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Amalea im Jahre 340 nGF, fünfhundert und sechzig Jahre nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft: "Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen." Thorn Gandir, Waldläufer und Krieger, verliert während der Sklavenaufstände im Einsatz für den Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus alles, was je Bedeutung für ihn hatte. Trotzdem lässt er sich dazu hinreißen, für seinen machthungrigen Mäzen Valians Zepter zu finden, das Gerüchten zufolge von einem mächtigen Feind des Imperiums entwendet wurde. Begleitet von der Söldnerin Chara Viola Lukullus, dem Kriegspriester Telos Malakin und dem Barbaren Bargh Barrowsøn macht er sich auf die gefährliche Reise durch die aschranische Wüste. Doch Thorn kann sich nicht sicher sein, wer Freund oder Feind ist. und welche Rolle er selbst dabei spielt, denn das Chaos ist gerade erst dabei, aus dem Verborgenen ans Licht zu treten. Zwerge und Elfen, Orks, Kentauren, Thanatanen, Menschen. Götter und Dämonen beleben die fantastische Welt Amalea. Ausgehend vom römisch-antik anmutenden Valianischen Imperium decken Thorn und seine Mitstreiter nach und nach das verlorene Wissen um die Alte Welt auf. Während die Mächte des Chaos und der Ordnung um die Vorherrschaft ringen, stehen die Helden dieser Geschichte einer uralten finsteren Macht gegenüber. Um Amalea vor dem Untergang zu bewahren, müssen sie die Grenzen der bekannten Welt überschreiten. Dabei wandeln sie auf dem schmalen Grat zwischen Gut und Böse. Die Zukunft Amaleas hängt von ihrer Entscheidung ab - Chaos oder Ordnung?
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Seitenzahl: 651
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J.H. Praßl
Chroniken von Chaos und Ordnung 1
Thorn Gandir
Aufbruch
Praßl, J.H.: Die Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 1: Thorn Gandir. Aufbruch, Hamburg, acabus Verlag 2023
8. Auflage
EPUB-ISBN: 978-3-910279-11-7
Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag
Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, acabus Verlag
Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl
Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-Rollenspiel MIDGARD übernommen.
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-910279-10-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
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© acabus Verlag, Hamburg 2023
1. Auflage 2013, acabus Verlag Hamburg
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Widmung
Flucht
Opfer
Die Prophezeiung
Thorn Gandir
Antonius Virgil Testaceus
Der Senat
Fremder
Verräter
Vertrauter
Rosmertas Leibwächter
Rosmertas Rache
Heimlicher Helfer
Chara
Falsch gedacht!
Die Schlacht am Isola-Pass
Erwachen
Brunius Doridorus Cartius
Der Weg ohne Gabelung
Der Geschmack von Rache
Das Zepter der Macht
Die Bedrohung aus dem Süden
Eine Waffe
Umbruch
Ein letzter Auftrag
Spurensuche
Aufbruch
Zu viele Zweifel
Eine einfache Rechnung
Die Aschranische Wüste
Die Familie Al’Shej
Mustafas Forderung
Plan A
Plan B
Barghs Berserkergang
Die magischen Waffen
Eine Spur
Eine unerwartete Bitte
Basilisk
Nächtliche Störung
Die Häscher des Alten
Gefangen
Eingesperrt
Der Alte vom Berg
Epilog
Register
Danksagung
Cover
Widmung
Dieses Buch widmen wir unseren Spielern, die durch ihre Leidenschaft für ihre Rollen und ihre Einzigartigkeit die Welt Amalea erst richtig zum Leben erweckten. Ohne sie gäbe es diese Geschichte nicht!
Chris: Für sein lebendiges Charakterspiel.
Du warst der Lichtblick in den düstersten Stunden.
Dominik: Für die Verkörperung der Skepsis innerhalb unserer kleinen Gruppe, die so manch interessanten Konflikt heraufbeschwor.
Kathi: Für ihre unverschleierte Härte in der Umsetzung machthungriger Charaktere. Dein Sinn dafür, klare Verhältnisse zu schaffen, hat die Story ordentlich vorangetrieben.
Max: Für das Gebot der Vernunft in Zeiten des Chaos. Dein Sinn für Moral und Ordnung war erstaunlich inspirierend.
Alex, Boris, Georg, Gus, Gux, Hoink, Karin, Lili, Peter, Roli, Simona, Tom … (um nur ein paar der „Altspieler“ zu nennen).
Eure Ideen, euer Einsatz und die liebevolle Ausgestaltung eurer Figuren sind für uns nach wie vor Bereicherungen für den Schritt vom Spiel zum Romanzyklus.
AMALEA
Kontinent AMINA
Aonadag, 1. Trideade im Trollmond/347 nGF
Mein Name ist … Nein, das wäre schon zu viel gesagt.
Es ist unerheblich, wie ich heiße; unerheblich, wie man mich nennt. Denn noch bin ich ein Niemand.
Es ist zu früh für mich, offen zu sprechen, zu früh, die Dinge beim Namen zu nennen, denn im Schweigen offenbart sich vieles, das sich im Wort nie enthüllen wird. Im Schweigen offenbart sich eine Ahnung davon, dass die Welt größer ist, als wir zu begreifen imstande sind – dort zeigt sich unsere Sehnsucht, über die Grenzen des Verstandes hinauszugehen.
In der Stille liegt die Kraft der Bewegung, der Wunsch nach Größerem, der Trieb, etwas zu verändern. Und wir müssen etwas verändern, wir müssen uns bewegen.
So viel zu dem, was ich denke.
Wer ich bin? Nun, das wird sich früher oder später zeigen. Heute jedenfalls nennt man mich „Lebensretter“, „Friedensstifter“, „Lichtbringer“, „Schlüssel zu Caeir Aun Isahara“ … und (denn es gibt immer auch eine zweite Seite der Medaille) „Todesverächter“, „Chaosbringer“, „Gottesfeind“, „Zerstörer von Caeir Urd“ …
Die meisten nennen mich aber einfach nur „Das Sandkorn“.
Ich denke, fürs Erste habe ich genug darüber verloren, wer oder was ich bin, selbst wenn es nichts über mich aussagt, und es wird auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich mir darüber im Klaren bin, ob ich innerhalb der Pläne der mächtigsten unserer Wesen eine bestimmte Rolle spiele, von deren wahrer Natur ich selbst heute, acht Jahre nach meiner eigentlichen „Geburt“, nur einen unmaßgeblichen Teil kenne.
Ich bin im Grunde noch gar nicht da. Denn zu jener Zeit, da alles begann, wusste noch nicht einmal ich, dass ich im Begriff war, in die tückischen Fahrwasser der beiden Urmächte zu geraten, die unsere Welt zum Leben erweckten, oder dass ich irgendwann einmal zum Narren der herrschenden Fraktionen Amaleas werden würde.
Alles, was ich verstand, war, dass ich einen Befehl zu befolgen hatte. Und die Verweigerung eines Befehls ist für jemanden wie mich nicht nur tödlich, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest verhielt es sich damals so und auch noch Jahre später. Genau genommen bin ich erst jetzt dabei, einen Befehl zu missachten und einen Weg zu beschreiten, der weit von alldem wegführt, was ich irgendwann einmal war.
Doch das Jetzt, von dem ich spreche, betrifft die Zeit nach der einzigartigen Begegnung, die sich am Ende des Anfangs zugetragen hat, am Ende jener Vorgeschichte, die ich hier zu klären gedenke.
Ich werde mich heute damit begnügen müssen, zu verstehen, wie alles begann und wie es zu jener Begegnung kommen konnte, die mich, meine Begleiter, ja, die ganze verdammte Welt in ein neues, ein seltsames und verstörendes Licht rückte.
Manches von dem, das mir auf meinem Weg begegnete, nahm ich für bare Münze, anderes kam mir zu Recht abwegig vor, wieder anderes erweckte meinen Zorn oder kostete mich nur ein müdes Lächeln. Aber eines habe ich am Ende begriffen:
Ich bin mehr, als ich sein sollte.
Amalea im Jahre 340 nach Gründung Fiorinde
Tausend und dreihundertvierzig Jahre
nach Beginn der Chaoszeit.
Fünfhundert und sechzig Jahre
nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.
Hundert und neunzig Jahre
nach der Vertreibung der Chaosmächte
aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,
des Südens und des Westens.
Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen.
Das nördlich gelegene Alba ist gespalten, das Elfenreich Albion gegründet und gefestigt. Während der Sieg der Elfen ihr Volk in die Unabhängigkeit führte und Alba seiner südlichen Gebiete beraubte, häufen sich die Konflikte zwischen den unter dem Banner des albischen Königs vereinten Clans. Die Instabilität der politischen Lage bedroht den Frieden zwischen den Clanaten.
Im südlichsten Teil Amaleas, dem Wüstengebiet Aschran, floriert der Handel. Die Nomaden und Stämme der aschranischen Wüste und die sesshaften Völker des Nordens leben in trügerischem Frieden. Der Dunkelmagier, der in weiten Teilen der Welt unter dem Namen Al’Jebal bekannt und gefürchtet ist, kontrolliert unbemerkt das Land.
Im Valianischen Imperium, der Republik nördlich von Aschran, setzt der Senat unter Führung des Vorsitzenden Antonius Virgil Testaceus alles daran, das Land zu neuem Ruhm und Glanz zu führen. Indes scheint ein Sklavenaufstand in den Minen des Emlin-Tals die Pläne des Senats zu vereiteln. Die vierzehnte Legion erleidet unter Führung des albischen Waldläufers Thorn Gandir in der entscheidenden Schlacht eine Niederlage. Das Sklavenheer zieht gegen Valianor, Hauptstadt des Valianischen Imperiums und Sitz des Senats.
