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"Amalea im Jahre 347 nach Gründung Fiorinde. Die goldenen Zeiten sind vorüber. Die Anhänger des Chaos ziehen in den Krieg, um die Weltordnung zu zerstören und die Herrschaft über Amalea endgültig an sich zu reißen. Das dunkle Zeitalter kehrt zurück ..." Die zweite Hälfte des achtbändigen Epos über den unausweichlichen Krieg Chaos gegen Ordnung beginnt mit der gefährlichsten Expedition, die in Amalea je stattgefunden hat. Die unter dem Banner der Allianz vereinten Ordnungsanhänger schicken eine Armada von 1.000 Schiffen aus, um den Großen Abgrund und damit die Grenze der bekannten Welt zu überwinden. Der offizielle Auftrag: Die Suche nach Verbündeten für den letzten großen Krieg gegen das Chaos. Indes kommt ans Licht, dass der von allen gefürchtete Sprecher der Allianz Al'Jebal ganz eigene Pläne verfolgt. Seine ins "Spiel der Mächte" gebrachten Figuren haben ihren jeweiligen Platz eingenommen: Nichtsahnend brechen Chara, Siralen und Lucretia zusammen mit ihrem alten Mitstreiter Telos und dem zwielichtigen Assassinen Kerrim Ben Yussef zur größten ihrer bisherigen Missionen auf, um unter dem Einfluss Al'Jebals ihrem zugedachten Schicksal zu begegnen. Eine ungewisse Zukunft bricht an, die ein neues Licht auf den Krieg zwischen Chaos und Ordnung wirft. Es scheint, dass dessen wahre Geschichte irgendwo jenseits des Großen Abgrundes verborgen liegt und seit Jahrtausenden darauf wartet, ans Licht gebracht zu werden. Und manch einer fragt sich, wie Al'Jebal in diese Geschichte verstrickt ist. Zugleich wird den "Helden der Allianz" schmerzlich bewusst, dass der Feind nicht nur auf der dunklen Seite lauert, sondern auch in den eigenen Reihen. So nahe, dass man seine verführerischen Gedanken hören und sein teuflisches Verlangen fühlen kann ... Wo ein Licht leuchtet, dort fällt zweifelsfrei auch ein Schatten. Und weil es ein Wahr oder Falsch nicht gibt, werden unsere Entscheidungen stets von beidem begleitet – Hell und Dunkel. Denn unsere Entscheidungen sind nie nur richtig und selten nur falsch. Meistens sind sie beides.
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Seitenzahl: 1170
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Siralen Befendiku Issirimen
J.H. Praßl
Chroniken von Chaos und Ordnung 5
Siralen
Befendiku Issirimen
Neuland
Praßl, J.H. : Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 5: Siralen Befendiku Issirimen. Neuland, Hamburg, acabus Verlag 2018
Originalausgabe
PDF: ISBN 978-3-86282-617-9
ePub: ISBN 978-3-86282-618-6
Print: ISBN 978-3-86282-616-2
Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag
Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, acabus Verlag
Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl
Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy- Rollenspiel MIDGARD übernommen.
Folgende Textstellen wurden mit freundlicher Genehmigun0g der Verfasser veröffentlicht:
Siralens Tagebücher: Mirjam Hierzegger, überarbeitet von J.H. Praßl
Gedicht „Das Lied der Wellen“: Mirjam Hierzegger
Totengebet Monochs „Bei nächtlichem Glas …“: Roland Raith, überarbeitet von J.H. Praßl
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
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© acabus Verlag, Hamburg 2018
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Widmung
Endspurt!
Der fünfte Band läutet die zweite Hälfte der Chroniken ein – die zweite Seite der Medaille, wenn man so will. Damit beginnt nicht nur die Entdeckergeschichte rund um den Krieg Chaos gegen Ordnung, sondern auch eine Story um das „Menschliche Allzumenschliche“, wie Nietzsche es so schön in Worte kleidete. Dieser Teil der Chroniken ist ganz besonders vom Engagement der Chroniken-Spieler geprägt, die nicht nur ihren Kopf in unserer Welt verloren haben, sondern manchmal auch ihr Herz … und infolgedessen ihre Seele. Umso berechtigter ist es, dass wir die Spieler wieder mit einer speziellen Widmung würdigen. Denn „sie sind echt. Sie leben, sie kämpfen, sie haben Angst, sie scherzen, sie fluchen, sie stehen vor Wänden und wollen da durch … oder schrecken davor zurück. Und manchmal fließen auch Tränen.“ (Widmung Band Vier)
Leider ist es mit der Übersetzung eines Spiels in ein Buch ähnlich wie mit der Übersetzung eines Buchs in einen Film – vieles geht dabei verloren, weil es in der Welt der Dramaturgie einfach keinen Platz findet. Nichts desto trotz war die Inspiration und der Einfluss folgender Spieler für diesen Band entscheidend:
Katharina Prexl (alias Kathi) als Lucretia L’Incarto (alias Herrin des Feuers): Akademiemagierin aus Tremon, die das Streben nach Macht dazu beflügelte, vor keinem Gott mehr zu knien. Wir wissen alle, dass dieses Streben sehr gefährlich werden kann. Wie gefährlich, das hast du uns in aller Anschaulichkeit demonstriert. Vielen Dank dafür! Möge die wahre Macht mit dir sein!
Markus Raith (alias Max) als Telos Malakin (alias Gottesfeind, Chaosbringer und Lichtbringer): Er ist nicht immer da, wenn man ihn braucht und manchmal genau dann, wenn man ihn nicht braucht. Aber seine Gegenwart ist stets beruhigend und ein Blick in seine Augen erhellend. Danke für deine Stimme des Glaubens und der Hoffnung in Zeiten der Verwirrung und Dunkelheit, Max!
Mirjam Hierzegger (alias Mio) als Siralen Befendiku Issirimen (alias Hüterin der Waldesstille): Deine Siralen mag in vieler Hinsicht das glatte Gegenteil von Chara sein, Mio. In einem sind sie sich aber ganz gleich – sie sind mehr als nur Figuren in einer Geschichte. Ihre Welt drang aus der Geschichte in die Wirklichkeit und hat uns verändert. Damit haben die beiden mehr als nur „Geschichte geschrieben“. Vielen Dank für deine Begleitung und die ganz besondere Inspiration der Chroniken! Bei aller Dramatik ist Siralen eine Sternstunde unseres Pen&Paper-Rollenspiels geworden.
Thomas Strauss (alias Thomas) für Darcean Dahoccu, den elfischen Druiden mit der Sturheit eines vallandischen Bullen: Deine Konsequenz in der Umsetzung deiner Rolle hat für viele amüsante, aber vor allem auch sehr authentische Situationen gesorgt. Wenn du als Darcean deine Stimme erhebst, fühlt man sich mitten in die Welt von Chaos und Ordnung katapultiert. Dafür danken wir dir, lieber Thomas!
Veit Kramer (alias Veit) für Irwin MacOsborn, den Barden, der auf alles einen Rat weiß, aber mit Taten so seine Probleme hat. Lieber Veit, dein Irwin ist nicht nur für einen Lacher gut, er schafft es auch immer wieder, einen zu überraschen.
Und wie immer auch ein herzliches Danke allen ehemaligen Spielern sowie allen, die uns nur vorübergehend beehrten oder im vorliegenden Band Nebenfiguren besetzten! An dieser Stelle sind nur jene namentlich erwähnt, die auch im Buch Erwähnung finden:
Christian (Johann Alber), Peter (Gaan El’Schiban Al’Hamar alias Gaan), Robin (Tschaibaran, Grimnir Rotbart), Roland (Freon Eisfaust El’Salah alias Eisfaust und Jagan Kerme El’Alachin), Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder), Chris (Bargh Barrowsøn), Boris (Gemiramel Weißfels von Laruhn), Dominik (Thorn Gandir), usw.
Musikempfehlung
Musik zu einzelnen Szenen, im fortlaufenden Roman an den betreffenden Stellen mit markiert:
1) Allianzhymne bei der Allianzfeier (Kapitel „Die Helden der Allianz“): Laibach – Final Countdown (Albumversion/ Album „Nato“)
2) Traumbotschaft (Kapitel „Ein Wort zu viel“): Knorkator – Wir werden alle sterben
3) Traumbotschaft (Kapitel „Kaltes Erwachen“): Rammstein – Der Meister
4) Stimme im Sturm (Kapitel „An der Grenze“): Alexander Veljanov – Your House On My Hill
5) Warnung aus dem Ozean (Kapitel „Reise, Reise …“): Rammstein – Reise, Reise
6) Am Grund des Ozeans (Kapitel „ES“): Hawkwind – Forge Of Vulcan
7) Meuterei auf der Dunkler Stern 1 (Kapitel „Stimmen aus der Vergangenheit“): Oomph – Unserer Rettung
8) Meuterei auf der Dunkler Stern 2 (Kapitel „Stimmen aus der Vergangenheit“): Oomph – Gekreuzigt
9) Traumbotschaft zum Schicksalskünder (Kapitel „Die Akte Lask Cisch“): Helium Vola – Manifesto
10) ES – Charas Vision (Kapitel „Epilog“): Tanzwut – Götterfunken
AMALEA
Detailkarte Amalea
Siralens Archipel
Allianzflotte
Teilflotte
Schiffstypen
Eines Tages trat eine Motasali in mein Leben und sagte:
Die Welt ist keine Scheibe,
sie besitzt kein Oben und kein Unten,
keinen linken oder rechten Rand,
keine Seite, auf der es sich leben lässt,
und keine, die den Tod bedeutet.
Sie sagte:
Die Welt ist eine Kugel,
sie ist ein in sich geschlossenes Ganzes,
kein Weg über ihr Rund führt an eine Grenze,
keine Grenze in den Abgrund.
