könnte es sein.
Wochen später schickt mir der Pfarrer Kopien von Urkunden, die man in Abschriften kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Reparatur des Kirchturmes fand, als man Wetterfahne und Turmknopf abnahm und letzteren öffnete, um die Nachrichten aus Jahrhunderten zu lesen. Das Kirchenbuch ist verbrannt. Am 9. August 1719 habe es eine Feuersbrunst in Wickerstedt gegeben, die 108 Gehöfte und zugleich auch die übrigen geistigen und sonstigen Gebäude hierselbst in Asche legte. Zwei Tage nach dem Brand, am 11. August, beginnt ein neues Kirchenbuch, die Kopie des Deckblattes liegt bei: Register der Getaufften Copulirten und Begrabenen auch anderer merckwürdigen Dinge angefangen alhier zu Wickerstädt nach am 9. Aug. a. c. entstandenen großen Brande.
Ein halbes Jahr später, es hat ihm keine Ruhe gelassen, hat der Pfarrer einen Beleg gefunden. In einem Abendmahlskelch von 1679, aus Silber getrieben und vergoldet, sind auf der Unterseite des Sechspaßfußes die Namen der Wickerstedt Pastore eingraviert, u. a. ein A. M. Vulpijn.
Ein nächster Vorfahre von Christiane Vulpius soll wenige Dörfer weiter in Wormstedt unter der Kanzel begraben sein. Wormstedt, als Wrmherestat im 10. Jahrhundert dem Kloster Fulda zinspflichtig, die Kirche wird 1392 erstmals erwähnt. 1717 wird sie erneuert. Im 1892 erschienenen Buch von Lehfeldt über die Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens werden Grabsteine und Inschriften der Wormstedter Kirche aufgeführt. Der Name Vulpius ist nicht darunter.
In der Kirche in Wormstedt gibt es keine Grabplatte nahe der Kanzel, auch kein Stein ist in den Boden eingelassen. Vermutlich ist der im Jahr 1663 hier beigesetzte Vulpius in die Erde gesenkt, der Stein über ihm geschlossen worden. Das Pastorat befindet sich im Nachbardorf, in Utenbach. Der Pfarrer holt die alten Kirchenbücher hervor. Im Catalogus Defunctorum, dem Sterberegister, auf Seite 187 finden wir: Den 18. xbr ist Herrn M. Johannes Henricus Vulpius über die 34 Jahre sehr wohlverdienter Pfarrer und Adjunctus, nachdem er über die zwei Jahre ganz contract und bettlägerich gewesen auch sein Amt in vorhandener Kranckheit durch die benachbarten Herrn Priester und Studiosus verrichten laßen, endlich alhier selig … verstorben und darauf den 21 ejusdem in der Kirche gleich vor der großen Cantzel christlich eingesenckt und begraben worden, seines Alters 64 Jahre, 30 Wochen 4 Tage und 5 Stunden. Anima ipsius in Pace! Seine Leichenpredigt hat gehalten der Herr M. Friedrich List, Pfarrer zu Utenbach und Kösnitz Super Dictum Lob. 7. vs. 2, 3, 4. Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten etc: Die Abdankung aber hat der M. Friedrich Korn, Pfarrer zu Oberroßla, verrichtet.
Im Designatio Pastorum, dem Pfarrerregister, im Kirchenbuch von 1637 bis 1788, steht auf Seite 243: M. Johannnes Henricus Vulpius Wickerstetensis, so vorhero 3 Jahre zu Eisenberg Diaconus gewesen, hat seine Zuzugspredigt allhier in Wormstedt gehalten 1629 nachgehendes aber das Amt eines rechtschaffenen Predigers allhier zu Wormstedt über die 34 Jahre verwaltet, starb Ao 1663 d. is xbris.
Die Chronik von Wormstedt gibt noch Auskunft, daß die 1558 erbaute Pfarrei am 15. Juni 1637 abbrannte, Vulpius dann zehn Jahre gegen Mietzins im Wohlzogenschen Haus am Wege nach Pfuhlsborn wohnte, danach sieben Jahre neben dem Pfarramt in Wormstedt auch Diaconus und Collaborator in Dornburg war, dort wohnte, schließlich von 1654 bis 1663, seinem Todesjahr, wieder in Wormstedt, in einem von der Gemeinde gekauften Haus, dem vormals v. d. Gönnischen, jetzt Bornscheinschen.
Johann Heinrich Vulpius. Der Zusatz Wickerstetensis zu Vor- und Vatersnamen deutet auf den Geburtsort. Vom Sterbedatum 1663 zurückgerechnet, müßte er 1598 geboren sein. Ein Sohn jenes 1611 in Wickerstedt verstorbenen Pastors. Theologiestudium in Jena sicherlich. Dann die Jahre als Diakon, Magister, Vikar. Lange Amtsanwärterjahre, Wartejahre, Hungerjahre, es ist die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Heere durchziehen das Land. Eine feste Pfarrstelle endlich mit einunddreißig Jahren in der Nähe seines Geburtsortes, in Wormstedt. Die vierunddreißig Jahre seiner Amtszeit. Sieben davon zusätzlich Diakonat und Collaboratur in Dornburg. Wie seine Frau hieß, wieviel Kinder er hatte, ist nicht bekannt. Nur von einem Sohn wissen wir. Er wird am 8. Januar 1644 in Wormstedt geboren und bekommt in der Taufe den Namen Johann Friedrich.
Dieser Johann Friedrich ist der Urgroßvater von Christiane Vulpius. Sein Grabstein soll in der Turmhalle der Rothensteiner Kirche sein. Von Weimar fahre ich durch das Mühltal nach Jena, von dort ins Saaletal in Richtung Orlamünde.
Rothenstein, 796 als Rodostein erwähnt, einer der wenigen Orte in Thüringen, wo Slawen lebten. Eine alte Handelsstraße führte vorüber, wechselte am Ort die Flußufer, überquerte die Saale in einer Furt. War der Wasserstand hoch, konnten die Reisenden nicht passieren, mußten in Rothenstein rasten. Die Kirche liegt auf einer Anhöhe. Über einen Stufenweg erreicht man sie. Im Mauerwerk sind noch die Schießfenster aus dem 13. Jahrhundert zu sehen. Und gotische Inschriften von 1437 und 1605. Der Turm ist schlank mit schiefergedeckter welscher Haube.
Die Turmhalle im Erdgeschoß. Die Überraschung: Ein Grabstein von 1715, von schönster Symmetrie, barock geschwungen, in Sandstein gearbeitet, oben ein Herz, rechts und links davon Lilienzweige, Rosen, zwei schlanke Hände, der Bibelspruch: So will ich ihnen die Krone des Lebens geben. Die über den ganzen Stein gemeißelte Schrift ist gut lesbar. Wohlverdientes Denck- und Ehren-Mahl des Weyland WohlEhrwürdigen und in Gott andächtigen Herrn Mag. John. Friedrich Vulpij in die 39 Jahr wohlmeritirten Seelsorgers der Gemeinden Rotenstein u. Ölckenitz wie auch Erb-u. GerichtsHerr der Kayserl. FreyZinßen zu Hamerstädt u. Freysaß auf das Guth zu NiederRoßla ist zu Wormstädt ao 1644 d. 8. Jan gebohren, Zum hisigen Pastorat so 1676 beruffen in die 1. Ehe mit Jfr. Margaretha gebohrene Oheimin aus Hoff ao 1681 getreten u. 3 Kinder gezeuget. In die 2. Ehe mit Jfr. Maria Elisabetha gebohrenen Schmidtin von Schleitz sich so 1685 begeben u. in fried. gesegneter Ehe 11 Kinder erzeuget, ein Vater 25 Kinder u. Kindeskinder starb er d. 18. Apr. 1715 Seines alters 71 Jahr 3 Mo 7 tage.
1676 kommt Christianes Urgroßvater nach Rothenstein, da ist er zweiunddreißig. Seine erste Frau ist aus Hoff, die zweite von Schleitz. Hof und Schleiz liegen an eben jener alten Handelsstraße nach Nürnberg. Sind es Töchter von Kaufleuten, die eine gute Mitgift in die Ehe einbringen? Johann Friedrich Vulpius bringt es zu Wohlstand, erwirbt Besitz, Ländereien. In Niederroßla bei Apolda und in Hammerstedt zwischen Weimar und Apolda. Als Freysaß ist er Besitzer eines Lehns, das vererbbar ist oder verkauft werden kann. Kayserlicher FryZinß bedeutet Besitzer eines Freigutes, das ebenfalls vererbbar ist.
