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Eine Einladung nach Rom, ein halbes Jahr im Süden. In der Ewigen Stadt folgt die Erzählerin den Spuren Goethes und Ingeborg Bachmanns, sie entdeckt für sich Caravaggio und den Park der Villa Borghese, findet Freunde, reist zum Lago Maggiore und nach Syrakus, erinnert sich an die Landschaft Lapplands, an Kuba, an Che Guevara. Zwiegespräche mit der Vergangenheit und der Gegenwart: Wohin mit mir? Ein intimes, heiter-nachdenkliches Buch, das mit großer poetischer Kraft vom Suchen, Verfehlen und Finden des Glücks erzählt.
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Seitenzahl: 320
Eine Einladung nach Rom, ein halbes Jahr im Süden. In der Ewigen Stadt folgt die Erzählerin den Spuren Goethes und Ingeborg Bachmanns, sie entdeckt für sich Caravaggio und den Park der Villa Borghese, findet Freunde, reist zum Lago Maggiore und nach Syrakus, erinnert sich an die Landschaft Lapplands, an Kuba, an Che Guevara. Zwiegespräche mit Vergangenheit und Gegenwart: Wohin mit mir?
Ein intimes, heiter-nachdenkliches Buch, das mit großer poetischer Kraft vom Suchen, Verfehlen und Finden des Glücks erzählt.
»›Alles, was lebt, sei lebendig‹, hat Goethe geschrieben. Sigrid Damms römisches Diarium nimmt diese Empfehlung erfrischend beim Wort.
Dieses Buch dürfte die vielen Fans der Autorin erfreuen … Sigrid Damm ist als Flaneurin ganz Auge und Ohr. Mit unbefangenem Blick begibt sie sich auf die Wege durch Rom und nach allmählicher Vertrautheit und wachsender Zuneigung findet sie ihr unverhofftes römisches Glück.« Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Ein Rom-Buch der liebenswürdigsten Sorte. Unbefangen, ohne jede Prätention von Kennerschaft oder Insidertum berichtet Sigrid Damm von ihren Streifzügen und Entdeckungen, von Begegnungen der spektakulären oder »nur« menschlichen Art, von Spurensuche und Offenbarungen. Sie tut es auf so sympathische Weise, dass man auch als Romkundiger alles noch einmal neu und im Zustand der Unschuld zu sehen glaubt.« Kristina Maidt-Zinke, Die Zeit
Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Sie ist Mitglied des P. E. N
eBook Insel Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4275.
© Insel Verlag Berlin 2012
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagabbildung: Antonio Canova, Amor und Psyche (Ausschnitt), 1793
Das letzte Jahr des vergangenen 20. Jahrhunderts. Für mich, die Erzählerin, war es ein abenteuerlich volles, verwirrendes Jahr, dieses 1999. Die Dichte der Ereignisse, die mich nicht zur Besinnung kommen ließen, der Wechsel der Orte, den der Körper vollzog, ein Wechsel, bei dem die Seele nicht nachzukommen vermochte. Ihr Zurückbleiben. Vergebliches Warten. Wohin mit mir.
Meinen Lebensmittelpunkt hatte ich – nach dem Sturz meines Landes in den Abgrund und der Öffnung der Grenzen in alle vier Himmelsrichtungen – im hohen Norden gefunden, in Schweden, unweit des nördlichen Polarkreises, in einer Landschaft, in der alles lag, was ich erzählen wollte, in der mich eine warm bewohnte Unendlichkeit umgab. Da rief man mich nach Süden, nach Italien. Vom 1. Juli bis 31. Dezember wurde mir ein Aufenthalt als Stipendiatin der Casa di Goethe in Rom zugesprochen.
Und zudem: im Frühjahr des Jahres 1999 war ich in der Erwartung, Großmutter zu werden. Eine halbjährige Abwesenheit aus Deutschland?
Auch mein Verlag zeigte sich nicht glücklich darüber. Mein im August des Vorjahres erschienenes Buch hatte überraschend Erfolg. Ein Ansturm von Wünschen nach Lesungen. Wenigstens einen Teil solle ich erfüllen, sagte mein Verleger, und so drängten sie sich im ersten Drittel des Jahres zusammen.
Dann kam noch etwas dazu, das wohl entscheidend war: In mir arbeitete bereits ein nächstes Buch. Es hatte, wie konnte es anders sein, den hohen Norden zum Erzählraum. In diese Landschaft war ich durch meinen älteren Sohn gekommen, der sie für sich entdeckt und mich und seinen jüngeren Bruder mit seiner Leidenschaft für den Norden infiziert hatte. Jahre schon hatten wir den Traum: ein Buch zu dritt darüber zu machen. Nun brachte der Erfolg ihn in greifbare Nähe. Ich entsinne mich an den Tag, als wir ihn in die Realität eines Entschlusses wandelten. Es war Karfreitag, der 2. April. Mit den Söhnen und der hochschwangeren Frau des älteren fuhren wir in die Umgebung von Berlin hinaus. Mieteten am Lehnitzsee ein Boot, ruderten zur Mitte des Sees, ließen das Boot treiben, es kreiste um sich selbst, lange, trieb dann unendlich langsam dem Ufer zu. Und da stand der Entschluß fest. Und auch der, daß ich vor meinem Aufbruch nach Italien allein nach Norden fliegen, dort die Zeit von Mitte Mai bis Mitte Juni verbringen würde.
Wenige Tage nach jener Bootsfahrt kam das Kind zur Welt. In das Glück meines Großmutter-Daseins mischte sich die Bitternis über die Vorgänge im zerfallenen Jugoslawien. Am 21. März hatten – ohne Mandat der UNO – die Luftangriffe der NATO-Verbündeten auf Serbien begonnen. Auch in der Nacht, als das Kind geboren wurde, bombardierten NATO-Flugzeuge serbisches Gebiet. Wenige Tage später, ich war schon wieder unterwegs, beim Umsteigen auf dem Leipziger Hauptbahnhof die riesige Leinwand, auf der Bilder vom zerstörten Belgrad flimmerten, in der Nacht war das Innenministerium getroffen worden. Und Aufnahmen von einem von Flugzeugen angegriffenen Zug, in dem Zivilisten saßen. Die Tötung von Unschuldigen, Gewaltanwendung im Namen einer Aktion, für die man das Wort Friedensdurchsetzung hatte; eine in meinen Augen durch nichts zu rechtfertigende Aktion, an der sich auch Deutschland beteiligte. Waren die Politiker meines Landes von allen guten Geistern verlassen?