Licht und Dunkel gibt es nicht.
Chaos und Ordnung sind eins.
In einer Welt wie dieser gibt es keine zwei Seiten:
Es gibt nur ein Werden und Vergehen,
den ewigen Wandel im Meer der Zeit.
Die Frau deutete in den Himmel, und ich sah, wie die Sonne am Firmament schwarz wurde. Da lächelte sie und sagte:
Keine Angst!
Die Schwarze Sonne leuchtet dir,
du findest ihr Licht im Schatten,
und sie wirft ihren Schatten in dein Licht.
Sie ist, was immer war und immer sein wird.
Unter ihrem Banner sind wir heil und ganz.
Dann zog sie ihre Waffe und ging dem Zeichen der Sonne entgegen.
Und als ich verstand, dass ich ihr auf diesem Weg nicht folgen konnte,
als ich mich von ihr und ihrer Sonne abwandte,
um die Liebe zu finden,
nach der ich ein Leben lang suchte,
und um dem Tod zu entgehen,
den ich ein Leben lang bekämpfte,
fand ich in der Liebe den Tod.
Amalea im Jahre 347 nach Gründung Fiorinde:
Tausend und dreihundertfünfzig Jahre
nach Beginn der Chaoszeit.
Fünfhundert und siebzig Jahre
nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.
Zweihundert Jahre
nach der Vertreibung der Chaosmächte
aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,
des Südens und des Westens.
Die goldenen Zeiten sind vorüber. Die Anhänger des Chaos ziehen in den Krieg, um die Weltordnung zu zerstören und die Herrschaft über Amalea an sich zu reißen. Das dunkle Zeitalter kehrt zurück.
Moravod existiert nicht mehr. Der einstige Prophet Togh Levas und jetzige Chaosgott Hakkinen Dragati hat mit seinen neuen Anhängern das Land nördlich des Jenisvoi im Blitzkrieg erobert und zu Dragatistan gemacht. Die Dragatisten, die sich dem Chaos verschworen haben, werden zur neutralen Partei zwischen der Allianz und dem Chaosbündnis.
In Erainn sorgt der Fall Caeir Isaharas für große Verwirrung unter den Fürsten und innerhalb der Bevölkerung des Landes. Die einhunderttausend Mann starke Armee unbekannter Herkunft, unter deren Ansturm eine der mächtigsten Festungen Amaleas fiel, zieht eine Flut an dunklen Gerüchten und wilden Prophezeiungen nach sich. Die Einwohner beginnen zu begreifen, dass das Chaos und seine Anhänger zurückgekehrt sind.
Im zentralen Gebirge Aschrans, Gebiet Al’Jebals, bereitet sich die Allianz in ihrem Hauptstützpunkt Tamang auf die größte Expedition vor, die weltweit je durchgeführt wurde. Während die Kommandanten der Expedition die letzten Vorkehrungen treffen, um mit der Allianzflotte den Großen Abgrund zu überwinden, rüsten die Truppen der Allianzarmee für den Krieg gegen das Chaosbündnis.
Die Helden der Allianz
Ich will, dass euch klar ist, dass es ab heute kein Zurück mehr gibt. Ich will, dass ihr wisst, dass ihr von jetzt an auf euch gestellt sein werdet. Alles, was ihr bei mir gelernt habt, habt ihr für diese Mission gelernt. Alles, was ihr in meinem Namen vollbracht habt, hat euch hierher geführt.
Die Zeit drängt. Ihr steht vor einer Entscheidung. Entscheidet euch!
Siralen Befendiku Issirimen hatte sich entschieden. Warum, das war ihr selbst nicht ganz klar. Aber das Ja war da. Es war ihr über die Lippen gesprungen wie ein Tautropfen von der Spitze eines vom Wind gepeitschten Grashalms.
Al’Jebals Geheimnisse waren derer viele. Einige davon hatte er ihnen vor zwei Tagen anvertraut. Nachdem er sie vor die Wahl gestellt hatte: „Seid ihr mit an Bord?“ Das war in etwa der Inhalt seiner Frage, wenn er sie auch ganz anders formuliert hatte. Sie würden nicht nur sprichwörtlich an Bord gehen. Im Auftrag der Allianz. Für die Zukunft Amaleas …
Eines der Geheimnisse, die der Sprecher der Allianz ihnen anvertraut hatte, war, dass die Welt keine echte Grenze hatte. Oder dass es zumindest eine Möglichkeit gab, diese zu überwinden. Der Große Abgrund … Wenn man sich über eine Weltgrenze hinwegsetzen konnte, was erwartete einen danach? Neue Welten …
Siralen stand halb angekleidet in ihrer Unterkunft in einem der zentralen Sektoren Tamangs. Redlich bemüht, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, fingerte sie an den Nesteln der Kleiderärmel herum. Doch der Kopf wollte einfach nicht bei der Sache bleiben, und die Finger zitterten in beschämender Ziellosigkeit über die schmalen Bänder am Saum.
Verständlich, dass ihr Inneres in Unordnung geraten war. Was sie vor zwei Tagen erfahren hatte, war kaum mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Sie musste alles neu überdenken. Und sie fragte sich, wohin sie in all den Jahrzehnten ihres bisherigen Lebens geblickt hatte, dass ihr all dies entgehen konnte. Wusste der Elfenrat Bescheid? Was war eine Lüge und was die echte, gehaltvolle Wahrheit?
Endlich saßen die letzten Bänder und sie konnte ihre Schultern entspannen. Hingebungsvoll massierte sie sich den Nacken und trat vor den Spiegel. Eine Seltenheit. Der Spiegel war groß und sein ovaler hölzerner Rahmen mit außergewöhnlich kunstvollen Schnitzereien geschmückt. Eindeutig nicht von Elfenhand und dennoch erstaunlich.
Siralens Spiegelbild schob sich in ihr Blickfeld – ein Gesicht, das ihr verblüfft entgegenlächelte. Was sie sah, gefiel ihr. In diesem Kleid schien alles am rechten Platz zu sein. Es war wie für sie gemacht – schlicht, von zartem, ihre Augen zum Leuchten bringendem Blauton und in einem Guss an ihren schlanken Beinen hinabfließend. Warum hatte sie es nicht schon eher getragen?
Natürlich. Sie hatte das Kleid vor langer Zeit weggeschlossen; weggeschlossen wie die Erinnerung an ihre Mutter, die es an sie weitergegeben hatte; weggeschlossen wie die Erinnerung an den Vater, der die Mutter mehr geliebt hatte als sein eigenes Volk. Aber jetzt, jetzt fühlte sich der seidige Stoff gut auf ihrer Haut an.
Sachte fuhr sie sich durch ihr silbernes Haar und begann, die Strähnen zu einem strengen Zopf zu flechten. Oh Aflih!Wo bin ich da nur hineingeraten?
So ungern sie sich an ihre Eltern erinnerte, so gerne dachte sie an ihre Großmutter. Lenyanemara hatte sie mit aller nur denkbaren Weisheit auf dieses Leben vorbereitet – ein Leben, das manchmal der Weisheit gleichgültig gegenüberstand und häufig tat, was es wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken.
„Der Weg einer Kriegerin ist stets von Licht und Schatten begleitet“, hatte Großmutter ihr an jenem Tag nahegebracht, als sie ihre Ausbildung zur Kriegerin antrat. „Das Licht fällt auf den, der Leben rettet, der Schatten auf den, der Leben zerstört. Ein Krieger wird stets beides verkörpern. Vergiss das nie, Ana!“
Siralen hatte es nicht vergessen. Trotzdem hatte sie sich zur Kriegerin ausbilden lassen. Weder Großmutter, noch sonst jemand hätte sie davon abbringen können. Sie wollte kämpfen. Sie würde dafür kämpfen, ihr Volk vor seiner endgültigen Ausrottung zu bewahren. Nun, da das Chaos seine verderblichen Armeen über den Boden Amaleas schickte, war jede Frau und jeder Mann, der mit einer Waffe umzugehen wusste, dazu verpflichtet, diese auch in den Kampf zu führen. Selbst wenn Siralen vom heutigen Tage an im Namen Al’Jebals kämpfte, der Entschluss blieb derselbe. Die Elfen gehörten der Allianz an und die Allianz stand und fiel mit Al’Jebal.
Wenn der Alte vom Berg die Indizien, die er gesammelt hatte, für ausreichend befand, um eine Welt hinter den bekannten Grenzen Amaleas anzunehmen, musste seinem Ruf gefolgt werden. Die Allianz brauchte Verbündete. Und Al’Jebal war der Erste gewesen, der die Unabhängigkeit der Elfen und den Staat Albion anerkannt hatte. Er war einer der ältesten Freunde der Elfen und ihrem Volk mehr als einmal zu Hilfe gekommen. Egal, was da draußen über ihn geredet wurde, egal, was jenseits der Grenzen Amaleas lauerte, innerhalb lauerte das Chaos und die Allianz war gegründet worden, um es zu bekämpfen.
Siralen zog die Finger aus ihrem Haar. Weg mit den Gedanken an Tod und Chaos! Heute war kein Tag, um sich in düsteren Visionen zu verlieren, heute war ein Tag des Feierns und der Freude.
Ein letztes Mal betrachtete sie sich im Spiegel, blickte in die kühlen blauen Augen, die ernst zurückblickten, strich sich behutsam ein paar lose Strähnen an den Schläfen nach hinten und band sich den Gürtel mit dem schmalen Dolch um die Hüften.
Als sie die Tür hinter sich schloss, trat ihr ein aschranischer Wachmann entgegen.
„Said Ihr berait?“, fragte er und Siralen nickte.