Ob Christiane Vulpius, als sie sich fünf Jahre mit dem von Goethe gekauften Gut in Niederroßla befaßte und oft dort weilte, wußte, das einst ihr Urgroßvater hier Land besessen hat?
Ob sie jemals in Rothenstein die Steintreppen hochgestiegen, die Turmhalle betreten hat? Hätte der Zufall sie nicht vor das Grabmal des Urgroßvaters führen können? Abwegig ist der Gedanke nicht. Christiane liebte das Saaletal. Sie ist jenen Weg des öfteren gefahren, auf der Reise nach Rudolstadt. Vor allem aber, das ist mehrfach belegt, weilte sie gern auf der Leuchtenburg. Die liegt wenige Meilen flußaufwärts bei Kahla. Vom Rothensteiner Kirchhügel ist die Leuchtenburg zu sehen. Auf dem Hin- und Rückweg mußte ihre Kutsche Rothenstein passieren.
Eines der elf in Rothenstein gezeugten Kinder ist Christianes Großvater. Am 5. Juli 1695 wird er im Pfarrhaus geboren und auf den Namen Johann Friedrich getauft.
Dieser Sohn setzt die Tradition seiner Väter und Vorväter nicht fort, wird kein Theologe. Im September 1714 trägt er sich in die Matrikel der Juristischen Fakultät der Jenaer Universität ein. Ein halbes Jahr später, er ist gerade zwanzig, stirbt sein Vater. Für mittellose Studenten bedeutet dies oft Aufgabe des Studiums. Aber Johann Friedrich hat das Freigut in Hammerstedt geerbt, möglicherweise ist dieser Grundbesitz sein Rückhalt. Er schließt als Juris practicus ab. Und wählt die Residenzstadt Weimar als Lebensort. Mit ihm setzt der Wechsel vom ländlichen in den städtischen Raum ein. Er erhält eine Stelle als Advokat am Weimarer Fürstenhof. Am 19. Januar 1723 heiratet er in der Stadtkirche. (Diese Angaben wie alle folgenden zur Vulpius-Familie nach den Einträgen in die Tauf- und Trau-Protokolle und Totenbücher der Hofkirche und Stadtkirche zu Weimar, Kirchenamt Weimar.) Er ist siebenundzwanzig. Seine Frau Sophie Dorothea Hecker ist eine Pfarrerstochter aus Tromsdorf bei Eckartsberga. Sie bringt Grundbesitz in die Ehe ein, ist Miteigentümerin des Roten Hauses am Ilmufer gegenüber dem Weimarer Schloß.
Was zieht Christiane Vulpius' Großeltern nach Weimar? Mitte der dreißiger Jahre wird auch ihr Großvater mütterlicherseits von Schwaben nach Weimar einwandern, jener Johann Philipp Riehl, der sich als Handelsmann in der Stadt niederläßt und gewirkte Strumpfwaren vertreibt. Die Zeichen stehen auf Aufschwung. Die Strumpfwirkerei belebt die Stadt. Der Herzog ist ein Förderer des Merkantilismus. Zuwanderern wird kostenlos Baugrund vor den Toren der Stadt zur Verfügung gestellt. 1728 Bauenden Steuerfreiheit für 30 Jahre zugesagt.
Herzog Wilhelm Ernst baut für gemeinnützige Zwecke; ein Zucht- und Waisenhaus entsteht, ein Gymnasium, das 1717 eingeweiht wird. Der Architekt Münzel entwirft 1707 für den Kammerkommissarius Helmershausen ein barockes Wohnhaus am Frauenplan. Schloß Ettersburg entsteht. Das Weimarer Schloß erhält seine barocke Haube. Im Schloß etabliert sich eine Opernbühne; eine Gemäldegalerie mit Bildern von Dürer, Cranach, Tintoretto und anderen entsteht. Von 1708 bis 1717 ist Johann Sebastian Bach Hoforganist in Weimar.
Aber die Zeichen sind trügerisch. Während der Aufschwung der Strumpfwirkerei noch eine Zeit lang anhält, führt die Bautätigkeit zur Verschuldung des Hofes. Vor allem als Ernst August, der Neffe des Herzogs, der bereits zu dessen Lebzeiten mitregiert, nach dessen Tod 1728 die Macht übernimmt. Er reist nach Frankreich, wird von Ludwig XIV. empfangen. Ernst August will Weimar zu einem thüringischen Versailles machen. In seiner Regierungszeit werden etwa zwanzig Parkschlösser, Jagdhäuser und Fortifikationen angefangen. In nur neun Jahren, zwischen 1724 und 1733, wird, nach französischem Muster, Schloß Belvedere gebaut, mit allem Zubehör absolutistischen Prunks, Reit- und Ballhaus, Orangerie, Menagerie, Zwinger und Park. Der Bau verschlingt insgesamt 250 000 Reichstaler.
Willkürlich werden Steuern erhoben. In Weimar gibt es zu der Zeit allein zweiunddreißig Steuerarten. Die Stadt muß ihre Einnahmen weitgehend der Fürstlichen Landschaftskasse und der Herzoglichen Kammer als Darlehen zur Verfügung stellen.
Insgesamt 80 000 Taler schuldet Ernst August im Jahr 1741 seinen Untertanen. Er schuldet seinen Beamten den Sold, den Hoflieferanten die Rechnungsbegleichungen, der Stadt die Darlehensrückzahlung. Ein Teil der Handwerker beim Schloßbau bekommt jahrelang keinen Lohn. An die Hofbediensteten und Beamten wird nur ein Drittel des Gehaltes ausgezahlt. Dem Unmut über diese Tatsache begegnet der Herzog mit Regierungsanordnungen; in einer vom 6. März 1744 ist zu lesen: Das vielfache Räsonieren der Untertanen wird hiermit bei halbjähriger Zuchthausstrafe verboten und haben die Beamten solches anzuzeigen. Maßen das Regiment von uns und nicht von den Bauern abhängt und wir keine Räsoneurs zu Untertanen haben wollen. Als er 1748 stirbt, belaufen sich seine Schulden auf insgesamt 360 000 Taler.
Diesen Hintergrund muß man zumindest vor Augen haben, um die Situation der in Weimar neuansässig gewordenen Familie von Christiane Vulpius' Großeltern zu erahnen. Über Vulpius' Tätigkeit als Hofadvokat, seine berufliche Laufbahn, die Höhe seiner Besoldung habe ich nichts finden können.
Einzig zwei Fakten sind – nach Huschke – aktenkundig. 1739 verkauft Johann Friedrich Vulpius das Freigut in Hammerstedt (ThHStAW Sign. A 3 157, Bl 9; A 3 185, Bl. 58 ff.). Acht Jahre später veräußert Sophia Dorothea ihren Anteil am Roten Haus. (ThHStAW, Rechnungen des Amts Weimar 1738/39, Bl. 47; 1740/41 Bl. 50; 1746/47, Bl. 28 und Stadtarchiv Hist. Archiv, Abt. I, Loc. 15 Nr. 39 Bl. 697, Kataster-Nr. 3661.) D. h. die Besoldung von Christianes Großvater reichte, sofern er sie überhaupt erhielt, nicht aus, um die Familie zu ernähren. Es muß nach und nach das gesamte Vermögen zugesetzt werden.
In diese Weimarer Situation wird Christianes Vater am 12. November 1725 hineingeboren. Ihm ergeht es anders als Goethes Vater, der, als er zwanzig Jahre alt ist und den Vater verliert (jenen aus Thüringen eingewanderten Schneidermeister), Erbe eines großen Vermögens ist: der Gastwirtschaft Weidenhof, zwei Häusern, Gartengrundstücken, vierzehn Insätzen und Grundstücksbeleihungen, siebzehn Sack Geldes. Goethes Vater kann sein Studium in Ruhe fortsetzen, über Jahre Bildungsreisen unternehmen. Sich später in Frankfurt für 313 Gulden und 30 Kreuzer den Titel eines Wirklichen Kaiserlichen Rates kaufen; niemals arbeitet er, nie bekleidet er ein Amt, lebt als Rentier, sammelt Kunst und erzieht seine Kinder.