Flucht
Ein Nebel, so dicht wie das Gewebe einer Königsstola, lag blass und träge über dem Emlin-Tal. Sanfte Hügel drängten sich Schutz suchend an die steileren Hänge, die weit oben zu scharfkantigen, unpassierbaren Felswänden zusammenliefen. Das kleine Tal lag inmitten eines grauen, wild gewachsenen Gebirgslandes, das sich von der autonomen Provinz Shemona bis zu den von sanften Hügeln durchzogenen Ebenen um Valianor, der Hauptstadt des Valianischen Imperiums, hinzog.
Der Nebel nahm dem Morgen sein Licht. Er schob sich wie eine undurchdringliche Decke über das Tal und stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Strahlen der aufgehenden Sonne, die verzweifelt versuchten, den dichten Schleier zu zerreißen, um das Resultat einer gewaltigen Schlacht zu enthüllen – einer Schlacht, die in der Nacht begonnen und mit der aufgehenden Sonne ein grausiges Ende gefunden hatte. Noch vor Tagesanbruch hatten sich Männer Auge in Auge gegenübergestanden, bereit, ihr Leben für ihre Ehre oder ihre Freiheit zu geben und für ihren Sieg in den Tod zu gehen. Doch nur wenige wussten davon, und kaum jemand kannte den eigentlichen, den wahren Grund für diese Schlacht.
Und der Nebel gab das Geheimnis nicht preis. Noch dämpfte er die Schreie der tödlich Verwundeten, verbarg er das von Blut verschmierte Gesicht eines gefallenen Kameraden, verhüllte das über den gefrorenen Boden verteilte Durcheinander von Mensch und Metall und verschluckte das Klirren der Rüstungen jener Männer, die den Sieg davongetragen hatten und nun plündernd über das Schlachtfeld zogen.
Auf den umliegenden Bergen hielt der Winter kalt und unnachgiebig den aufkeimenden Boten des Frühlings stand. Obwohl in den Tälern bereits die Schneeschmelze angebrochen war und sich hier und dort zarte Gräser durch die dünne Eisschicht drängten, war die dicke, weiße Decke immer noch über den Großteil der Berge ausgebreitet und hinderte die Vegetation am Gedeihen.
Im Süden des Tals teilten sich die Felsen, um den Emlin passieren zu lassen. Der Fluss hatte sich über Tausende von Jahren tief in den harten Felsen gegraben. Jetzt brauste er ob der beginnenden Schneeschmelze mit einer solchen Kraft durch die Emlin-Schlucht, dass er kleinere Bäume vom Ufer mit sich riss, nur um sie weiter stromabwärts wieder zurückzulassen.
Dort, wo die Felsen zurückwichen und die Strömung zahmer wurde, trieben zwei große Fässer den Fluss entlang. Sie waren mit einem Seil zusammengebunden und hüpften wie Korken hilflos auf den Wellen auf und ab. An manchen Stellen schrammten sie so knapp an den tödlichen Felskanten vorbei, dass das Holz gefährlich knirschte. Doch die Fässer hielten stand.
Langsam wurden die Ufer des Emlin flacher. Die Strömung wurde ruhiger, und die beiden Fässer tanzten nicht mehr ungezähmt auf der Oberfläche. Ein Krachen mischte sich in das Rauschen des Flusses. Das Holz des ersten Fasses barst, und der Deckel wurde ins Wasser geschleudert.
„Wir gehen an Land!“, dröhnte eine Männerstimme aus dem Inneren des Fasses.
Der Deckel des zweiten Fasses brach aus der Öffnung. Zwei schlanke Beine glitten ins Wasser, gefolgt von einer weiblichen Gestalt. Binnen weniger Augenblicke hatte die Strömung die Frau erfasst und der Sog sie nach unten gezogen. Als sie ein Stück flussabwärts prustend wieder an die Oberfläche kam, schwamm sie mit ganzer Kraft gegen die Strömung an.
Aus dem ersten Fass wuchtete sich ein Mann ins kalte Nass und griff hektisch nach dem hölzernen Gefährt, das der Fluss ihm zu entreißen drohte. Von der Kälte des Wassers überrumpelt, atmete er ruckartig ein, verschluckte sich und hustete erbärmlich. Dann bekam er das Gebinde zu fassen und klammerte sich daran fest. Als er wieder zu Atem gekommen war, mühte er sich damit ab, den restlichen Inhalt des Fasses freizubekommen.
Ein regloser Oberkörper glitt, von den Armen des Mannes fest umschlungen, träge ins Wasser. Lange schwarze Haare wanden sich wie kleine Schlangen auf der Wasseroberfläche. Ein schmutziger, blutdurchtränkter Verband um Stirn und Hinterkopf, blasse Haut, feine Gesichtszüge, spitze Ohren … eine Elfe.
Unterdessen näherte sich die andere Frau dem Ufer und begann hektisch nach etwas zu suchen, an dem sie sich festhalten konnte. Als der Ast einer Weide vorüberglitt, packte sie zu und zog sich keuchend in die seichteren Uferwasser, die hinter der Weide lieblich dahinplätscherten. Sie schaffte es gerade noch über die Böschung, zog sich den kleinen Rucksack von ihren Schultern. Dann sank sie zu Boden und blieb liegen. Aus ihrem knielangen, schmutzigen Hemd und dem dünnen Ledermantel tropften Wasser und Blut.
Kurz darauf hatte der Mann seinen Kampf mit dem reglosen Körper und dem unter seinen Händen unruhig hin- und herrollenden Fass gewonnen. Als er die bewusstlose Elfe endlich ganz aus ihrem hölzernen Gefängnis befreit hatte, stieß er das Fass von sich und begann mit der Last in seinen Armen gegen die Strömung anzukämpfen.
Die Lippen des Mannes waren vor Kälte blau angelaufen, der Sog zog ihn wieder und wieder unter die Wasseroberfläche. Immer größer wurden die Abstände, in denen er Luft holen konnte, immer träger die Stöße, mit denen er gegen den Fluss anschwamm.
„Wo bist du?!“, schrie er hustend die Böschung hinauf, als er fast das Ufer erreicht hatte und zugleich darum kämpfte, die Frau in seinen Armen nicht doch noch an den Fluss zu verlieren. Dann, endlich, tauchte die Gestalt seiner Begleiterin ein Stück flussabwärts auf und hetzte am Ufer entlang. An einer Stelle, wo ein kleines Felsplateau ins Wasser ragte, kam sie schlitternd zum Stehen.
Während der Mann in rasantem Tempo auf sie zutrieb, legte sie sich auf den Bauch und streckte ihre Arme, so weit sie konnte, über das Ufer hinaus. Es war keinen Augenblick zu spät. Und doch, der Mann bekam ihre Hände nicht richtig zu fassen. Seine Finger waren von der Kälte so taub, dass er nicht ordentlich zupacken konnte und abrutschte. Unvermittelt ließ er seine Last los und streckte die andere Hand nach seiner Begleiterin aus. Er krallte sich an ihrer Hand fest, schaffte es gerade noch, mit seinen Beinen die bewusstlose Frau zu umklammern, die von der Strömung fast fortgerissen worden wäre. Eine Weile verharrte er schwer atmend so, während seine Retterin auf dem Felsen die Zähne zusammenbiss. Schließlich packte er mit der freien Hand die bewusstlose Elfe, zog sie vor sich und presste sie mit seinem Körper so fest gegen das Felsplateau, wie es die Strömung erlaubte, die seine Beine immer wieder flussabwärts drückte.
Einmal durchgeatmet, dann blickte er flehend in die Augen seiner Begleiterin. Sie zögerte. Und dann, endlich griff die Frau am Ufer der bewusstlosen Elfe unter die Achseln und zog sie an Land. Daraufhin kämpfte sich auch der Mann den Felsen hoch, wo er sofort zusammenbrach und schwer atmend liegenblieb.
Als er die Augen aufschlug, war seine Begleiterin verschwunden. Langsam tastete er nach Kitayschas Wange. Sie war kalt, doch er spürte die Wärme tief unter der Haut. Da war noch Leben. Erleichtert atmete er ein und sog die kalte Morgenluft in seine Lungen. In seinem Kopf hämmerte es. Das Blut, das vor Kurzem noch an seinem Gesicht geklebt hatte, hatte der Fluss abgewaschen. Doch seine Rüstung hing noch immer zerrissen und lose an seinem zerschundenen Körper. Und den Schmutz, der in rostroten Flecken das weiche Leder verkrustete, konnte kein Wasser Amaleas je fortwaschen.
Mit einem Griff an die Hüfte stellte er fest, dass der Lederbeutel noch immer an seinem Gürtel hing. Der Dolch steckte noch in der Scheide an seinem Oberschenkel, und selbst die wasserdichte Lederrolle hatte der Fluss nicht fortgerissen. Der unangenehme Druck auf die Wirbesläule sagte ihm, dass auch das Bündel auf seinem Rücken noch da war. Mehr hatte er auch nicht bei sich gehabt, als er vom Schlachtfeld geflohen war – mit Ausnahme der schwerverletzten Elfe an seiner Seite. Kein Zweifel, Kitayschas Wunden waren tödlich. Und als ihr mit einem Morgenstern der Schädel zertrümmert worden war, war er nicht bei ihr gewesen.