„Dann folgt mir.“
Der rote Teppichläufer, der eine zweihundertfünfzig Schritt lange Bresche in das Gewirr aus Menschen, Elfen und Zwergen schlug, erschien ihr wie ein Signal voranzuschreiten. Weiter, immer weiter, ohne einen Blick zurück …
Unzählige Öllampen und Feuerschalen hingen an schweren Ketten von der Decke und tauchten den Weg zum Podium in ein sattes, warmes Licht. Nur im Eingangsbereich herrschte Dunkelheit.
Die Empfangshalle war von breiten Säulengängen flankiert. Und wäre der Saal nicht brechend voll gewesen, Siralen hätte sich seltsam seelenlos in diesem nackten, gigantischen Gemäuer gefühlt.
Sie stand im Rahmen der Doppelflügeltür und verschmolz mit dem Schatten im Eingangsbereich. Der Anblick der schwarzen Silhouetten auf den beleuchteten Balustraden in schwindelerregenden Höhen war wie ein Fausthieb in den Magen. Dort standen sie – jede Menge Orks in den Galauniformen der Allianz. Verbündete … und doch waren die Kreaturen, die sich vor langer Zeit Al’Jebal angeschlossen hatten, den Elfen nach wie vor ein Dorn im Auge, und das würden sie vermutlich immer sein.
Fatujen! Sie selbst hatte erst kürzlich am Pass Cunair Tarr gegen Orks gekämpft, wenn diese auch der Chaosseite angehört hatten. Und sie war nur einen Wimpernschlag davon entfernt gewesen, im Alleinen des Weltgeistes aufzugehen – sie und auch all die anderen Krieger der Allianzarmee, die an diesem Abend so zahlreich vertreten waren, dass sie die restlichen Gäste in den Schatten stellten.
Unter ihnen waren auch die Priester, die gemeinsam mit den Elfen die erste, schicksalsschwere Schlacht in Erainn geschlagen hatten. Siralen erkannte einige von ihnen an ihren langen Roben und fein gearbeiteten Togen. Ihre Gewänder wetteiferten mit den schmucken Festtagskleidern der Handwerker, die sich unter die Gäste gemischt hatten. Die farbenfrohen Symbole der Zünfte lockerten das zeremonielle Ambiente auf, das die Priester mit ihren prächtigen Emblemen verbreiteten. Die Schlageisen der Steinmetze spielten mit den roten Kriegshämmern des Gottes Agramon, die Hobel der Tischler duellierten sich mit Issisas Kralle, das Feuer der Schmiedeessen flackerte munter zwischen den eisblauen Wappen Monochs. Der Tod wäre erfreut, Euch zu sehen …
Ein Schauer durchzuckte Siralen. Den Gedanken an die Priesterschaft über Tod und Eis abschüttelnd, suchte sie nach den Vertretern ihres Volks. Der kleine Anteil der nichtmenschlichen Rassen ging in der Menge des kurzlebigen Volks nahezu unter, was wenig überraschend war. Doch Siralen erspähte Ihresgleichen dennoch. Die Elfen hatten sich dezent von dem kleinen, korpulenten Volk der Zwerge distanziert. Sie standen auf der gegenüberliegenden Seite des Teppichläufers – zwischen ihnen der breite, reißende Fluss unvereinbarer Gesinnungen.
Ein schwacher Vorbote von Heimweh erfasste Siralen und sie riss sich vom Anblick ihrer Brüder und Schwestern los. Vieles war hier nicht so, wie es sein sollte. Orks und Zwerge waren eine Sache. Mit ihrer Gegenwart in den Reihen der Allianz hatten sich die Elfen halbwegs arrangiert. Mit den Vertretern der Schattenwelt hingegen …
Wer dem Alleinen widersteht, ist aus dem Weltgeist gefallen. Was nicht im Weltgeist ist, ist im Nichts. Und was im Nichts ist, darf nicht sein.
Würde Al’Jebal dieses elfische Gesetz brechen? Würde er es wagen, einen MacDragul zu den Feierlichkeiten zu laden? Auf der Suche nach dem Wappen, das den ihren so verhasst war, fand Siralen jede Menge anderer Embleme, viele davon mittlerweile so vertraut wie der silberne Baum Albions. Da waren die Lilie der MacArgyll und die rote Rose der MacGythrun aus Alba, das Kriegsbeil des Schlachtenstürmers Höggningar, die roten Längsstreifen auf weißem Tuch, die das Wappen der Aeglier kennzeichnete. Sie fand den schwarzen Bären Moravods, die gekreuzten Säbel auf weißem Tuch der Tegoner und natürlich Al’Jebals Emblem – den silbernen Fünfzackstern. Aber keine drei Silberblumen auf blutrotem Grund, über welchen ein schwarzer Adler vor goldenem Firmament thronte. Kein Zeichen jenes albischen Clans, der bis heute noch aus jeder Schlacht als Sieger hervorgegangen war und den Toten so viel näher stand als den Lebenden. Gut so.
Schritte erklangen im Gang hinter ihr und Siralen drehte sich um. Helolilejen! Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. General Göttrik van de Drakeen schritt im Gefolge zweier Frauen und eines Mannes auf den Eingang zu. Damit wusste Siralen, wo ihr Platz war. Sie begrüßte den General mit einem respektvollen „Tin salu ecra“, trat aus dem Türrahmen und machte den Weg frei. Dann schloss sie sich den beiden Gestalten an, die sich im Rücken des Vollblutkriegers eingefunden hatten und sich wie Schatten und Licht um eine Dissonanz aus sattem Grün schlossen.
Die Dissonanz hieß Lucretia L’Incarto und war wie gewohnt in stilvolle Seide gekleidet. Ihre roten Locken hatte sie zu einem festen Knoten am Hinterkopf gewunden, wobei ihr zwei Strähnen in sanften Wellen auf die nackten Schultern fielen. Es hätte ihrem sinnlichen Gesicht geschmeichelt, wäre da nicht diese entsetzliche Narbe gewesen, die sich wie ein zweites, blutrünstiges Lächeln über ihre Wangen zog. Doch angesichts des Mannes, der neben ihr stand, war Lucretia nahezu eine Augenweide. Obwohl der Fremde mit dem Narbengesicht Siralen an die unfertige Büste eines Amateurbildhauers erinnerte, begleitete ihn eine sanfte, warme Aura. Sie war ihm noch nie begegnet, erkannte ihn anhand seiner tadellosen Aufmachung und der weißen, festlichen Toga aber sofort als hochgestellten Priester – es konnte sich also nur um Telos Malakin handeln. Und damit war auch klar, zu wem der Schatten gehörte, der sich in aller Schärfe vom Weiß der Priestertoga abzeichnete.
Chara Pasiphae-Opoulos war ganz in schwarz gekleidet. Ausnahmsweise trug sie keine Lederrüstung, sondern ein Hemd über engsitzenden Hosen unter einem langen Mantel aus Wildleder. Waffen hatte sie keine dabei, oder doch zumindest keine sichtbaren. Zwei ihrer primitiven, von Kopf bis Fuß tätowierten Krieger begleiteten sie und trugen nichts als einen Rock aus Bast und Tierhaut um ihre Hüften.
Die Assassinin blickte nach vorne und fixierte aus ihren schwarzen Augen die Empore am Ende des roten Teppichläufers. Sie schien gar nicht registriert zu haben, dass Siralen zu ihr und den anderen gestoßen war.
Sie vermag es nicht so recht, das Licht vom Dunkel zu trennen, stahlen sich Langeladeons Worte in Siralens Kopf. Sie hatte den letzten Einsatz in Isahara unter Charas Kommando miterlebt und konnte nur einen einzigen Schluss daraus ziehen: Chara war eine Frau, die niemals aufgab.
„Wenn ich es richtig sehe, haben wir nur eine Möglichkeit, in die Hauptburg einzudringen. Von oben, mit anderen Worten, aus der Luft!“
Das war Chara. Nachdem van de Drakeen die Hoffnungslosigkeit eines Einstiegs in die Festung Isahara deutlich gemacht hatte, initiierte sie kurzerhand ein Selbstmordkommando. Und damit hatte die Assassinin die Drachen auf den Plan gebracht. Von den etwa dreißig Mann der Einheit, die unter ihrem Befehl in die Feste eingedrungen war, überlebte etwa die Hälfte. Erstaunlicherweise. Das Resultat war ein Sieg und die Eroberung einer der mächtigsten und bislang unbezwingbaren Festungen Amaleas.
„Tin salu ecra“, begrüßte Siralen die Assassinin und wurde von einem finsteren Blick in Empfang genommen. Ein knappes Nicken seitens der Hatschmaschin und Chara sah erneut nach vorne Richtung Podium.
„Oberhohepriester Telos Malakin“, wandte Siralen sich dem Priester zu.
Telos ergriff ihre Hand. „Es freut mich, Euch persönlich kennen zu lernen, Siralen. Agramon hämmere Eure Feinde!“
Sie erwiderte sein Lächeln, spürte aber, dass es ihr Gesicht nicht entspannte. „Die Freude ist ganz bei mir. Ich habe viel von Euch gehört.“
„Nicht alles davon ist wahr.“ Die Narbe unter seinem Auge zuckte, und Siralen ertappte sich dabei, wie der Anblick sie faszinierte. „Und manches Wahre ganz und gar unglaublich“, erwiderte sie.
Telos Malakin sah aus wie ein Mann, der sich von allen Zweifeln befreit hatte. Andernfalls wäre es ihm vermutlich auch nicht gelungen, zum obersten Priester des Agramon in Al’Jebals Gebiet aufzusteigen. Und es war der Priester, nicht der Mann, den Telos überzeugend verkörperte.
Nachdem Siralen von Lucretia mit einem „Wie schön, dass Ihr hier seid!“ begrüßt worden war, trat ein letzter Mann durch den Gang auf sie zu. Es war Anduin Storn, Kommandant des Bataillon D’Amur.