Christianes Vater erhält in der Taufe die Namen von Großvater und Vater: Johann Friedrich. Er ist das zweite von sechs Kindern. Eine Schwester geht ihm voraus, vier Schwestern folgen. Als er vierzehn ist, muß die Familie den ersten Besitz veräußern. Der Vater bestimmt, daß der Sohn wie er Jurist werden soll. Im Herbstsemester 1746, am 10. November, wird er in die Matrikel der Jenaer Universität eingetragen. Er ist einundzwanzig. Ein Jahr danach der Verkauf des Besitzes der Mutter.
Im September 1748, nach nur zwei Studienjahren, kehrt Johann Friedrich nach Weimar zurück. In einem späteren Schreiben weist er darauf hin, daß er weder für Schule, Gymnasium noch Universität öffentliche Gelder in Anspruch genommen, sein Vater alles finanziert habe; auch niemals das allergeringste beneficium zugewiesen gehabt mithin folglich mit meiner Eltern Vermögen auf Schulen und Universitäten meine Subsistence suchen und nehmen müssen (ThHStAW B 25356).
Die Gründe für den Studienabbruch scheinen ausschließlich finanzielle gewesen zu sein. War Christianes Großvater als Juris practicus nach Weimar gekommen, so kehrt ihr Vater nur als Juris Candidatus aus Jena zurück. Hatte der eine rasch einen Posten gefunden, ergeht es dem anderen nicht so.
Ein Jahrzehnt wird sich Christianes Vater bemühen müssen, bis er eine Anstellung am Weimarer Fürstenhof erreicht. Wolfgang Vulpius hat sich mit seiner Lebensgeschichte befaßt. Er erwähnt Akten im Staatsarchiv, gibt sie auszugsweise wieder. Meine Neugier, die alten Handschriften mit eigenen Augen zu sehen.
Das Thüringische Hauptstaatsarchiv in Weimar. Das Gebäude am Beethoven-Platz. Gebaut für Akten. Von der Flügeltür im ersten Stockwerk der Blick hinein: ein riesiger Raum, mehrstöckig, der Fußboden aus Stahlgittern, damit die Akten Luft bekommen; warmes, von Staub gefiltertes Sonnenlicht liegt über den endlosen braunen und grauen Reposituren. Ein Kunstwerk aus Akten.
Ich habe Glück, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter hilft mir, mich durch die Findbücher zu finden. Die Akten. Unhandliche, dickleibige, staubige Folianten. Die breiten Rücken mit strickähnlichem Buchbindergarn geheftet. Harte graue Pappe. Auf den Deckseiten in Handschrift: Geheimde Canzley Acta. Die bey Fürstl. Camer Kanzley und resp. Renthery zu Weimar stehende Secretarios und sämt. Subalternen wie auch Verschiedener Personen Gesuch um dergl. Dienste 1756-1775. Signatur B 25 656. Geheimde Kanzley Acta. Die bey der Fürstl. Regierungs Kanzley zu Weimar stehende Kanzlisten wie auch Verschiedener Personen Gesuch um dergl. Dienste 1755-1775: B 23 379. Schließlich Geheime Canzley Acta die Besetzung der Stellen beym Hofmarschall Amt vom Jahr 1755-1809: B 25 781. Zwei dünne Foliomappen, die eine in grauem Packpapier, die andere im blauen Umschlag: Regierungsakte Nr. XVII des Studiosi jur Vulpius steht darauf (Signatur B 25356).
Ich schlage auf: festes, aber kein grobes Papier, fast 250 Jahre hat es überdauert. Die Tinte ist unverblichen. Die Schrift von Christianes Vater. Durchlauchtigster Herzog, Gnädigster Fürst und Herr! Das G des Anfangs schwingt und schlingt sich in weiten Rundungen über das Papier, ebenso das H, die Buchstaben werden zum grafischen Ornament, füllen das obere Seitendrittel. Regelmäßige Schriftzüge, seitlich geneigt. Anreden und lateinische Stellen in steiler Schrift. Auf der Rückseite des dritten Blattes quer die Adresse. Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Frantz Josias Herzogen zu …, es folgt dicht, in kleinster Schrift, über acht Zeilen die Aufzählung der Herzogtümer, über die Franz Josias gebietet. Rechts unten: Weimar. Es ist noch zu erkennen, wo die Bogen auf das damals übliche Briefformat von ca. 13 x 7 cm gefaltet waren; Reste von rotem Siegellack an der Stelle, wo mit heißem Lack versiegelt worden ist.
Sieben Bittgesuche zwischen August 1750 und Oktober 1752, alle an Franz Josias gerichtet.
Christiane Vulpius' Vater sucht als ein hiesiges Landeskind … um eine Copisten, oder doch wenigsten Accesisten Stelle nach. Er bietet an, ohne jegliche Bezahlung zu arbeiten; … ich erböthig bin … alles gratis und ohne Entgeld zu tun, bis zu einer ergiebigeren Gelegenheit der Versorgung.
Das Gesuch trägt oben rechts den Eingangsvermerk, unten steht: R. R. ad acta. Auch ein zweites und drittes bleiben unbeantwortet. Im dritten vom 17. September 1750 der Satz: daß ich mich bereits schon zwei Jahr nach Zustandbringen meiner Juristischen Studien allhier zu Weimar bey meinen Eltern befunden und ihnen zu Last gelegen habe. Das dritte Gesuch ist zumindest zur Kenntnis genommen worden. Es ist durch die Hände von fünf Hofbeamten gegangen, jeder der fünf hat es mit seinem Unterschriftsschnörkel abgezeichnet, als Vermerk steht: … zur resolution vermeldet: daß seinem Suchen dermalen nicht zu fügen sey. Sig. Weimar zur Wilhelmsburg d. 25. September 1750.
Eine Absage also.
Das nächste Gesuch ist vom 5. Oktober 1750. Am Ende meiner Arbeit im Archiv, nach Wochen, werde ich wissen, auf eine zu vergebende Stelle warten oft zehn und mehr Anwärter; Christianes Vater, gerade fünfundzwanzig, kennt die Gepflogenheiten der Hofbürokratie noch nicht, ist nicht schafsgeduldig, nicht devot, nicht kriecherisch, man kann auch sagen, nicht diplomatisch genug. In seinem vierten Bittgesuch zum Beispiel heißt es: so bin ich doch bis dato, mit keiner gnädigsten Resolution begnadigt worden, das heißt, er hat noch immer keine Antwort erhalten. Weiter, er habe gehört, daß andere Personen … mir vorgezogen zu werden sehr bemühet seyn sollen, er könne nicht begreifen, daß die Stelle nicht ihm, sondern einem anderem conferiret werden sollte und möchte.
Der junge Mann wagt Kritik an der Personalpolitik des Hofes, spricht von Säumigkeit der Bittgesuchsbearbeiter. Die Schreiber, Kanzlisten, Accesisten, Ober- und Untersekretariusse und Archivarii in den hohen kalten Räumen des Schlosses, gebeugt über ihre Akten, die Ärmelschoner abgewetzt, die Federn kratzen. Über Jahrzehnte sind sie im Amt. Bitter und hart geworden durch Entbehrungen und Demütigungen; soll er Geduld lernen, dieser Grünschnabel. Die Lust vielleicht, ihre kleine Macht auszukosten, die Feder in das Tintenfaß zu tauchen, anzusetzen, ein ad acta zu schreiben. Wie lange haben sie gewartet, sich geplagt, wie viele Bittgesuche eingereicht, um jeden Taler Besoldungszulage gekämpft, um jedes Sechstel oder Achtel der Erhöhung des jährlichen Fruchtdeputates. Die Scharen derer, die endlich eine Stellung gefunden haben, gegen die Scharen der Stellungslosen. Warum soll es diesem da anders ergehen, der bereits von seiner Provisions Avantage künftiger Zeit bey Hochfürstl. Obervormundschaftlicher Regierung spricht. Mit spitzen Fingern sehe ich sie das Bittgesuch beiseite legen. Auch das haben sie bereits durchlebt; um überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen, muß man seine Dienste zunächst gratis anbieten. Im Gesuch vom 5. Oktober wiederholt Vulpius; daß ich gratis, quam liberrime, zu thun anböthig geworden und noch so gesonnen bin, und dergleichen andere competenten zuübernehmen und zuthun.