Seine klammen Finger glitten über den glatten, vom Wasser rund geschliffenen Felsen und krallten sich in das Hemd der Elfenkriegerin. Schließlich kämpfte er sich auf die Beine, hob Kitayscha vorsichtig hoch und erklomm den Hang, über den sich seine Begleiterin abgesetzt hatte.
Er fand Rosmerta einige Schritte flussabwärts, wo sie sich einen geeigneten Platz zum Kleidertrocknen und Durchatmen gesucht hatte. Inmitten einer geduckt stehenden Baumgruppe, die unliebsamen Einblicken vorbeugte, riss sie sich das nasse Hemd vom Leib und rieb sich bibbernd die Oberarme. Als sie ihn erspähte, wandte sie ihren Blick ab und schälte sich hemmungslos aus ihren triefenden Kleidern.
„Was soll das, Thorn? Du wärst ihretwegen fast ertrunken. Es war pures Glück, dass wir es bis hierhin geschafft haben. Jetzt alles zu riskieren wegen einer dem Tode geweihten Elfe ...“
Er ging in die Hocke und bettete Kitayschas Körper auf einen schmalen Teppich aus Moos. „Noch ist sie nicht tot.“
Thorn kannte Rosmerta schon lange. Und manches Mal hatte er geglaubt, dass da unter ihrer kalten, berechnenden Fassade ein Funke Mitgefühl und Wärme glomm, hatte dies zumindest gehofft. Doch Rosmerta belehrte ihn immer wieder eines Besseren. Sie war eine Schönheit. Sie gehörte zu jener Sorte Frauen, die einem Mann durch ihre bloße Anwesenheit dieses selten dümmliche Grinsen auf das Gesicht zaubern konnte. Doch Thorn zählte sich nicht zu jenen Männern. Zwischen Rosmertas liebreizende Erscheinung und ihre zum Teil faszinierende Scharfsinnigkeit schob sich ein kalter, roher und manchmal grausamer Eigensinn, der sich wie ein Schatten über ihr schönes Gesicht legte und ihn gewaltsam auf Distanz hielt.
„Ich werde mein Leben nicht für das der Elfenkriegerin aufs Spiel setzen“, schob sie zu allem Überfluss hinterher.
„Musst du auch nicht. Nur, solange du mit mir gehst, spielst du nach meinen Regeln, gab er unwirsch zurück. Du wirst dich wohl oder übel mit ihr abfinden müssen. Andernfalls trennen sich hier unsere Wege.“
„Thorn …“
„Komm mit, oder lass es.“
„Du weißt, dass wir alleine nicht weit kommen werden. Ich meine, jeder von uns für sich.“
Er warf sein Bündel ins Gras und öffnete die Schnallen seiner Lederrüstung. „Das gilt für dich, nicht für mich.“
„Mag sein, Thorn. Jetzt und hier. Mir ist bewusst, dass ich jemanden brauche, der mich sicher durch dieses Land bringen kann. Du kennst seine Tücken und den Weg nach Valianor. Die Vorhut von Cartius’ Sklavenheer hat das Emlin-Tal gewiss längst verlassen und wird sich ebenfalls langsam Richtung Hauptstadt vorarbeiten. Allein käme ich wohl nicht weit“.
„Genau das meinte ich.“
„Schön. Siehst du denn umgekehrt, dass du meine Hilfe spätestens in Valianor benötigen wirst? Dann, wenn wir dem Senat Rede und Antwort stehen müssen, weil wir uns ohne triftigen Grund aus dem Staub gemacht haben? Das nennt man Desertion, mein Lieber. Schon gehört?“
Er schnaubte leise. „Spielt für mich keine Rolle mehr. Alles, was mich noch interessiert, ist, Kit am Leben zu halten. Du, der Senatsvorsitzende, das ganze verfluchte valianische Heer ...“ Er brach ab.
Vermutlich fragte sich Rosmerta, ob er noch derselbe Waldläufer war, mit dem sie vor drei Jahren in die Dienste des Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus getreten war – ein Mann, der seine Ziele ohne Zaudern verfolgte und genau zu wissen schien, wie man seine Leute sicher durch gefährliche Situationen manövrierte.
„Armer, verliebter Thorn. Irgendwie scheinst du mit den Elfen kein Glück zu haben.“ Rosmerta zog eine Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie zu ihren Füßen aus. Als sie erneut seinen Blick suchte, starrte er durch sie hindurch. „Ich versteh dich einfach nicht. Warum wirfst du dein Leben weg, indem du krampfhaft an einem schon verlorenen festhältst? Noch dazu, wo ihr immer wieder Streit hattet. Hat Kitayscha dich nicht einen Feigling genannt?“
„Sie hatte allen Grund dazu.“
„Ach ja?“
„Ich habe sie an vorderster Front kämpfen lassen, während ich selbst aus sicherer Distanz meine Pfeile abfeuerte.“
Rosmerta zog die Stirn in Falten. „Du bist nun mal ein besserer Bogenschütze als Schwertkämpfer …“
„Darum geht es nicht. Kit war immer die Mutigere von uns beiden. Das weißt du auch. Aber im Emlin-Tal wäre sie fast gestorben, weil ich nicht da war. Es war das letzte Mal, dass ich sie im Stich gelassen habe.“
Rosmerta nahm ihre nassen Kleider und legte sie auf einen flachen Stein in die Sonne. „Denk doch mal an deine Flucht aus Alba oder, besser, Albion“, sagte sie, und Thorn blickte auf. „Es war nicht ausschließlich der Krieg zwischen den Elfen und den Clans, der dich aus deiner Heimat vertrieben hat, oder, Thorn?“
„Nein.“ Aber das ging Rosmerta nicht das Geringste an.
„Die Elfen bringen dir kein Glück“, wiederholte sie. „Du hättest gar nicht erst für ihre Freiheit kämpfen sollen. Wäre deine Verlobte nicht gewesen, hättest du an der Seite der albischen Clans gekämpft, wo du auch hingehörst. Du hättest deine Heimat nicht verlassen, wärst nie hierher ins Valianische Imperium gekommen.“
„Wie immer redete Rosmerta von Dingen, die sie nicht verstand. Auch wenn Jaslana nicht gewesen wäre, hätte ich mich auf die Seite der Elfen geschlagen, weil ich der Gerechtigkeit mehr verpflichtet bin als irgendeinem Volk. Die Elfen wurden von den Menschen Albas unterdrückt. Ihr Aufstand war gerechtfertigt, die Unabhängigkeit Albions längst überfällig.“
Rosmerte lachte leise. „Guter, heldenhafter Thorn … Immer auf der Seite der Schwachen, nicht?“
Thorn zwang sich dazu, sie zu ignorieren. Er ging in die Hocke und begann damit, Kitayscha aus ihren nassen Kleidern zu befreien. Rosmerta hatte recht. Er hatte sich unter anderem deshalb der Sache der Elfen angeschlossen und seinen eigenen Leuten den Rücken gekehrt, weil er sich in die Tochter des Elfenkönigs verliebt hatte. Jaslana war der eigentliche Grund für seinen Sinneswandel gewesen. Er hatte sie geliebt, wenn auch auf eine ganz andere Weise als Kitayscha, und hegte nichts als Bewunderung für sie und ihr Volk. Die innere Ruhe der Elfen, ihr Gleichgewicht mit der Natur und ihr Frieden mit sich selbst und ihrem Volk, die anmutige Gestalt, der besonnene Geist, die Umsichtigkeit mit allem, was sie umgab … eben alles, was man dem elfischen Volk gerne nachsagte. Und Jaslana war die Verkörperung dieser Attribute gewesen. Im Gegensatz zu ihr war Kit geradezu erfrischend menschlich. Wahrscheinlich hatte er sich aus diesem Grund auch ein wenig weniger minderwertig in ihrer Gesellschaft gefühlt. Zumindest bis zu jenem Fall vor etwa einem Jahr, als er und Kitayscha zusammen mit Rosmerta und einer kleinen Gruppe von Abenteurern vom Senatsvorsitzenden des Valianischen Imperiums den Auftrag angenommen hatten, dessen entführten Neffen zu suchen und in die Hauptstadt zurückzubringen. Bei der Befreiung waren er und die anderen, die sich mit ihm gemeinsam als Söldner verdingten, in arge Bedrängnis geraten. Damals hatte Kit ihn einen Feigling geheißen, wie Rosmerta zu betonen nicht müde wurde. Im Streit wohlgemerkt. Sie selbst hatte diesen Vorwurf später zurückgenommen, doch Thorn fühlte, dass darin ein Funke Wahrheit steckte.
Zu dieser Zeit war der Tod seiner Verlobten Jaslana lange her gewesen. Dass Jaslana starb, war zwar nicht seine Schuld, trotzdem hatte ihn der Umstand ihres Todes aus der Heimat vertrieben. Immerhin waren es die albischen Clans gewesen, die gegen die Elfen gekämpft hatten, und damit trug er als Albi aus dem Clanat MacWood so etwas wie eine Mitschuld.
Jaslana war tot. Kitayscha aber lebte noch. Und er würde alles dafür tun, dass sie an seiner Seite blieb. Egal, was Rosmerta oder irgendjemand sonst davon hielt.
Die Rufe der Kämpfenden drangen zu ihm hoch, und die Zeit lief ihm davon. In aller Eile zerriss er sein Hemd und wickelte es um Kitayschas Stirn. Irgendjemand schrie am Fuße des Wachturms in Todesqualen. Die Angst, er sei zu spät gekommen, schnürte ihm die Kehle zu. Bleierne Ohnmacht lastete auf seinen Gedanken und machte sie träge und unbrauchbar. In seinem Kopf die immerwiederkehrende Frage: Wo warst du, als sie angegriffen wurde?