„Na, alle wohlauf?“, fragte er, zupfte sich den Kragen seines Waffenrocks zurecht und linste über die Schultern der anderen durch die Doppelflügeltür.
„Alles bestens“, erwiderte Chara, die sich nur kurz zu ihm umdrehte und dann wieder nach vorne sah. „Bringen wir’s hinter uns.“
Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Podium am Ende des Teppichläufers. Siralen erkannte aus dem Augenwinkel, wie die Zwerge den Elfen alberne Gesten zuwarfen. Die Letzte der A’e’jil war bisher nicht zu sehen gewesen, was sie wenig betrüblich fand. Dafür erspähte sie jetzt einige Kidari-Krieger, die sich um ihren General Gaan El’Schiban gesammelt hatten.
Fanfaren ertönten. Die Menge verfiel in eine Art Spalierhaltung. Trommeln wurden laut und übertönten die Blasinstrumente. Ein tiefes, hallendes Donnern hob von den Seiten des Podiums an und rollte wie eine Sturmwand über die Köpfe der Menge hinweg. Der volle Klang von Hörnern mischte sich unter die Trommeln und der Saal wurde zu einem einzigen, gewaltigen Schallkörper. Im selben Augenblick flackerte das Feuer der Kandelaber über dem Eingangsbereich auf und tauchte sie in ein sattes Licht. Als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen, um dahinter die eigentliche Bühne zu präsentieren.
Die sonoren Stimmen eines Männerchors erhoben sich, und Siralen fühlte, wie die Musik sie ergriff und in einen seltsamen Sog zwang. Als ob die Schatten der Nacht vor einem neuen Morgen ihr Knie beugten … von Leid und Heil gleichermaßen erzählend, von Tod und Verderben, aber auch von einem siegreichen Kampf, von einer Reise ins Ungewisse. Die Hymne wurde in Echos von den Wänden zurückgeworfen und toste wie der Anfang vom Ende durch den Saal. Die Trommelschläge ließen Siralens Herz schneller schlagen, die tiefen Stimmen vibrierten wie Harfensaiten in ihrem Bauch.
Dies ist die letzte Etappe,
auf unserem Weg in den letzten Kampf.
Wir kämpfen gemeinsam,
doch heute sagen wir „Leb Wohl!“
Van de Drakeen setzte sich in Bewegung, und Siralen folgte ihm und den anderen den roten Teppichläufer entlang.
Mag sein, dass wir wiederkehren
in diese Welt, wer will es wissen?
Kann sein, dass niemand die Schuld daran trägt,
kann sein, dass wir Amalea vermissen,
doch heute werden wir gehen,
dem Wunsch zu bleiben widerstehen.
Wird es je wieder sein, wie es war?
Das Donnern der Trommeln dröhnte in Siralens Ohren, als ihre hallenden Schläge die Pause zur nächsten Strophe überbrückten. Sämtliche Augenpaare waren auf van de Drakeen und sie gerichtet. Da war Neugier in den meisten Gesichtern, aber auch Ehrfurcht, ein Hauch Melancholie und … Hoffnung. Der Auftritt der Spitze des Allianzheeres und seines Gefolges ließ die Menschen hoffen. Und während sie sich durch die Gasse bewegte, spürte auch sie den zaghaften Flügelschlag der Hoffnung in ihrer Brust.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf!
Wir sehen dem Abgrund entgegen,
und immer noch stehen wir aufrecht.
Kann sein, dass uns jemand da draußen erwartet,
kann sein, dass er uns willkommen heißt.
Über so viele Grenzen müssen wir gehen,
und so viele Dinge gilt’s zu entdecken.
Stets werden wir aufrecht stehen
und gewiss – wir werden euch alle vermissen.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf,
die letzte Etappe
Ohhh oh oh ohhh …
Es ist die letzte Etappe,
unser letzter Kampf.
Wir gehen gemeinsam
und wissen,
wir werden euch alle vermissen.
Eine Abfolge schwerer Trommelschläge kündete das Finale an und schien die Takte bis zum endgültigen Ende zu zählen. Mit dem letzten Donnern stiegen sie über die Treppe zum Podium hoch. Danach wurde es totenstill im Saal.
Al’Jebal betrat die Bühne. Zwischen seiner Rechten und Linken Hand, dem obersten Kommandanten der Landstreitkräfte Agem Ill und dem Schwarzen Assassinen Assef El’Chan, bewegte er sich ins Zentrum des Podiums und blieb unterhalb des Wappens der Allianz stehen. Die goldene Lilie unter dem aschranischen Letter A prangte, eingefasst von einem Kreis aus Dreiecken, die für die verbündeten Länder der Alliierten standen, wie ein Leitspruch über dem Sprecher der Allianz.
Nachdem sich Siralen zusammen mit den anderen hinter ihm und seinem Gefolge aufgebaut hatte, trat Al’Jebal nach vorne und blickte schweigend über die Menge. Als er endlich zu sprechen begann, schien es, als würde ein Aufatmen durch die Reihen gehen.
„Wir sind heute hier, um unseren ersten Sieg gegen das Chaosbündnis zu feiern“, bahnte sich seine tiefe Stimme einen Weg zum Publikum hinab. „In der Zerstörung Isaharas zeigt sich die Macht unserer Allianz. Einige haben in der Schlacht gegen das Chaos den entscheidenden Ausschlag gegeben. Neben dem Mut, dem Durchhaltevermögen und der außerordentlichen Kampfkraft des Allianzheers ist es vor allem ihnen zu verdanken, dass wir diesen Kampf gewinnen konnten.“
Eine Pause folgte, in der sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu unverhohlener Neugier emporschwang.
„Wir ehren heute jene, die zu Recht als Helden gelten.“
Auf ein Zeichen hin trat der General nach vorne und positionierte sich neben Agem Ill.
„Der General der Allianzarmee Araguari Hathor Göttrik van de Drakeen!“, kommentierte Al’Jebal und seine Hand schwang kaum merklich in Richtung des Kriegshelden. Unter tosendem Applaus schüttelte Agem Ill dem General die Hand und legte ihm einen Orden um den Hals, woraufhin lauter Jubel ausbrach.
Siralen versuchte einen Blick auf das goldene Medaillon zu erhaschen und erkannte auch dort das Allianzwappen.
„Meine Güte, wenn ich das gewusst hätte, ich hätte diesen Tag nicht überstanden“, murmelte Lucretia an ihrer Seite. „Den Mächten sei Dank, hat Al’Jebal uns nichts über den eigentlichen Grund dieser Feier gesagt.“
Siralen wusste nichts darauf zu sagen. Im Augenblick hatte sie selbst alle Hände voll damit zu tun, die Fassade des Gleichmuts zu wahren. Al’Jebal inszenierte hier offensichtlich eine Art Kulisse der Glorie, um einen unausweichlichen, beängstigenden Krieg in einem ermutigenden Licht erstrahlen zu lassen. Er malte Pathos in das Grauen, von dem anzunehmen war, dass das Menschenvolk es nötig hatte, um das dräuende Schicksal anzunehmen. Und vermutlich tat er gut daran.
Nachdem van de Drakeen zur Seite getreten war, setzte Al’Jebal seine Ansprache fort: „General Göttrik van de Drakeen hat die Allianzarmee zum Sieg geführt. Doch den Weg zum Sieg ebneten diejenigen, die der Armee vorausmarschierten.“ Al’Jebals Hand glitt erneut zur Seite. „Die Speerspitze derAllianz!“
Wie mechanisch machte Siralen einen Schritt nach vorne. Ebenso wie Lucretia, Telos, Chara und Storn.
„… darunter der Kommandant des Bataillon D’Amur, Anduin Storn und die Kommandantin der Elfen Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra.“
Das war ihr Stichwort, wenn auch ein reichlich langes. Agem Ill schenkte Siralen einen respektvollen Blick, als er ihr die Hand reichte und ihr gratulierte. Ein Orden wurde ihr nicht umgehängt, worüber sie nicht unglücklich war. Sie gehörte ja auch nicht zum Kommando der Speerspitze.
Nachdem auch Anduin Storns Leistung mit einem Handschlag gewürdigt worden war, erklang erneut tosender Applaus, in den sich der eine oder andere eifrige Zuruf seitens Storns Bataillonskrieger mischte.
„Die Kommandanten der Speerspitze!“, kam Al’Jebal auf den Rest der Ehrengäste zu sprechen.
Siralen wandte sich um und sah, wie sich Lucretia nervös ihren Rock zurechtzupfte, den Kopf in den Nacken warf und zusammen mit Telos an die Seite des Allianzsprechers trat. Danach wurde es still und alle Augenpaare richteten sich auf Chara. Die Assassinin hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
Al’Jebal drehte sich um. Die Flamme einer der Fackeln an der Rückwand knackte laut. Chara sah ihren Namai an. Der Namai musterte seine Assassinin. Schließlich zog Chara die Hände aus den Manteltaschen und bezog neben Telos Position. Sofort nahmen die beiden goygoischen Krieger sie in ihre Mitte und präsentierten demonstrativ ihre primitiven Stabkeulen.
„Telos Malakin, Oberhohepriester des Agramon“, setzte Al’Jebal ohne Umwege fort, „Schlächter von Urdhaven!“
Telos’ Gesicht blieb ohne erkennbare Regung, als er den Orden und den Applaus entgegennahm, der ihm von unterhalb der Bühne entgegendonnerte. Erst als sich die Stimmen seiner Glaubensanhänger aus der Menge erhoben und ihm zujubelten, erlaubte er sich ein bescheidenes Lächeln.