Im nächsten Gesuch vom 25. Oktober 1750 stellt Christianes Vater die wirtschaftliche Lage seiner Familie dar. Seine Eltern seien durch Entsetzung ihres Vermögens gantz außer Stande gekommen, ihn zu erhalten, zumal noch drei andere Geschwister zu ernähren seien. Vergeblich habe er sich in umliegenden Orten bemüht, auch da keine Anstellung finden können; also auch anderenteils wegen deren jetzigen herumliegenden starken Werbungen (der Siebenjährige Krieg wirft seine Schatten voraus) außerhalb anderer Örthern nicht finden kann, folglich darinnen ganz und gar verdorben und zu grunde gehen muß. Er bittet, daß mir diejenige nach meiner vorigen Petitis, gesuchte Stelle aus Höchsten Gnaden conferiret werden möchte.
Die Eingabe trägt keinerlei Vermerk.
Die nächste ist vom 10. Februar 1751. Vulpius hat hinzugelernt. In tiefster Unterthänigkeit sucht er nun nach, appelliert an die Hochfürstliche Gnade, ihm Beförderung angedeihen zu lassen, … ich habe mich nicht überwinden können, Cur. Herzogliche Durchlaucht nochmals in Unterthänigkeit und tiefster Erniedrigung mit gegenwärtigem aufzuwarten, und höchst flehentlich zu bitten mich als ein Landes Kind gnädigst zu versorgen. Wenn ihm geholfen werde, so schließt er, werde er ewig in tiefster Devotion verharren.
Auf dem Schreiben steht unten rechts von Hofschreiberhand: ad acta.
Am 6. Januar 1752 stirbt Vulpius' Vater. Zwei seiner Schwestern leben nicht mehr, Regine Marie ist kurz nach der Geburt, Catharina Rosine im Alter von dreiundzwanzig Jahren gestorben. Drei Schwestern noch. Sophie Dorothea ist dreiundzwanzig, Johanna Sophie einundzwanzig, Juliana Augusta achtzehn. Er, der Stellungslose, ist siebenundzwanzig.
Vom 10. Okober 1752 ein nächstes Gesuch, diesmal an den Präsidenten des Obervormundschaftskollegiums gerichtet, beigefügt ist eine Copia eines Schreibens vom Vortag an den regierenden Fürsten. Bisdaher habe er mit seinem Gesuch nicht reusiren können. … bereits 4 gantze Jahr seien verflossen, daß ich meine Studia juridica absolviret, und die ganze Zeit nicht sowohl meinem nunmehro verstorbenen Vater, als meiner noch lebenden Mutter, in ihrem armen Wittiben Stande, wohl über dies noch 3 hinterlassene Kinder zu versorgen hat, zum größten Verdruß über dem Halse liegen müssen und noch liegen muß. Er bittet nicht mehr um eine Kopisten-, sondern um eine geringere, eine Accesistenstelle.
Wieder der Kanzleivermerk: ad acta.
Zwischen Oktober 1752 und Juni 1756 keine Schreiben. Hält er es für aussichtslos? Oder sind die Gesuche nicht überliefert. Die Akten sind nicht vollständig.
Die Fakten: 1754 stirbt Sophie Dorothea. Vier Jahre nach dem Vater, am 19. Januar 1756, die Mutter. Johann Friedrich Vulpius ist mit den beiden Schwestern, mit Johanna Sophie und Juliana Augusta allein und als einziger Mann in der verbliebenen Familie auch für sie verantwortlich. Das Todesjahr der Mutter ist zugleich das Ausbruchsjahr des Siebenjährigen Krieges.
Die Bittgesuche von 1756. Die schweren Folianten, die Geheimde Kanzley Acta, die die Secretarios und sämtliche Subalterne betreffen. Ich wende Blatt um Blatt um, suche die mir schon vertraute Unterschrift untertänigster gehorsamster Johann Friedrich Vulpius.
Finde Schreiben vom 10. Juni und 22. Juli. Sie sind nicht mehr an Franz Josias, den Herzog von Sachsen-Coburg, gerichtet, der von 1748 bis 1755 als Interimsherrscher für den noch unmündigen Sohn des Herzogs Ernst August (jenen mit den Schulden) fungiert, sondern an den seit seiner Volljährigkeit regierenden jungen Herzog Ernst August Constantin. Ein neuer Herrscher, neue Hoffnungen?
Vulpius scheint in der Anwärterhierarchie höher gerückt. Er bewirbt sich gezielt um eine vacant gewordene Stelle, um die durch den Tod von Frankenberger freigewordene Calculators-Stelle. Am 22. Juli bittet er in tiefster Erniedrigung nochmals hiermit anzurufen.
Sein Gesuch trägt rechts den Eingangsvermerk 22. Juli, unten links steht: Ad acta, weil der Dienst bereits vergeben. Datum: 26. Julius 1756.
Immerhin, er ist in Erwägung gezogen worden.
Am 22. Januar und 14. Februar 1757 neue Gesuche. Auffällig, Vulpius hat sich anderes Papier zugelegt, es ist von größerem Format, ist feiner, dünner; die Kanzlisten, mit der Heftung der Akten beauftragt, müssen, um die Bogen zwischen die beiden Pappdeckel des Akten-Corpus zu bringen, es seitlich und unten umlegen. Ich falte die Briefbögen auseinander. Vulpius hat sich auch neue Federn zugelegt, sie aufs feinste angeschnitten; seine Schrift, sonst zuweilen etwas breitflüssig und flüchtig geworden, ist wieder entschieden akkurater, fast kalligraphisch. Jetzt ist es die durch den Tod des Cammer Registratoriis Müller vacant gewordene Registrator Stelle. Die Bitte, auch mich, da nun in dem 8. Jahr von Universitäten bin und mich sehr kümmerlich bis dahin hinbringen müßen zu bedenken; dann wie immer die Schlußformel, diesmal steht nicht: zeitlebens in tiefster Devotion zu verharren, sondern: ewig in tiefster Erniedrigung zu ersterben.
Wie viele wohl waren Anwärter auf die Stelle des Toten? Wie mögen die Jungen, die im Warten älter und älter werden, die in Besoldung stehenden Alten betrachten? Auf deren Tod wartend. Man darf den Zeitpunkt nicht verpassen, muß schnell sein, wenn einer stirbt.
Christianes Vater hat abermals kein Glück. Nicht, weil ihm ein anderer vorgezogen, sondern weil die Stelle überhaupt nicht besetzt wird. Ich bekomme es erst nach einiger Zeit heraus, nachdem ich die Schreiben im Umkreis zu entziffern versuche. Ein Papier der Fürstlichen Kammer vom 8. Februar 1757. Die Unterschriften mehrerer Beamter und die von Serenissimus, vom regierenden Fürsten. Die Besoldungen und Pensionen seien zu stark angewachsen, mithin erfordere es die Nothdurfft, daß die Ausgaben eher gemindert als vermehret werden. Die Bittsteller sollen zur Gedult angewiesen werden. Dann die Notiz der Kammer, daß ein und andere Besoldungen mit der Zeit gäntzlich menagiret werden sollten. Stellenabbau also. Menagiren bedeutet, daß Geldzahlungen durch Naturalien ersetzt werden, durch ein Korn- oder Fruchtdeputat. Unentgeltliche Arbeit, die gerade soviel einbringt, daß man vor dem Verhungern bewahrt wird. Das Heer derer, die darauf angewiesen sind, scheint zu wachsen.
Vielleicht hat Christianes Vater, der nachweislich zunächst auch ohne Besoldung, gratis arbeitete, ein solches Korndeputat bekommen; sich und seine Schwestern auf diese Weise durch die Kriegszeiten gebracht. (Seine Tochter Christiane wird nach seinem Tod von einem solchen Korndeputat der Fürstlichen Kammer leben müssen.)