Ohne Kitayscha an seiner Seite wäre nichts mehr von Bedeutung.
Er wollte aufgeben, wollte sich neben sie legen und darauf warten, dass man ihn fand und tötete. Wie konnte er weiterleben, wenn ihr Leben hier und jetzt endete?
Doch er tat es nicht. Stattdessen hob er sie hoch und stieg die Stufen des Wachturms hinab. Anstelle von nackter Angst war Ruhe eingekehrt – eine leere, kalte Nüchternheit. Den erschlafften Körper auf den Armen, trat er aus dem Wachturm und durschritt die Menge der kämpfenden Soldaten, als ob keiner von ihnen eine Gefahr für ihn und Kitayscha darstellte. Irgendjemand stolperte in einem Ausweichmanöver über seine Beine, bevor er einige Schritte weiter reglos liegenblieb. Ein Schwert krachte neben ihm auf einen Stein und splitterte. Aus den Augenwinkeln sah er jemanden aus einem Loch in der Erde kriechen, was ihm seltsam vorgekommen wäre, hätte er nicht jeden Sinn für die Wirklichkeit verloren. Und jegliches Interesse daran, was um ihn herum geschah …
„Hierher!“, schrie jemand, dessen zarte, für einen Mann ungewöhnlich kindliche Stimme ihm bekannt vorkam. „Ich hab ihn, ich hab ihn, Thorn! Er hat bezahlt! Kits Mörder hat bez…“
Die Stimme brach und ging in einen schrillen Schrei über. Ein leises Röcheln folgte. Dann wurde es vom Lärm der Schlacht übertönt. Thorn schritt einfach weiter.
Als er das steinerne Hauptgebäude erreicht hatte, tauchte Rosmerta neben ihm auf, die Hand auf eine Wunde an ihrer Schulter gepresst.
„Zum Fluss!“, keuchte sie und rannte los. Sie hatte ihren Speer nicht bei sich, ebensowenig wie er seinen Bogen oder sein Schwert. Es war ihm egal. Er bahnte sich zwischen den schwitzenden und schlachtenden Körpern seinen Weg durch das Schlachtfeld. Ohne sich umzudrehen, folgte er Rosmerta den Hang hinab, der hinter der Garnison der 14. Legion zum Fluss führte. Ohne ihre Gefährten, die im Innenhof der Garnison verbluteten, ohne die restlichen Soldaten, die für das Imperium ihr Leben opferten, ohne Ehre.
Niemand griff ihn an. Und er und Rosmerta erreichten unbeschadet den Emlin.
Ruckartig setzte er sich auf. War er eingenickt? Es war noch nicht dunkel, aber die Abenddämmerung war nicht mehr fern. Ein zartroser Schimmer lag über dem Horizont. Ein Blick zum anderen Lagerplatz sagte ihm, dass auch Rosmerta eingeschlafen war. Ihre Träume waren wohl ähnlich düster wie seine. Vielleicht auch nicht.
Dabei waren es auch ihre Freunde, die in der Schlacht gegen Cartius’ Männer ihre Leben gelassen hatten. Und es war das reinste Wunder, dass sie selbst mit heiler Haut davongekommen waren, obwohl die Sklavenarmee wie eine riesige Gewitterwolke über der Garnison der 14. Legion aufgezogen war. Die ehemaligen Sklaven waren nicht nur durch das Tor gestürmt, sie hatten auch Tunnel gegraben, durch die sie in die Feste der Valiani eingedrungen waren.
Thorn rieb sich die Stirn und fühlte, wie Flammen heißen Zorns nach seinem Verstand leckten. Verflucht seist du, Liam O’Neill! Wieso musstest ausgerechnet du ein Verräter sein?
Er hatte Liam vertraut, hatte an seiner Rechtschaffenheit keinen Wimpernschlag lang gezweifelt. Liam hatte an das Tor der Garnison geklopft und behauptet, er wäre ein Bote des Senats. Und er, Thorn, hatte ihm die Geschichte abgekauft. Zumal Liam ein vom Senat ausgestelltes Schriftstück dabeigehabt hatte, dessen Echtheit leider keiner genauer überprüfte. Dabei hätte Thorn jeden Neuankömmling verdächtigen müssen. Doch weil Liam ihm sympathischer gewesen war als einer der stets gehorsamen Soldaten des Imperiums, hatte er sich dazu hinreißen lassen, unvorsichtiger zu sein, als es die Situation erlaubt hatte.
Als dann die Wellen des Sklavenheers gegen die Mauern der Garnison gebrandete hatten, hatte jemand von innen das Tor geöffnet und es so dem feindlichen Heer ermöglicht, ungehindert einfallzufallen. Und der Mann, der an den schweren Holzflügeln seinen Posten bezogen hatte, war Liam O’Neill gewesen.
Thorn setzte sich auf und Griff nach Kitayschas Stirn. Sie war zu heiß. Ihre Augenlider zuckten wild hin und her, und ein heftiges Beben erfasste ihren Körper in regelmäßigen Abständen.
Thorn zog sich sein Tuch vom Hals, befeuchtete es mit Wasser aus seinem Wasserschlauch und hob behutsam ihren Kopf an. Dann träufelte er Wasser in ihren ausgetrockneten Mund und hoffte, dass die Elfe nicht dehydrierte.
Ein Stück entfernt setzte sich Rosmerta gerade auf. „Ich sterbe vor Hunger“, versuchte sie ein unverfängliches Gespräch.
Thorn machte sich daran, Kitayschas Stirnverband zu wechseln. „Ich gehe jagen, wenn ich hier fertig bin.“
Rosmerta verdrehte die Augen. „Wie willst du ohne deinen Bogen irgendetwas erlegen?“
„Es gibt Steine.“
Sie musterte ihn. „Na dann … guter Mann.“
Thorn brauchte es nicht zu sehen, er wusste auch so, dass ihre Augen schmaler geworden waren und ihre Lippen sinnlicher. Jetzt würde er die feinen, elfischen Züge in ihrem Gesicht erkennen, würde er sie nur ansehen. Rosmerta war eine Halbelfe. Sie vermied es tunlichst, darüber zu sprechen, aber Thorn erkannte eine aus dem Volk der Elfen, wenn er sie vor sich hatte. Leider hatte ihre teils elfische Abstammung nur äußerlich Spuren hinterlassen. Innerlich war sie menschlicher denn menschlich und damit gewaltbereiter, als es ein Elf je sein konnte.
Nachdem Thorn Kitayschas Wunde gereinigt und ihr einen frischen Verband angelegt hatte, lehnte er sich gegen einen Baumstamm, zog den fiebrigen Körper zwischen seine Beine und umschlang die Brust der Elfenkriegerin mit den Armen. Rosmerta musste wohl oder übel noch eine Weile auf ihre Mahlzeit warten. Erst würde er Kit ein wenig der Wärme zurückgeben, die sie an den Emlin verloren hatte.
Opfer
Der süßliche Geruch von Blut durchsetzt vom herben Duft nach Weihrauch hing in dem fensterlosen Raum und drang in seine Nase, als er die Tür hinter sich schloss. Antonius Virgil Testaceus war die morbide Atmosphäre hier längst gewohnt; die Düsternis der unterirdischen Gemäuer konnte ihn kaum noch beeindrucken. Ebensowenig wie die Tatsache, dass er hierherkam, um seine Menschlichkeit seinen politischen Zielen zu opfern. Aber er war nun mal der Senatsvorsitzende und damit verpflichtet, im Valianischen Imperium für Ordnung zu sorgen.
In den vier Winkeln des Kellerraums standen je ein Marmorsockel mit einem Weihrauchkessel umringt von Kerzen. In der Mitte des Raums erhob sich ein Altar aus schwarzem Basalt. Neben dem Altar stand eine Gestalt, deren Augen so schwarz waren wie der Stein. Eben diese hatten ihn schon mehr als einmal dazu gebracht, sich unsicher und verloren zu fühlen. Die bedrohliche Kälte, die von dem Mann ausging, die Wirkung seines bohrenden Blicks, der Effekt seiner ausgemergelten Gestalt … Testaceus hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was seinem kleinen Begleiter gerade durch den Kopf schoss. Flucht.
Er umschloss die Hand des Jungen fester, spürte das Zögern beim Anblick der dunklen Gestalt. Zitternd presste sich der zarte Körper an ihn, während ängstliche Augen fragend zu ihm aufblickten. „Du erinnerst dich doch, was ich dir über diesen Mann und sein Zuhause gesagt habe?“
Der Junge nickte zögernd, musterte die Gestalt mit bangem Blick. Als erwartete er, dass sie jeden Moment wie ein tollwütiges Raubtier über ihn herfallen würde. „Er sieht zwar böse aus, aber nur, weil er ein sehr einsamer Mensch ist“, flüsterte er tapfer hinter vorgehaltener Hand. „Und sein Zuhause …“
„… ist nur deshalb so dunkel und beängstigend, weil er nie ein eigenes Zuhause hatte und nicht weiß, wie ein richtiges Zuhause auszusehen hat“, setzte Testaceus zustimmend fort. „Richtig, mein Junge.“
Seine Aufmerksamkeit kehrte zur Gestalt am Altar zurück, die, immer noch reglos verharrend, ihre Augen zwischen ihm und dem Jungen hin und her wandern ließ.