„Telos Malakin hat mehrfach bewiesen, dass er ein würdiger Vertreter Agramons ist“, warf Al’Jebal in die Menge. „Für seine Leistungen und seinen Einsatz im Kampf gegen Caeir Isahara, verleihe ich ihm den Titel Held der Allianz.“
Jetzt stand Telos der Stolz ins Gesicht geschrieben, und selbst Siralen freute sich für ihn, obwohl sie den Oberhohepriester kaum kannte. Dies hier war ein Zeremoniell, wie es den Menschen allzu eigen war. Und doch, die Euphorie und die Zuversicht, die alle Anwesenden ausstrahlten, mussten selbst das Herz einer Eisskulptur zum Schmelzen bringen. Allerdings stand die Freude in kaum einem der Elfengesichter zu lesen, und einen Lidschlag lang bedauerte Siralen diese Tatsache.
„Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto!“, fuhr Al’Jebal fort. „Sie hatte das Kommando über die Schlacht in Cunair Tarr. Ihre magischen Fähigkeiten ermöglichten es dem Allianzheer, die Tür nach Isahara zu öffnen. Sie ist der Schlüssel zu Caeir Aun’Isahara. Und eine Heldin der Allianz.“
Lucretias Wangen waren feuerrot, als sie unter allgemeinem Applaus von Agem Ill ihren Orden um den Hals gelegt bekam und sich neben Telos stellte.
Es wurde wieder still und die Blicke wanderten erneut zu Chara. In vielen der Gesichter zeichneten sich stumme Fragezeichen ab. Warum ist ausgerechnet eine Assassinin unter den Würdenträgern?
Einen Moment lang schien Charas steinerne Miene in Bewegung zu geraten. Doch das war ein Trugschluss, der wohl dem flackernden Licht der Fackeln und Feuerschalen geschuldet war.
„Chara Pasiphae-Opoulos!“, entließ Al’Jebal den Namen der Assassinin schnörkellos in die Menge und seine Hand wies kaum merklich in ihre Richtung. „Das Sandkorn auf der Schicksalswaage.“
Ein leises Raunen ertönte im Saal. Getuschel hob an, verebbte aber sofort wieder, als Al’Jebal fortsetzte: „Der Krieg gegen Caeir Isahara hat ihr die Namen Verteidigerin vonCunair Tarr und Todesverächterin eingebracht. Unter ihrem Kommando gelang es der Speerspitze, in die Festung Isahara einzudringen und dem Allianzheer auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Ihrer Entschlossenheit und ihrer Vorgehensweise ist es zu verdanken, dass eine uneinnehmbare Festung einnehmbar wurde. Auch ihr verleihe ich heute den Titel Heldin der Allianz.“
Der Applaus kam reichlich verhalten. Doch nach und nach wurde er lauter und am Ende war überdeutlich, dass es keine Rolle spielte, was Chara war. Es zählte nur noch, was sie geleistet hatte. Jedenfalls für den Augenblick.
Chara erhielt ihren Orden nicht von Agem Ill, sondern von Assef El’Chan. Als er ihr gegenübertrat und ihr das Allianzwappen um den Hals legte, ging ein stummer Blickwechsel zwischen den beiden vonstatten, den Siralen nicht deuten konnte. Es entging ihr allerdings nicht, dass Chara den Orden umgehend unter ihrem schwarzen Hemd verschwinden ließ.
„Der Krieg hat begonnen“, setzte Al’Jebal fort. „In den nächsten Tagen wird eine Flotte aus Tamang aufbrechen. Sie wird sich auf eine Expedition begeben, deren Ziel es ist, weitere Verbündete zu finden und den Sieg der Allianz in diesem Krieg zu sichern.“
Schlagartig wurde es unruhig unterhalb des Podiums. Expedition? Mit welchem Ziel? Hatte Al’Jebal nicht längst alle Winkel Amaleas nach Verbündeten abgesucht?
„Die Helden der Allianz werden diese Expedition anführen“, fuhr Al’Jebal fort und die Menge verstummte. „Wenn es ihnen gelingt, sie zum Erfolg zu führen, wird Amalea einer neuen Zukunft entgegenblicken können. Unser Schicksal liegt in ihren Händen. Während sie fort sind, werden wir kämpfen und auf ihre Widerkehr warten. Möge die Zukunft unter dem Zeichen der Allianz stehen!“
Noch während Siralen darüber nachdachte, wie wahrscheinlich es wohl war, dass sie den Großen Abgrund überwinden würden – eine Tatsache, die Al’Jebal wohlweislich verschwiegen hatte – nahm der Sprecher der Allianz sie und die anderen Helden ins Visier.
„Einer von uns sollte etwas sagen“, murmelte Lucretia aufgeregt. „Wie wäre es mit dir, Chara? Immerhin bist du das Sandkorn, was auch immer das heißen mag …“ Sie verstummte und ihr Ausdruck wurde demonstrativ, woraufhin auch Al’Jebal Chara fixierte.
Die Geste reichte, um die Assassinin in Bewegung zu versetzen. Sie trat zwischen Al’Jebal und Assef El’Chan an den Rand der Tribüne und taxierte die Gesichter in der Menge.
„Richtig … ich sollte etwas sagen. Immerhin bin ich jetzt eine Heldin“, begann sie und ein paar Matrosen beugten sich unwillkürlich nach vorne. „Ich glaube, ich habe euch noch nicht erzählt, dass man mich unter anderem auch Chaosbringerin nennt.“
Wieder schwoll ein Raunen an und finstere Blicke schossen in Richtung Bühne. Chara schien die Entrüstung regelrecht willkommen zu heißen. Aller Erwartung zum Trotz lag der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen.
„Namen …“, setzte sie leise fort. „Sie sind so bedeutungslos wie ich und jeder einzelne der hier Anwesenden, der etwas bedeuten will. Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Wir sind nur aus einem Grund hier: Wir erfüllen einen Zweck. Und nur solange wir einen Zweck erfüllen, haben wir das Recht, überhaupt hier zu sein. Die kommende Expedition entscheidet alles. Jeder von euch, der mehr sein will als ein bloßer Name, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieser Mission anzuschließen. Wir brauchen jeden einzelnen, der mit Mut und vor allem Rückgrat ausgestattet ist. Denn …“, sie trat noch einen Schritt nach vorne, „… scheitert diese Mission, wird Amalea untergehen.“
Die Mienen der Zuhörer reichten nun von Missachtung, über Besorgnis bis hin zu Neugier. Siralen spähte zu Al’Jebal. Der Begründer der Allianz hatte Chara im Blick, wirkte aber weder beunruhigt, noch zornig. Und doch hatte Chara gerade seine Rede in Frage gestellt. War ihr das bewusst? Sie sah nicht danach aus. Vielmehr vermittelte sie den Eindruck, als hätte sie sich gerade freigeredet. Als wäre sie für einen vergänglichen Augenblick nicht Al’Jebals Assassinin, sondern einfach nur Chara – eine Frau, die sagte, was sie dachte, ohne an die Konsequenzen zu denken.
Chara fuhr sich über ihr schwarzes Stoppelhaar und verlagerte ihr Gewicht von einem auf das andere Bein.
„Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird null und nichtig sein, wenn diese Mission scheitert. Alles, was sich die Allianz bis jetzt aufgebaut hat, wird Sinn ergeben, wenn sie erfolgreich ist. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden fortleben, wenn wir erfolgreich sind. Diejenigen unter uns, die leben und für den Sieg der Allianz kämpfen, werden sterben, wenn wir scheitern. Ist die Mission erfolgreich, gibt es eine Zukunft für die Allianz. Scheitern wir, stirbt unser Gestern, unser Heute und unser Morgen.“
Sie verstummte und steckte ihre Hände zurück in ihre Manteltaschen. Niemand regte sich.
„Im Namen des hier anwesenden Expeditionskommandos fordere ich euch dazu auf, euch für die kommende Mission freiwillig zu melden!“
Damit kam Chara abrupt zum Ende. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und kehrte an ihren Platz in der Reihe zurück.
Siralen runzelte die Stirn. Die Assassinin hatte in ihrer Rede so ziemlich jeden diplomatischen Missgriff begangen, der ihr einfiel. Doch eines konnte man nicht abstreiten – ihre Rede zeigte Wirkung. Sie wurde auf zweierlei Art honoriert: Mit einem tiefen, unangenehm berührten und zum Teil zornigen Schweigen auf der einen und jeder Menge neugieriger Blicke auf der anderen Seite. Schwer zu sagen, wer welcher Seite angehörte.
Schließlich übernahm erneut Al’Jebal das Wort und änderte damit binnen eines Herzschlags die Stimmung im Saal. „Die Feier ist eröffnet!“
Ein Tanz
„Seid Ihr Euch gewiss, dass Ihr die richtige Wahl getroffen habt?“
Der Elfenkönig stand an einem stillen Platz hinter zwei Säulen und griff nach einem Glas, das ihm auf einem Tablett dargeboten wurde. Kein Wein, nur Wasser …
„Ja“, erwiderte Al’Jebal.
„Es ist gefährlich, auf dem Fundament menschlichen Makels sein Haus zu bauen, Al’Jebal. Ihr nutzt ihre Schwäche, um daraus Stärke zu beziehen. Ihr wisst, dass sie schwach ist, dass sie ihrer selbst nicht Herr ist und mehr als wir es hier und jetzt berechnen könnten, die Ordnung aus dem Gleichgewicht bringen kann. Man benutzt kein Schwert dafür, um ein Schwert zu zerschlagen. Dafür braucht es einen Hammer.“
In einfachen Worten, man kann dem Chaos nicht mit dem Chaos zu Leibe rücken. Al’Jebal blickte über das Meer aus Gästen und erspähte die schwarze Silhouette unweit des Haupteinganges. „Es gibt zwei Möglichkeiten, ein Feuer zu löschen. Entweder erstickt man es, oder man lässt seine Flammen lodern, bis da nichts mehr ist, das noch brennen könnte. Der Vorteil an Letzterem ist, dass danach keine Glut mehr Funken schlagen wird.“
„Eine gefährliche Strategie. Feuer mit Feuer bekämpfen …“
„Ihr habt Eure Wege, ich meine. Und was die kommende Mission angeht, haben wir eine Übereinkunft getroffen. Ich spiele meine Figur aus, Ihr die Eure. Niemand von uns hat etwas zu verlieren.“
Das leere Glas des Elfenkönigs landete auf einem vorbeischwebenden Tablett. „Wir werden sie im Auge behalten.“
„Das ist mir bewusst.“
„Und Lucretia L’Incarto, Telos Malakin?“
„Werden ihren Dienst an der Sache tun.“ Al’Jebal sah in die mandelförmigen Augen, die ihn aufmerksam musterten. „So wie Siralen.“
Der Elfenkönig nickte. „Der Oberste der Lichtjäger hat sich freiwillig gemeldet, um an der Expedition teilzunehmen.“
„Gut.“
„Dann lasst uns die Geschäfte vergessen und das Leben zelebrieren.“
Über Al’Jebals Lippen ging ein flüchtiges Lächeln. Wirfeiern das Leben gerne dann, wenn der Tod vor der Tür steht.
Es herrschte ein stimmungsvolles Treiben auf dem Platz zwischen den Säulengängen. Gemurmelte Gerüchte, energische Diskussionen, freundliche Zugeständnisse, düstere Zukunftsvisionen und oberflächliches Geplänkel zersprengten den Saal in kleine Inseln der Eintracht. Darüber hingen kleine Aroma-Wölkchen der Gerüche aller dargebotenen Speisen, dezent durchwirkt von zarten Parfum-Fäden, die den Duft nach Rosen, Lavendel, Orange, Zedernholz oder anderen ätherischen Ölen verströmten.
Chara hatte sich einen Weg durch die Menge an die lange Tafel gebahnt. Dort, nahe der Doppelflügeltür, bediente sie sich an den in verschwenderischer Vielfalt und Menge aufgetragenen Speisen. Mit einer gegrillten Lammkeule in Honigkruste und einem Brotfladen verschwand sie schließlich im Schatten eines Winkels. Sie zog sich den Mantel von ihren Schultern und warf ihn über eine Brüstung. Während sie, eingekeilt zwischen den Dad Siki Na, den Knochen abnagte, beobachtete sie das Treiben im Saal.
Die Elfen waren überraschend zugänglich und hatten sich weitestgehend unter die Menschen gemischt, ebenso wie die Zwerge, von denen sich eine Gruppe Krieger um den Kommandanten der KEZS, Jagan Kerme, drängten. Der schwule Elite-Zwergen-Söldner trug ein schmuckes Wams, über dem in auffallender Prägnanz die Kette mit den getrockneten Elfenohren baumelte. So gesehen war es das reinste Wunder, dass das unsterbliche dem kleinen Volk mit einem derartigen Gleichmut begegnete. Manche von ihnen hatten sich wohl an Kermes Aufmachung gewöhnt, die anderen waren wahrscheinlich von ihren Vertretern in der Allianz dazu aufgerufen, jeglichen Konflikt zu vermeiden. Einer dieser Vertreter unterhielt sich gerade mit dem Mann, dem Chara bis jetzt aus dem Weg gegangen war.
Ihr war sofort aufgefallen, dass Al’Jebal auf seine Magierrobe verzichtet und sich stattdessen einmal mehr in Schwarz gekleidet hatte. In die Kragenspitzen seines knielangen Mantels war sein Emblem, der Silberstern, genäht. Zum zigsten Mal an diesem Abend dachte Chara an den gestrigen Morgen, als sie nach schicksalsschwerer Nacht mit Lomond ihr Zimmer betreten hatte und ihr Augenlicht in einem Meer aus weißen Rosen ertrunken war. Erneut sah sie den aus dem nahtlosen Weiß blitzenden schwarzen Punkt, spürte den Stich in ihrem Herzen, als sie sah, was Al’Jebal auf ihrem Tisch hinterlassen hatte und alle weißen Rosen dieser Welt null und nichtig machte.
Die schwarze Rose – eine Erinnerung daran, wer sie wirklich war und wohin sie gehörte.
Chara schielte auf die Dornenranken, die sie sich in Erainn auf ihre Unterarme hatte tätowieren lassen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass sich die weiße Blüte öffnete, hätte verhindern müssen, dass ihr Verlangen sich Bahn schlug. Stattdessen hatte sie Lomond an sich herangelassen, hatte ihm ihr Herz und ihren Kopf geöffnet. Damit war sie nicht länger eine Unberührte, nicht länger die Ibaħie, die sie für immer hätte bleiben müssen, nicht länger samit und damit stumm.
Aus dem an und für sich nihilistischen Grundsatz der Hatschmaschin gebar sich die alles umfassende Erkenntnis, dass nichts, abgesehen von dem Willen des Meisters, in dieser Welt bewahrt, geschützt oder erreicht werden musste. Dies war das Fundament der Mulħad, der gottlosen Krieger, wie auch sie einer war. Wenn ein Mulħad damit begann, einem anderen als dem Namai irgendeine Bedeutung beizumessen, was zwangsläufig passierte, sobald man etwas oder jemanden begehrte, brach er mit der Inneren Lehre, dem Bathir, dessen Bedeutung den meisten schon bei ihrer Geburt eingebläut wurde. Genau das war mit ihr geschehen. Und Lomond hatte sie auf diesen Weg geführt. Dabei konnte sie ihm kaum einen Vorwurf machen. Er war nur seinem tierischen Instinkt gefolgt, hatte sich geholt, wonach es ihm, einem lebendigen Toten, verlangte.
Selbst jetzt spürte Chara seine Berührungen noch, fühlte sie ihn noch in sich. Beim Gedanken an das, was er mit ihr gemacht hatte, zog sich eine Gänsehaut über ihre Arme und verlieh den Dornenranken eine anschauliche Plastizität.
Chara stellte den Teller mit den abgenagten Knochen auf der Tafel ab, ließ sich ein Tuch reichen, säuberte ihre fettigen Finger und lehnte sich erneut an die Wand. Al’Jebal unterhielt sich noch immer mit dem Elfen. Der Fremde kehrte ihr den Rücken zu und war in feines Tuch gekleidet – hellgrau, mit silbernen Borten und Stickereien verziert. Sein braunes Haar fiel ihm wie ein zahmer Wasserfall über die Schultern. Alles an ihm schrie nach einem Mann von hohem Amt oder Status.
Als sich Chara gerade dazu entschloss, die Feier besser früher als später zu verlassen, erspähte sie einen Schatten neben einer der Säulen. Kerrim. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie den Kollegen mit dem verschmitzten Grinsen nicht gesehen hatte. Mit Unbehagen erinnerte sie sich an den Streit, den sie bis heute nicht mit ihm bereinigen konnte. Vor einigen Monden in Isahara …
Ihr sagt mir nichts. Ihr verschweigt mir alles. Und ich dachte, Ihr seid ein Freund. Das waren ihre letzten Worte gewesen. Danach war Kerrim gegangen und seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.
Kerrim sah aus, als würde er sich langweilen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er an der Säule, rauchte ein Hatschmana-Pfeifchen und spähte lustlos in die Menschenmenge. Andererseits wusste man nie so genau, was sich tatsächlich in ihm abspielte. Möglicherweise amüsierte er sich gerade köstlich oder war darin vertieft, irgendjemanden auszuspionieren.
Kurz entschlossen drückte sich Chara von der Wand ab und schlenderte, Nok und Iti im Schlepptau, auf ihren Kollegen zu.
„Alles klar?“, fragte sie.
„Eh Chara.“ Er schenkte ihr ein abgerissenes Lächeln. „Fertig mit Essen?“
Aha. Er hatte sie längst gesehen. Wieso war er nicht zu ihr gekommen?
„Werdet Ihr uns auf die Expedition begleiten?“, fragte sie geradeheraus.
Kerrim nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Bittet Ihr mich etwa gerade żu kommen mit?“
„Ich bitte nicht.“
„Dachte ich mir.“ Er kniff ein Auge zusammen. „Um żu sain ehrlich, ich ħabe gepackt längst maine Sachen. Ohne mich wärt Ihr ja ganż und gar geschmissen auf.“
„Wahrscheinlich bereue ich schon morgen, dass ich Euch gefragt habe.“ Chara lehnte sich neben ihn, und ein kleiner Rauchkringel aus seiner Pfeife sprang ihr ins Gesicht.
„Wahrschainelich.“
„Tut mir leid, Kerrim …“ Sie holte tief Luft. „Ich meine, das in Isahara.“
Eine Weile musterte er sie nur. Dann machte er eine wegwerfende Geste, wobei er den halben Pfeifenkopfinhalt über den Boden verstreute. „Vergessen wir das.“
„Wirklich?“, bohrte sie nach. „Ihr habt Euch von mir ferngehalten … seit dieser Sache.“
„Ihr ħabt gesagt, Ihr würdet mir nicht vertrauen. Darum ħab ich mir gedacht, besser, ich gehe Euch aus dem Weg.“
Es ging also um Vertrauen … „Ich traue Euch mehr als jedem anderen. Mal abgesehen von Al’Jebal.“ Das war nichts als die Wahrheit.
„Das freuhet mich.“
Es klang ehrlich und Chara sprach aus, was sie längst dachte: „Ich bin Chara. Nenn mich bei meinem Namen, Kerrim. Wir kennen uns lange genug.“
Ein schiefes Grinsen schob sich zwischen seine Lippen. „Ist mir aine Ehre. Ich ħaisse Kħerrim. Schätze, das hast du schon gewusst.“
Chara lächelte. Sie war froh, die Angelegenheit geklärt zu haben. Gerade wollte sie sich zu einem kleinen Drogenpfeifchen verhelfen, da richtete sich Kerrim unerwartet auf.