Mitte Juni, als ich von Luleå in Nordschweden nach Berlin zurückflog und in Stockholm zwischenlandete, sah ich auf den Titelseiten der großen Zeitungen und auf den Bildschirmen in der Wartehalle: Die NATO-Verbündeten, unter anderen auch deutsche Truppen, zogen wie Siegermächte im Kosovo ein, und die Menschen standen an den Straßenrändern und winkten den Panzern zu.
Der hohe Norden. Mitte Mai. Der Winter war noch nicht vorbei. Der Piteälven trug noch Eis. Überall waren Schneereste. Auch auf dem Grundstück in Roknäs; der Nachbar hatte den Schnee zu Haufen zusammengeschoben. Die Bäume waren noch völlig kahl. Die Erde gefroren. Nur in den Ameisenhaufen regte es sich.
Aber wie in all den Jahren beginnt das Glück hier übergangslos; von null auf tausend. Sofort bin ich von dieser Unendlichkeit umgeben. Morgensonne. Draußen vor meiner Kammer auf dem Rentierfell sitzend frühstücke ich. Am Fluß treffe ich eine Elchmutter mit ihrem Kind und zwei Rentiere. Ich besuche meine Freunde in Bölebyn, der Eisgang auf dem Piteälven hat ihre Saunahütte weggerissen. Ich schlafe zehn Stunden. Traumlos. An einem windstillen Tag brenne ich die Wiese ab. Höre auf das Fallen der Regentropfen auf das Dach der Terrasse, höre auf die Kehllaute der Vögel. Beobachte die Vorgänge im Ameisenhaufen oder mit dem Fernglas die sich entfaltenden Blätter an den Bäumen. Der Frühling kommt hier explosionsartig. Über Nacht erscheint ein blühender Teppich von Anemonen hinter dem Vorratshaus. Und die braunen wurmartigen Gebilde am Wegrand rollen sich zu stolzen Farnen auf. An den Bäumen kann ich die Blätter wachsen sehen, ich renne hinaus, mehrmals, messe, in wenigen Stunden neun Millimeter, und innerhalb von zwei Tagen ist die zum Haus führende Birkenallee in ein berauschendes Gelbgrün getaucht.
Die Sonnenturbine läuft. 26 Grad am Mittag. Es dämmert zwar am späten Abend, aber es wird nicht mehr dunkel. Ich laufe um Mitternacht über die Wiesen und in den Wald hinein. Einige Breitengrade weiter oben steht die Sonne schon ununterbrochen am Himmel. Wie soll mein Kindeskind hier Tag und Nacht unterscheiden und schlafen können. Und die Mücken. Ich messe die Fenster in der Schlafkammer aus, fahre ins Nachbardorf, bestelle Mückenfenster und Verdunklungen.
Und die Abende am Kamin, das prasselnde, lodernde, sprühende Feuer, wie in all den vergangenen Jahren. Stundenlang sitze ich, ohne mich zu rühren. Oder liege auf der Bank in der Stube und sehe in die Flammen. Erhebe mich nur, um ein Scheit Holz nachzulegen. Oder um zu tanzen. Nach Zamfir, der seine Panflöte zu Bach, Albinoni, Corelli und Telemann spielt.
Und plötzlich weiß ich, daß der Erfolg meines Buches mit diesem Ort zu tun hat. Hier ist es überwiegend entstanden. In dieser Leere, Stille, dieser Unendlichkeit. Hier habe ich Zeithaben und Gelassenheit gelernt; am Feuer und auf den Gängen über die einsame Landschaft. Wartenkönnen, bis das überlieferte Material sich freigibt, Rhythmus und Sprache sich finden. Undenkbar, daß man sich in den Himmel der Literaturwissenschaft oder in den der Spekulation versteigt, hier hat man die kleinen Bleigewichte an den Füßen, ist geerdet, ist der Erde nah.
Freilich, unbedingte Konzentration ist nötig. Wenn die Söhne in die Berge aufbrachen, begnügte ich mich, mit dem Finger auf der Landkarte entlangzuwandern. Jetzt aber, und das ist der Grund meiner Reise, werde ich das tun, wovon ich während der Jahre der Arbeit am Manuskript geträumt habe: die nahe am Haus vorbeiführende Straße weiterzuziehen bis an ihr Ende, bis an die Atlantikküste nach Bodø in Norwegen.
Der Rucksack ist gepackt. Am 1. Juni breche ich auf. In Bodø angekommen, feiere ich mit wildfremden Menschen die Mitternachtssonne. Dann weiter nach Narvik. Von dort über Katterjåkk nach Riksgränsen. Schließlich über Abisko, Kiruna und Gällivare zurück nach Roknäs. Zwölf Tage bin ich unterwegs. Ein Sinnenrausch. Ich schreibe nichts auf. Ich mache kein Foto. Aber mein Kopf ist übervoll. Erlebnisintensität. Neue Arbeitsfelder.
Die große Unruhe, von der ich nach der Rückkehr nach Deutschland erneut erfaßt wurde. Seit Monaten schon wird das Haus, in dem ich wohne, saniert. Die Balkonbrüstungen aus Beton sind abgerissen, auf dem Brettergerüst spazieren die Bauarbeiter, winken durch die offene Balkontür, wenn man noch im Bett liegt. Baulärm. Alle Rohrleitungen werden erneuert, wochenlang gibt es in der Küche keine Kochmöglichkeit, einige Tage lang ist selbst die Toilette nicht zu benutzen. Das Haus wird in Eigentumswohnungen verwandelt; ich kann meine sechsundvierzig Quadratmeter kaufen. Bestimmen, welche Fliesen, wohin mit den Steckdosen, auch alle Stromleitungen werden erneuert. Die fast dreißig Jahre alte Einbauküche aus Sprelacart zerfällt beim Abmontieren in ihre Einzelteile. An Mangelwirtschaft gewöhnt, werde ich nun mit Überfluß konfrontiert. Die Überfülle der Angebote. Durch Baumärkte, Küchenstudios.
Und inmitten von Einkaufshektik und Baulärm die Durchsicht der Fahnen von zwei Manuskripten. Den Aufwind des Erfolgs nutzen, sagt mein Verleger. Eines der Manuskripte liegt ihm besonders am Herzen, es ist sein Vorschlag, das andere mit Arbeiten aus zwei Jahrzehnten ist mir nahe.
Der Termin der Abfahrt nach Rom verschiebt sich. Mein Sohn Joachim bekommt vom Hebbel-Theater die Chance, einen Beitrag zu dem im Jahr 1999 in Berlin stattfindenden »Theater der Welt« zu entwickeln. Er wählt einen Aufführungsort im Freien, den Humboldthafen am Lehrter Stadtbahnhof. Er arbeitet wie besessen, in kürzester Zeit entsteht das Projekt »Wassertheater«; es hat viel mit unserem nordischen Buch zu tun, ich will die Aufführung nicht versäumen. Und im Roten Salon der Volksbühne spielt er sein Solostück »No time to loose«. Damit seine Frau eine der Vorstellungen sehen kann, erkläre ich mich bereit, bei dem Kind zu wachen.
Die erste Nacht allein mit dem kleinen Menschlein. Ich bin aufgeregt. Lausche auf sein Atmen, sein Schniefen und Glucksen wie auf eine Musik von Luigi Nono oder Johann Sebastian Bach. Bis drei Uhr schläft er durch. Dann gebe ich ihm die Flasche, er sieht mich unverwandt ernst an, sein Blick: wer bist du bloß. Die Wärme des kleinen Körpers, ich ziehe ihm ein Jäckchen an, halte ihn hoch, klopfe den Rücken. Später lege ich ihn wieder hin. Er schläft sofort ein. Und ich lausche von neuem der Musik.
Nach dieser wundersamen Nacht wieder Baulärm, Durchsicht von Fahnen, Einkauf in Baumärkten. Und dann die erste Durchlaufprobe des »Wassertheaters«. Ich fahre zum Lehrter Stadtbahnhof. Die am Humboldthafen aufgebaute Bühne. Das vom Projektleiter zusammengestellte Team, auch sein Bruder ist darunter. Alle Nächte wird durchgearbeitet.
Und dann kommt der Tag der Premiere, der 1. Juli. Alles läuft gut. Großer Applaus. Um vier Uhr am Morgen bin ich zu Haus. Gegen halb sieben laufen die ersten Bauarbeiter auf dem Gerüst entlang. Nun rückt die Abfahrt in unmittelbare Nähe. Der 6. Juli ist vereinbart. Mit dem jüngeren Sohn – am Tag der Premiere hat er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert – werde ich die Alpen überqueren. Koffer packen, die Wohnungsschlüssel der Freundin geben. Sie wird in der Zeit meiner Abwesenheit den alten Teppichboden entfernen und Parkett legen lassen. Welch Luxus! Wenn ich zurückkehre, versichert sie mir, werde ich die Wohnung nicht wiedererkennen.
Der Humboldthafen. Der Abbau des »Wassertheaters« ist in vollem Gang. Es ist drückend heiß. Die jungen Männer, ihre Hemden sind durchtränkt von Schweiß. Abschied vom älteren Sohn. Der andere winkt: bis morgen. Der Kinderwagen steht im Schatten. Nackte Füßchen. Keine Windel. Nur ein bis zum Bäuchlein reichendes leichtes Hemdchen. Ich nehme das Kindeskind aus dem Wagen, wieder dieses ernste: wer bist du bloß. Dann aber, mit einer langen, fast theatralischen Verzögerung, lacht das Kind, dem seine Eltern den Namen Noah gegeben haben, mich an. Zum ersten Mal. Abschied von ihm. Für ein halbes Jahr. Undenkbar, diese lange Zeit.
Die Nacht vor der Abreise. Noch immer diese drückende Schwüle. Die Turmuhr des Roten Rathauses schlägt die viertel, die halbe, die volle Stunde. Die nächste viertel, halbe, volle Stunde. Die Hitze. Reisefieber. Dann ein Donnergrollen, das näher kommt, schließlich ein heftiger Wind, der an den Pappeln im Innenhof reißt, und endlich – erlösend – ein starker langanhaltender Regenguß. Am Morgen ist der Himmel bedeckt, es hat sich merklich abgekühlt. Gutes Fahrwetter.
Das Abenteuer Süden kann beginnen. Wenn ich mich jetzt, mehr als zehn Jahre später, daran entsinne, ist mir, als ob das Durchlebte erst in der Erinnerung Realität gewänne. Damals war ich abwesend in der Anwesenheit. Der Zwiespalt von Körper und Seele, von Süden und Norden. Der wahre Aufenthalt in Rom ein nachträglicher, den die Erzählerin sich schreibend erschafft? Der Versuch, das Gewesene Tag für Tag zurückzuholen. Beginnend mit dem Tag der Abreise.
6. Juli
Es ist ein Dienstag. Pünktlich ist Tobias da. Sein roter Passat, den er vor einem halben Jahr gegen sein erstes, nach dem Mauerfall erstandenes Auto, einen Trabant, getauscht hat. Der Passat hat bereits hunderttausend Kilometer hinter sich.
Bis Schleiz ist uns alles vertraut. Die Autobahn in Richtung München. Ich bin sie noch nie gefahren. Auch der Sohn nicht. Spannung, wann werden die Alpen auftauchen. Der Himmel ist voller schnell ziehender Wolken, die sich mitunter düster türmen. Wir müssen lange warten. Dann aber reißen unvermittelt, nur für kurze Zeit, die Wolkenwände auf, und die Alpenkette liegt breit und behäbig wie ein urzeitliches Tier vor uns, seine Rückenzacken die Berge.