Einmal durchgeatmet, dann schob Testaceus den Jungen, der sich immer noch ängstlich an ihn drückte, auf die Gestalt zu, die schweigend jede ihrer Bewegungen beobachtete. „Ich bin hier, um Hilfe durch Eure Gabe zu erbitten“, durchbrach er die eisige Stille.
Es war jedes Mal die gleiche Prozedur. Jedes Mal begann er mit genau diesen Worten, und jedes Mal musterte ihn der Augur, nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte, mit berechnendem Blick. Es war Teil des Ritus, der die Weissagung eines Auguren gewandete wie die Amtstracht einen Senator. Und deshalb war es nicht nur ungebührlich, sondern auch gefährlich, die einleitende Bitte zu unterlassen und die darauffolgende Stille zu unterbrechen. Auguren waren anerkannte Leute. Freilich nicht so anerkannt wie ein Senator, doch sie besaßen etwas, das kein gewöhnlicher Mensch besaß – die Macht des sechsten Sinns in ihrer höchsten Ausprägung. Wenn man sich diese Macht zunutze machen wollte, musste man ihr mit Ehrfurcht und dem gebührenden Respekt begegnen. Auguren arbeiteten gewöhnlich nicht für den Staat oder irgendeinen Senator, abgesehen von jenen fünf, die Testaceus in dem Nebengebäude seines Anwesens beherbergte. Und doch, die meisten der Senatoren hielten die Befragung eines Auguren für notwendig, um ihr Schicksal zu kennen und zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Es gab nicht einen von ihnen, der in kritischen Zeiten nicht zu derartigen Mitteln gegriffen hätte. Allerdings gingen die Methoden seiner fünf Auguren über das übliche Maß hinaus. Eine Tatsache, über die Testaceus nicht gerne nachdachte.
Das bleiche Gesicht des Jungen hatte sich ihm erneut zugewandt. Trotz der offensichtlichen Scheu hielt er tapfer still und machte keine Anstalten davonzulaufen. Testaceus selbst hatte dafür gesorgt, dass er ihm blind vertraute und bis zum Ende durchhielt.
„Zwei Fragen, wenn Ihr gewillt seid, Lestrang“, eröffnete er mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme das Ritual und spähte zum Altar.
„Zwei Antworten, wenn die Dinge günstig stehen“, antwortete der Augur gleichmütig und schritt an Testaceus vorbei zur Tür, woraufhin vier ausgemergelte Gestalten in den gleichen Roben aus hauchdünnem, schwarzem Stoff eintraten.
„Ich nehme an, es geht um die Schlacht gegen den Sklavenführer.“ Lestrangs Stimme klang, als ob man trockenes Laub zwischen den Fingern zerbröselte.
„Ganz recht.“
Testaceus schob den Jungen, der bei den Worten des Auguren unwillkürlich zwei Schritte zurückgewichen war und nun förmlich mit seinen Beinen verschmolz, ein Stück von seinem Körper weg. Der Augur reagierte auf die Angst eines Menschen wie ein Wolf bei dem Geruch von Blut, und Testaceus hatte nicht das geringste Bedürfnis, Lestrang zusätzlich zu animieren.
Während sich die anderen Auguren mit raschelnden Roben um den Altar versammelten, trat Lestrang an den Jungen heran und strich ihm mit den Fingerspitzen sanft über das Gesicht. Der Junge begann zu zittern, und Testaceus stellte mit Abscheu fest, dass seine Angst dem Auguren ein kaum wahrnehmbares Lächeln entlockte. Dann kehrte Lestrang zum Altar zurück und legte seine Hand auf die kalte, schwarze Steinplatte.
„Ihr habt wie immer dafür gesorgt, dass wir unser Ritual ungestörtdurchführen können?“
„Natürlich“, antwortete Testaceus ungerührt, obwohl sein Magen sich unangenehm zusammenkrampfte. Die kleine Hand in seiner war schweißnass.
Lestrangs Aufmerksamkeit wanderte zu den restlichen Auguren, eine Tatsache, die Testaceus kurz aufatmen ließ. Mittlerweile hatten Lestrangs Gehilfen einen Halbkreis um den Altar gebildet.
„Nun denn, es ist an der Zeit, dass ich mich um Euer Mündel kümmere“, bemerkte Lestrang, und Testaceus lief es eiskalt über den Rücken.
„Bereit, die Wächter zu rufen!“, rief einer der Auguren mit hohler Stimme.
Lestrang nickte, schloss die Augen und flüsterte etwas, das Testaceus nicht verstand. Dann warf er dem Senatsvorsitzenden einen Blick zu, den dieser als eindrücklichen Befehl auffasste.
Testaceus ließ die Hand des Jungen los und trat zurück. Das Kind erschrak angesichts des plötzlichen Entzugs des Körperkontakts. Verzweifelt machte der Junge einen Schritt auf Testaceus zu, doch da hatte ihn schon einer der Auguren gepackt, ihn auf den Altar gehoben und ihm zischend befohlen: „Zieh dich aus!“
Testaceus nickte ihm aufmunternd zu, aber der Junge versteifte sich und bettelte aus flehenden Augen um seinen Beistand.
„Tu, was man von dir verlangt!“, forderte Testaceus ihn auf. „Du bist kein Kind mehr. Ich habe dich auf das hier vorbereitet. Ich habe dich gelehrt, dass es Größeres gibt als das eigene Leben und dass man, um diesem Größeren zu dienen, Opfer bringen muss. Ich dachte, du hättest verstanden. Du bist auserwählt, mein Sohn. Du bist dazu bestimmt, den Sinn deines kleinen Lebens in einen größeren Zusammenhang zu setzen. Du hast die Kraft, einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Täusche ich mich, oder warst du nicht Feuer und Flamme, als ich dir von deiner Gelegenheit berichtete, dem Wohle der gesamten Menschheit einen Dienst zu erweisen?“
Testaceus wurde bei dieser Unzahl an Lügen schlecht. Die taktische Suggestion, mit der er versuchte, den Jungen zum Gehorsam zu bewegen, war widerlich. Trotzdem fuhr er entschlossen fort: „Offenbar habe ich mich in dir getäuscht, denn im Moment macht die Angst einen Feigling aus dir, und du schaffst es nicht, die einfachen Befehle dieses Mannes auszuführen.“
Er ertrug es nicht länger, der puren Verzweiflung ins Gesicht zu sehen, und wandte sich vom Altar ab. Der Junge verstand seine Geste gewiss als ein Zeichen der Enttäuschung. Und richtig, als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, zum Opfertisch zurückzublicken, hatte er sich seines Leinenhemdes entledigt und saß nun völlig entblößt, die dünnen Beine von der schwarzen Steinplatte baumelnd, zwischen den Auguren. Tränen rannen ihm über seine Wangen, und Testaceus wusste, dass er sich gefügt hatte und nicht mehr zur Wehr setzen würde.
***
Das Gebiet, das sich zwischen dem Emlin und der Straße nach Valianor hinzog, war weitestgehend Sumpflandschaft. Vor ihnen hatten sich inmitten grüner Wiesen und Sträucher braune, zähflüssige Moortümpel aufgetan und ihnen den Fluchtweg spürbar erschwert. Es erforderte ein hohes Maß an Erfahrung, ein solches Moor zu durchqueren, doch er hatte es nicht gewagt, die Straße, die parallel zum Sumpfgebiet Richtung Süden verlief, schon so früh zu betreten. Zu groß war die Gefahr, dass sich dort bereits die ersten Aufklärer von Cartius’ Armee aufhielten.
Gedankenversunken waren er und Rosmerta unter einer bereits kraftvoll scheinenden Sonne einhergewandert. Immer wieder musste er, trotz der Last, die er mit Kitayscha zu tragen hatte, seiner Begleiterin dabei helfen, die tückischen Stellen der Sumpflandschaft sicher zu überqueren. Während das Sonnenlicht in den kleinen Tümpeln glitzerte wie Schmuckstücke auf den Tischen der Händler Valianors und ihnen in die Augen stach, kämpften sie sich Stück für Stück durch das unwirtliche Gebiet.
Zwei Tage waren sie nun schon so unterwegs, während sich das Moor um sie herum in alle Richtungen auszubreiten schien. Nachts ließen die unzähligen Mücken den Schlaf zur Tortur werden. Weil sie beide kaum schlafen konnten, hielten sie meist gemeinsam Wache und vertrieben sich die Zeit damit, die lästigen Blutsauger zu erschlagen.
Besorgt hatte Thorn festgestellt, dass Kitayscha noch blasser geworden war. Nicht ein einziges Mal hatte sie die Augen geöffnet, sie atmete kaum merklich, und ihren Puls konnte er nur noch spüren, wenn er Rosmerta dazu aufforderte, den Mund zu halten und er selbst sich nicht bewegte.
Die Sonne färbte sich blutrot, als sie am zweiten Tag endlich das mittlerweile grüne Nadrus-Tal erreichten und sich der Verbindungsstraße zwischen Valianor und der autonomen Provinz Shemona näherten.
Unter dem schattigen Schutz einiger vereinzelter Felsen schlugen sie ihr Lager auf.
Rosmerta war von dem Marsch durch den Sumpf völlig erschöpft und lehnte sich, ohne ihren Rucksack abzunehmen, sofort gegen einen Felsen.