13. Februar 1758, das nächste Bittgesuch. Ich finde es zufällig zwischen Schreiben, die alle das Jahr 1770 betreffen. Wieder ist durch Absterben eines Kanzlisten eine Stelle frei. In einer Notiz vom 21. Februar wird der candidatus juris J. F. Vulpius unter den Bewerbern erwähnt. Die Stelle, besoldet mit 54 Reichstalern, geht an einen Friedrich Christian Tripplin. Die Handschrift kommt mir bekannt vor. Ich blättere zurück, suche in den anderen Folianten, versuche etwas über diesen Tripplin herauszubekommen. Finde: über Jahre und Jahre seine Bittgesuche. Auch er hat sein väterliches Vermögen zugesetzet, auch er hat die äußerste Noth zu leiden, auch sein Vater ist bereits tot; unterthänigstes demütiges Flehen immer wieder. Aber: er hat mehr Studienjahre aufzuweisen als Vulpius, von seinem Studio juridio fünf Jahre lang, spricht er. Und er hat ein Jahr die praxin und processualia beym Hof-Advocato … nach Möglichkeit gelernet, sich also auf eigene Kosten zusätzlich qualifiziert. Und bereits drei ganze Jahre, ohne einen Pfennig zu erhalten, in den Kanzleistuben des Weimarer Hofes gearbeitet. Deshalb er.
Am 7. Oktober 1758 heißt es bei Vulpius: in den aller deplorabelsten Umständen befinde er sich, sei zu leben nicht im Stande, wisse sich weder zu rathen noch zu helfen. Aber, er habe sich bey denen Academischen Schloßgerichten, zu Apolda, daselbst in Process, als gerichtlichen expeditionis zu habilitiren, aufgehalten. Ein Befürwortungsschreiben eines Wilhelm Conrad Günther, Jurist am Akademischen Schloßgericht der Nachbarstadt, liegt bei und attestiert Vulpius, er habe sich geschult …, aus Actten zu cultiviren und in den Procesfragen zuzusetzen.
Der Eingangsvermerk: pras. d. 9. Octbr. 1758. Unten diesmal kein ad acta. Aber auch kein Bearbeitungszeichen. Es muß einen Extrabogen mit Notizen der Hofbeamten geben; meist findet man ihn zwischen den Bittgesuchen, bisweilen aber auch an ganz entlegenen Stellen. Endlich: Eine Aktennotiz vom 25. Oktober, die am 4. November abgelegt ist. Vulpius habe sich den numerus Advocatorum gar zu stark angemaßet, wird kritisch vermerkt. Offenbar weil er von der Beendigung seiner juristischen Studien gesprochen hat. Er habe sich unter Vacanz zu halten. Seinem Gesuch sei noch zur Zeit nicht zu entsprechen. Sechs Unterschriftsschnörkel.
1759 wird Christianes Vater nach zehn Wartejahren mit einem Gehalt, das heißt einer festen Anstellung begnadigt, als Copist mit einem Jahresgehalt von 50 Reichstalern beim Fürstlichen Amte zu Weimar eingestellt. Einen Beleg dafür kann ich in den Akten nicht finden. Aber es geht aus seinen eigenen späteren Schreiben hervor. Beim Suchen in den Akten gewinne ich eine Vorstellung, was auf den Begnadigten zukommen wird. Der Kampf ums Brot wird weitergehen. In den Geheime Kanzley Acta der bey der Fürst. Regierungs Kanzley zu Weimar stehenden Kanzlisten (B 23379) unter dem Datum des 24. November 1759 eine Eingabe von acht Kanzlisten. Die Namen sind mir alle schon begegnet; ihre Gesuche über Jahre. Sie haben den gleichen Weg wie Vulpius hinter sich. Johannes Friedrich Tumer, Johann Heinrich Gülicke, um nur zwei zu nennen. Auch Friedrich Christian Tripplin ist dabei. Alle sind nun in Amt und Würden. Von notdürftigstem Auskommen schreiben sie, von der Unmöglichkeit unserer Unterhaltung von dem wenigen Salario, von überhäuften Dienst-Verrichtungen, von mancherlei unzumuthbaren Schulden. Tumler mußte bereits seine Meubles veräußern, von allen Gläubigern umgeben, heißt es, von allen Glücks Gütern entblößet, das Wort genothdränget immer wieder. Flehen um Fürstliche Gnadengeschenke, um geringste Summen, einige wenige Taler; Flehen um bessere Placierung im Dienst, um Besoldungszulagen.
Dem Schreiben der acht Kanzlisten ist eine Aufstellung ihrer jährlichen Salarios beigegeben, sie reichen von 33 bis 150 Reichstaler. Der Grund ihrer Eingabe ist der Widerspruch zwischen zugesagter und tatsächlich ausgezahlter Besoldung.
Die Eingabe der Kanzlisten wird abgewiesen.
Erinnert sei an die Schulden von 360 000 Talern, die Herzog Ernst August 1748 bei seinem Tod hinterläßt. Graf von Bünau, der für den Interimsherrscher Franz Josias die Geschäfte führt, versucht die Schulden abzutragen, indem er Soldaten entläßt und die herzoglichen Pferde und Hunde (1 100 Hunde sollen es gewesen sein) verkauft. Die Praxis der nur teilweisen Auszahlung der Besoldung aber hält nachweislich an. Auch unter dem jungen Regenten Ernst August Constantin. Er regiert nur drei Jahre. Am 28. Mai 1758, mit einundzwanzig Jahren, stirbt er. Hinterläßt eine Witwe und zwei Söhne. Diese Witwe ist Anna Amalia. Mit sechzehn ist sie nach Weimar gekommen, jetzt ist sie neunzehn. Wieder eine Interimsregierung. Anna Amalias Vater, der Herzog Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel, übernimmt sie für seine Tochter.
Am 9. Juli 1759 tritt die Herzogin Anna Amalia die vormundschaftliche Regierung an. Der Thronfolger ist zwei Jahre alt. Bis 1775, bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Carl August, wird sie Regentin sein. Sie beginnt mit dem guten Vorsatz, alles mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, und ist entschlossen: sowohl das Geheime Consilium fleißig zu besuchen, als auch von dem, was sonsten und außer denen Sessionen vorfällt, mündlichen und schriftlichen Vortrag zu allen Zeiten willig anzunehmen, einen jeden aufmerksames Gehör zu erteilen, treuer Diener Einrats mich zu bedienen und darauf zu resolviren.
Ein Jahr nach seiner Anstellung am Weimarer Fürstenhof heiratet Christianes Vater. Das Weimarer Kirchenbuch gibt Auskunft. Im Register der Kopulierten vom 13. November 1760 findet sich der Eintrag seiner Eheschließung. Er ist fünfunddreißig, seine Braut ist achtzehn Jahre alt. Es ist die am 31. März 1742 in Weimar geborene Christine Magarethe Riehl, älteste Tochter des vornehmen Bürgers und Strumpfverlegers Johann Philipp Riehl. Jenes Mitte der dreißiger Jahre aus Schwaben eingewanderten Riehls (die Schreibung des Namens auch Rühl, Riele, Riehe), der in Weimar Handel mit Wirkwaren betreibt. Die Strumpfwirkerei ist noch im Aufschwung und vom Hof weitgehend unabhängig. Riehl bringt es zu Wohlstand. 1740 hat er eine Thüringerin geheiratet, Elisabeth Magdalena Kühn aus Bad Salzungen. 1743 hat er sich ein Haus am Fachenberg in der Vorstadt vor dem Jakobstor gekauft. 1750 das Bürgerrecht in Weimar erworben. 1760, im Heiratsjahr von Christianes Eltern, kauft er ein größeres Haus in der Wagnergasse mit dazugehörigem Ackerland. Für zwei Jahre ist er Eigentümer beider Häuser, 1762 gibt er das kleinere am Fachenberg ab. (Die Angaben nach: Stadtarchiv Weimar, Historisches Archiv, Abt. I, Loc. 15, Nr. 39, Bl. 647; Nr. 41, Bl. 1 240, Kataster-Nr. 633 und 161 Kataster-Nr. 568, Ratskämmereirechnung 1 743, Bl. 12; 1760/61, Bl. 32'; 1762, Bl. 12'.)
Es kann als sicher gelten, daß Christianes Mutter eine ordentliche Mitgift in die Ehe einbrachte. Und die junge Familie zunächst vom Vermögen von Christianes Mutter und von der Unterstützung durch die Großeltern lebte.
Beginnt nun für Christianes Vater, der sich selbst in einem der Gesuche einen Glücklosen nennt, eine bessere Zeit?
Am 23. Januar 1762 wird dem Paar das erste Kind geboren. Ein Sohn, dem es den Namen Christian August gibt. Am 17. Mai 1763 kommt Friedrich Carl Christoph zur Welt. Er stirbt am 12. Mai des Folgejahres.