Ich erinnere mich, wie mein Verleger erstaunt die Augenbrauen hob, als ich sagte, ich sei noch nie in den Alpen gewesen, geschweige denn, daß ich sie überquert hätte. Er wollte es nicht glauben. Und ich erzählte ihm von den Bergen der Hohen Tatra und der Malá Fatra, in die man in DDR-Zeiten gefahren sei. Er schwieg, als fiele das nicht ins Gewicht. Diese Reaktion ist mir nach der Wende vielfach begegnet. Wenn ich von den hellen Nächten in Leningrad, von Moskau, vom Balaton oder vom Schwarzen Meer erzählte: Schweigen. War das nicht auch die Welt? Die Teilung in Ost und West hatte also nicht nur für mich existiert. Aber während, wie mir schien, die aus dem Osten hastig schlingend sich den Westen einzuverleiben suchten – Spanien, Italien, Mallorca, die Türkei die bevorzugten Ziele –, war dieselbe Gier in die andere Richtung keineswegs zu beobachten. Goethe, sagte mein Verleger dann, das Schweigen beendend, habe zweimal auf der Paßhöhe des Gotthard gestanden und sei umgekehrt. Erst beim dritten Anlauf habe er die Alpen zu übersteigen vermocht, habe Arkadien, sein Sehnsuchtsland erreicht.
Vor dem Dreieck Inntal verlassen wir die Autobahn, wir sind hungrig, es wird Abend, wir müssen uns eine Bleibe für die Nacht suchen. Ein Landgasthof, ein Zimmer mit einem Himmelbett, auf seinem Baldachin tummeln sich aufgemalte pausbäckige Engel. In der Gaststube ein kräftiges Mahl, auf fast allen Tischen, auch auf dem unseren, die Maß Bier – wir sind in Bayern. Als wir vor die Tür des Gasthofs treten, um noch einen Abendgang durchs Dorf zu machen, geht ein heftiger Gewitterguß mit Graupel und Hagelkörnern nieder. Dann bewachen die pausbäckigen Engel unseren Schlaf.
7. Juli
Der Tag der Alpenüberquerung. Innspruck liegt herrlich in einem breiten reichen Thal zwischen hohen Felsen und Gebirgen. Goethe. Von Innspr. herhauf wird's immer schöner. Da hilft kein Beschreiben. Fünfeinhalb Stunden brauchte Goethe von Innsbruck bis zum Brenner. Von Innsbr fuhr ich um 2 Uhr ab und war halb achte hier.
Das Inntal-Dreieck. Richtung Innsbruck. Wir kaufen eine Autobahn-Vignette für Österreich, tanken. Das Auto verliert Öl, keine Panik, sagt der Fahrer. Keinerlei Kontrollen an den Grenzen. Wir gewinnen an Höhe, sind wir schon auf dem Brenner? Das Handy klingelt. Tobias meldet sich, kein Wort, wo er sich befindet, er spricht, als sei er an seinem Arbeitsplatz in Berlin, nimmt einen umfangreichen Auftrag eines Kunden entgegen. Das unaufhörliche Dröhnen und Rauschen des Verkehrs. Das hohe Tempo, mit dem alle fahren. Auf der rechten Spur versperren die Lastwagen mit ihren Anhängern den Blick. Dann für Sekunden ein Schild: Brénnero/Brenner. Tobias verlangsamt das Tempo, heftiges Hupen hinter uns, er läßt sich nicht beirren, steuert auf die nächste Abfahrt zu, verläßt die Autobahn. Ich bin überrascht. Das Öl? Er schüttelt den Kopf. Goethe sei auch nicht auf einer achtspurigen, sich auf riesigen Betonstelzen befindlichen Autobahn gereist; wir nehmen die alte Brennerstraße, sagt er.
Der Reisende zweihundert Jahre vor uns verweilte auf dem Gebirgsscheitel. Am Abend des 8. September 1786 schreibt er an Charlotte von Stein: Wie sonderbar daß ich schon zweymal auf so einem Punckte stand, ausruhte und nicht hinüber kam! Die Erinnerung an die Umkehr im Juni 1775, er zeichnete auf der Paßhöhe des Gotthard den »Scheide Blick nach Italien«. Die zweite Umkehr im November 1779 als Begleiter des Weimarer Herzogs nach einer Wanderung von Chamonix über die Furka. Auch im Herbst 1786 zweifelt er, ob ihm die Alpenüberquerung gelingen werde. Auch glaub ich es nicht eher als bis ich drunten bin.
Er übernachtet auf der Paßhöhe. Macht Notizen, die er numeriert. Note a. Gedancken über die Witterung. – Note b. Über Polhöhe, Clima pp. – Note c. Über Pflanzen, Früchte pp. –Note d. Von Gebürgen und Steinarten. Der Blick des Ilmenauer Bergwerkskommissars auf die Erdformationen; von grauem Kalck, von Glimmerschiefer, von der Granitart Gneis ist die Rede. Granit selbst habe ich noch nicht gefunden.
Zusammenfassend heißt es: Zu meiner Weltschöpfung hab ich manches erobert.
Als letztes: Note e. Menschen. Ihm fallen bey den Weibern … sehr gut gezeichnete schwarze Augbrauen auf, bey den Männern … blonde Augbrauen und breite. Die Kopfbedeckungen der Weiber sagen ihm nicht zu: weise, baumwollene, zotige, sehr weite Mützen, wie unförmige MannsNachtmützen, die der Männer dagegen sehr: Die grünen Hüte geben zwischen den Bergen ein fröhliches Aussehen. Er beobachtet, daß fast jeder eine Feder am Hut trägt, vor allem Pfauenfedern seien bei den gemeinen Leuten beliebt. Sein Rat an Reisende, solche Federn mit sich zu führen. Dann könne man statt eines kleinen Trinckgelds ein groses ohne Unkosten geben.