„Das ist das allerletzte Mal, dass ich für Testaceus die Drecksarbeit mache. In Zukunft kümmere ich mich nur noch um Angelegenheiten, die ich von einer Sänfte aus oder zumindest in Begleitung eines standesgemäßen Heeres und den dazugehörigen Annehmlichkeiten erledigen kann. Was gäbe ich jetzt für ein heißes Bad und ein Bett.“
Stöhnend rieb sie sich die Fesseln und signalisierte mit mattem Fingerzeig, dass sie ein Lagerfeuer wünschte.
„Kein Lagerfeuer mehr, solange wir nicht auf valianische Truppen gestoßen sind“, erwiderte Thorn. „Wir sind gefährlich nahe an der Verbindungsstraße.“
Er bettete Kitayscha, die im Fieberwahn wieder zu zittern und zucken begonnen hatte, auf eine Decke und setzte sich neben sie. Dann teilte er das Rebhuhnfleisch, das von seiner letzten Jagd noch übrig war, mit Rosmerta, die es gierig verschlang. Nachdem er Kitayscha etwas Wasser eingeflößt und Rosmerta es sich auf ihrer Decke bequem gemacht hatte, aß er selbst. „Wir teilen uns die Wache“, brummte er zwischen zwei Bissen.
Rosmerta nickte und zog ihren Umhang fester um ihre Schultern. Langsam kroch die Kälte der anbrechenden Nacht übers Land.
„Denkst du, Cartius’ Männer werden uns finden?“
Thorn zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Einen kleinen Vorteil haben wir. Sie werden nicht nach uns suchen. Für Cartius spielt es keine Rolle, ob ihm jemand durch die Lappen gegangen ist. Das Dumme ist nur, dass sein dreihunderttausend Mann starkes Heer ein großes Gebiet beansprucht und wir seinen Leuten überall begegnen könnten.“
Rosmerta zog die Augenbrauen hoch. „Aber wir sind nur zu zweit … Verzeihung …“ Sie schielte auf die schwer verletzte Elfe. „… zu dritt. Das macht es doch einfach, sich zu verstecken.“
Thorn grinste spöttisch. „Meinst du? Die haben Späher, meine Liebe. Gut ausgebildete Späher. Brunius Doridorus Cartius ist nicht irgendein heruntergekommener Sklave. Er war der Zenturio der 21. Legion und für seine wohlüberlegten Kampfstrategien bekannt. Er hat sein Sklavenheer, wie du sicher bemerkt hast, zu einer perfekten Kampfmaschinerie ausgebildet. Seine Leute wissen, was sie tun. Und den Blicken eines guten Spähers und Spurenlesers zu entgehen, ist ein reines Glücksspiel.“
Er schob Kitayscha einen Arm unter den Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen und hob sie auf seine Schenkel. Ihr Kopf sank gegen seine Brust, und er sog den Duft ihrer Haare in. Dann schlang er seine Arme um sie. Die Nächte waren kalt, und sie musste warmgehalten werden. „Umso verwunderlicher ist es, dass Testaceus, obwohl er Cartius’ strategische Klugheit kennt, so tut, als hätte er es mit einem Anfänger zu tun. Ich meine, er ließ uns im Emlin-Tal regelrecht ins offene Messer laufen. Zumindest hat er uns über Cartius und seine Sklaven weder ausreichend informiert, noch ein entsprechend großes Heer zur Verfügung gestellt.“
Rosmerta beobachtete ihn schweigend, verfolgte mit den Blicken, wie er das schweißnasse Haar aus Kitayschas Stirn strich. Offensichtlich hatte sie ihm nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört.
„Ich übernehme die zweite Wache.“ Sie legte sich nieder, zog die Decke über sich und schloss die Augen.
Thorn nickte. „Das hab ich mir gedacht.“
Sie schreckte jäh aus dem Schlaf. Irgendetwas hatte sie geweckt. Kerzengerade saß sie auf ihrer Decke und starrte in die Dunkelheit. Ihre Augen wanderten über Thorns Lager, das wenige Schritte von ihrem entfernt war, doch sie konnte in der Finsternis nichts erkennen. Lag da jemand, oder war das nur Thorns Decke, die einen umrisshaften Schatten auf dem Boden hinterließ?
Der Wind, der flüsternd über die Grashalme strich, trieb ihr eine Gänsehaut über den Nacken. Dann, ein scharrendes Geräusch in unmittelbarer Nähe … Irgendetwas bewegte sich dort, unweit von Thorns Lager.
Mit zittrigen Händen schob sie die Wolldecke zur Seite. In diesem Moment durchbrach ein pechschwarzer Umriss die Dunkelheit. Rosmerta zog ihren Dolch und sprang auf. „Thorn?“
Doch da wandte sich die Gestalt ab und verschwand in der Dunkelheit. Bestürzt blickte Rosmerta hinterher. Hatte Thorn etwa vor, sie hier zurückzulassen und sich mit Kitayscha abzusetzen?
„Thorn?“ Sie hastete los, stolperte, rappelte sich auf und lief weiter. Als sie Thorns Gestalt erneut in der Dunkelheit ausmachte, verlangsamte sie ihren Schritt. Er trug Kitayscha auf den Armen. Rosmerta sah das lange Haar der Elfenkriegerin bei jedem seiner Schritte wie einen Vorhang hin- und herschwanken.
„Warte … Thorn!“ Was, bei allen Dämonen … Hatte er etwa den Verstand verloren?
Als sie auf gleicher Höhe war, griff sie nach seiner Schulter. Doch Thorn schüttelte ihre Hand ab. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie hätte sich fast umgedreht und ihn alleine weiterziehen lassen. Es wäre wohl auch besser so gewesen. Und doch …
„Ich habe dir gesagt, dass das passieren wird, aber du wolltest nicht auf mich hören. Es ist das reinste Wunder, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hat.“
Thorn reagierte nicht, und langsam geriet Rosmerta in Panik. Was, wenn er jetzt alles hinwarf? Was, wenn Kitayschas Tod ihm den Rest gab? Oder wenn er sich nur noch mehr in seinen Gefühlen zu ihr verlor? Ein derartiger Verlust wandelte sich oft in eine Hingabe wider jede Vernunft. Ein Kummer wie dieser konnte wie eine Droge wirken, wie ein Gift, das Gefühle aufkommen ließ, die es gar nicht gab. Thorn würde die Elfe auf einen Sockel heben, von dem sie nie wieder gestoßen werden konnte. Kitayscha würde zu einer Ikone werden, einem Traum, dem Ideal der wahren Liebe.
„Verflucht, Thorn, sei doch froh, dass wir sie los sind. Sie war nichts als eine Bürde!“ Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Doch es war zu spät.
Thorn hielt abrupt inne. Dann drehte er sich langsam um. „Sei vorsichtig“, zischte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. „Sei bloß vorsichtig, Rosmerta.“
Ihre Hände zitterten, doch Rosmerta zwang sich dazu, den Rücken durchzudrücken und den Kopf hochzuhalten. Auf eine Entschuldigung konnte er lange warten. Die Wahrheit kannte keine Reue. „Soll ich dir etwa sagen, dass alles gut wird? Willst du, dass ich dir tröstend die Arme um die Schulter lege und dir eine Geschichte über bessere Tage erzähle, nur damit du dich weiterhin deinen Illusionen hingeben kannst? Es ist, wie es ist. Kitayscha ist tot, und je eher du das begreifst, desto besser. Und ich sage dir noch etwas … im Grunde bin ich froh, dass sie tot ist. Andernfalls hättest du sie bis Valianor mit dir geschleppt, und ob du’s nun glaubst oder nicht, das hätte uns früher oder später selbst das Leben gekostet. Kitayscha ist tot, Thorn. Sie ist tot!“
Aufreizend langsam legte Thorn den Leichnam auf den Boden und kam auf sie zu. Ein kurzes Auflbitzen seiner funkelnden Augen, dann spürte Rosmerta einen Schlag gegen ihr Nasenbein und ging unvermittelt zu Boden. Einen Moment lang wurde alles schwarz um sie herum. Eine Woge der Überlkeit schlug über ihr zusammen. Als sie wieder Luft bekam, als die Dunkelheit von ihr abfiel und die Übelkeit verebbte, sah sie durch einen Schleier von Tränen, wie Thorn den toten Körper der Elfenkriegerin aufhob und endgültig in der Finsternis verschwand.
Die Prophezeiung
Der blasse schlanke Körper lag auf dem Altar. Die dünnen Ärmchen hatte man ihm zur Seite gestreckt, die Handgelenke mit Seilen an Pfosten festgebunden, die unterhalb der Steinplatte zu diesem Zweck befestigt waren. In seinem Mund steckte ein Knebel. In regelmäßigen Abständen schüttelte ein Zittern seinen Körper, der wie ein Stück Rinderhaut wirkte, das man zum Trocknen über ein Holzgerüst gespannt hatte.
„Nun denn, lasst uns sehen, wie die Dinge liegen.“ Lestrangs Blick traf Testaceus, der ihm auswich und stattdessen das kleine, blasse Gesicht auf dem Altar ansah. Der Junge hatte sich ihm zugewandt, als wollte er sich krampfhaft an etwas Tröstlichem festhalten. Testaceus sah Tränen ihre feuchte Spur über die Wange ziehen, bevor sie in die kleine Lache auf dem schwarzen Stein tropften.