„Äh … glaube, ich lasse dich besser allaine jetżt.“
Chara folgte seinem Blick. Verdammt.
Durch die Menge hielt ein dunkelhaariger Mann in grauen weiten Hosen und enger, ärmelloser Tunika auf sie zu. Und noch während sie das bleiche Gesicht unter den ungezähmten Haarsträhnen suchte, legte das sanfte Pochen ihres Herzschlags ein leises Trommelwirbelsolo hin. Ein Lufthauch streifte ihren Arm, als der Mann Kerrims Platz an der Säule einnahm.
„Ich möchte mit dir tanzen“, glitt die Stimme über ihre Wange, die ihr vor Kurzem noch anzügliche Worte zugeflüstert hatte.
„Ich kann nicht tanzen“, warf sie lieblos zurück und suchte in der Menge nach Al’Jebal. Er war verschwunden.
„Da habe ich etwas anderes gehört. Man erzählt sich, du hättest mit deinem Namai getanzt.“ Er stützte sich mit der Hand an der Säule ab, blickte ihren Körper entlang und hob eine Braue. „Allerdings hast du damals ein Kleid getragen.“
„Gerüchte …“, schlug sie einen lockeren Plauderton an und ignorierte die Tatsache, dass sie zwischen dem MacDragul und der Säule in ihrem Rücken festsaß.
Lomonds Blick schnellte zu ihren Augen zurück. „Ach ja?“ Sein Gesicht rückte ein Stück näher. Kein Kuss von seinen Lippen … Es war sein Atem, der sie küsste.
„Deine Rede war … interessant“, wechselte er das Thema. „Ich könnte mir vorstellen, dass die kommende Expedition alles Mögliche für dich bereithält, nur nicht das, was du dir erwartest. Du solltest ein wenig Spaß haben, solange du noch kannst.“
„Tanzen ist für mich kein Genuss“, erklärte sie frostig.
„Du hast noch nie mit mir getanzt.“
Wahr. Und um ehrlich zu sein, war sie drauf und dran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Hier stand Lomond – gestaltgewordene Versuchung. Der Schatten des Todes in seinem Gesicht, das Feuer des Lebens in seinen Augen. Lomond war der lebendigste Tote, der ihr je begegnet war. Und in ihr begehrte alles auf, das leben wollte. Sie wollte ihre eiserne Selbstkontrolle gegen die Wand schmettern und ihr dabei zusehen, wie sie in tausend Splitter zerbarst.
Die schwarze Rose drängte sich vor ihr inneres Auge und schottete das charismatische Gesicht des MacDragul ab. Doch da fasste Lomond sie an der Hand, zog sie auf die Tanzfläche und das Bild der Rose verpuffte.
„Loslassen!“, zischte sie ihn an.
„Das wollte ich dir auch gerade empfehlen.“
Als sie die Tanzfläche erreicht hatten, drehte er sie zu sich herum, packte ihre Hüften und zog sie an sich. Sein Herz klopfte gegen ihres. Langsam schob er seine Hände auf ihre Lendenwirbel und presste ihren Unterleib gegen seine Mitte.
„Spürst du das, Chara?“, flüsterte er. „So fühlt es sich an, wenn ich loslasse. Wenn du loslässt, ist es einfach … köstlich. Weißt du, wie du riechst?“
„Will ich nicht wissen“, presste sie hervor und wich seinem Blick aus.
„Ich sag’s dir trotzdem. Du riechst nach Feuer, nach Geburt und Leben … Du riechst so heiß, dass ich allein bei deinem Geruch in Ekstase gerate. Ich will dich noch immer, Chara. Noch mal. Bevor es für eine sehr lange Zeit zwischen uns vorbei sein wird …“
„Ich kann nicht.“
„Du hast es bereits getan. Tu es noch einmal. Tu es für dich.“
Hätte sie nicht gewusst, dass es keine Selbstgefälligkeit war, die ihn solche Dinge sagen ließ, sie hätte ihm eine übergezogen und wäre abgehauen. Stattdessen ließ sie es zu, dass Lomond ihren Mundwinkel küsste. Seine Hände auf ihrem Rücken glitten nach unten, wanderten über ihren Hintern, bis sie sich fest um ihre Schenkel schlossen. Sie spürte seine Finger zwischen ihren Beinen.
„Lomond …“
„Ich bin hier“, flüsterte er. Ungeniert schob er seine Hände unter ihr langes schwarzes Seidenhemd und strich über ihren Bauch nach oben. Seine Linke schloss sich um ihre Brust. Die andere Hand glitt zurück auf ihren Rücken, presste sie fester an sich … entlockte ihm ein leises Stöhnen.
„Wie kann es sein, dass du etwas fühlst, wenn du doch eigentlich tot bist?“, flüsterte sie an seinen Lippen.
„Ich bin nicht tot, Chara. Ich bin untot.“ Er nahm ihre Hand und schob sie unter sein Hemd bis hinauf zu seinem Herzen. „Spürst du das?“
Na sicher.
„Mein Herz schlägt. Nicht so laut wie deines natürlich.“ Er lächelte. „Aber es schlägt. Meine Haut ist warm, nicht kalt wie gefühlloser Stein. Mein Atem wird schneller … Du weißt, dass er schneller werden kann. Es spielt keine Rolle, wie tot ich bin, wenn es das Leben ist, das über mich bestimmt. Die Frage ist, was muss passieren, dass ich zum Leben erwache?“
Sein Lächeln verschwand, als hätte es ein Windstoß fortgetragen. „Viel“, zischte er. „Es muss verdammt viel passieren, dass mein Herz schlägt wie deines und meine Haut so warm wie deine wird, dass ich atme oder schneller atme als ein Schlafender.“
Seine Finger legten sich um ihren Nacken.
„Verstehst du, was ich dir sage?“
Verstand sie es? Sie war sich nicht sicher. Wie sollte sie sich auch auf seine Worte konzentrieren, wenn er nicht damit aufhörte, ihren Körper in einen brodelnden Vulkan zu verwandeln?
„Ich glaube …“ Sie hatte noch nicht zu Ende geredet, da waren seine Lippen wieder auf ihren, und diesmal war sein Kuss nicht fordernd, sondern wie der erste Atemzug nach einem drohenden Erstickungstot. Als er seine Hand unter ihrem Hosenbund nach vorne schob und kurz davor war, sie in Besitz zu nehmen, sagte sie: „Gehen wir.“
In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf ihr Gesicht und Lomond zog seine Hände zurück. Ein Schritt und er befand sich in einem sittsamen Abstand zu ihr.
„Wollt Ihr mit ihr sprechen?“, fragte er gelassen, noch bevor er die Gestalt sah, die sich ihm von hinten genähert hatte.
Chara sah die beiden silbernen Sterne aufblitzen und biss sich auf die Lippe.
„Nein, mit Euch“, antwortete Al’Jebal. Der Vampir blickte zur Seite und nickte knapp. „Gut. Wir sehen uns, Chara.“ Ein letztes lomondsches Lächeln. Dann verschwand er zusammen mit dem Namai in der Menge.
Die letzten Tage in Tamang
Ob es Tag oder Nacht war, spielte in Tamang keine Rolle. Räume und Gänge waren stets vom diffusen Leuchten des sonderbaren Geflechts an den Decken in ein geisterhaftes Licht getaucht. Hier war es das zusätzliche Flackern der auf den Dochten der Öllampen hüpfenden Flammen, die überdimensionale Schatten an die Wände der Bibliothek warfen.
Regale, die bis knapp unter die hohe Felsendecke reichten, zogen sich in scheinbar endlosen Reihen vom Eingangsbereich bis an die rückwärtige Wand. Es roch nach heißem Wachs, Pergament, Staub und dem Schweiß jener, die in der Bibliothek seit vielen Glas die kommende Reise vorbereiteten.
Dort, wo sich die Regalreihen mit all dem skrupulös geordneten Wissensschatz zur Tür hin öffneten, hing eine schwere Leuchte an vier Eisenketten von der Decke und hüllte die kleine, emsig arbeitende Runde unter sich in einen satten Lichtkegel. Um den Tisch aus schwarzem Ahorn wurde protokolliert, debattiert und organisiert. In wenigen Tagen sollte eine Flotte von tausend Schiffen aus der unterirdischen Hafenanlage Tamangs auslaufen, um mit den etwa vierzigtausend Seelen ihrer Besatzung dem Großen Abgrund entgegen zu segeln. Einhundert Kriegsschiffe und einhundert Allzweckschiffe der Güldenmaid-Bauweise, einhundert Mannschaftstransporter, sechshundertfünfzig Versorgungstransporter und fünfzig vallandische Drachen warteten in den unterirdischen Becken des Hafens darauf, über das Randmeer geschickt zu werden. Einunddreißigtausend Piraten, viertausend Krieger, tausend Zauberkundige, fünfhundert Priester, fünfhundert Heiler und Bader, tausend Handwerker, fünfhundert Gelehrte, eintausend Männer und Frauen, die für die Versorgung der Flotte und ihrer Besatzung zuständig waren, und fünfhundert Assassinen würden unter dem Kommando der neuen Helden der Allianz einer ungewissen Zukunft entgegensegeln – allesamt aus den unterschiedlichsten Völkern und Rassen Amaleas.