Über den Jaufenpaß und Meran kommen wir in eine Ebene, an deren Ende sich die Stadt Bozen befindet. Das Thal worinn Botzen liegt … gegen Mittag offen, gegen Norden von den Tiroler Bergen bedeckt. Eine Rast? Zustimmung. Von der Landstraße auf einen Feldweg, dann zwischen Wiesen einen Hang hinauf. Der weite Blick. Unsere Fahrt nach drunten war gewiß nicht so abenteuerlich wie die Goethes. Da der Brenner-Wirt seine Pferde am Morgen braucht, überredet er seinen Gast, auf eine zweite Übernachtung zu verzichten und bei Mondschein talabwärts zu reisen. Um sieben fuhr ich vom Brenner weg … notiert Goethe. Der Postillon schlief ein und die Pferde liefen den schnellen Trab bergunter immer auf dem bekannten Wege fort, kamen sie an ein eben Flecken ging's desto langsamer, er erwachte und trieb und so kam ich sehr geschwind zwischen hohen Felsen, an den reißenden Etsch Fluß hinunter. Mehrmals dann Wechsel der Pferde. Über Sterzingen, Mittenwalde, Brixen ging es nach Colmann, wo Goethe am frühen Morgen anlangt. Er beklagt sich über die rasante Fahrweise: die Postillone fuhren daß einem oft Hören und Sehen verging; von entsetzlicher Schnelle schreibt er.
Der Sohn lacht, als ich das vorlese. Die Durchschnittsgeschwindigkeit einer Postkutsche betrug damals – je nach Wegezustand – in etwa drei bis vier Kilometer die Stunde. Talabwärts mögen es vielleicht einige Kilometer mehr gewesen sein. Dann sind wir doch gut, statt 180 auf der Autobahn nur 80 auf der Landstraße oder 50 zu fahren. Auch hinter Bozen verschmähen wir die Autobahn, deren unablässiges Gedröhn zu uns herüberdringt. Wir lassen uns von der grünen Linie auf der Landkarte verführen. Nehmen den Weg durch die Dolomiten. Steile enge Straßen, viele Kehren, atemberaubende Haarnadelkurven; ich möchte nicht am Steuer sitzen. Tobias fährt wie ein junger Gott.
Über Mezzolombardo, Sarche und Arco erreichen wir gegen Abend Torbole am Gardasee. Ich wette, sagt der Sohn, Goethe war hier. Ich bestätige es. Das Örtchen liegt am nördlichen Ende des Sees, schreibt er am 12. September 1787 an Charlotte, und, daß er die ersten Feigenbäume und die ersten Ölbäume voller Oliven gesehen habe. Die Menschen leben ein nachlässiges Schlaraffenleben.
Wir essen in der Abendsonne im Freien unter Palmen an einem weißgedeckten Tisch. Gehen danach hinunter zum See. Eine Decke unterm Arm, eine Flasche Wein, »Vino di Goethe di Garda« (ein Buchhändler hat sie mir geschenkt). Wir trinken. Reden. Auch darüber, daß in der Nacht des 23. April der Hauptsitz des serbischen Radios und Fernsehens mitten im Zentrum Belgrads von Flugzeugen der NATO bombardiert wurde. Eine Verletzung des Genfer Abkommens, von amnesty international als Kriegsverbrechen eingestuft. Die unheilvollen achtundsiebzig Tage der Bombardierungen der NATO.
Der Gardasee. Das gegenüberliegende Ufer mit Bergen und grünen Hügeln scheint menschenleer und unbelebt, als aber die Dämmerung kommt, gehen vereinzelt Lichter an, und mit der zunehmenden Dunkelheit werden es immer mehr. Unzählige kleine Ortschaften müssen sich dort drüben befinden.
Wie war der Goethe-Satz mit der Weltschöpfung, fragt der Sohn. Zu meiner Weltschöpfung hab ich manches erobert. Später macht er allein noch einen Gang durch Torbole. Ich gehe schlafen.
8. Juli
Wir beginnen den Tag mit Schwimmen in dem zum Hotel gehörenden Freibad. Nehmen uns viel Zeit für das Frühstück. Schlaraffenleben. Dann die Straße am Ufer des Lago di Garda entlang: Malcésine, Brenzone, Bardolino. Bei Peschiera fahren wir unter der Autobahn durch. Wir bleiben auf der Landstraße. Ein Schild: Mántova. Ich vermeine die Arie des Grafen von Mantua aus Verdis Oper »Rigoletto« zu hören. Die Poebene mit ihrer vielen Industrie. Unweit von Borgoforte überqueren wir den Fluß; breit und träge fließt der Po dahin. Hinter Réggio Nell'Emilia wird es leicht bergig. Wieder folgen wir der grünen Linie auf unserer Karte. Dann Sassuolo, Serramazzoni, Pontepetri; bei Pistoia erneut die Unterquerung der Autobahn. Schließlich Empoli, Castelfiorentino.
Die Toskana. Wir übernachten in San Gimignano. Die Stadt liegt auf dem höchsten Punkt eines langgestreckten Bergrückens. Olivenhaine und Weinberge, soweit das Auge blicken kann. Der Gegensatz zu der grauschwarzen, von blendenden Schneeflächen unterbrochenen endlosen Einsamkeit der Berge auf meinem Weg im hohen Norden könnte nicht größer sein.
Wieder Abendessen im Freien. Die elastische Luft, von der Goethe spricht, sie würkt auf die Organe der Pflanzen, macht ihre Existenz vollkommen. Der Sohn im weißen Hemd, hinter ihm eine grüne Wand mit üppigem Oleander voller zartrosa und tiefroter Blüten. Dieser Hintergrund – unwirklich, wie auf einem alten kostbaren Gemälde.
Später ein Gang durch San Gimignano. Mittelalterliche Gebäude, auch die alte Stadtmauer ist erhalten. Die Steine der Häuser, der Mauern; ihre lautlose Sprache. Enge Gassen. Es ist still in ihnen. Vor den Haustüren sitzen schwarzgekleidete alte Frauen, jede für sich vor ihrem Haus, nickend erwidern sie unseren Gruß. Sie sitzen auf ihren Stühlen. Sie schweigen. Sie warten. Worauf? Auf den Tod.
Auf der Piazza Cisterna aus Backsteinen ein Muster. La Collegiata, der romanische Dom aus dem 12. Jahrhundert, wie wir an der Pforte lesen. Sie ist geschlossen. Der den Dom noch überragende mittelalterliche Turm daneben. Plötzlich ein Knarren, die Dompforte öffnet sich. Im langen schwarzen Habit kommt ein Pfarrer oder Küster, unterm Arm eine große Plasteflasche – gewiß für das Weihwasser –, schnellen Schrittes die flachen Stufen herab. Am Brunnen füllt er die Flasche, eilt dann mit wehendem Gewand die Stufen hinauf. Die Tür schließt sich hinter ihm, wieder das knarrende Geräusch.