Dann, am 1. Juni 1765, eine Tochter. Es ist Christiane. Die Eintragung in den Weimarer Tauf-Protokollen der Hofkirche 1755/65, Nr. 354 lautet: H. Johann Friedrich Vulpius, F., Sächß. Amts. Copistens alhier, und Fraun Christienen Margarethen gebor. Riehlin; Töchterlein ist gebohren Sonnabends den 1. Jun. a. c. Abends halb 9 Uhr, und Montags darauf als den 3. dito, nachmittags 3/4 auf 1 Uhr, von dem Herrn Hof-Diac. Gottschalg getauft worden. Empfieng in der Heil. Taufe die Namen Johanna Christiana Sophia.
Christiana ist ihr Taufname. Nicht Christiane, nicht Christina, wie Gräf, der sonst überaus genaue Editor ihrer Briefe, im Taufbuch las. Christiana: die Handschrift ist eindeutig. Goethe redet sie in seinen Briefen nicht mit Vornamen an. Anderen gegenüber nennt er sie Erotikon, Demoiselle Vulpius, später meine Frau. Kein Briefzeugnis überliefert eine Anrede mit dem Vornamen. Auch Christiane unterzeichnet ihre Briefe an Goethe nicht mit Vornamen. Sie schreibt: C. V., später CvG. oder CvGoethe. Einzig in zwei frühen Briefen unterzeichnet sie mit Christelchen und Christel. Hat Goethe sie so genannt? Auch Charlotte von Stein spricht von Christelchen. Ebenso Bertuch; seine Christel nennt er Goethes Frau. Offizielle Schreiben wie auch Briefe an ihren Freund Nikolaus Meyer unterzeichnet sie mit Christiana Vulpius bzw. Christiana von Goethe. Auch Goethe, als er 1808 eine Vollmacht für sie ausstellt, schreibt: Christiana. Unter dem Namen Christiana wird sie getraut. Für mich ist ihr Taufname, und der, mit dem sie unterschreibt, ihr Name geworden: Christiana; ich nenne sie Christiana. Aber Zeit und Gewohnheit haben ihr den Namen Christiane gegeben. Die Überlieferung über die Jahrhunderte scheint es festgeschrieben zu haben. Und an der Macht der Gewohnheit ist schwer zu rütteln.
Der 1. Juni 1765. Die Geburt zu Hause, wie es damals üblich ist. Die Wehmutter wird die Gottschalgin oder die Liebern sein, die später auch Christiane beistehen werden, oder noch deren Mütter; der Hebammenberuf bleibt über Generationen in ein und derselben Familie.
Der Vater läßt die Taufe der Tochter ins Wochenblättchen einrücken, das bey Conrad Jac. Leonh. Güsing, HofBuchdr. gedruckt wird und im Hofmannischen Buchladen für 3 Pfennig zu erhalten ist. In Nr. 45 »Weimarische Wöchentliche Anzeigen auf das Jahr 1765«, des Mittwochs, den 5ten Junius erschienen, steht unter der Rubrik Gebohrene: Den 3ten dieses Monaths hat der Herr AmtsCopist, Vulpius, sein Töchterlein, Johanna Christiana Sophia, in Fürst. HofKirche taufen lassen.
Christianes Vater legt demnach Wert auf Form. Die Anzeige. Der Ort. Nicht die Stadtkirche, sondern die Hofkirche. Als einem Beamten in fürstlichen Diensten steht ihm dieses Recht zu. Die Hofkirche ist die im ältesten Stadtteil, in der Vorstadt, gelegene Jakobskirche.
Der Taufakt in der Sakristei. Die Taufgesellschaft. Eltern, Großeltern mütterlicherseits, Verwandte. Die Taufpaten, ein Herr Schmidt, ein Arbeitskollege des Vaters vermutlich, ein Fräulein Wirsing und die zwanzigjährige Schwester der Mutter, die in Oberweimar lebt und mit einem Pfarrerssohn namens Kesselring verheiratet ist. Die Kirchenbucheintragung lautet: Die Taufpathen waren 1. Jungfer Friederice Sophia Wirsingin, Herrn August Heinrich Wirsings, Hochfürst. Sächß. Rent-Secretarii alhier, eheleib. älteste Jungfer Tochter; 2. Herr Anthon Justus Friedrich Schmidt, F Sächß. Hofadvokat alhier; 3. Frau Christiana Sophia Riehlin, verehelichte Kesselringin, Herrn Carl Heinrich Kesselrings, F. Sächß. Amts-Actuarii alhier, Eheliebste.
Christiane ist eines von 233 Kindern, die laut Statistik des Wochenblättchens 1765 in der hiesigen Residenz geboren werden.
Wie haben wir uns dieses Weimar, in dem Christiane Vulpius geboren wird, vorzustellen? Vor allem ohne Goethe. Er ist fünfzehn Jahre alt. Beginnt sein Studium.
Auf seiner ersten großen Reise von Frankfurt am Main nach Leipzig fährt er durch Thüringen. Vielleicht die Handbewegung eines Mitreisenden zur Morgenseite, der Hinweis: Weimar. Die große Landstraße führt etwa knapp zwei Meilen nördlich an Weimar vorbei. Die Poststation ist Buttelstedt. Durch Thüringen wurden die Wege noch schlimmer, und leider blieb unser Wagen in der Gegend von Auerstädt bei einbrechender Nacht stecken. Wir waren von allen Menschen entfernt, und taten das mögliche, uns los zu arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich mit Eifer anzustrengen, und mochte mir dadurch die Bänder der Brust übermäßig ausgedehnt haben; denn ich empfand bald nachher einen Schmerz, der verschwand und wiederkehrte, schreibt Goethe später.
Weimar 1765. Das mittelalterliche Stadtbild mit Befestigungen aus dem 15. Jahrhundert, dem doppelten Mauerring, den vier Toren und zehn Türmen verändert sich. Ein Teil der Türme, Tore und Mauern wird niedergerissen. Der »Elefant« am Markt existiert schon, der Gasthof »Zum Erbprinzen« hat seit über einem Jahrzehnt die Gastgerechtigkeit. 1765 eröffnet eine Frau namens Ortelli eine Weinstube. 257 mit Fischtran betriebene Laternen beleuchten Gassen und Plätze der Stadt.
Weimar ist Residenzstadt. Hauptstadt eines der ältesten und kleinsten Thüringer Fürstentümer. Begrenzt im Osten von Kursachsen, im Westen von Hessen-Kassel, im Norden von Brandenburg-Preußen, im Süden von Bayern. Zum Fürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach gehören die Gebiete um Weimar und Apolda, der Landzipfel Allstedt in Nordthüringen, die Gebiete von und um Jena und Eisenach und Teile von Ilmenau und Umgebung. Durch Erbteilungen ist das Land zerstückelt, durch fremde Territorien, durch Kur-Mainz als Besitzer von Erfurt, durch Sachsen-Gotha und die Herrschaftsbereiche der Schwarzburger Grafen getrennt. Ein Land mit insgesamt etwa 120 000 Einwohnern.
Weimar hat ungefähr 6 000 Einwohner, es ist, verglichen mit Residenzstädten wie Dresden, Kassel oder Mannheim, winzig und bescheiden. Dresden zum Beispiel hat mit 63 209 das über Zehnfache an Bewohnern. Auch mit den Handelsstädten Frankfurt am Main und Leipzig, letztere mit 26 655 Einwohnern, kann sich Weimar nicht messen. In Thüringen nimmt die Stadt nach Erfurt und Gotha, Mühlhausen, Nordhausen und Eisenach in der Größe etwa den achten Platz ein.
Eine Häuserzählung von 1742 kommt auf die Zahl von 729. Hundert Häuser allein gehören den Beamten der Regierung. Für 255 Beamte und Geistliche zahlt der Hof die Miete.
Der Fürstenhof beeinflußt das Gefüge der Einwohnerschaft. Weit mehr als ein Viertel der Bewohner gehören zum Hof, zur fürstlichen Familie, zu den Hofbediensteten, Beamten und Pensionären. Die Handwerker und Gewerbetreibenden, die 299 Häuser besitzen, sind als Personenkreis ebenfalls dem Hof zugeordnet, arbeiten überwiegend für ihn, sind Hoflieferanten; Buchdrucker, Schneider, Schuster, Sattler, Metzger, Bäcker, Perückenmacher und Delikatessenhändler.
Christianes Familie. Sechs Köpfe zählt sie. Die Eltern, Christiane, der Bruder, die beiden Tanten, unverheiratete Schwestern des Vaters. 50 Taler Besoldung im Jahr, umgerechnet auf den Monat 4 1/4 Reichstaler. Ende 1766 oder Anfang 1768 erhöht sich die Besoldung von Christianes Vater auf 75 Taler jährlich. Davon sind Mietzins, Brennholz, Kleidung und Lebensmittel zu zahlen.
Die Marktpreise in Weimar vom 24. Juli 1765. Ein Scheffel Weizen kostet 1 Taler und 21 Groschen. Eine Metze Kernmehl kostet 4 Groschen, eine Metze geringes Mehl 2 Groschen, 3 Pfennige. (Getreide kauft man in Scheffeln, Mehl in Metzen, Fleisch in Pfunden, Seife in Steinen, Lichte in Pfunden, Bier in Eimern. Ein Taler wird zu 24 Groschen verrechnet, ein Groschen wiederum hat 24 Pfennige.) Schöpsenfleisch (Lamm) bekommt man das Pfund für 1 Groschen, 3 Pfennige, Schweinefleisch das Pfund für 1 Groschen, 6 Pfennige. Einen Stein Seife erhält man für 2 Taler, 12 Groschen. Ein Pfund Lichte, gegossen, kostet 4 Groschen. Und für den Eimer Braun Bier bezahlt man 1 Taler, 12 Groschen, 8 Pfennige.
Ein Paar Schuhe kostet 1 Taler, 2 Groschen, der Arbeitslohn für einen Anzug beträgt 2 Taler, der dazu notwendige Stoff kostet 8 bis 9 Taler.
Für das Brot gibt es eine sogenannte BrodTaxe. Der Preis bleibt stets gleich, das Gewicht aber verändert sich. In Zeiten schlechter Ernten wird das Gewicht herabgesetzt, Brote und Semmeln wiegen weniger, werden kleiner. Die genauen Gewichtsvorschriften werden jeweils im Wochenblatt mitgeteilt. So hat nach den Angaben vom 24. Juli 1765 ein großes Brot 2 Pfund, 8 Loth, 1 Quentl zu wiegen. Ein Pfund-Brot hat 4 Loth, 1 Quentl zu wiegen und eine Pfennig-Semmel 3 Loth.
Man kann sich in etwa vorstellen, was sich die Familie leisten kann. Ohne die Hilfe der Großeltern Riehl könnte sie gar nicht existieren. Vermutlich bleibt unerreichbar, was an frischen Waaren, Bey dem Herrn Stepheno Salice, am KornMarkte in den »Weimarer Wöchentlichen Anzeigen« vom 13. Dezember 1766 unter der Rubrik Was zu verkaufen angepriesen wird. TonnPöcklinge; frische Muscheln; veritable Limburger Bricken; ItalienischeOliven; Sardellen, geräucherter Lachs; veritables ProvancerOel; Italienische große Maronen, das Pfund 3 Groschen; ParmesanKäse; Limburger Käse; frische Trüffeln; Citronen, das Stück 1 Groschen; veritable holländische Schokelate; Italienische Mandeln in Schaalen; Dattel.
Eher wird sich Christianes Mutter wohl an das halten, was das Wochenblättchen unter der Rubrik Oeconomica den weniger Bemittelten empfiehlt. Statt Bier zum Beispiel GraupenWasser zu trinken, so von groben Graupen abgekocht worden; als eins der heilsamen Getränke. Oder ein Rezept, wie mit leichten Kosten die Armen bey theuren Zeiten sich wohl sättigen können, ein halbes Pfund ordentliches Waizenmehl, Salzwasser, drei Loth Butter dazu, mit Wasser aufkochen, kochen lassen; von dieser Suppe können fünf bis sechs Personen ohne Brod satt werden. Oder jenes Mittel, das gegen Auszehrung gut sein soll, künstliche Eselsmilch, hergestellt aus reiner Gerste, drei Unzen geraspeltem Hirschhorn, drei Unzen eingemachte Mannstreu Wurzel und dreißig grob gestoßenen Schnecken.
Als Christiane am 1. Juni 1768 drei Jahre alt wird, ist Goethe noch Student in Leipzig. Schwankt, wie er erinnernd sagt, zwischen den Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen. Im Juli 1768 erleidet er einen Blutsturz. Ende August bricht er nach Hause auf. Die gleiche Wegstrecke. Wieder nördlich an Weimar vorbei. Die schlimmen Wege durch Thüringen sind nicht vergessen. In der Gegend von Auerstädt gedachte ich jenes früheren Unfalls. In den ersten Septembertagen kommt er in seine Heimatstadt Frankfurt am Main zurück.
Am 6. März 1767 stirbt Christianes Tante Johanna Sophia. Am 6. September des selben Jahres bekommt Christiane eine Schwester, Johanna Henriette Dorothea. Sie stirbt im Alter von vier Monaten am 28. Januar 1768, vermutlich an Blattern. Im Herbst 1767 grassieren die Blattern in Weimar. 875 Kinder erkranken, 47 davon sterben bis Jahresende, wie das Wochenblatt Nr. 2. vom 6. Januar 1768 ausweist.
Am 23. Januar 1769 bekommt Christiane einen zweiten Bruder, Johann Gottlieb Heinrich.
Das Jahr 1769 bringt einen tiefen Einschnitt für die Familie. Christianes Großvater Johann Philipp Riehl, der Strumpfverleger und Hausbesitzer in der Wagnergasse, stirbt. Der Bruder der Mutter, Johann Andreas Riehl, übernimmt die Geschäfte und das Haus. Er ist einundzwanzig und heiratet noch im selben Jahr, am 13. Mai 1769. Mit dem Tod des Großvaters fällt, so ist zu vermuten, für die Vulpius-Familie die finanzielle Hilfe weitgehend weg. Vielleicht hängen die Bittgesuche, die es ab 1770 – nach zehn Jahren Pause – von Christianes Vater wieder gibt, damit zusammen.
Vier Gesuche 1770, alle an Herzogin Anna Amalia, Durchlauchtigste Herzogin Gnädigste Regierende Fürstin und Frau, gerichtet. Das erste ist vom 22. Januar (Geheime Canzley Acta Sig. B 23379), das zweite (Regierungsakte Nr. XIX Sig. B 25418) vom 9. Juli, das dritte vom 10., das vierte vom 20. August (beide Geheime Canzley Acta Sig. B 25 781, alle ThHStAW). Christianes Vater bewirbt sich um eine besser besoldete Stelle und bilanziert zugleich seine zehn Dienstjahre.
Im Siebenjährigen Krieg (der Preußenkönig Friedrich II., der nach dem Tod des Weimarer Schuldenherzogs einen Großteil der entlassenen Soldaten übernommen hat, benutzt das thüringische Fürstentum als Aufmarschgebiet und Hinterland für seinen Krieg) führt Christianes Vater Listen über Kriegs-Fourage, habe die Besorgung derer bey Fürstlichen Amte Weimar sich befindlichen 28 Dörfern … vorgenommenen Einquartierungen dero Soldaten, Fourage-Lieferungen und darüber zu führenden Rechnungen allein über mir gehabt. Von bey vormaligen Kriege … dabey ex proprius gehabten … Strapazzen spricht er, von Strapazen bey … vorgenommenen Einquartierungen und Fourage-Lieferungen.
Catastra über Futter, Hafer und Heu für die Militärpferde, über Lebensmittel, Mundvorrat für die Soldaten, darüber, was die einheimischen Bauern der preußischen Armee geben, was requiriert oder ihnen gewaltsam genommen wird. Die Catastra, die Christianes Vater zu erstellen hat, sind Nachweise für das Fürstliche Amt Weimar über die Höhe der Kriegskontributionen. Es gibt ein genaues Reglement über anteilig zu tragende Lasten, jeweils nach Größe von Grund und Boden, Haus und Besitz. Den Bauern verspricht man, später einen Teil der Kontributionen und Einquartierungslasten zu ersetzen; Versprechungen, die fast nie eingelöst werden oder nur einen Bruchteil der tatsächlichen Verluste berücksichtigen. Vermutlich hat Christianes Vater diese Arbeit bereits seit Kriegsbeginn 1756 ohne Bezahlung verrichtet. Von Dorf zu Dorf zieht er, ein Landgänger.