Er hatte keine Wahl. Er musste wissen, ob seine Pläne aufgingen. Das Leben dieses Jungen stand in keiner Relation zu dem, was auf dem Spiel stand und was alles verloren sein konnte, wenn er versagte. Ein Menschenleben zählte nur, solange es einen entscheidenden Beitrag zum Schicksal aller leisten konnte. Jeder musste sich in seine Rolle, seinen Daseinszweck fügen, auch er selbst. Und zwar so lange, bis das Ziel erreicht war. Nur darin lag der Sinn eines einzelnen Menschen, darin das Motiv, jemanden am Leben zu lassen. Die Bestimmung des Senatsvorsitzenden war es, das Valianische Imperium wieder zu Ruhm und Glanz zu führen, und dafür galt es, seinen Plan zu verwirklichen. Wir alle werden mit einem Plan in diese Welt geboren …
Lestrang schob jetzt die Ärmel seiner schwarzen Robe zurück, und seine sehnigen Arme kamen zum Vorschein. Auf der Innenseite des linken Unterarms war ein Symbol tätowiert – eine schwarze, gebogene Linie, die in einen kleinen Kreis mündete. Von der Mitte der Linie führte im rechten Winkel ein kurzer Strich weg. Um Kopf und Fuß des Zeichens gruppierten sich weitere kleinere Symbole. Alles zusammen wirkte die Tätowierung wie eine Art Formel, eine geheime Botschaft, die nur für Gleichgesinnte bestimmt war.
Lestrang stand, die Handgelenke an seine Schläfen gelegt, an der Seite des Altars, während die anderen Auguren ihren Kreis um die Steinplatte enger zogen und ihre nach außen gerichteten Handinnenflächen in die Luft streckten. Zuerst Richtung Norden.
„Norari eto noqui lucor“, flüsterten sie synchron.
Dann streckten sie ihre Hände Richtung Osten.
„Austri eto noqui lucor!“
Testaceus kannte den Ruf an die Wächter der Himmelsrichtungen. Er war Teil jeder Weissagung. Aber er konnte sich der beklemmenden Wirkung des Rituals nicht entziehen, zumal er genau wusste, was es einläutete.
„Suari eto noqui lucor!“, wiederholten die Auguren ihre Aufforderung an den Wächter des Südens. Nachdem sie endlich auch dem Wächter des Westens ihre Bitte dargebracht hatten, flackerten die Flammen in den Weihrauchschalen auf und erloschen dann ganz plötzlich. Über dem Altar hatte sich ein gräuliches Licht gebildet, das dunstartig über dem blassen Leib des Kindes schwebte.
Der Junge atmete stoßweise. Seine Augen hatten sich vor Angst geweitet, doch er versuchte erst gar nicht, sich aus den Fesseln zu befreien.
Lestrang zog seine Hände von den Schläfen und ließ sie über der Brust des Jungen innehalten. Seine Augen waren geschlossen, seine Finger krümmten sich über dem kleinen Körper. Dann griff er unter seine Robe, zog ein Messer mit einer Klinge aus Obsidian hervor und öffnete die Augen.
Ein Knacken hallte von den kahlen Wänden wider, als Lestrang die Klinge in den Brustkorb rammte und dabei das Brustbein durchdrang. Die Augen des Jungen weiteten sich. Alle Farbe wich aus dem blassen Gesicht. Die kleinen Füße traten ins Leere, wieder schossen warme Tränen aus den Augenwinkeln und zogen nasse Spuren über die Wangen. Diesmal waren es Tränen des Schmerzes. Doch Lestrangs Messer wanderte ungerührt weiter und bahnte sich seinen Weg vom Brustkorb nach unten. Lestrang nahm den Todeskampf seines Opfers gar nicht wahr, führte sein Messer mit kalter Präzision vom Brustbein Richtung Nabel und scherte sich nicht darum, dass der Körper unter seiner Hand zuckte und sich wand.
Testaceus wandte sich ab und stierte auf den Steinboden. Nur mühsam konnte er ein Würgen unterdrücken. Das schabende Geräusch der Klinge, die durch Knochen und Fleisch schnitt, ging ihm durch Mark und Bein. Dann ein Ruck, und Testaceus spähte zurück zum Altar. Gerade hatte Lestrang das Messer aus dem Fleisch gezogen.
Einen nichtigen Moment konnte Testaceus das gesamte Ausmaß der Qual im Gesicht des Jungen ablesen. Dann wurden die glasigen Augen stumpf und leer, und das Licht darin erlosch. Für immer.
„Wollt Ihr einen Blick darauf werfen?“, fragte Lestrang unbeteiligt.
Testaceus schüttelte den Kopf und hoffte, dass der Augur nicht bemerkte, wie angewidert er war. Sein Blick fiel auf die Klinge, die eben noch im Bauch des Jungen gesteckt hatte. Einmal mehr erkannte er, dass sie schwarz war. Und die Farbigkeit hatte durchaus einen positiven Effekt. Man sah kein Blut auf schwarzem Grund.
Lestrang legte seine Hände auf die Brust des Knaben. Er ließ seine schlanken Finger in den Spalt im Brustbein gleiten, packte zu und riss Fleisch und Knochen gewaltsam auseinander. Testaceus war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, als wäre ein kurzes Lächeln über Lestrangs Lippen gehuscht.
Während die anderen Auguren ihre Arme in den Ärmeln verschwinden ließen und einen Blick in das Innere des Jungen warfen, konzentrierte sich Lestrang auf den faustgroßen Muskel im Zentrum. Er pumpte immer noch Blut durch die Adern, als wäre ihm entgangen, dass dies längst keinen Sinn mehr hatte.
„Das Herz“, murmelte Lestrang mit tonloser Stimme. Dann hob er seinen Kopf und fixierte Testaceus. „Eure Fragen, Senatsvorsitzender!“
Testaceus kämpfte noch immer gegen den Brechreiz, der vehement versuchte, seinen Willen zu brechen. „Wie wirkt sich mein Plan auf das erhoffte Ziel aus?“
Lestrang nickte, griff mit seiner bloßen Hand zielsicher in den geöffneten Brustkorb und umfasste das Herz des Jungen, das nur noch ganz schwach in seiner Faust pochte. Die andere Hand drückte er so weit ins Bauchinnere, dass fast der gesamte Unterarm in den Gedärmen verschwand, und ertastete die Wirbelsäule.
Testaceus war heilfroh, dass der Junge längst bewusstlos und dem Tode nahe war.
„Seid Ihr bereit, meinen Rat anzunehmen?“, erwiderte Lestrang, ohne seine Hand von dem roten Klumpen zu lassen, während er die andere aus dem Körper zog und das Blut in seine Robe wischte.
Testaceus nickte stumm. Lestrangs stoischer Ausdruck blieb unverändert, als er mit einem Ruck das Herz herausriss und es vor Testaceus auf den Boden warf. Es schlitterte auf ihn zu und blieb unmittelbar vor seinen Füßen liegen. Rote Schlieren zogen sich über die grauen Steinplatten. Und hätte Testaceus nicht gewusst, dass es sich um unschuldiges Blut handelte, er hätte den Kontrast als äußerst reizvoll empfunden.
Lestrang zeigte mit ausdruckslosem Blick auf den faustgroßen Muskel zu Testaceus Füßen. „Das ist es, was in Eurer Sache zählt!“
„Wollte Ihr mir die tiefere Bedeutung erklären oder muss ich raten?“
Lestrang ging um den Altar herum auf ihn zu. „Es ist eine Sache, eine Weissagung zu hören, und eine andere, sie selbst zu sehen. Die Bilder, die ich gesehen habe, übersteigen meine sprachlichen Mittel. Wenn ich in Worte fasse, was ich gesehen habe, kann ein Teil der Wahrheit verloren gehen oder aber Ihr versteht die Botschaft nicht so, wie sie verstanden werden will. So oder so, der Inhalt ist verfälscht.“
Testaceus spürte, wie sich seine Schultern verkrampften. „Ich verstehe.“
„Ich werde Euch sagen, was ich in meiner Vision gesehen habe und was sich nun, da ich einen Blick in den Jungen geworfen habe, bestätigt hat. Und ich werde Euch verraten, was Euch erwartet. Aber die genaue Bedeutung wird Euch verborgen bleiben, bis Ihr sie in Euch selbst wiederfindet. Dies …“, er zeigte auf den blutigen Klumpen, „… soll Euch verdeutlichen, was genau ich meine.“
Lestrangs schwarze Augen bohrten sich in seinen Kopf, die Stimme des Auguren wurde zu einem hohlen Murmeln.
„Wenn das Schwert durch die Pforte tritt, dann nur zum Schein. Es kommt wider Erwarten und trifft dort, wo das Herz blind ist.“
Testaceus konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Worte, merkte aber sofort, dass er sie nicht fassen konnte. Sie flatterten ihm davon wie aufgeschreckte Tauben.