Die Nacht in einem winzigen Zimmer zu ebener Erde, ab und an Hundegebell und vereinzelt Schritte von Vorübergehenden.
9. Juli
Unser Siena-Tag. Der Sohn war schon hier. Nach Mauerfall und Beendigung seines Wehrdienstes in der Nationalen Volksarmee – beide Ereignisse fielen annähernd zusammen – war er umgehend nach Italien aufgebrochen. Er führt mich. Porta Camollia, San Domenico, der Dom, der Campanile. Von oben blicken wir auf die Piazza del Campo, von hier kann man ihre Muschelform und die neunteilige Gliederung gut erkennen. Die Sinfonie der Farben. Italienisches Ocker, ein gelbes bis rotbraunes Pigment, benannt nach der Erde rund um die Stadt: Terra di Siena, Erde von Siena. Siena ist neben anderen Erdfarben das früheste Pigment, das Menschen nutzten. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien läßt es sich nachweisen.
Dann sind wir unten auf der Piazza del Campo. Laufen im Strom der Touristen. Der Palazzo Pubblico, der Mangia-Turm; farbsatte Rotgelbtöne, ein Gelbbraun, das zu Ocker wird, Umbra, ein grünliches Braun. Siena, eine Stadt, die niemals bombardiert wurde, eine unzerstörte alte Stadt, ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Wo hat die Gegenwart hier Raum? An der Piazza del Campo ein Restaurant am anderen, überall Touristen; auch wir sind Gaffer, sind Zuschauer, ohne Spieler zu sein.
Vor Jahren übernachtete der Sohn am Stadtrand im Zelt. Jetzt suchen wir uns das schönste Hotel. Palazzo Ravizza, hohe Zimmer, alte Möbel, im Garten plätschernde Brunnen, ein Blumenflor. Am Abend sitzen wir auf der Terrasse – der Blick in die weite Ebene der Toskana. Die südlichen Farben, die üppige mediterrane Fülle. Der blaue Himmel. Die weißen Gebäude mit den roten Ziegeldächern, in der Nähe, der Ferne, verteilt über die Ebene, meist von hohen Pinien umgeben. Die Anwesen, die Wege, die Haine mit Ölbäumen, die Weinhänge, überall ist die Hand des Menschen zu sehen.
Vor mir tauchen, fast schmerzhaft sehnsüchtig, die Berge des hohen Nordens auf. Ihr verhaltenes vieltöniges Grau. Von einem Weißgrau bis zum Schneeweiß auf Gipfeln und an Nordhängen der Berge bis zum dunklen Grau des nackten Gesteins in Gebirgstälern und den fast schwärzlichen Adern, die auf den schon brüchigen Eisdecken der Seen von der untergründigen Bewegung des Schmelzwassers künden. Die Leere dieser Landschaft, ihre Urgewalt. Der Sohn hat es ähnlich erlebt. Wir sprechen darüber, ohne es in Worte fassen zu können. Eine Zuneigung wie zu etwas Verlorenem, das wir nach langem Suchen wiedergefunden haben. Nie waren wir so bei uns wie dort. Rilkes Verszeile von der schlaflose<n> Landschaft, die uns zum Vollsein verhilft. Die nordische Landschaft als Spiegel, in dem man sich erkennt. Die Nähe zur Schöpfung. Inbild der Ruhe.
Vielleicht gibt es hier im Süden zu viel Schönheit, zu viel Überfluß … Die elastische Luft; der Abend ist lau, aber nicht zu heiß. Als die Dämmerung sich über die Ebene der Toskana senkt, schlendern wir nochmals zur Piazza del Campo. Sie ist voller Menschen. Die im Freien stehenden Tische der Restaurants sind alle besetzt. Lichter flackern auf ihnen. Wir laufen über den Platz. Leises Gemurmel. Junge Leute liegen auf der Erde, ihre Rucksäcke neben sich oder sie als Kopfstützen nutzend; ein friedliches Bild. Überall dieses leise Gemurmel, als ob der jahrhundertealte architektonische Raum die Hierhergekommenen zur Einkehr, Besinnung, zur Ruhe bringe.
In der Dunkelheit gehen wir zum Palazzo Ravizza zurück. Ich lege den Arm um den Sohn. Er läßt es geschehen. Geschenkte Zeit. Reisen als eine Zwischenwelt des Nicht-mehr und Noch-nicht. Der Körper nimmt mit allen Sinnen den Augenblick auf. Nichts anderes hat Raum. Glück.
10. Juli
Wieder Schlaraffenleben. Frühstück im Garten des Palazzo Ravizza. Das Handy klingelt. Kein neuer Auftraggeber; sein Bruder meldet sich aus Roknäs, mit Frau und Kind ist er glücklich angekommen. Zwei Monate wollen sie im hohen Norden bleiben.
Gegen 10 Uhr verlassen wir Siena. Es ist schon heiß. In Bolsena ein lockender See. In Montefiascone beschließen wir, nicht direkt nach Rom zu fahren, sondern die Straße am Meer entlang zu nehmen. Civitavécchia lockt, es liegt, sehen wir auf der Landkarte, direkt am Meer. Aber als wir uns nähern: kilometerweit häßliche Industriezonen, dichter Lastwagenverkehr. Ab und an sehen wir hinter Bauzäunen, Fabrikschloten und Batterien von Silos die blaue Fläche des Mare Ligure. Oder ist es schon das Mar Tirreno? Auch in Santa Marinella, Santa Severa wird es nicht besser. In Ladispoli die letzte Möglichkeit. An einem stinkenden, offenbar stillgelegten Flußarm parken wir das Auto. Zum Meer sind es keine fünfzig Schritte. Die Bademöglichkeit, ein eingezäunter Bereich, die Menschen liegen fast übereinander im schwarzen Sand. Musik dudelt. Wir legen unsere Sachen ans Ufer, schwimmen hinaus, das Wasser hat eine Temperatur von 28 Grad und bringt keine Abkühlung. Wir lachen über unsere gescheiterte römische Meeridee. Es ist schon weit über Mittag, und Hitze und Schwüle sind schwer zu ertragen.
Auf den Zufahrtsstraßen nach Rom ist wie erwartet Stau. Dann aber sehen wir schon die Kuppel des Petersdoms, sind auf der Brücke, der Ponte Cavour, wir müssen nur noch ein Stück am Tiber entlang und von der Piazza del Popolo in die Via del Corso einbiegen. Als wir dort sind, ein Polizist. Ein Verkehrsschild, das die Weiterfahrt verwehrt. Fast zwei Stunden irren wir durch die Stadt. Dann sind wir wieder bei dem Polizisten an der Piazza del Popolo. Erkennt er uns wieder? Er winkt. Wir halten an. Erklären ihm, wo wir hinwollen, zeigen unsere Einladung. Casa di Goethe, Via del Corso Numero 18? Si, si, sagt er lächelnd und macht uns mit einer eleganten Bewegung den Weg in die Fußgängerzone des Corso frei.
Es ist 16 Uhr, als wir endlich vor der Tür der Casa di Goethe stehen und klingeln. Eine Praktikantin aus Deutschland empfängt uns. Die Leiterin der Casa di Goethe hat Urlaub. Das Stipendiaten-Appartement. Moderne Büromöbel. Meine völlig andere Erwartung. Tobias nimmt auf Video auf, wie ich das Zimmer betrete, in welchem ich ein halbes Jahr leben werde. Am Abend zeigt er mir am Computer die Sequenzen. Mein Gesicht kann die Enttäuschung nicht verbergen. Wir lachen. Mit einem Raum ist es wie mit einem Menschen, sage ich, der erste Blick entscheidet über Sympathie oder Antipathie. Ich denke an meine aus rohen Holzbalken gezimmerte Kammer in Roknäs. Tisch, Stuhl, Petroleumlampe, Bett, Truhe. Die Energie dieses Raums.
In der römischen Casa auf den zweiten Blick versöhnliche Details. Das Hell-Dunkel des Gebälks der Kassettendecke. Der Fußboden mit seinen länglichen Terrakotta-Fliesen in einem warmen Rotbraun. Vor allem die tiefe Fensternische mit dem Lichteinfall vom Corso her. Diese Nische ist offensichtlich ein Anklang an Tischbeins Aquarell »Goethe am Fenster seiner römischen Wohnung«. Zwischen Schläfrigkeit und Wachen, in Pantoffeln, Kniehosen, das Haar lose gebunden, steht Goethe ungezwungen in lässiger Haltung am Fenster, beugt sich aus einem der geöffneten Flügel. Das bei Tischbein viergeteilte Fenster ist jetzt eine Tür mit zwei Flügeln, die sich wie damals das Fenster durch hölzerne Innenläden – sogenannte scuri – verdunkeln läßt. Dieses liebevolle Architektur-Zitat wie auch das der Fliesen, in Form und Farbe denen auf Tischbeins kolorierter Zeichnung gleich, rührt mich: für einen Moment das heitere Gefühl, am authentischen Ort zu sein.
Wir öffnen die Tür, treten hinaus. Ein winziger Balkon. Auf ihm weht eine rote Fahne mit der Aufschrift »Casa di Goethe«. Am Abend sitzen wir mit einem Glas Wein auf dem Balkon. Der Blick hinunter. Ein Hin- und Herwogen, Rufen, Lachen, unter uns brodelt eine Menschenmenge. Über die gesamte Breite der Straße flaniert sie. Und Motorinos, laut und fordernd hupend, bahnen sich ihren Weg durch die Menge, unbeeindruckt davon, daß der Corso hier Fußgängerzone ist.
In der Nacht wachen wir mehrmals auf. Wir frieren. Ein kalter Luftzug kommt aus der Klimaanlage, die zudem ein lautes Brummen von sich gibt. Bereits nach der Ankunft hatten wir die Praktikantin gefragt, wie wir sie abstellen oder anders einstellen könnten. Sie kenne sich nicht aus, war die Antwort, aber am Montag morgen (es ist Samstag) würde Massimiliano Arangio, ein Mitarbeiter der Casa, kommen, ihn könnten wir fragen.
Schwacher Trost. Wir reißen die Flügel der Tür auf. Wärme. Aber Lärm strömt herein. Gegen drei Uhr morgens ebbt er ab.
11. Juli
Morgennebel. Gedämpftes Licht. Neugier. Freude. Der erste Tag in Rom. Die Piazza del Popolo wirkt wie eine Theaterkulisse. An ihrem Rand das Caffè Canova. Wir frühstücken im Freien. Am Nebentisch zwei ältere Deutsche. Der Mann hat einen Romführer in der Hand, aus dem er laut vorliest. Der 24 Meter hohe Obelisk – wir wenden uns um – stamme aus dem ägyptischen Helios, 1250 vor Christus sei er von Ramses II. vor dem dortigen Sonnentempel aufgestellt worden. Erst 1587 sei er nach Rom gekommen. Am Eingang der Via del Corso befänden sich die beiden Kirchen Santa Maria in Montesanto und Santa Maria dei Miracoli. Und zur Rechten – er blickt nicht auf – war das nördlichste Stadttor, die Porta del Popolo. Am 29. Oktober 1786 sei Goethe durch dieses Tor in Rom eingezogen. 1816 bis 1824 dann, auf Befehl Napoleons, die Umgestaltung des Platzes im klassizistischen Stil von Giuseppe Valadier, eingeschlossen die Treppen und Rampen, die zur Aussichtsterrasse des Pincio hinaufgehen. Er klappt den Führer zu, blickt erwartungsvoll auf die Frau. Auch wir sehen zu ihr. Aus den Augenwinkeln lächelt sie uns an und wiederholt ziemlich exakt das Vorgetragene. Aber sie läßt Goethe im Jahr 1587 in Rom einziehen und den aus Ägypten stammenden Obelisken 1786 aufstellen. Der Mann nickt befriedigt und wendet sich wieder seiner Lektüre zu. Ihr leicht spöttischer Blick, mit dem sie zu uns schaut, läßt vermuten, sie hat die Jahreszahlen bewußt vertauscht. Sie hebt die Schultern, nickt zu uns herüber, als wolle sie sagen, so ist er nun einmal.
Unser Frühstück. Der Sohn kräftigt sich für die Rückfahrt. Ich hätte gern die ersten Tage mit ihm zusammen in Rom verlebt, aber seine Arbeitssituation erlaubt es nicht. Nein, es sei nicht nur der Auftrag, den er auf der Höhe des Brenners angenommen habe, durch das »Wassertheater« sei vieles liegengeblieben, er könne sich keinen freien Tag leisten. Wenn ich dich im Dezember abhole, dann ja. Zudem, das sonntägliche Fahrverbot für Lastwagen mache das Fahren angenehmer.
Wir gehen – wie wir nun wissen – die von Giuseppe Valadier erschaffenen Treppen und Rampen zum Monte Pincio hinauf. Noch immer Morgendunst. Wir laufen zum Parkhaus, das unter den Grünflächen des Parks der Villa Borghese liegt. Ein Labyrinth; wir finden endlich das Auto, zahlen für die eine Nacht einen astronomischen Preis. Nochmals zur Casa di Goethe. Dann der Abschied. Die Hand des Sohnes winkend aus dem Autofenster.
Ich bin allein.
12. Juli
Die zweite schlaflose Nacht mit dem Lärm und dem Luftzug der Klimaanlage.
Gestern meine ersten Gänge durch Rom. Via del Corso, Piazza Venezia, das monströse Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II. (von den Römern »Schreibmaschine« genannt), Engelsbrücke, Engelsburg. Die vielen Menschen, das Gedränge. Man kann nicht gehen, ohne angestoßen zu werden. Die Bettler, die zerlumpt und mit nackten Füßen auf der Straße oder in Hauseingängen liegen, Getränkedosen und dudelnde Kofferradios neben sich. Der Autolärm, die Abgase. Von den Abgasen wird mir schlecht.
Am Abend am Mausoleo di Augusto ein Entblößer.
13. Juli
In Leipzig wird heute mein alter Freund Jürgen Teller zu Grabe getragen.
Der Sohn meldet sich aus Berlin. Genau vierundzwanzig Stunden war er unterwegs, einige Stunden habe er im Wald geschlafen.
Erneut ein Gang durch Rom. Mein Ziel: die Scalinata, die Spanische Treppe. Ich laufe die Via del Babuino entlang zur Piazza di Spagna. Eine Menschenmenge. Von dem barocken Brunnen ist kaum etwas zu sehen. Auf seinem Rand sitzen dichtgedrängt Touristen, einige, die keinen Platz mehr fanden, waten in dem ovalen Brunnenbecken, mehrere junge Leute versuchen sogar, die Figuren im Becken zu erklimmen.
Auch die Treppe ist voller Menschen. Langsam steige ich Stufe für Stufe hoch, halte immer wieder ein; das Gefühl des Fließens, die Stufen fallen wie Wasser herab, an den Absätzen hält die Bewegung für einen Moment inne, dann fließt es steinern weiter.
Bei einem Halt beobachte ich, wie zwei Polizisten unten den Brunnen räumen. Für einen Moment liegt er in all seiner Schönheit da. Er hat die Form eines Bootes, sein Name sagt es: Fontana della Barcaccia. Schon wenige Minuten später, als ich auf dem Mittelabsatz angekommen bin und mich wieder umwende, bietet sich mir das gleiche Bild, der Schwarm der Touristen ließ sich nur kurz verjagen und hat sich schon wieder niedergelassen.
Dann die letzten Stufen. Vor mir ein Obelisk und die Mauern und Türme der Kirche Santissima Trinità dei Monti. Von der Brüstung der Blick auf die Ewige Stadt. Entzückungsäußerungen der Schauenden, Rufe der Verkäufer, die Rom-Souvenirs anpreisen.
Habe ich diesen Weg gewählt, weil ihn August von Goethe an seinem ersten Abend in Rom ging? Noch am Tag seiner Ankunft nach einer sechsundzwanzigstündigen anstrengenden Fahrt von Neapel nach Rom mit der Schnellpost macht er sich zur Piazza di Spagna auf. Es ist der 16. Oktober 1830. Schnell stieg ich die Spanische Treppe hinauf um den Sonnenuntergang vom Obelisken auf Trinita del monti zu sehen. Rom lag vor mir und die Sonne ging hinter St. Peter unter, alles war wie ein Rosenflor.
Als Goethe 1787 nach Rom kam, war hier Baustelle: Auf Trinita di Montewird der Grund zum neuen Obelisk gegraben, dort oben ist alles aufgeschüttetes Erdreich von Ruinen der Gärten des Lukullus.
Die Sonne geht auch für mich hinter der gewaltigen, von Michelangelo geschaffenen Kuppel von Sankt Peter unter. Mir scheint alles unwirklich, vielleicht bin ich in einem Film. Und die Uferzone rechts und links der herabflutenden steinernen Scalinata: wie Schilf dicht aneinandergereiht die Häuser in warmen mediterranen Farben, der Blick auf die verwirrende Dächervielfalt, auf die unzähligen verschachtelten, mit Palmen und Blumenkübeln geschmückten Dachgärten.
Unten aber, ernüchternd, fast obszön, auf einer riesigen Plakatfläche, die sich über mehrere Häuserwände breitet, Werbung für Damenunterwäsche; die Spitzenhöschen und Büstenhalter dominieren die Piazza di Spagna (diese merkantile Gebäudeverhüllung an zu restaurierenden Häusern sah ich in Rom erstmals, heute ist sie auch in Berlin, selbst an Kirchen, zur Gewohnheit geworden).
14. Juli
Die Klimaanlage ist leiser gestellt, und es ist nicht mehr so kalt im Zimmer. Aber selbst durch Ohropax dringt der Lärm in der Nacht. Ich kann nicht schlafen. Bis gegen drei ist Leben auf der Via del Corso. Aber schon gegen vier Uhr setzt das Geratter der Kehrmaschinen ein. Und auch am Tag reißt der Lärmstrom nicht ab.