Auch bei einer anderen Arbeit, die er in seinen Gesuchen erwähnt, der Errichtung der Land-Assecurations-Societaet, in der Stadt, Amte Weimar, und einbezirkten Landl. Dorfschafften, auch Land-Städten, muß er über Land gehen. Auch da spricht er von gehabbenen Strapazzanden Expetionen, welche Expeditiones ganz allein, wie die dieserhalb geführten Acten … über mir gehabt und die Catastra gefertigt habe, davon, daß er diese Arbeiten zusätzlich zu den mir aufgetragenen Amts- und Comisions-Geschäften verrichtet hat. An anderer Stelle präzisiert er, zu seinen Functiones, als Archivarius und Copist müsse er weiterhin noch die Vices (Verpflichtungen) eines Actuarii täglich bey denen Amtes, und mit dieser mehrenteils verknüpften Landgeschafften, vertreten …, dieserhalb auch bey Hochfürstl. Landes-Regierung, sowohl, dieser Land-Geschäfte halber, als auch, der feuerhaltischen, mühsamen Untersuchungs-Fortsetzung ad Acta verpflichtet und als Actuarius bey ersterem allezeit gebrauchet werde und bey letzterem adhibiret … Die Land-Assekuranz-Societät ist eine Brandkasse, eine Versicherungsgesellschaft gegen Feuer. Vulpius muß vermutlich an Ort und Stelle die Schäden aufnehmen, dann in der Kanzlei die Akten darüber führen.
Von notorisch geringem Gehalt spricht er und zieht eine bittere Bilanz seiner zehnjährigen Tätigkeit beim Fürstlichen Amte in Weimar. Das Gehalt habe nicht zur nothdürftigsten Sustentation (Erhaltung) meiner und deren meinigen gereicht. Er sei nicht im Stande gewesen …, von denen, vor ohngefähr 3 Jahren erhaltenen 75 Reichsthalern jährlicher Besoldung meiner Frau und 3 Kindern den nothdürftigsten Unterhalt zu schaffen und davon zu leben. Daß er ziemlich meiner Frauen Vermögen, zusetzen mußte und noch zusetzen muß, das sei die traurige Folge. Im nächsten Gesuch schreibt er vom völligem Zusatze meiner Frauen Vermögen.
Christianes Vater befindet sich in der gleichen Situation wie einst sein eigener Vater, jener Pastorensohn aus Rothenstein, der als Jurist in fürstlichen Diensten sein Vermögen zusetzen mußte, um existieren zu können. Nun ist das Vermögen von Christianes Mutter aufgebraucht.
Es bleibt einzig die Besoldung des Vaters. Es gibt einige Chancen, sie um geringe Beträge zu erhöhen. Durch sogenannte Mundationen, durch Sportulen oder Sporteln, geringe Geldbeträge, die in Notsituationen immer erneut zu beantragen sind. Durch Emolumentis, Accidentien und Copalien. Die niederen Hofbeamten werden an den Schreib- und Nachschreibegebühren beteiligt, die in eine gemeinsame Kasse, die sogenannte Copial Casse, fließen und wöchentlich oder monatlich ausgezahlt werden, so daß sich eine zusätzliche Summe pro Jahr ergibt. Auf die Beschwerde der acht Kanzlisten anwortet der Regierungspräsident (Schreiben vom 28. November 1759, ThHStAW Sign. B 23379) mit der Gegenfrage: wieviel die Nachschreibegebühren jährlich betragen, und wieviel jeder Canzlist von sothanen Nachschreibe-Gebühren, da solche mit in die Copial Casse gebracht werden, jährlich partizipirte. Nach Meinung des Präsidenten muß der Ertrag de anno 1757 a 34 Rh. 17 gr. sein, wenn er verteilet unter die Personen, so fragt er an, ob er bei jedem der Kanzlisten 3 Rh. 11 gr. betragen habe.
Christianes Vater klagt auch da Versäumnisse ein. Bei wöchentlicher Vertheilung deren Sportuln, welche ich doch mitverdienen muß, sei er zu kurz gekommen. Auch habe er weder einen Teil Sportuln noch die völligen Copalien, meines vielfältigen unthertänigsten Gesuchs ohngeachtet erhalten können.
Am 22. Januar 1770 bewirbt er sich nach dem Tod des Canzlisten Johann August Dorf um die Stelle eines Registratoriis bey Fürstl. Regierungsamt … mit der dabey verknüpften Besoldung, Copalien und Accidentien. Am 9. Juli bittet er, ihm nach dem Tod des Kanzleisekretärs Lenz dessen Stelle eines Hochfürstl. Regierungs Archivarius mit denen dabey verknüpften Emolumentis und Besoldung in Gnaden zu conferiren. Am 10. August bewirbt er sich für die durch das Ableben des Hof- und Stallschreibers Schultzen vacant gewordene Stelle mit dem Prädicat eines Hof-Controleurs und denen darbey verknüpften Emolumentis. Zehn Tage später bittet er nochmals, daß diese Stelle zum Soulayment meines und der meinigen ihm conferiret werde.
Das Gesuch vom 22. Januar, das längste, sieben Seiten, trägt nur den Eingangsvermerk. Das zweite hat sieben Beamtenunterschriften. Vulpius steht zur Wahl.
Die Stelle aber erhält Christian Gottlieb Lippold. Auch er ist mir mit seinen Bittgesuchen immer wieder begegnet. Seine Schreiben um bessere Placierung im Dienst. Eingaben vom 14. Dezember 1759, vom 7. November 1761. Am 12. Dezember 1761 schreibt er zum Beispiel an seine Vorgesetzten, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß allhier mir 25 Groschen als ein Hochfürstliches Gnaden-Geschenk ausgezahlet werden sollen; vorauseilend und überschwenglich bedankt er sich, wünscht dem Fürstenhaus dafür unendlichen Seegen und Glücksseligkeit (ThHStAW Sign. B 23379).
Das nächste Gesuch von Christianes Vater vom 10. August hat den Eingangsvermerk 18. August. Eine Ecke ist aus dem Papier gerissen. Das Siegel ist noch erhalten. Das folgende Gesuch vom 22. August ist am 23. abgezeichnet mit dem Vermerk ad Officium Marschallum.
In den Akten (ThHStAW Sign. B 25781) finde ich ein Blatt mit der Überschrift: Specificatio, darunter derer Competenten, zu des verstorbenen Hof- und Stallschreibers Schultzen Stelle. Aufgelistet sind dreizehn Bewerber.
Einer namens Gröbe hat bereits fünfzehn Dienstjahre vorzuweisen, ein anderer, Pactorius, führt die Dienste seines Vaters an, ein nächster bringt zwei Zeugen für seine Arbeitswilligkeit, fleht mit Inbrunst, verweist auf seine todkranke Mutter; überall ist von Schulden und von Hunger die Rede.
Nur einer, ein Studiosus, gibt sich gelassen; der Ton seines Gesuchs erinnert an den der ersten Gesuche des jungen Vulpius von 1750. Dieser Studiosus, Candidatus Juris Johann Ludwig August Seyfarth, bekommt die Stelle. Mit ihm wird ein Versuch gemachet, und ihm die vorgeschlagene Besoldung a 120 Reichtaler abgegeben …
Wie wird den zwölf Abgelehnten zumute sein? Christianes Vater macht sich vielleicht Vorwürfe, daß er nicht nur vom völligen Zusatze seiner Frauen Vermögen, sondern auch vom völligen Zusatze seiner Gesundheit schrieb. Was ist mit einem kranken Beamten anzufangen? Dieser da, der die Stelle erhält, ist jung, unverbraucht und gesund.
Als Christianes Vater im August 1770 die Nachricht von der Ablehnung erhält, ist die Mutter wieder schwanger. In diesem Sommer gibt es in ganz Deutschland eine katastrophale Mißernte, vielerorts kommt es zu Hungersnöten. In deren Folge zu Krankheiten und Seuchen. Pestgefahr ist auch in Weimar. In einer Verordnung vom 22. Oktober 1770 werden Gast- und Schenkwirte und Privathäuser angewiesen,