Ein zischendes Luftholen, und Lestrang setzte seine Botschaft fort:
„Wenn aber das Herz noch schlägt, dann wird sich das Blatt wenden. Denn das Herz schlägt zweierlei: Der Schlag, der liebt, wird aus Liebe zum Leben zum Mörder. Und der, der herrscht, wird aus Liebe zur Macht zum Sieger. Beide zerschlagen das Schwert.“
Lestrang zeigte auf das herausgerissene Herz zu Testaceus’ Füßen. Von seinem Zeigefinger troff Blut. „Ich habe das Herz auf den Boden geworfen, damit Ihr einen Eindruck davon bekommt, worauf ich hinauswill, wenn ich Euch die zweite Frage beantworte. Stellt sie jetzt!“
Testaceus schloss die Augen, bevor er kaum hörbar seine Frage formulierte: „Werden diejenigen, denen ich mich anvertraue, auch mir weiterhin treu ergeben sein?“
Lestrang steckte seine blutverschmierten Hände in die Ärmel seiner Robe zurück. „Das Herz ist auf dem Steinboden fehl am Platz. Es wurde von der lebensnotwendigen Blutzufuhr getrennt und kann nicht länger seinen Zweck erfüllen. Somit ist es bedeutungslos, ob es weiterschlägt oder abstirbt. Wie steht es mit Euren Untergebenen? Erfüllen sie noch ihren Zweck, wenn es um Eure Pläne geht, oder wurden sie bereits von ihren zugewiesenen Plätzen an Eurer Seite gerissen, um sich selbst zur Seite zu stehen? Handeln sie eigenmächtig? Dann sind sie nämlich für Eure Sache gestorben.“
Testaceus strich sich müde über die Stirn. „Sagt, was Ihr zu sagen habt.“
In Lestrangs Augen blitzte ein kaum merkliches Funkeln auf, und seine Stimme wurde erneut hohl. „Und beide sind ihrem Blut treu, aber einer von ihnen bricht mit dem maßgebenden Verstand. So verliert der Schlag seinen Takt.“
***
In weiter Ferne zeichnete sich die Palisade eines kleinen Militärlagers vor dem blassblauen Firmament ab. Links und rechts davon konnte Rosmerta die Gebäude zweier Landgüter erkennen. Noch war das Lager kaum sichtbar, aber Rosmerta rannte, so schnell ihre Beine sie trugen.
Der Wind trug das Stampfen und Schnauben von mindestens zehn Pferden an ihre Ohren. Sie waren noch weit entfernt, kamen aber bedrohlich schnell näher. Cartius’ Männer.
Wenigstens musste sie den Waldläufer nicht mehr hinter sich herzerren wie einen störrischen alten Esel. Am Morgen, nachdem die Elfe gestorben war, hatte Rosmerta ihn neben ihrem Grab schlafend gefunden. Er musste das Erdloch mit bloßen Händen ausgehoben haben. Ihn von dort wegzubekommen, war das reinste Martyrium gewesen. Genaugenommen wusste sie auch jetzt noch nicht, wie sie diesen liebeskranken Idioten zum Weitermachen bewegt hatte oder was genau der ausschlaggebende Grund dafür gewesen war, dass er ihrem Flehen doch noch folgte. Vielleicht hatte sein Selbsterhaltungstrieb über die Lethargie gesiegt, in deren Krallen er gefangen gewesen war.
Sie waren nur langsam vorangekommen. Thorn hatte anscheinend nicht die geringste Eile, nach Valianor zu kommen. Er war mit einer Gemütlichkeit dahingeschlendert, die Rosmerta mächtig an die Nieren gegangen war. Eineinhalb Tage lang waren sie in diesem Schneckentempo unterwegs gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte Thorn das Wort an sie gerichtet oder sich bei ihr für den Faustschlag entschuldigt, mit dem er sie niedergestreckt hatte. Darüber war sie besonders wütend. Seither lief sie mit einer violett schattierten, dicken Nase durch die Gegend und hasste ihn dafür.
Und jetzt? Jetzt rannte sie um ihr Leben. Von dem Waldläufer war nichts zu sehen. Aber sie würde bestimmt nicht anhalten und sich nach ihm umdrehen. Sie würde das Ziel nicht aus den Augen verlieren, das, nebenbei bemerkt, in nervtötender Langsamkeit näherrückte. Wenn sie es nicht rechtzeitig erreichte, war es ein für allemal vorbei mit ihr. Vielleicht war Thorn unmittelbar hinter ihr, vielleicht auch nicht. Es war ihr egal.
Der Schweiß lief ihr in Strömen den Hals hinunter und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Der Atem brannte in ihren Lungen, und ihre Beine schmerzten. Ein Pfeil zischte dicht an ihrem Ohr vorbei. Rosmerta schrie auf, hielt aber unverdrossen auf das Lager zu. Es war nicht mehr weit. Sie hatte es fast geschafft.
„Sie haben aufgegeben“, vernahm sie neben sich eine Stimme und wurde ungewollt langsamer.
„Thorn“, keuchte sie.
Thorn fiel zurück, und Rosmerta kam nach einigen Schritten zum Stehen. Dann klappte sie zusammen und fiel schnaufend ins Gras. Als sie zurückblickte, erkannte sie, dass Thorn die Wahrheit gesagt hatte. Von ihren Verfolgern war nichts mehr zu sehen.
„Wahrscheinlich haben sie das Lager gesehen“, stieß sie hervor.
Thorn marschierte kommentarlos an ihr vorbei, und Rosmerta rappelte sich leise fluchend auf. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Wollte er sich für immer in Schweigen hüllen?
Zwei Wachposten flankierten das Tor zum Lager und stritten gerade heftig, als sie sich näherten. Einer der beiden lachte auf und tippte sich an die Stirn, woraufhin der andere verärgert sein Gesicht abwandte.
Als sie Rosmerta und Thorn erblickten, nahmen sie Haltung an und kreuzten wie auf Kommando ihre Speere.
„Du hast doch deine Dokumente noch, oder?“, flüsterte Rosmerta. Thorn löste wortlos die lederne Rolle von seinem Gürtel, zog ein Schriftstück heraus und hielt es einem der Soldaten unter die Nase.
Er spähte auf das Dokument. „Ihr seid …?“
„Thorn Gandir“, unterbrach Thorn und blickte in das verdutzte Gesicht des Wachpostens.
„Das stimmt“, brummte der zweite Wachposten. „Ich kenne ihn. Hab ihn schon mal gesehen. Das ist einer der Helden des Valianischen Imperiums.“
„Ich weiß, wer Thorn Gandir ist!“, zischte der Kollege und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Dann gab er das Schriftstück zurück und salutierte, wobei seine Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt waren.
„Ave, Thorn Gandir, Oberbefehlshaber der Legionen, Ehrenbürger Valianorsund Held …“
„Schon gut. Hättet Ihr einen Lagerplatz für uns?“
„Selbstverständlich!“
Thorn spähte zu Rosmerta, und in seine Augen stahl sich ein kleines Funkeln. War das etwa ein Lächeln?
„Und die Dame hier bräuchte eine standesgemäße Körperwäsche und eine Salbe für ihre Nase. Ihr seht ja, wie sie aussieht.“ Thorn gab dem Mann einen Klaps auf die Schulter, eine Geste, die den strammen Soldaten einigermaßen aus der Fassung brachte, was an dem Stottern abzulesen war, mit dem er ihnen eine Wegbeschreibung zum Kommandozelt des Lagers hinterherrief. Überflüssigerweise, denn das Zelt hob sich deutlich von den anderen Zelten ab. An seiner Spitze prangten valianische Banner in den Farben grün, gold und silber. Eine der Flaggen zierte das Emblem eines goldenen Greifs in einem silbern schimmernden Ring, der mit wachsamen Augen auf sie hinunterblickte.
Rosmerta registrierte, wie sich Thorns Gesicht beim Anblick des Wappens fast unmerklich verzog. Dann hielt der Waldläufer auf die Wachen vor dem Zelteingang zu, und Rosmerta folgte ihm.
Thorn Gandir
Seine Füße rutschten halb die Böschung hinab, die den kleinen Bach säumte. Thorn fühlte, wie ihn der letzte Rest seiner Kraft verließ und sich sein Verstand nur noch schwach gegen die Wahrheit sträubte, die sich erbarmungslos in sein Herz grub. Was gäbe er dafür, dass nicht ausgerechnet Rosmerta es gewesen war, die sie ausgesprochen hatte. Kitayscha ist tot.
Völlig außerstande, sich noch weiterzuschleppen, zog er den kalt gewordenen Körper der Elfenkriegerin auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.
„Du neigst dazu, den anderen den Vortritt zu lassen, wenn es hart auf hart kommt, Thorn“, vernahm er Kits Stimme in seinem Kopf. „Du zögerst, zweifelst, wartest ab … Das mag in manchen Situationen die bessere Wahl sein. Aber irgendwann kann dich dein Zweifel den Kopf kosten. Und nicht nur dich.“
Thorn schreckte jäh aus dem Schlaf. Benommen setzte er sich auf und sah sich um. Abgesehen von dem schwachen Schein der Öllampe neben seinem Lager war es dunkel im Zelt. Von draußen drangen gedämpfte Stimmen und leises Klirren nach drinnen. Zwei Männer auf dem Weg zum Tor … Wachablöse.
Danach wurde es wieder still. Und diese Stille machte ihn verrückt. Genauso wie jedes Wort, das um ein Gegenwort bettelte, eine Reaktion von ihm erwartete. Alles machte ihn verrückt, seit Kitayscha nicht mehr an seiner Seite war.
Da war diese Leere, die eisig schwarze Löcher in alles Leben riss und das Nichts zu einer grauenhaften Substanzlosigkeit heranwachsen ließ. Jene Leere, die er seit Jaslanas Tod nur allzu gut kannte und die mit Kit aus seinem Inneren verschwunden war.
Er war Thorn Gandir, Ehrenbürger Valianors, Oberbefehlshaber der valianischen Streitkräfte, Held des Imperiums. Er war ein Waldläufer aus Alba, Freund der Elfen und Feind der Clans. Das war’s. Er war nichts außer Namen und Titel, Schall und Rauch … Kitayscha hatte ihn lebendig gemacht. Sie hatte der Hülle Thorn Gandir wieder Substanz verliehen.
Thorn griff sich die Öllampe, stand auf und setzte sich an den Tisch im hintersten Winkel des Zeltes. Dann zog er ein Stück Pergament heran und schrieb: