Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto - J. H. Praßl - E-Book

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto E-Book

J.H. Praßl

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Beschreibung

Der Krieg schreibt keine Heldenlieder! Amalea im Jahre 346 nach Gründung Fiorinde. Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen ... Die Welt hat sich verändert. Aus der längst erkalteten Asche der in Vergessenheit geratenen Chaoskriege erhebt sich ein neues Dunkles Zeitalter. Die Mächte des Chaos treten den Mächten der Ordnung abermals gegenüber. Chaosbündnis und Allianz ziehen in die Schlacht um die Herrschaft über Amalea. Der letzte große Krieg beginnt. Telos' Leben steht auf Messers Schneide. Während sich Lucretia in die Liga der außerordentlichen Zauberkundigen Al'Jebals spielt, steht der Hohepriester in Mon Asul vor Gericht. Unterdessen lernt Chara unter der weisen Führung Meister Fengs über ihre physischen Grenzen hinauszugehen. Aber schon bald muss sie begreifen, dass jede Grenzüberschreitung auch den Fall einer Mauer zur Folge hat. Ihre harte Fassade bröckelt. Etwas, das tief in ihr verborgen liegt, beginnt auszutreiben und die steinerne Barriere niederzureißen. Genau darauf hat Marduk Lomond MacDragul gewartet. Indes arbeitet ein Mann namens Agadur Konwin Aun'Isahara an der Wiederbelebung seines ältesten Bruders, der einst der mächtigste Nekromant Amaleas gewesen sein soll. Doch am Höhepunkt seines Schaffens stellt sich ihm ein gigantisches Heer unbekannter Herkunft entgegen, an dessen Spitze eine schwarze Frau für die wildesten Gerüchte sorgt ... Wer seine Vergangenheit vergisst, dem wird die Zukunft in den Rücken fallen!

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Lucretia L’Incarto

J.H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung 4

Lucretia L’Incarto

Krieg

Praßl, J.H.: Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L’Incarto. Krieg, Hamburg, acabus Verlag 2016

Originalausgabe

PDF: ISBN 978-3-86282-441-0

ePub: ISBN 978-3-86282-443-4

Print: ISBN 978-3-86282-440-3

Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl

Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-Rollenspiel MIDGARD übernommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2016

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Widmung

Halbzeit! Der vierte Band ist geschrieben und auch längst gespielt. Die Spieler der „Chroniken“ sind das Herzstück der Geschichte. Sie sind echt. Sie leben … sie kämpfen, sie haben Angst, sie scherzen, sie fluchen, sie stehen vor Wänden und wollen da durch … oder schrecken davor zurück. Und manchmal fließen auch Tränen. Diese „emotionale Realität“ lässt die bloße Fiktion haptisch, die schlichte Idee lebendig und substanzlose Worte zu dynamischer Wirklichkeit werden.

Darum, und weil manch einer bereits Abschied genommen und neuen Spielern Platz gemacht hat, hier noch mal ein inniges Danke an die Starakteure der ersten vier Bände:

Christian Stüger (alias Chris) für Bargh Barrowsøn (alias Bargh), den vallandischen Krieger mit dem lichten Herzen und dem höllischen Schlachtbeil … treuester Freund und schlimmster Gegner, Liebling aller Leser und „Herzchen“ aller Frauen. Wafningar ehrt dich!

Dominik Staudinger (alias Dom) für Thorn Gandir (alias Held des Imperiums und Cäsarusmörder), den Waldläufer mit den ehernen Idealen und gleichsam wankelmütigem Selbst – Freund der Elfen und Feind der Clans … für einen Helden, den man lieben und hassen kann, je nachdem, wie er gerade drauf ist. „Solange du lebst, liegt es in deiner Hand … entscheide dich! Immer wieder, immer neu, jeden Tag!“

Katharina Prexl (alias Kathi) für Lucretia L’Incarto (alias Schlüssel zu … der Rest des Titels wäre ein Spoiler), Akademiemagierin aus Tremon und Frau von Welt, die die Vorteile der Macht für sich entdeckt hat und vor keinem Gott ihr Knie beugen möchte. Dieser Band ist dein Band, Kathi. Möge dir jeder (magische) Spruch auch in Zukunft locker von der Zunge gehen!

Markus Raith (alias Max) für Telos Malakin (alias Gottesfeind, Chaosbringer und Lichtbringer), den hässlichen aber charismatischen Kriegspriester mit den klaren Prinzipien, dem leichten Hang zur Hybris und einem Herzen aus Gold. Agramon hämmere deine Feinde, Max!

Und wie immer auch ein herzliches Danke allen ehemaligen Spielern, die uns die Vorgeschichte bereitet und sich z. T. sogar in die Elite Al’Jebals hochgearbeitet haben, sowie jenen, die uns nur vorübergehend beehrten:

Alex, Boris (Gemiramel Weißfels), Chris (Artemos Hortensis Plopteres alias Ploppi, Kalidor Sirionopoulos), Georg (Girim Y’Harsteen alias Girim), Gux (Mara-Na-Pheru alias Asquia), Hoink (Fusulos Konfusius alias Fusl, Manolus Maranopoulos), Karin, Lili, Peter (Gaan El’Schiban Al’Hamar alias Gaan), Roland (Freon Eisfaust El’Salah alias Eisfaust und Jagan Kerme El’Alachin), Simona, Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder), Mio (Siralen) …

Musikempfehlung

1) Oceania - Kotahitanga (Union)

Kapitel „Die Prophezeiung“: Lied der Dad Siki Na

2) Joachim Witt – Refrain von Bataillon D’Amour

Lied der Söldnertruppe „Bataillon D’Amur“

3) The Tiger Lillies – Glory in Battle

Kapitel „Der Krieg schreibt keine Heldenlieder“: Lied des Gefangenen

 

AMALEA

Detailkarte Amalea

Ankarnia

Umgebung Isahara

Isahara

 

Der Krieg ist keine Sünde, sagen die Leute und ziehen ihre Schwerter gegen die, die Sünder sind in ihren Augen.

Der Krieg ist eine notwendige Maßnahme zur Bekämpfung des Übels, sagen die Leute und töten, während sie den Namen der Götter auf den Lippen tragen, die für Licht und Ordnung stehen.

Nur wenn wir Krieg gegen das Chaos führen, werden wir am Ende Erlösung schauen, sagen die Leute und steigen über die Leichen derer hinweg, die sie auf ihrem Weg zur Erleuchtung in Stücke gerissen haben.

Ich aber sage: Der Krieg wird dich zu Boden werfen! Er wird dir den Atem aus den Lungen pressen und dich mit dem Gesicht voran in den Dreck stoßen, bis du denkst, du krepierst an Hunger, Übermüdung und innerer Leere!

Aber die Leute sehen das anders. Sie werden dem Guten ein Liedchen trällern und mit dem Gedanken an Ruhm und Ehre in den Tod gehen, wissend, dass sie rechtens gehandelt haben … Und ich werde ihnen vorausgehen.

In den Schriften der Gelehrten steht geschrieben:

„Die Ordnung hat nur einen Fehler. Sie erkennt das Chaos nicht, wenn sie es vor sich hat.“

Dieser Fehler ist allerdings verheerend.

 

Amalea im Jahre 345 nach Gründung Fiorinde:

Tausend und dreihundertfünfzig Jahre

nach Beginn der Chaoszeit.

Fünfhundert und siebzig Jahre

nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.

Zweihundert Jahre

nach der Vertreibung der Chaosmächte

aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,

des Südens und des Westens.

Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen.

In Moravod zieht die Apotheose des ehemaligen Propheten Hadra und jetzigen Gottes Hakkinen Dragati einen religiösen Krieg nach sich, der einen Großteil der Bevölkerung aus dem Land vertreibt, darunter sämtliche moravische Elfen. Die Hinterbliebenen werden von den Anhängern Dragatis zum Glauben an den neuen Gott gezwungen. Während Hakkinen Dragati als der Eine Wahre gefeiert wird, übernehmen die Dragatisten Stück für Stück das Land. Moravod wird zu Dragatistan.

In Rawindra, dem Land südlich Moravods, beginnt der Krieg zwischen den Echsen und den Menschen. Der Untergang des Nekromanten Satlek Mu’ul, dessen Untotenheer Gerüchten zufolge von Hakkinen Dragati besiegt wurde, bringt den Verrat der Grakas am Fürstentum Lakschanam ans Licht und lässt die Einwohner zu den Waffen greifen. Der Radscha Bangha Maha Schemburi ist gezwungen, das Land zu verlassen.

In Valland, dem nördlichsten Land Amaleas, findet die größte Evakuierung statt, von der je berichtet wurde. Während die Tulurrim im Namen des Chaos das Land überrennen, segeln hunderte Schiffe unter Al’Jebals Banner Richtung Süden, um der ehemaligen Bevölkerung Vallands eine neue Zukunft in Aschran zu ermöglichen.

In Mon Asul, Sitz Al’Jebals, beginnen die Vorbereitungen für die Reise einer Armada von tausend Schiffen zum neu errichteten Stützpunkt auf den Kabugna-Inseln. Zur selben Zeit trifft ein Mann namens Agadur Konwin Aun’Isahara, der Jüngere, in seiner uneinnehmbaren Festung in Erainn die Entscheidung, den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten ins Leben zurückzurufen …

Mon Asul

Die Macht der Götter ist eine Macht der Superlative.

Die Götter waren die einzig wahren Herrscher, die einzigen, über die nichts Höheres gedacht werden konnte, zumindest glaubten dies alle Sterblichen. Kein Sterblicher wagte es, die Macht eines Gottes anzuzweifeln. Und kein Gott teilte sich mit einem Sterblichen seine Macht – absolute Souveränität – eine Autokratie, die in der Welt der Menschen nicht zu finden war. Der Glaube bestimmte das Credo und das Credo war das Fanal, dem die Menschheit widerstandslos folgte. Wohin, lag auf der Hand: Der Götter Wort ist Gesetz! Das Gesetz schaffte Ordnung, Ordnung brachte Sicherheit, Sicherheit führte zur Zufriedenheit, bis hin zur Stagnation. Die Welt lag in der Götter Hände und nur jemand, der den Göttern trotzte, würde die Welt verändern können!

Aber auch auf dem profanen Boden Amaleas gab es Mächtige und weniger Mächtige. Und hier, wo Landesgrenzen, wo Manipulation, Suggestion und politisches Ränkespiel die Macht des einzelnen definierten, war es möglich, die eigene Größe wachsen zu lassen, bis hin zur annähernden Unabhängigkeit. Genau das war es, was es in Lucretias Augen zu erreichen galt – die Macht, vor niemandem sein Knie beugen zu müssen!

Lucretia L’Incarto hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Sie war von einem in gutem Hause großgewordenen, wissensdurstigen Einzelkind zu einer gebildeten Frau herangewachsen, die sich zu einer Magierin dritten Ranges emporgeschwungen und sich als solche in die Liga der herausragenden Zauberkundigen Al’Jebals gespielt hatte. Inmitten dieser Elite hatte sie einen ersten entscheidenden Erfolg zu verbuchen. Sie war nicht mehr länger eine von vielen, sie war bereits ein Jemand, eine, deren Name Bekanntheit erlangt hatte.

Nach einem gemächlichen Zwei-Tages-Ritt über unwirtliche Gebirgsstraßen und in der nicht gerade erhebenden Gesellschaft zweier Leibwächter, die sich zu keiner wie auch immer gearteten Unterhaltung herabließen, lenkte Lucretia ihr Pferd an den orkischen Wachen des äußersten Walls von Mon Asul vorbei. Man ließ sie und ihren Begleitschutz ohne viel Aufheben passieren.

Gut gelaunt umrundete sie die Mauern des kreisförmig angelegten Zwingers, der in das gewaltige Zentrum der Anlage führte. Zu ihrer Rechten stieß Al’Jebals Turm wie eine himmelstürmende, glatt polierte Felssäule von bestechend schlichter Dominanz empor. Mon Asul war eine architektonische Meisterleistung, jedenfalls in Lucretias Augen. Es gab Gerüchte, dass sich der Turm so tief in die Erde schraubte, wie er in den Himmel wuchs, aber sie zweifelte daran. Andererseits … nur was tief wurzelte, konnte hoch hinauswachsen. Und Al’Jebals Turm war immerhin vierzehn Etagen hoch, wobei eine Etage etwa die doppelte Höhe eines gewöhnlichen Festungsstockwerkes maß.

Der Alte vom Berg verstand es in der Tat, Macht zu demonstrieren, auch wenn er jedwede Art der Selbstinszenierung nur sehr bescheiden und kalkuliert einsetzte. Wenn aber doch, dann mit einem unvergleichlichen Auge für das Wesentliche. Und darin äußerten sich ja bekanntlich Stil und Geschmack.

Mon Asul jedenfalls war von einzigartiger Prägnanz – dunkler, geschliffener Stein, der erst im krönenden Abschluss seiner Spitze mit den vier Erkertürmchen und dem spitz zulaufenden mit Kupfer geschindelten Dachgiebel die Hand des Architekten verriet. Lange vor Erreichen der Oase Hadiy sichtbar, repräsentierte der Turm zugleich Schatten und Licht. Die Nachmittagssonne beleuchtete die von Grünspan durchsetzten Kupferschindeln und wurde weiter unten vom Schwarz des glatten Gesteins verschluckt, sodass sich vor dem Auge des Betrachters ein attraktives Wechselspiel von Tag und Nacht vollzog.

Mon Asul trug nicht unerheblich zur Verbreitung diverser Geschichten über die Oase Hadiy bei. Vor vielen Jahren hatte eine Schlacht um den Turm getobt, über die nur bekannt war, dass sich eine Handvoll todesmutiger Söldner unter Al’Jebal gegen eine gewaltige Übermacht behaupten konnte. Es hieß, dass sogar Thanatanen unter den Angreifern gewesen seien. Als Al’Jebal selbst mit einer Ork-Streitmacht rettend eingriff, war der Sieg auf seiner Seite.

Ja, der Alte hatte sich zweifelsohne einen Namen gemacht und das nicht nur in Aschran. Sein Ruf war Lucretia einst jene Versuchung gewesen, nach Billus zu reisen. Ihre eigene Macht war kümmerlich, noch, aber Satlek Mu’ul hatte ihr dazu verholfen, auf der Treppe nach oben zwei bis drei Stufen zu überspringen. Der Tod des Nekromanten war das Katapult, das sie über die ersten Etappen der Erfolgsleiter hinweggeschleudert hatte. Sie hatte bewiesen, wozu sie als Magierin in der Lage war. So gesehen, stand Al’Jebal ein klein wenig in ihrer Schuld. Und egal, was über den Magier so gemunkelt wurde, in einer Sache war man sich einig: Al’Jebal beglich seine Schulden.

Die Zugbrücke zum Haupttor lag still und unbelebt über dem tiefen Graben, der sich um den Turm schloss. Nachdem Lucretia mit ihren Begleitern in den Burghof geritten war und vor dem Graben Halt gemacht hatte, verabschiedeten sich die beiden Männer mit einem knappen „Ormut und Alaman in ainem“ und übernahmen ihr Pferd, um es zusammen mit den anderen beiden Reittieren in die Stallungen zu bringen.

Lucretia passierte unbehelligt Zugbrücke, Ork-Wachen und Tor und betrat den halbkreisförmigen, schmucklosen Eingangsbereich, von dem aus eine Rampe in die erste Etage führte. Nachdem sie sich angemeldet hatte, nahm sie die Wendeltreppe in Angriff. Hastig kramte sie in ihrer Umhängetasche aus Kamelleder nach den Plänen, die sie in den letzten Tagen in Billus ausgearbeitet hatte.

Schön, sie war nicht wegen ihrer Zukunftsvisionen zu Al’Jebal gerufen worden. Aber was konnte es schaden, den einen oder anderen Wunsch zu äußern, zumal man sich gerade einer besonderen Beliebtheit erfreute. Gelegenheiten ließ man nicht ungenutzt vorüberziehen!

Herkul Polonius Schroeder, Jagan Kerme, diese Elfe namens Asquia … kurz, Al’Jebals Elite – sie hatten alle einen festen Wohnsitz in Billus. Warum nicht auch sie? Es musste ja nicht gerade eine Villa sein, aber ein kleines, feines Häuschen mit Garten, Terrasse und geschmackvoller Einrichtung … damit wäre sie schon zufrieden. Zur Einweihung würde sie eine glanzvolle Feier geben, die keinerlei Wünsche offen ließ – ein kleines Orchester, das zum Tanz aufspielte, Kerzenschein, bester Wein aus Tremon, Whischkai aus Alba … Sie würde die gesamte Elite einladen: Freon Eisfaust, Admiral Schroeder, ja sogar Assef El’Chan und den größten aller Großen selbst, Al’Jebal. Wahrscheinlich, dass Letzterer ihre Einladung mit einem kaum merklichen Hochziehen einer Augenbraue ausschlagen würde, aber träumen durfte man ja wohl noch!

Sie raffte ihren dunkelgrünen Wollrock, atmete tief durch und begann den langen Aufstieg ins siebte Geschoss Mon Asuls, wo Al’Jebal sie erwartete.

Neun Stockwerke tiefer, im zweiten Untergeschoss des Gefängnisturms an der Westmauer Mon Asuls, glitt ein Augenpaar wieder und wieder über die Gitterstäbe, die sich einem Raster gleich durch sein Gesichtsfeld zogen. Seit drei Tagen, wenn ihn seine innere Wahrnehmung nicht täuschte, saß er jetzt in diesem Kerker. Seit drei Tagen hatte er niemanden gesehen, abgesehen von dem Wärter, der ihm Nahrung und frisches Wasser brachte. Seit drei Tagen stellte er sich immer wieder die gleiche Frage: Was hatte er sich zuschulden kommen lassen, dass er zur Haft verurteilt worden war? Und was, was erwartete ihn, wenn sich die Zellentür öffnete, um ihn … Ja was? Als Sklave zu verkaufen, vor Gericht zu stellen, hinzurichten?

„Nehmt in fest!“

Al’Jebals Befehl klang Telos noch immer in den Ohren und der fragende Blick in Charas abgeklärtem Gesicht spukte ihm im Kopf herum, seit man ihm die Handfesseln angelegt hatte. Die Dinge hatten eine unvorhergesehene Wendung genommen …

Seit jenem Tag, an dem er, Chara und Lucretia Satlek Mu’ul in Orkchos Reich geschickt hatten, war alles aus den Fugen geraten. Er hätte es wissen müssen! Er hätte wissen müssen, dass Agramon ihn trotz seiner Begnadigung für seine Taten büßen lassen würde, und er spürte deutlich, dass eine Veränderung vonstatten ging … mit ihm, mit Chara, mit allem, was sie in Al’Jebals Gebiet umgab.

Die Besichtigung Tamangs hatte in Telos ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit ausgelöst. Nachdem Al’Jebal ihnen sein Geheimnis über das von ihm gegründete Bündnis der Allianz anvertraut hatte und die Ereignisse um Dragati und Mu’ul bewiesen hatten, dass Al’Jebals Berichte über das Chaos der Wahrheit entsprachen, bestand keinerlei Zweifel mehr an der Rechtschaffenheit des Alten vom Berg. Doch jetzt hatte derselbe Mann, der Bündnisse gegen das Chaos schmiedete, einen Anhänger der Ordnung gefangen nehmen lassen, und Telos wusste nicht, warum.

Als Kriegspriester war Telos mit Veränderungen vertraut. Der Kampf war immer der Beginn einer Veränderung, aber als Mann des Glaubens und der Ordnung war ihm jede Wandlung zuwider. Die Ordnung war der Rahmen, der diese Welt zusammenhielt. Krieg bedeutete Chaos und Chaos bedeutete Verwüstung und Neuerung. Neuerungen führten wiederum zwangsläufig zu Unstetem und meist kam dabei nichts Gutes heraus. Jetzt war eine Zeit der Unruhen angebrochen und er hatte keinerlei Anhaltspunkt, was diese Zeit bringen würde. Alles, was er wusste, war, dass Al’Jebal ihn festgesetzt hatte. Begründet oder grundlos? Diese Frage quälte ihn am allermeisten.

Telos lenkte seinen Blick von den Gitterstäben auf seine Schlafstatt. Diese Zelle hatte nichts mit dem Kerker in Billus gemein. Sie war annähernd sauber, sogar hell, wenn man bedachte, dass es kein Fenster gab – dafür sorgten die Fackeln an den Wänden außerhalb seiner Zelle. Ja, er hatte sogar ein Feldbett und einen Nachttopf, der regelmäßig geleert wurde. Es war nicht allzu feucht, auch nicht besonders kühl und der Geruch war annehmbar. So gesehen war diese Einrichtung beinahe komfortabel, natürlich nur, wenn man davon absah, dass es keine Unterkunft für willkommene Gäste, sondern eine Kerkerzelle war.

Mit einem leisen Seufzen sank Telos auf das Feldbett und ließ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden.

Solange du bei mir bist, kann ich alles ertragen, Agramon! Aber ich bitte dich dennoch, weise mir den Weg aus dem Dunkel!

Agramon war hier! Dies war die alle Ängste vernichtende Gewissheit. Der Kontakt zu seinem Gott war da. Solange diese Verbindung nicht verloren ging, gab es auch nichts zu fürchten, nicht einmal den Tod. Das, was ihn plagte, war der Gedanke an Schuld – Schuld an seinem Glauben, Schuld an der Ordnung, Schuld im Sinne chaotischer Gedanken und Taten, die, das konnte er nicht von sich weisen, in den letzten Monden seine Welt durchwoben. Und begonnen hatte alles mit einem Mann namens Hakkinen Dragati …

… Chaosgünstling, Prophet, Götze, der es wagte, seinen eigenen Gott herauszufordern und sich selbst zum Gott zu erheben! Dragati hatte mit ihnen gespielt. Sie waren ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert gewesen und ungewollt seiner Spur gefolgt, bis sie ihm am Ende jenen Aufstieg ermöglicht hatten, der ihn zum Abgott für all jene werden ließ, die dem Abnormen und zutiefst Lebensverachtenden zugeneigt waren. Dragati, Satlek Mu’ul, die tätowierten Berater der vallandischen Führung … das Chaos! Wo sie auch den Fuß hinsetzten, es hatte sie verfolgt. Chara hatte es auf den Punkt gebracht, als sie dem Jarlkunr Edisen auf seine Frage hin, weshalb Al’Jebal Valland evakuieren wolle, geantwortet hatte: „Er entzieht dem Chaos den Nährboden.“

Sie selbst waren zu einer Manifestation dieser Wahrheit geworden, als sie mit Dragati verhandelt hatten. Sie selbst hatten es zugelassen, dass die Saat des Chaos in ihrem Geist austreiben konnte. Doch Telos hatte letztlich verstanden und eingelenkt, oder etwa nicht? Er hatte Buße getan und die Verwerflichkeit seiner Taten anerkannt, vor Agramon, der ihm verziehen hatte! Warum saß er dann hier in dieser Zelle?!

Bargh, mein Freund … gefallen durch Charas Hand. Thorn, krepiert in den Armen eines Dämonenfürsten … Alles hat sich verändert! Alles ist mir entglitten!

Gedanken, Gedanken, Gefühle, Zweifel, Fragen, Gedanken … Telos’ Verstand spielte mit seiner Seele Shak und er hatte das Gefühl, dass jede Strategie ins Leere lief. Strategien halfen hier nichts. Ohne Fakten, auswertbare Daten – keine Strategie! Er hatte keine Fakten. Er hatte lediglich Spekulationen, Vermutungen, Befürchtungen …

Wie lange würde er hier noch festsitzen, schwitzen, fragen und zweifeln? Wie lange würde er noch…

„Morgen!“, riss ihn die Stimme des Aufsehers abrupt aus seinen Gedanken und Telos hob seinen Kopf. Der Aschraner stand im Licht der Fackel vor seiner Zelle und musterte ihn unangenehm berührt – als wäre es ihm zuwider, ihn in einer Zelle zu sehen. Seine Finger nestelten nervös an seinem Gürtel. „Ihr werdet morgen aus dem Kħerker gebracht“, erklärte er und sah auf den Boden. „Ihr werdet die Gelegenhait ħaben, Euch żu waschen und żurechtżumachen.“ Ein vorsichtiger Blick in Telos’ Augen, dann wandte er sich ab. „Gute Nacht, Ħohepriester!“

„Warte!“, rief Telos und sprang auf die Füße. „Wohin werde ich gebracht? Was hat Al’Jebal mit mir vor?“

Keine Antwort. Der Mann stieg bereits die steinerne Treppe hinauf, um sich leise davonzumachen.

„Werde ich in Mon Asul bleiben? Wird man mich …“

Mit einem Knarren fiel die Tür am Ende der Stufen ins Schloss und Telos war wieder allein. Nervös fuhr er sich über seine Stoppelglatze und begann in der Zelle auf und ab zu wandern.

Alles auf Anfang: Die Gedanken begannen erneut zu rotieren.

Etwa zwölf VALM entfernt, im obersten Stockwerk der in den Felsen gebauten Assassinenfestung, glitt eine bleiche Hand über eine Pergamentseite in einem kleinen Buch aus schwarzem Leder und streifte sie glatt. Die andere hielt einen schwarzen Federkiel zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ diesen in fahrigem Schriftzug über die Seiten tanzen.

 

Triudag, 1. Trideade im Kranichmond/345 nGF

Es ist fünf Tage her, dass Telos festgenommen wurde. Ich habe die Gründe dafür nicht erfahren. Vielleicht hat ihn seine priesterliche Seele dazu verführt, den Willen seines Gottes über den Willen Al’Jebals zu stellen. Vielleicht hat er sich etwas zuschulden kommen lassen, das sich meiner Wahrnehmung entzieht. Der Grund für Al’Jebals Entscheidung wird mir verborgen bleiben. Alles wird mir verborgen bleiben, was den Meister und seine Pläne anbelangt.

Ich habe noch immer nicht begriffen, was Al’Jebal mir bei meiner letzten Audienz zu sagen versuchte, aber ich nehme an, es soll mich nicht weiter beschäftigen. Ansonsten hätte ich den Befehl erhalten, darüber nachzudenken.

„Du bist MEIN!“ Wahrscheinlich ist dies Al’Jebals Art, sein Siegel aufzudrücken. Die Prägung eines Assassinen ist ja bekanntlich nicht allzu schwer. Die meisten von uns sind von Geburt an den Suggestionen des Meisters ausgesetzt und haben, gelinde gesagt, kein privates Bewusstsein. Fremdbestimmte Gedanken lenken unsere Taten. So beginnt das Leben eines Hatschmaschin. Da war ich eine Ausnahme. Meine Ausbildung begann ich erst im Alter von fünfzehn Jahren. Umso dringlicher für Al’Jebal, mich an meine Bande und meinen niederen Stellenwert zu erinnern.

„Du bist mein!“

Ich bin kaum noch dazu in der Lage, etwas anderes zu denken.

„Ich bin dein! Dein … dein … dein …“

Meine Frage hat er nicht beantwortet. Ich hätte sie vermutlich gar nicht stellen sollen. Das, was in mir west, soll vergessen werden. Zavir und seine Folter, das blaue Licht, das in mir glomm, um mir festungsgleich Deckung zu bieten … Ich soll nicht weiter danach fragen. Wird mir nicht allzu schwerfallen. Hat mich zwar interessiert, muss aber kein Thema mehr sein. Nichts muss ein Thema sein, solange es nicht zum Thema gemacht wird. Themen anderer sind keine Themen für mich. Meine Themen gibt es nicht. Ich bin die Null vor der Eins … Die Null sagt nichts aus. Sie ist nichtig. Die Bedeutung beginnt bei der Eins.

„Es werde Licht!“, sagte die Eins, bevor die Zwei der Nacht den Tag zur Seite stellte. Und damit hat alles angefangen.

Diese Gedanken sind mir neu. Ich habe sie noch nie gedacht. Haben sie eine Bedeutung? Wohl kaum.

Telos sitzt im Kerker Mon Asuls, soweit ich weiß. Ich bin hier. Al’Jebal hat mich gerufen. Darum werde ich morgen nach Mon Asul aufbrechen.

Status Quo

Chara klappte den Einband zu, stand auf, drehte sich um und stierte auf die weiße Rose, die dort in der Vase am Fußende ihres Bettes stand. Sie war kurz davor, zu erblühen. Wenn sie nach ihrem Aufenthalt in Mon Asul zurückkehrte, würde ihr erster Blick auf eine neue Rose fallen. Irgendjemand würde die alte inzwischen ausgewechselt haben. Sie würde die neue Rose betrachten – den einzigen weißen Akzent in dem tiefen Schwarz ihres Zimmers – und sie würde sich dabei hohl und lebendig zugleich fühlen.

***

Als die Sieben im Begleitschutz ihrer Ordenskrieger die schmale Gebirgsstraße entlangritten, die sich um die gewaltige Felsformation des Altan wand, hatte die Sonne bereits den Zenit überschritten. Alle sieben Augenpaare wanderten über die in den Berg geschlagenen Erker und Mauern der Assassinenhochburg weit westlich von ihnen, deren natürlich anmutende Wehrhaftigkeit jedem Passanten zu sagen schien: Du bist hier nicht willkommen!

Dort lebten also Al’Jebals gefürchtete Schergen. Es wollte Syrinx Lykaios nicht in den Kopf, dass sie im Begriff waren, ausgerechnet den Boden jenes Mannes zu betreten, der weithin als ein Überbleibsel aus Chaoszeiten gehandelt wurde. Doch es war der einzige Weg, diese unsägliche Angelegenheit zu klären, die Jeden im chryseischen Pantheon in übelste Bedenken gestoßen hatte.

Syrinx drehte sich um und bedachte den Oberhohepriester Kalidor Sirionopoulos mit einem unheilvollen Blick, den dieser mit einem kaum merklichen Kopfschütteln erwiderte. Die Atmosphäre um die sieben Priester, die ihre Pferde über die staubige Straße Richtung Oase lenkten, war spürbar kälter geworden. Alle Blicke hafteten nun auf dem dunklen Turm inmitten Hadiys. Der Gedanke, den niemand auszusprechen wagte, weil er ihr Vorhaben als unkalkulierbaren Wahnsinn entlarvte, schien sich bei jedem von ihnen in die gefurchte Stirn gegraben zu haben.

Er ist ein Feind der Götter. Wie können wir ihm trauen?

Tatsächlich hatten sie keine Wahl. Ein Verbrechen den Göttern gegenüber musste geahndet werden, ohne Ausnahme! Und es stand noch viel mehr dahinter. Agramon, Achilea, Orkchos, Sagros und Wredelin hatten sie dieser Wege geschickt, ihnen allen ein Zeichen gegeben. Es war der Wille ihrer Götter, dass sie den Alten vom Berg in seinem Machtgebiet aufsuchten, um dort ihres heiligen Amtes zu walten. Und dabei wurden sie ihrer bislang härtesten Prüfung unterzogen. Denn seit sie Fuß in Al’Jebals Gebiet gesetzt hatten, hatten sie jeglichen Kontakt zu ihren Göttern verloren. Zunächst hatte sie diese Tatsache in ärgste Bedenken gestürzt. Beinahe wären sie umgekehrt. Doch dann ereilte sie die Erkenntnis, die alles in ein anderes Licht rückte: Diese Mission diente nicht nur dazu, einen ihrer Brüder einer Glaubensprüfung zu unterziehen, sondern sie alle! Sie waren die mächtigsten Vertreter des chryseischen Pantheons und ihre Götter hatten sie in das Gebiet eines ihrer schlimmsten Feinde geschickt. Sie wollten, dass sie dort die Macht der chryseischen Götter spürbar machten und sie wollten, dass sie den Abtrünnigen aus ihren Reihen richteten – nach eigenem Ermessen, auf der Basis eigener Entscheidungen und ohne die Hilfe ihrer Götter. Der Chaosgünstling Al’Jebal hatte ihnen sein Wort gegeben, dass sie auf seinem Boden ihrem göttlichen Auftrag nachkommen konnten. Und auch wenn das Wort eines Chaosanhängers so wenig Bedeutung hatte wie ein Sandkorn in der Aschranischen Wüste, hieß es von Al’Jebal, dass er sich an seine Versprechen hielt. So setzten sie ihren Weg schließlich fort.

Hohepriester Syrinx Lykaios warf einen letzten Blick auf die dunklen Mauern der Assassinenfestung zu seiner Rechten und lenkte sein Augenmerk dann auf Al’Jebals monumentalen Machtsitz im Zentrum der Oase.

Agramon hatte sie hierher geführt! Jeder weitere Gedanke erübrigte sich.

Das Urteil

Mit hämmerndem Herzen schritt Telos die letzten Stufen durch den Erkerturm hoch, über den man in den Empfangssaal des elften Stocks gelangte. Unmittelbar hinter sich vernahm er die schweren Schritte des Wachmanns, der ihm in hartnäckigem Schweigen folgte. Auf dem Weg von seiner Zelle hierher war der Mann auf keine seiner Fragen eingegangen. Zumindest unterließ er es, Telos seine Schwertspitze in den Rücken zu drücken. Wäre auch ein Affront gewesen …

Als Telos das Ende der Treppe erreichte, bedeutete der Wachmann ihm mit einem sanften Schlag gegen die Schulter, dass er zur Seite treten sollte. Er gehorchte und ließ den Mann vorbei.

„Hohepriester Telos Malakin!“, hörte er ihn verkünden. Telos fühlte sich derart fehl am Platz, dass er den Wunsch verspürte, auf dem Absatz kehrtzumachen und mit einem leisen Puff zu verschwinden. Als Hohepriester in Handfesseln wie ein gewöhnlicher Verbrecher …

„Bringt ihn rein!“, drang eine samtige, ihm wohlbekannte Stimme nach draußen und Telos wurde augenblicklich flau im Magen.

Mit einem Nicken trat die Wache zur Seite, löste Telos’ Handfesseln und gab ihm einen Wink. „Kħönnt aintreten!“

Es herrschte eine beklemmende Stille, als Telos den Raum betrat. Während er mit wenigen Blicken den offiziellen Besprechungssaal Mon Asuls identifizierte – die schweren Vorhänge an den hohen Fenstern, das düster-monumentale Deckengemälde, dessen Schlachtszenen in dem einfallenden Licht seltsam lebendig wirkten, die mit rotem Stoff überzogenen Sessel um die ovale Tafel, den von einem weiteren Vorhang verborgenen Durchgang, durch den Al’Jebal einst unerwartet eingetreten war –, versuchte er sich zu vergegenwärtigen, dass er noch immer Agramons Diener war und seine Würde als Priester der Ordnung zu wahren hatte. Doch das war alles andere als einfach. Fast hatte er den Eindruck, seine haltlosen, von Sorgen zersetzten Gedanken wirbelten vor ihm her und bahnten sich einen Weg zur Tafel, wo sie jedem Anwesenden heimlich seine Ängste zuflüsterten.

Als er sich umsah, fielen ihm drei Dinge sofort ins Auge und fuhren ihm unangenehm ins Gedärm: Erstens – Agramons Symbol prangte an den roten Leibgurten und Halsketten von mindestens drei an der Tafel sitzenden Gestalten.

Zweitens – Al’Jebal saß, seinen zeitlosen Blick auf ihn geheftet, ungerührt auf seinem Stuhl am Kopfende und stellte einen schmerzhaften Kontrast zu den Priestern dar.

Und drittens – Chara … Sie war hier! So bizarr das Bild der Assassinin inmitten der chryseischen Priester auch wirkte, sie war hier …, saß dem Hohepriester Syrinx Lykaios gegenüber, der, was mindestens ebenso absurd anmutete, von Chryseia nach Aschran gereist war. Lykaios! Nach Aschran – in Al’Jebals von dunklen Mythen umrankten Turm!

Schlagartig erinnerte sich Telos an das beklemmende Gespräch, das er vor etwa zwei Jahren im Tempel Ikoniums mit diesem Mann geführt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass er dazu gezwungen war, zu lügen – lügen, um Al’Jebal und sich selbst zu schützen …

„Setzt Euch, Telos!“, forderte Al’Jebal ihn auf, ohne dass sein Blick irgendetwas verriet, das Telos weitergeholfen hätte.

Er spürte, wie ein leises Beben durch seinen Körper ging. Auf dem Weg zur Tafel blickte er zu Boden. In diesem Augenblick wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass sie alle hier waren, um über ihn zu richten … Abgesehen von Chara … und Lucretia? Auch die Magierin war anwesend. Warum? Was hatten Chara und Lucretia mit der Priesterschaft des chryseischen Pantheons zu schaffen? Was hatte der Pantheon mit Al’Jebal zu schaffen? Was wurde hier eigentlich gespielt?

Seine Füße fühlten sich an wie prall gefüllte Mehlsäcke, als er vor den letzten noch freien Stuhl trat, der sich am anderen Ende der Tafel befand – direkt Al’Jebal gegenüber.

Während er Platz nahm, identifizierte er auch die letzten Anwesenden, und keines der ihm bekannten Gesichter vermochte es, seinen Argwohn zu mildern.

Der Oberste Hohepriester Agramons, mit anderen Worten, der Vorstand der agramonschen Priesterschaft, saß links von Al’Jebal. Er hieß Dimitrikles Agriopoulos, wie Telos wusste – ein Mann, dem nicht nur wegen seines Ansehens, seiner fundierten Bildung und seines ausgeprägten Sinns für Gerechtigkeit Respekt gezollt werden musste, sondern auch wegen seiner herausstechenden Kampfkunst.

Oberhohepriester Kalidor Sirionopoulos … Telos war ihm erst einmal begegnet, erkannte ihn aber sofort wieder. Kalidor war ein Mann mit den Schultern eines Ochsen und dem Becken eines Hirsches, gesegnet mit stechend blauen Augen, die jedem unvermittelt ein Gefühl vollständiger Durchleuchtung angedeihen ließen. Davon abgesehen war er dafür bekannt, eine lockere Zunge zu besitzen. Kalidor war gefürchtet und beliebt zugleich und Telos hatte für den Mann nichts als Bewunderung übrig.

Der letzte unter den Agramon-Priestern war Syrinx Lykaios selbst, bekannt auch als Agramons Richter und jener Mann, der ihn vor ihrer langen Reise nach Alba ins Kreuzverhör genommen hatte. Nun sah es ganz danach aus, als wären die Antworten, die Telos ihm damals gegeben hatte, auf misstrauischen Boden gefallen. Was aber hatte Lykaios dazu bewogen, in Begleitung der angesehensten Agramon-Priester Chryseias nach Mon Asul zu reisen? Man hätte doch nach ihm schicken können! Telos wäre umgehend in seine Heimat aufgebrochen, um der Priesterschaft Rede und Antwort zu stehen!

Abgesehen von den drei Dienern Agramons saßen noch vier weitere Oberste Hohepriester des chryseischen Pantheons an der Tafel: Eine Priesterin der Achilea, Göttin der Weisheit, Gerechtigkeit und Justiz, ein Priester des Sagros, Herrscher über den Pantheon, ein Priester des Wredelin, Gott der Weisheit, und ein Priester des Orkchos, Gott des Todes.

Die Frage, was genau Telos sich hatte zuschulden kommen lassen, verblasste allmählich neben der Frage, wie Al’Jebal in diese ganze Angelegenheit involviert war und warum er ihn festgesetzt hatte, anstatt ihn in seine ehemalige Heimat zu schicken.

„Agramon zum Gruße, Hohepriester Malakin!“, richtete Syrinx Lykaios das Wort an ihn, wurde aber von einem knappen, durchdringenden Blick Al’Jebals zum Schweigen gebracht. Telos erspähte ein winziges Zucken in Lucretias Mundwinkel. Die Akademiemagierin wirkte amüsiert. Der Alte vom Berg hatte gerade deutlich gemacht, auf welchem Terrain sich die Priester befanden und dass sie hier nur Gäste waren.

Als Telos seinen Blick auf Chara lenkte, stellte er überrascht fest, dass sich über ihrer Augenbraue eine winzige Sorgenfalte gebildet hatte. Ein seltener Anblick und nicht gerade beruhigend.

„Die Mitglieder des chryseischen Pantheons haben sich hier eingefunden, um Euch einer Glaubensprüfung zu unterziehen, Telos“, sagte Al’Jebal.

Entweder hatte er Syrinx zornigen Blick nicht gesehen oder er ließ sich davon nicht beeindrucken. In vollkommener Ataraxie fuhr er fort: „Gerüchte über etwaige Verfehlungen Eurerseits haben sich bis in Eure Heimat herumgesprochen. Es gilt, Missverständnisse auszuräumen und die Angelegenheit zu klären. Ich habe Euren Glaubensbrüdern gewährt …“

„Mit Verlaub!“, unterbrach Syrinx, „Glaubensbrüder?! Ich erwarte mir mehr Resp…“, doch ein kaum sichtbares Kopfschütteln von Seiten des Obersten Hohepriesters Dimitrikles brachte Syrinx abrupt zum Schweigen.

„… nach Mon Asul zu kommen, um Euch einem Verhör zu unterziehen“, fuhr Al’Jebal gelassen fort. „Sie können dies unbehelligt, nach eigenen Regeln und den eigenen Ritualen tun. Chara Pasiphae-Opoulos und Magus Terzus Minor Lucretia L’Incarto sind anwesend, um als Zeugen zu fungieren.“

Al’Jebal wandte sich Dimitrikles zu, der ihm zur Rechten saß. Damit war klar, dass er zu Ende gesprochen hatte.

Dimitrikles reagierte mit einem kaum merklichen Nicken und einer Miene vorbildhaften Gleichmuts, woraufhin sich Syrinx zwei Stühle weiter deutlich entspannte.

Würdevoll erhob sich Dimitrikles und waltete seines Amtes als Oberster der Agramon-Priesterschaft. Er trat hinter seinen Sitzplatz und ließ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden.

„Wir sind heute hier, um die Vorwürfe, die gegen Euch bestehen, zu prüfen und zu einem Urteil zu gelangen, das vor den Göttern Bestand hat, Hohepriester Telos Malakin. Die Oberste Hohepriesterin der Achilea, Adriana Pentauros, wird als vorsitzende Richterin fungieren.“

Er senkte seinen Kopf und sah Kalidor an. „Oberhohepriester Kalidor Sirionopoulos führt die Anklage.“

Um die stechend blauen Augen Kalidors ging ein Zucken, das beinahe etwas Humorvolles hatte. „Ich werde Agramons Hammer mit der ihm gebührenden Gewalt schwingen“, sagte er und bedachte Telos mit einem herausfordernden Grinsen.

Genau diese Zugänglichkeit und die nonchalante Art der Rede brachten dem Agramon-Priester Sympathien bei den Leuten ein. Telos verstand, warum. Doch in dem gottverdammten Dilemma, in dem er sich gerade befand, war die Beliebtheit des Priesters nicht eben hilfreich.

Wie sollte er Al’Jebal die Treue halten und zugleich der Priesterschaft beweisen, dass er sich an Agramons Wort hielt und seinen Glauben über alles stellte? Erst jetzt trat Telos in aller Deutlichkeit vor Augen, dass es hier eine Unvereinbarkeit gab, die kaum zu überbrücken war. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Wie konnte er einem Mann, der als Chaosanhänger gehandelt wurde, zu Diensten sein, ohne die Prinzipien der Priesterschaft zu verletzen? Bei vernünftiger Betrachtung war dies ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch, es gab ein eindeutiges Indiz dafür, dass seine Dienste für Al’Jebal in Agramons Gunst standen – Agramon selbst hatte ihn in den vergangenen drei Jahren in seinem Tun für Al’Jebal bestärkt. Ja, genau so war es! Und genau auf diesem Fundament musste er seine Verteidigung aufbauen! Agramons Zuspruch war Telos’ Freispruch, seine einzige, doch gleichermaßen unantastbare Rechtfertigung.

„Diese Gerichtsbarkeit wird ein Urteil fällen, das der Pantheon für Verbrechen der hier relevanten Art vorsieht“, bemerkte nun die Priesterin der Achilea und erhob sich. „Je nach Art und Schwere des begangenen Verbrechens kann die Strafe von Folter über lebenslange Festsetzung bis zum Tod reichen. Lässt sich keiner der Verdachtsmomente bestätigen, kann der Angeklagte freigesprochen werden.“ Mit einem Nicken an Kalidor setzte sie sich wieder hin.

„Auf dass Agramon uns die Augen öffne und jeden unserer Feinde hämmere!“, schmetterte Kalidor und der Oberste der Agramon-Priesterschaft antwortete in aller Ruhe: „So möge es sein!“

Telos schluckte und spähte zu Chara. Die Assassinin saß auf ihrem Stuhl und nahm die Priester der Reihe nach ins Visier. Die winzige Falte über ihrer Augenbraue war verschwunden. Jetzt sah sie aus, als würde sie sich auf etwas vorbereiten. Das Erstaunliche daran war, dass sie es fertig brachte, Al’Jebals Gegenwart zumindest äußerlich mit Gleichmut zu ertragen. Das war neu.

Chara würde also als Zeugin fungieren. Eine inadäquatere Fürsprecherin hätte man ihm nicht zur Seite stellen können. Allein aufgrund ihrer ketzerischen Einstellung würde ihr die Priesterschaft jede Glaubwürdigkeit absprechen. Und obendrein war sie eine Assassinin Al’Jebals … wie vertrauenerweckend war wohl dieser Umstand?! War es Al’Jebals Absicht, ihn loszuwerden?

Telos verwarf den Gedanken und studierte Chara von Kopf bis Fuß. Sie war, ganz gegen ihre Fasson, geradezu sittsam gekleidet. Sie trug einen dunklen, taillierten Mantel mit schmalem Stehkragen und geschwärzten Schnallen über einem sauberen schwarzen Hemd und engen Hosen, die in sorgfältig gebürsteten Stiefeln steckten. Ihr ansonsten wirres Haar war gekämmt und fiel ihr in nahezu geordneten Strähnen über den Rücken. Dennoch sah sie aus wie eine Assassinin! Sie sah aus wie eine gut zurechtgemachte Hatschmaschin Al’Jebals.

„Kommen wir zu den Anschuldigungen“, schwenkte Kalidor zum entscheidenden Punkt und Telos war augenblicklich hellwach. „Folgendes lege ich Hohepriester Telos Malakin zur Last:

Verfehlung im Glauben, Ketzerei, Vernachlässigung der Pflichten eines Priesters, Verstoß gegen die Gebote Agramons, Verstoß gegen die Gesetze des chryseischen Pantheons. Diese Anschuldigungen äußern sich in folgenden Handlungen und Unterlassungen:

Ungehorsam Vorgesetzten gegenüber, unehrenhafter Kampf im Durchführen heimtückischer Angriffe und Totschlag, Unterlassung von Hilfeleistungen gegenüber gottgefälligen Brüdern und Schwestern, Vernachlässigung von Seelsorge und Missionierung, Abspaltung von der chryseischen Priesterschaft im Verbreiten eigener ketzerischer Glaubensinhalte und Ansichten, sowie in der Selbsternennung zum Hohepriester ohne Zustimmung und Weihung durch den chryseischen Pantheon.“

Kalidor sah Syrinx an, der aufstand und es seinem Vorgesetzten gleichtat, indem auch er seine linke Faust umfasste.

„Ich gebe hiermit bekannt, dass alle Anklagepunkte von mir geprüft wurden.“

Kalidors stechend blaue Augen richteten sich auf Telos. „Als Ankläger fordere ich die absolute Umformung Malakins durch Agramons Hammer und die Verbannung seiner Seele in Orkchos Gründe!“

Telos’ Hände waren schweißnass geworden. In seinem Inneren gaben sich lodernder Zorn und kalte Furcht ein hitziges Duell und nur mit Mühe konnte er Kalidors Blick standhalten.

„Euer Ansuchen wurde gehört und verstanden!“, antwortete Syrinx.

Schweigen legte sich über die Tafel. Wie durch einen Schleier nahm Telos Al’Jebal wahr, der wortlos auf seinem Platz verharrte und seinen ungewöhnlichen Gästen die Freiheit gewährte, einen aus ihren Reihen zu richten. Doch Telos war auch einer von seinen Leuten! Spielte das für Al’Jebal denn keine Rolle? Wie stand er zu jenen, die ihm die Treue geschworen hatten? Fühlte er sich nicht für sie verantwortlich?

Telos schloss die Augen und befreite sich von allen Fragen, die seine innere Unruhe nur noch steigerten. Am Ende war doch nur eine Sache von Belang: Wie urteilte Agramon? Und wie urteilten seine Diener? Telos musste sich den Tatsachen stellen. In den Augen der Priesterschaft hatte er schlimmste Verfehlungen begangen und bei aufrichtiger Betrachtung waren alle ihre Vorwürfe gerechtfertigt.

Oh Agramon, steh mir bei!

Da fühlte er plötzlich eine seltsame innere Leere, die sich, das spürte er deutlich, als Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht niederschlug. Zur gleichen Zeit wurde ihm klar, dass diese Leere schon länger da war. Er hatte sie bis jetzt nur nicht wahrgenommen. Noch während ihm schwante, dass Al’Jebals Einflussnahme nicht nur ihn, sondern auch die Priesterschaft des chryseischen Pantheons betraf, fand er einen Ausdruck derselben Leere in den Gesichtern seiner Glaubensbrüder, die ihn allesamt im Visier hatten.

Die Priesterschaft Chryseias hatte also auch keine Möglichkeit, auf die Unterstützung ihrer Götter zurückzugreifen. Al’Jebal blockierte den Zugang zu ihnen, so, wie er es bereits in der Vergangenheit getan hatte. Wie aber sollte ihnen dann Agramon ein Zeichen geben, das ihn von seiner Schuld freisprach?

Telos hatte keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen, denn nun meldete sich erneut Syrinx Lykaios zu Wort: „Wir werden Euch jetzt Fragen zu den Euch vorgeworfenen Verbrechen stellen. Leistet einen Schwur, dass Ihr diese wahrheitsgemäß beantwortet.“

„Ich schwöre bei Agramon, die Wahrheit zu sagen“, bestätigte Telos und zeigte die Geste, die damit zum dritten Mal in diesem Raum ausgeführt wurde – seine linke Faust verschwand in seiner rechten Hand.

Syrinx nickte, und nachdem sich Kalidor entspannt in seinen Stuhl fallen gelassen hatte, setzte auch er sich.

Telos atmete tief durch und richtete sein Augenmerk auf Kalidor, der sich über eine Pergamentrolle beugte und die Augen zusammenkniff.

„Ich kann das nicht lesen, Syrinx“, murmelte er. „Eure Handschrift ist … als ob ein Vogel quer über’s Pergament geschissen hätte.“

Syrinx stieß verhalten die Luft aus und rezitierte in trockener Sachlichkeit:

„Im Jahre 340 nGF wurde Telos Malakin im Namen Agramons nach Valianor gesandt, um seine Dienste als Priester des chryseischen Pantheons dem dort zu jener Zeit amtierenden Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus zur Verfügung zu stellen. Kurze Zeit später begab er sich mit Einverständnis der Agramon-Priesterschaft auf die Reise nach Aschran, um das dem Senatsvorsitzenden entwendete Zepter Valians zu finden. Doch anstatt diesen Auftrag auszuführen, trat er Anfang 341 nGF in die Dienste Al’Jebals, leistete diesem einen Treueschwur und brach damit den Eid, den er als Priester Agramons der chryseischen Priesterschaft geleistet hatte. Kurz darauf ernannte er sich selbst zum Hohepriester und errichtete in Billus einen Tempel.

Diese Anschuldigung fällt unter Vergehen Nummer Eins und Vier: Verfehlen im Glauben durch die Befehlsverweigerung Vorgesetzten gegenüber und die Abkehr von den Geboten Agramons, dem höchsten Gesetzgeber selbst.“

Jetzt war es an Telos, die Luft auszustoßen.

„Jawohl, so lautet meine Anklage!“, beeilte sich Kalidor hinzuzufügen. „Was also habt Ihr zu diesen Anschuldigungen zu sagen, Hohepriester?“

„Ich …“ Telos war wie vor den Kopf gestoßen. Als sein Blick Chara streifte, die wie ein in Stein gemeißeltes Abbild grenzenloser Ruhe in ihrem Stuhl saß, registrierte er, wie ihre Lippen kaum sichtbar ein Wort formten: Agramon.

„Agramon war mit mir!“, sprudelte es aus Telos heraus. „Ich traf die Entscheidung, in Al’Jebals Dienste zu treten, aufgrund seiner Zustimmung! Agramons Eingebung wiederum veranlasste mich dazu, mich selbst zum Hohepriester zu weihen. Agramon selbst war es, der mir diesen Weg wies!“

Es folgte ein Blickwechsel zwischen Syrinx und den Priestern der anderen chryseischen Götter.

„Nun, so zweifelhaft diese Erklärung auch scheint …“, meldete sich der Priester Wredelins zu Wort, „… wir mögen sie vorerst akzeptieren. Dann aber bleibt das Vergehen, mit dem Eid an Al’Jebal und der Selbsternennung die Treue dem Pantheon gegenüber gebrochen zu haben, was einer Befehlsverweigerung gleichkommt.“

Jetzt kam zum ersten Mal Leben in Chara.

„Ihr seid?“, fragte sie und wandte sich dem Mann zu, der gerade gesprochen hatte.

„Ich bin Oberster Hohepriester Heraklion Zarkonios.“

„Alles klar, Oberpriester. Ihr solltet Euch allmählich entscheiden. Ist nun Agramons Gesetz das höchste aller Gesetze oder das des chryseischen Pantheons?“

Telos schlug die Augen nieder. Es war überdeutlich, dass Chara es darauf anlegte, den Priestern jeden Respekt abzusprechen.

„Oberster Hohepriester!“, gab Zarkonios verärgert zurück. „Und worauf, wenn ich fragen darf, wollt Ihr hinaus? “

Charas spitze Augenbrauen zogen sich über ihrer Nase zusammen und ihr Ausdruck bekam eine ironische Note.

„Lykaios sagte selbst …“ – wieder fiel der Titel ganz nebenbei unter den Tisch – „… dass eure Götter die höchsten aller Gesetzgeber sind. Wenn sich Telos an das Gesetz der Priesterschaft gehalten hätte, hätte er einen Gesetzesbruch gegenüber der höchsten Gerichtsbarkeit getätigt, nämlich gegenüber seinem Gott. Telos hatte also gar keine Wahl. Um das Wort seines Gottes zu befolgen, war er gezwungen, das Gesetz des Pantheons zu brechen. Der Gesetzesbruch der Priesterschaft gegenüber ist damit hinfällig und kann nicht zur Anklage gebracht werden.“

Sie lehnte sich zurück und verfiel erneut in ihre Starre.

Telos lächelte in sich hinein. Das sollen sie erst mal verdauen!

Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. Schließlich schaltete sich erneut Syrinx ein.

„Punkt Eins, werte Frau Pasiphae-Opoulos, bestehe ich auf mein Recht, mit Hohepriester angesprochen zu werden. Punkt zwei – Ihr fungiert hier als Zeugin und nicht als Verteidigerin!“

„Das mag sein“, gab Chara schulterzuckend zurück, „berührt aber den Wahrheitsgehalt meiner Aussage nicht.“

Eine kaum sichtbare Regung auf dem Stuhl am Ende der Tafel veranlasste Chara dazu, einmal tief durchzuatmen. Also hatte sie doch mit Al’Jebals Anwesenheit zu kämpfen! Es hätte Telos auch gewundert, wenn nicht.

„Jeder Angeklagte hat ein Recht auf eine Verteidigung“, bemerkte Al’Jebal ruhig. „Ein Jurist steht nicht zur Verfügung. Chara genoss eine umfassende Ausbildung im Bereich der Philosophie, die sich unter anderem mit der Justiz befasst. Ähnliches gilt für Magus Terzus Minor L’In- carto. Auch sie ist ausreichend gebildet. Beide kommen als Verteidiger in Frage.“

Und beide sind denkbar ungeeignet, um einen Priester wie mich zu verteidigen!, schoss es Telos durch den Kopf.

„Das wurde so nicht vereinbart!“, protestierte der Sagros-Priester. „Ich sage, es ist unvertretbar, dass jemand ohne erforderliche juristische Kenntnisse die Verteidigung des Angeklagten übernimmt, zumal dies vorher nicht abgesprochen wurde.“

Offenbar war diese Aussage der Weckruf für Lucretia. Sie wandte sich der einzigen Priesterin am Tisch zu und sagte mit unschuldigem Augenaufschlag: „Als eine Achilea-Gläubige und eine Frau der Gerechtigkeit seid Ihr gewiss anderer Meinung, Oberste Hohepriesterin. Dem Angeklagten kann sein Recht auf eine Verteidigung nicht abgesprochen werden, nur weil im Augenblick kein Jurist zur Verfügung steht, nicht wahr?“

Eine kurze Pause, dann nickte die Priesterin verhalten. „Es spricht nichts dagegen, dass Hohepriester Malakin von den beiden anwesenden Frauen verteidigt wird“, sagte sie hohl.

Der Oberste der Agramon-Priesterschaft strich sich in gelassener Anmut über die Augen.

„Ich schlage vor, wir kehren zum eigentlichen Thema zurück“, sagte er. „Hohepriester Telos Malakin stellte seine Dienste in die Pflicht Al’Jebals. Dies ist fraglos eine Verfehlung in seinem Glauben. Wie allgemein bekannt ist, handelt es sich bei unserem Gastgeber um einen Mann, der den Göttern nicht wohlgesinnt ist, mehr noch, ihre Existenz ablehnt. Unmöglich also, dass Agramon seine Zustimmung zu dieser Allianz gegeben hat!“

Während Dimitrikles’ Aussage Al’Jebal nicht einmal zu einem Zucken seiner Mundwinkel verleitete, legte sich über Charas Gesicht ein Ausdruck unverhohlener Missachtung und Lucretia fühlte sich erneut herausgefordert.

„Dies ist nichts weiter als ein Gerücht. Und ein höchst zweifelhaftes noch dazu!“, flötete sie recht unbetroffen.

Chara warf Dimitrikles einen finsteren Blick zu. „Spekulationen sind keine hinreichenden Gründe, um jemanden zu verurteilen“, führte sie weiter aus, wobei sie zu ihrer Maske der Gleichgültigkeit zurückfand. „Telos folgte der Order seines Gottes. Jeder Vorwurf einer Verfehlung im Glauben ist damit außer Kraft gesetzt.“

„Es liegt auf der Hand, dass Al’Jebal die Botschaft der Götter verfälscht!“, bemerkte Syrinx energisch. „Jeder weiß, dass er sich gegen die Götter verschworen hat, um sich selbst zum Gott zu erheben.“

„Spekulation …“, gab Chara beiläufig Auskunft.

Kalidor seufzte gedehnt. „Ich sehe, dass wir, was diesen Punkt der Anklage betrifft, nicht weiterkommen. Wechseln wir also zum Anklagepunkt zwei. Er lautet … Lykaios?“

Syrinx straffte sich umgehend und brachte Punkt zwei der Anklageschrift vor. Jetzt fiel ein Name, der nicht nur Telos zu einer deutlich sichtbaren Reaktion verführte, sondern auch Chara. Während sich jeder einzelne Muskel in Telos drahtigem Körper anspannte, wanderten Charas Augen zum ersten Mal zu Al’Jebal. Doch dieser behielt seinen Blick auf Telos geheftet und zeigte kein Zeichen, dass ihm der erwähnte Name irgendetwas sagte. Bevor jemand Charas Reaktion zur Kenntnis nehmen konnte, hatte sie ihre dunklen Augen auf Kalidor geheftet, der sich nun geräuschvoll räusperte.

„Die eben vorgebrachten Anschuldigungen spotten ohne Übertreibung jedem wie auch immer gearteten Versuch der Verteidigung, sei dieser auch noch so eloquent vorgebracht.“ Er bedachte Chara mit einem bohrenden Blick.

„Sofern die Anschuldigungen wahr sind“, bemerkte Lucretia und Kalidors stechend blaue Augen zuckten zu ihr.

„Bei Agramon, da habt Ihr Recht, geschätzte Magus Terzus!“, brummte er breit lächelnd. „Doch davon gehe ich aus!“

Telos ignorierte die steigende Beklemmung in seiner Brust und nahm eine aufrechte Haltung an. Wie konnte er diesen Vorwurf abschmettern? Er hatte nichts in der Hand! Diesmal konnte er nicht einmal auf Agramons Zustimmung verweisen, denn sein Gott war während des unsäglichen Vorfalls nicht bei ihm gewesen.

Angespannt fuhr er sich über seine Stoppelglatze und holte Luft.

„Ich verstehe, dass dieser Vorfall meine Lauterkeit als Priester der Ordnung stark in Zweifel zieht und Euch, ehrenwerte Oberhohepriester, zum Handeln zwingt“, sagte Telos. „Es ist wahr, als Hakkinen Dragati in Amoravod seine Wandlung vom Propheten zum Gott vollzog, waren ich und meine damaligen Begleiter, darunter Chara Pasiphae-Opoulos, unmittelbar beteiligt. Aber, bei Agramon, wir waren Dragatis Gefangene und hatten als solche lediglich die Absicht, einen Chaosanhänger, der zugleich unser Gegner war, zu töten. Keiner von uns wusste, dass der Tod Hakkinen Dragatis dessen Apotheose nach sich ziehen würde. Wie sollten wir?“

„Tatsache ist, dass Hakkinen Dragati … Agramon zerschmettere diesen Wahnsinnigen! … nur durch Euer Handeln zum Chaosgott aufsteigen konnte! Da ist es unerheblich, ob Ihr dies beabsichtigt habt oder nicht, Hohepriester!“ Kalidor schüttelte bitter lächelnd den Kopf. „Bei den Göttern, Ihr hättet gar nicht vor Ort sein dürfen! Und doch wart Ihr es, und zwar weil Ihr Al’Jebals Weisung gefolgt seid. Agramon ist der einzige, dem Ihr folgen sollt, Malakin! Der Einzige! Herr erleuchte ihn! Wie zum Himmel wollt Ihr das rechtfertigen?! Wie wollt Ihr rechtfertigen, vor Euch und Agramon, dass Ihr einem Chaosgünstling dient und einem anderen dabei geholfen habt, vom Propheten zum Gott aufzusteigen?! Ihr seid zu weit gegangen, Malakin! Viel zu weit!“ Wieder schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hand. „Vergebung, Hohepriester, ich habe mich in meiner Leidenschaft verloren und im Ton vergriffen.“ Er wurde wieder sachlich. „Berichten zufolge hat …“ Jetzt schlug er seine Faust in die rechte Hand und spie den Namen förmlich aus, „Hakkinen Dragati Euch frei gelassen, nachdem er zum Gott aufgestiegen war! Einen Feind lässt man nicht ziehen, oder? Wie erklärt Ihr das, Hohepriester?!“

Telos starrte Kalidor an, als hätte dieser ihn mehrfach geohrfeigt. Sein Kopf war so leer, dass er wie blind im Dunkeln fischte, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden.

„Entschuldigt“, mischte sich Chara ein, „Ihr könnt doch nicht allen Ernstes erwarten, dass Euch Telos die Gründe für Dragatis Handeln erläutert. Woher, bei den Dämonen, soll Telos wissen, warum Dragati uns freigelassen hat?“

Lucretia nickte unterstützend. „Und auch hier, wie bei den zuvor erläuterten Vergehen, gibt es nicht den geringsten Beweis dafür, dass Eure Annahme, Telos hätte tatsächlich Dragatis Apotheose eingeleitet, korrekt ist. Es mag den Tatsachen entsprechen, dass sich Telos und Chara zur selben Zeit in Hakkinen Dragatis Gefangenschaft befanden, als die Apotheose stattfand, das ist aber auch schon alles. Sie waren dort, und? Sie haben ihn getötet! Das hätte doch jeder an diesem Tisch getan, besonders die werten Damen und Herren Priester.“

Jetzt beugte sich der Priester des Sagros vor und sein Kopf war rot vor Zorn. „Und wenige Monde später war sich Malakin nicht zu schade, einem Nekromanten gefällig zu sein!“, bellte er.

Offenbar hatte sich ihr Handel mit Dragati während der Sache mit Mu’ul noch nicht weiter verbreitet, was in der augenblicklichen Situation eindeutig ein Gewinn zu sein schien.

„Nein“, sagte Lucretia kühl. „Er war Satlek Mu’ul keineswegs gefällig. Er hat sich vielmehr dafür eingesetzt, dass sich das Chaos gegenseitig bekämpft.“

„Wie soll ich das verstehen?!“

„Wir sorgten für einen Kampf Mu’ul gegen Dragati.“

Plötzlich war es totenstill im Raum.

„Mit welchem Resultat?“, fragte Kalidor so schneidend, dass seine Worte die Luft über der Tafel zu spalten schien.

„Leider siegte Dragati. Doch das konnten wir nicht vorhersehen.“

Allmählich schien Lucretia zu dämmern, dass sie einen Fehler begangen hatte, doch das Missgeschick war nicht mehr rückgängig zu machen.

„Das wird ja immer haarsträubender!“, rief Syrinx schockiert. „Abgesehen davon, dass ein Priester der Ordnung, insbesondere ein Kriegspriester, niemals auf diese intrigante Weise gegen seine Feinde vorgeht, sondern sich diesen erhobenen Hauptes im Kampf stellt, habt Ihr dieser Ausgeburt des Chaos ein zweites Mal in die Hände gespielt!“

„Und damit zumindest einen Chaosanhänger beseitigt“, versuchte Chara das Ruder herumzureißen. „Satlek Mu’ul, einer der mächtigsten Nekromanten, ist Dank Telos Geschichte.“

Es wurde laut im Audienzsaal. Weitere Anschuldigungen schossen auf Telos ein. Es fiel Testaceus’ Name. Es regnete Worte wie gemeines Attentat, Ermordung eines Mannes der Ordnung, Lug und Trug, Einfluss von Dämonen, Feigheit, …

In Telos’ Kopf dröhnte es. Er sehnte sich nach Agramons Gegenwart, fühlte, wie die Schuld mit jedem gesprochenen Wort an Gewicht zunahm, bis sie zentnerschwer auf seiner Seele lastete. Agramon war doch bei allem, was er getan hatte, mit ihm gewesen! Er hatte ihn geführt, ihn begleitet, ihm seinen Segen gegeben, im Kampf gestärkt, immer wieder! Telos hatte sein Zugeständnis gefühlt! Das konnte doch unmöglich ein Irrtum sein! Und doch wurde er von der Priesterschaft verurteilt, vom chryseischen Pantheon, den Mitgliedern seines Heimatordens.

„Ich lege es in Eure Hände“, murmelte Telos in die an der Tafel herrschende Unruhe. Alle verstummten und richteten ihre Blicke auf ihn. „Ich habe diese Dinge getan, im Vertrauen auf Agramon, der mit mir war“, fuhr er mit fester Stimme fort. „Wenn ich dennoch gegen Eure Gesetze und die Gebote Agramons verstoßen habe, nehme ich jede Schuld auf mich. Verfahrt mit mir, wie Ihr es für rechtens erachtet. Ich akzeptiere Agramons Richtspruch, egal, wie er ausfällt.“

Eine Weile herrschte Stille. Schließlich stand die Oberste Hohepriesterin Adriana Pentauros auf und verkündete: „Der Angeklagte hat seine Schuld eingestanden! Die Priesterschaft wird sich für eine Urteilsfindung zurückziehen.“

Telos versetzte der Priesterin einen raschen, zornerfüllten Blick. So lief das also! So einfach war es! Schuld gestanden, keine weiteren Fragen!

Die Priesterin drehte sich Al’Jebal zu.

„Ihr könnt die Vorhalle unterhalb beanspruchen“, reagierte Al’Jebal, noch bevor eine Frage formuliert wurde.

Adriana nickte und forderte die anderen dazu auf, ihr zu folgen. Als ihre Schritte im Treppenabgang verklungen waren, sah Telos Al’Jebal an.

„Wie werden sie entscheiden?“, fragte er leise.

Al’Jebals Miene blieb kühl. „Das kann ich Euch nicht sagen.“

„Nun, es wird sein, wie Agramon es bestimmt.“

„Nein“, widersprach Al’Jebal. „Es wird sein, wie die Priesterschaft es bestimmt.“

Telos studierte sein Gesicht, fand aber keinerlei Zeichen der Ironie.

„Auch ihr Urteil werde ich respektieren“, sagte er leise.

„Ihr habt auch keine andere Wahl.“ Eine winzige Falte erschien über Al’Jebals rechtem Auge. Da war ein plötzlicher Ernst, den Telos zuvor nicht bemerkt hatte.

Als die darauffolgende Stille unerträglich wurde, vernahm man die Schritte der Priester im Erkerturm. Sie waren anscheinend schnell zu einem Ergebnis gekommen. Telos holte tief Luft und lugte zu Chara. Sie sah ihn an, schien aber von irgendetwas abgelenkt zu sein, denn ihr Blick ging durch ihn hindurch.

„Wir sind zu einem Urteil gelangt“, begann Adriana, als sich die Priester um die Tafel gesammelt hatten. Keiner von ihnen nahm mehr Platz.

„Steht auf, Telos Malakin!“

Mühsam erhob sich Telos aus seinem Stuhl, nicht ohne festzustellen, dass sein Titel nicht länger Erwähnung fand, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Oberste Hohepriesterin der Achilea.

„Wir sind einhellig zur Überzeugung gelangt, dass die von Oberhohepriester Kalidor Sirionopoulos vorgebrachte Anklage, die da lautet: Verfehlung im Glauben, Ketzerei, Vernachlässigung der Pflichten eines Priesters und Verstoß gegen die Gesetze des Pantheons …“

Telos Herz setzte aus und wieder schlug die Stille mit aller Gewalt um sich.

„… bestätigt werden muss. Der Hohepriester Telos Malakin hat sich in allen Anklagepunkten für schuldig erklärt und wird hiermit zur absoluten Umformung durch Agramons Hammer und zur Verbannung seiner Seele in Orkchos Gründe verurteilt! Der Richtspruch ist unbedingt gültig und kann durch keinerlei Worte oder Taten widerrufen werden. Die Hinrichtung soll umgehend, das heißt, in den nächsten Tagen erfolgen!“

Noch bevor sich Telos vergegenwärtigen konnte, was gerade geschehen war, sagte Al’Jebal: „Ich gestatte der Priesterschaft die Nutzung Mon Asuls zum Vollzug der Strafe. Die Vorbereitungen für eine Hinrichtung werden bis zum Morgengrauen abgeschlossen sein.“

Ein kurzes Zögern von Seiten der Richterin. Dann: „So soll es sein. Wir werden die Hinrichtung morgen früh vollziehen.“

Wie auf Kommando betrat der Wachmann, der ihn hergebracht hatte, den Raum und hielt zielstrebig auf Telos zu. Noch während Telos versuchte, dem Schmerz Herr zu werden, der sich tief in sein Herz bohrte, wurden ihm erneut Handfesseln angelegt.

Als die Wache ihn zur Treppe führte, streifte ihn Charas Blick. Jetzt sah ihm die Assassinin in die Augen und einen verschwindenden Moment spürte Telos etwas wie Freundschaft zwischen ihnen beiden. Die Kälte, die ihre Züge sonst überschattete, war verschwunden. Ein Funken Wärme glomm in ihrer dunklen Iris. Dann wurde er nach draußen geschoben und verlor Chara aus dem Blick.

Agramons Hammer

„Telos soll also hingerichtet werden“, sagte Lucretia, nachdem die Priesterschaft geschlossen den Raum verlassen hatte und warf Al’Jebal einen vorsichtigen Blick zu. Doch sie bekam keine Antwort. Al’Jebals metallische Augen waren in die Ferne gerichtet, als hätten sie etwas im Blick, das nur für ihn sichtbar war.

Chara stand auf. Sie hatte es relativ eilig, den Audienzsaal zu verlassen. Im Moment standen die Chancen hoch, dass sie allein mit Al’Jebal zurückblieb, und das waren beileibe keine erfreulichen Aussichten.

„Wenn Ihr es erlaubt, kehre ich in die Hochburg zurück. Ich bin noch nicht durch mit …“

„Ihr werdet morgen anwesend sein!“, schnitt ihr Al’Jebal das Wort ab. „Würdet Ihr uns allein lassen, Magus Terzus?“

„Selbstverständlich“, gab Lucretia pflichtschuldigst zurück. „Wünscht Ihr auch meine Anwesenheit bei der Hinrichtung?“

„Das überlasse ich Euch. Wenn Ihr nach Billus reist, solltet Ihr in vier Monden wieder zurück sein. Ihr werdet dann gebraucht.“

„Natürlich.“ Sie zögerte. „Was meine Bitte anbelangt …“

„Es kümmert sich bereits jemand darum. Ihr werdet kontaktiert.“

Ein glückseliges Lächeln legte Lucretias strahlend weiße Zähne frei. „Ergebensten Dank!“

Sie vollführte einen damenhaften Knicks, verabschiedete sich und rauschte durch den Erker die Treppe hinunter.

Chara spannte sich an. Genau das hatte sie befürchtet. Allein mit ihm … mutterseelenallein!

„Du wirst anwesend sein, aber dich aus der Sache raushalten“, kam Al’Jebal auf das eigentliche Thema zurück.

Chara nickte stockend. Da war es wieder – das Du. Es hatte begonnen, als sie das letzte Mal mit ihm allein gewesen war, während des verstörenden Gesprächs über Mu’ul, Zavir, das seltsame blau schimmernde Ding in ihr. Das Du war neu. Das Du verunsicherte sie. Dass Al’Jebal es zu etwas Persönlichem machte, verschärfte die Angst in ihr. Chara drehte den Kopf zur Seite, bis es in ihrem Nacken knackte. Es war ein einfacher Trick, den Muskel in ihrer Schulter zu entspannen, der sich bei jeglicher Art von Furcht verhärtete. Über die Schultern und den Nacken fand die Angst einen Weg vom Kopf in den Körper und umgekehrt – ein Wechselspiel, das man auf recht einfache Weise durchbrechen konnte.

„Sicher“, antwortete sie nach einem Moment des Schweigens.

Ihre Antwort schien Al’Jebal nicht zufriedenzustellen.

„Du neigst zu spontanen Handlungen, Chara. Das ist nicht nur bei einem Assassinen eine gefährliche Eigenschaft.“

Sie spürte, wie die Wirkung ihrer Maßnahme bereits wieder nachließ.

„Ich würde nie ohne einen Befehl von Euch aktiv werden oder gar einen Befehl verweigern!“

„Genau das wirst du tun.“

Jetzt war sie Al’Jebals stechendem Blick auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie fühlte, wie ihre Hände kalt wurden. Und das Gespräch hatte gerade erst begonnen.

„Bei Telos’ Hinrichtung?“, fragte sie und gleichzeitig wurde ihr klar, wie überflüssig diese Frage war.

Al’Jebal lächelte milde. „Vermutlich nicht. Aber bald.“

Chara kämpfte darum, seinem Blick standzuhalten, spürte, wie die Angst nach ihrem Verstand leckte und wie ihre Gedanken Halt verloren. Die Logik versagte. Es siegte die Verwirrung.

„Habt Ihr die Zukunft gesehen?“

Die Zukunft gesehen? Idiotisch!

„Dazu brauche ich keine Vision, Chara“, bestätigte Al’Jebal ihre Gedanken und Chara schloss die Augen. Wie immer fühlte sie sich vorgeführt. Und das war nicht einmal Al’Jebals Schuld. Sie hatte sich einfach nicht im Griff.

„Wenn ich ohne einen Befehl von Euch handeln würde, würde ich gegen meinen Eid als Assassinin verstoßen. Das wäre, als würde ich Euch verraten. Ich habe nicht vor, in Morten Elders Fußstapfen zu treten.“

„Morten Elder ist eine andere Geschichte. Zwischen dir und dem Meisterassassinen gibt es keine Gemeinsamkeiten.“

„Aha.“ Chara fühlte, wie sie ihre Beherrschung zurückgewann. Den Mächten sei Dank konnte man den Verstand herrlich austricksen. Man musste nur die Funktionen des Körpers kennen und von seiner Verbindung zum Geist wissen. Beispielsweise reichte es, in die Tiefe zu atmen, um den Herzschlag zu verlangsamen, was die Nervosität sofort dämpfte.

Eine Weile studierte Al’Jebal ihr Gesicht. Selbst dieses Martyrium überstand sie halbwegs schadfrei. Sie machte Fortschritte.

„Lebt Elder eigentlich noch?“

„Gemach, gemach, Chara. Du bekommst noch Höhenflüge…“

„Ja“, sagte Al’Jebal.

Chara packte die Neugier, die sie zwar selten, aber doch immer häufiger spürte.

„Und ist er noch immer in Begleitung des mächtigsten Nekromanten?“

„Podfol. Soweit meine Assassinen berichten, ja.“

Seine Assassinen. Und was war sie? Warum bekam sie nicht solche Aufträge? Echte Assassinen-Aufträge eben!

„Ja, warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil du zu viele Fragen stellst. Vielleicht, weil du dazu neigst, eigeninitiativ zu handeln und die Kontrolle zu verlieren, wenn’s heiß hergeht?“

„Du bist nicht wie die anderen“, bemerkte Al’Jebal, als hätte er ihrer inneren Stimme zugehört. „Aber dieser Umstand soll dich nicht beunruhigen. Noch nicht. In Kürze wirst du einen Auftrag erhalten, bei dem du Entscheidungen treffen und über andere bestimmen wirst.“

Keine Erwartungen! Kein Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht! Warum auch? Al’Jebal wusste sehr gut, dass er seinen Assassinen die Wichtigkeit ihrer Aufträge nicht erst suggerieren und sie mit Ermahnungen langweilen musste. Keiner seiner Leibeigenen würde nur einen Teil dessen leisten, was er leisten konnte. Jeder von ihnen würde alles geben, um den Meister zufriedenzustellen, sie eingeschlossen.

„Du ganz besonders!“

Richtig. Sie ganz besonders. Da war es nicht eben erhebend, dass ihre Verantwortung gerade gewachsen war. Je größer die Verantwortung, desto tiefer der Fall, wenn man scheiterte.

„Ich werde Euch nicht enttäuschen!“

Wie erbärmlich!

„Das wollte ich auch gerade sagen. Ich war der Meinung, du hättest bessere Antworten auf Lager. “

Wieder lächelte Al’Jebal. Es war eine seiner verstörendsten Gesten.

„Wir werden sehen.“

Chara brachte ein Nicken zustande und spähte zu dem Deckengemälde mit den historischen Schlachtszenen in düsteren Bildern, unter anderem der Schlacht um Mon Asul.

„Ich habe Euch noch nicht von den Tätowierungen berichtet“, fiel ihr plötzlich ein. Sie spürte, wie er sie von der Seite musterte, und holte Luft.

„Sie hatten alle diese Zeichnung am linken Unterarm, den Bogen, der in einem Kreis endet – Dragati, Mu’ul, die Berater der Högjarls …“