Bereits seit fünf Tagen arbeiteten Telos, Siralen, Chara, Lucretia und einige Berater fieberhaft an den letzten Vorbereitungen dieser gigantischen Expedition. Zuerst galt es, die Anzahl der Schiffe und Besatzungen festzulegen, worüber sie nach endlosen hitzigen Debatten noch am ersten Tag Einigkeit erzielten. Aufgrund der nicht abschätzbaren Dauer dieser Irrfahrt, der unbekannten Ziele und der zu erwartenden Kontakte mit gänzlich fremden, möglicherweise feindlich gesinnten Wesen, kam man überein, eine ganze verdammte Armada von Schiffen zu benötigen. Vor allem auch, um eine möglichst große Fläche abzudecken, weil niemand wusste, wo genau sie das erhoffte Land suchen sollten, und weil sie für die Überfahrt der angestrebten Zahl an Verbündeten jede Menge Transporter benötigten – sowohl für die Leute als auch für deren Versorgung. Außerdem mussten etwaige Verluste verschmerz- und verkraftbar bleiben, und kein gesunkenes Schiff durfte die Mission als Ganzes gefährden. Die Mitglieder der Flotte hatten nichts Genaues über diese Mission erfahren. Sie wussten weder, dass sie Amalea verlassen, noch völlig unbekanntes Gebiet erschließen würden. Der Einzige, dem sie die groben Pläne verraten mussten, war der zukünftige Admiral der Flotte.
Überraschenderweise hatte es trotz der Geheimhaltung eine wahre Flut an Freiwilligen gegeben, allen voran Piraten, was noch am ehesten zu erwarten gewesen war. Die Aussicht auf Kampf, Glorie und die eine oder andere Seeschlacht war verlockend für jemanden, der sein Leben dem Raub- und Entdeckungszug gewidmet hatte. Außerdem lag die Vermutung nahe, dass diese Expedition bereits seit Monden, vielleicht seit Jahren geplant und vorbereitet worden war. Was die vielen Freiwilligen anbelangte, die nicht zu den Freibeutern zählten, stellte sich nichts desto trotz die Frage: Wie freiwillig war deren Bereitschaft tatsächlich, auf eine Reise mit unbekanntem Ziel zu gehen?
Niemand wusste genau, wie sich die Allianz organisierte, wann genau Al’Jebal damit begonnen hatte, Tamang und sein geheimes Bündnis aufzubauen. Wer von den Mitgliedern war unterworfen und wer war aus eigenem Willen beigetreten? Gab es ursprünglich Gefangene, deren Nachkommen in die Allianz geboren wurden? Es war naheliegend, dass es Mitglieder gab, die diese unterirdische Stadt nie verlassen hatten. Manche bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die Gänge Tamangs, als wäre dies ihre erste und einzige Heimat.
Chara hatte sich an Formation und Struktur der Flotte versucht, wobei sie schnell zu dem Schluss gekommen war, sie in zehn autarke Einzelflotten zu je hundert Schiffen zu gliedern. Was nichts anderes hieß, als dass man neben einem Admiral auch neun Vizeadmiräle ernennen musste. Bevor sie sich aber dieser Aufgabe widmen konnten, kam ein noch viel diffizilerer Teil der Planung: Die Festlegung der Kommandokette innerhalb der Armada. Rasch war allen klar, dass aufgrund der Vielzahl der sich im Flottenverband befindlichen Rassen, Nationen und Gruppierungen nicht für jede einzelne Abteilung ein Sprecher ins Kommando einziehen konnte. Das würde die Größe desselben schlicht sprengen und die Sache enorm verkomplizieren – je mehr Befehlshaber, desto wahrscheinlicher eine Uneinigkeit zwischen ihnen, was bei einem demokratischen Reglement innerhalb des Stabs zwangsläufig Verzögerungen in den Entscheidungsfindungen nach sich zog. Folglich: Weniger Kommandanten und ein schärferes Diktat in der Befehlsausgabe.
Sie einigten sich darauf, dass die wesentlichen Fraktionen im Kommando vertreten sein mussten: die Landstreitkräfte, die Seefahrer, die Zauberkundigen und die Interne Sicherheit. Letztere fiel unter den Zuständigkeitsbereich der Assassinen. Alle anderen Abteilungen schob man besagten Fraktionen zu oder besser gesagt unter. Die Heiler und Priester kamen zu den Zauberkundigen, die Versorger zu den Landstreitkräften, die Gelehrten … nun ja, da war man sich nicht ganz einig. Also wurde dieses Thema erst mal beiseitegelegt. Der Aufschub rief erneut die Bestimmung des Admirals und der Vizeadmiräle auf den Plan, und man ließ sich von Admiral Herkul Polonius Schroeder eine Liste mit Empfehlungen aushändigen.
Die Lösung des Problems war einfach. Es musste eine Anhörung her. Also setzte man einen Termin fest, an dem die von Schroeder abgesegneten Bewerber der Reihe nach antreten durften.
Es war am Nachmittag des fünften Tages, als Chara, Telos, Lucretia und Siralen die ersten von ihnen zur Anhörung erwarteten.
„Wie viele sind es?“, fragte Chara Siralen. Telos rollte seine Namensliste der obersten Priester zusammen, band sie an seinem Gürtel fest und stand auf.
„Für die Anhörung der Kapitäne wird meine Anwesenheit wohl nicht nötig sein“, bemerkte er und strich sich in aller Ruhe seine Toga glatt. „Ich werde mich jetzt zurückziehen.“
„Wie viele?“, wiederholte Chara ihre Frage, während Lucretia Telos mit einem finsteren Blick strafte. Die Magierin war nicht die Einzige am Tisch, der es nicht gefiel, dass Telos kein Interesse zeigte, sich mit ihnen das Kommando über die Expedition zu teilen.
Siralen legte ihre Feder zur Seite. „Euch ist hoffentlich bewusst, dass Ihr mit der Einschränkung Eurer Befehlsgewalt auf die Priesterschaft auch an Stimmgewalt im Stab einbüßen werdet“, wandte sie sich an Telos, anstatt Charas Frage zu beantworten.
„Ich bin ein Priester Agramons. Mein Platz ist bei den Gläubigen und deren Anführern. Meine Aufgabe innerhalb dieser Mission ist es, die Priesterschaften anzuführen und bei Bedarf im Kommando zu vertreten. Ansonsten werde ich meinen Hammer in Agramons Namen gegen all jene ins Feld führen, die uns in der Fremde zu Feinden werden. Mehr kann ich hier nicht tun.“
Chara malte eine Dornenranke in den Winkel ihres Pergamentbogens. „Man kann dem Mann jedenfalls nicht nachsagen, er wüsste nicht, wo seine Grenzen liegen.“ Sie verpasste ihrer Zeichnung den letzten Schliff und lehnte sich zurück. „Ich habe keine Einwände, auch wenn es mir anders lieber wäre.“
Lucretia stieß ein resigniertes Seufzen aus. „Ich hatte gehofft, du als Kriegspriester würdest das Kommando über die Landstreitkräfte übernehmen“, bemerkte sie und strich sich gedankenverloren über die Narbe, die sich über ihren Mund und ihre Wangen zog.
„Tut mir leid, Lucretia, aber dazu fühle ich mich nicht berufen.“ Telos zog die Kette mit Agramons Hammersymbol vom Tisch und befestigte sie an seinem Gürtel. „Mir ist bewusst, dass die Allianz uns ein hohes Maß an Verantwortung übertragen hat, und ich lasse euch nur ungern mit dem Großteil davon allein. Es ist naheliegend, dass vieles nicht so verlaufen wird, wie wir es uns erwarten. Wir werden Fehler machen … und wir werden daraus lernen. Aber egal, was passiert, ich werde Agramons Ruf folgen und dieser warnt mich davor, über meine Pflichten als Priester hinauszugehen.“
Siralen nickte. „Das müssen wir respektieren.“
„Womit geklärt wäre, dass der Großteil der Arbeit an uns hängenbleibt“, erwiderte Lucretia indigniert. „Wie dem auch sei, ich bin zuversichtlich, dass ich mit der Unterstützung meines persönlichen Beraters Magus Primus Major Ahrsa Kasai meine Aufgaben bewältigen werde.“ Sie geriet ins Schwärmen. „Ahrsa ist eine Ikone auf dem Gebiet der Magie. Selbst Magus Secundus Arik Seiks hätte ihm kaum das Wasser …“
„Du schweifst ab.“
Chara war aufgefallen, dass Lucretia seit der Allianzfeier einen neuen Eifer an den Tag legte und ihre vergangenen Erlebnisse in Isahara offenbar verdaut hatte. Doch die stille Kälte, die während des Kriegszuges zwischen ihnen aufgezogen war, sorgte dafür, dass sich weder sie, noch Lucretia besonders wohl in Gesellschaft der jeweils anderen fühlte.
„Vergebung, Chara. Mit Ahrsa Kasais Unterstützung bin ich auf jeden Fall zuversichtlich. Aber ich bin keinesfalls gewillt, das Kommando über die Landstreitkräfte zu übernehmen.“ Damit verschränkte sie die Arme unter ihrem Busen und warf Chara einen herausfordernden Blick zu. Nach Lucretias jüngsten Erfahrungen mit dem Militär war ihre Entscheidung recht nachvollziehbar.
Telos schenkte Chara ein verhaltenes Lächeln und verabschiedete sich mit einem „Agramon hämmere eure Feinde!“ Die Tür fiel ins Schloss und die Flammen auf dem Tisch züngelten Richtung Decke.
„Es ist augenscheinlich, dass Al’Jebal uns nicht umsonst mit dieser Aufgabe betraut hat“, bemerkte Siralen. „Wir fragen uns, warum er eine Angelegenheit der Seefahrt nicht den Seefahrern überlässt und ihnen das Kommando der Admiralität überträgt. Doch sind es unsere Erfahrungen, die er für diese Mission für geeignet hält, und er möchte, dass jene Erfahrungen es sind, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden.“