Cilli stirbt - Herbert Pelzer - E-Book

Cilli stirbt E-Book

Herbert Pelzer

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Beschreibung

Ein kleines Glück, zerstört von großen Geheimnissen 1975 - Wenige Tage vor seiner Pensionierung hofft Kommissar Emil Glasmacher von der Kripo Düren mit der Aufklärung einer Einbruchserie sorglos aus dem Amt scheiden zu können. Doch ein ruhiger Abgang ist ihm nicht vergönnt, denn ein Mordfall fordert unerwartet noch einmal seinen ganzen Einsatz: Auf der Hollywoodschaukel im Garten des Autoverkäufers Engelmann im Örtchen Nörvenich wird eine Leiche gefunden. Bei der toten jungen Frau handelt es sich um Cilli Hausmann, die im Friseursalon ihrer Mutter arbeitete und mit dem Installateur Wolfgang verheiratet war. Mit beidem war sie unzufrieden, und so hat sie versucht, sich eine Selbstständigkeit als Avon-Beraterin aufzubauen. Auf der Suche nach ihrem Mörder sehen sich Glasmacher und sein Assistent Matzerath mit zahlreichen menschlichen Abgründen konfrontiert. Bei den Ermittlungen in der Voreifel, in Zülpich, Euskirchen und in den verrufenen Ecken Kölns begegnen sie üblen Aufschneidern, ewig Gestrigen und einfältigen Taugenichtsen. Einige verwirklichen ihre Träume mehr oder weniger skrupellos, andere wiederum haben einfach nur kein Glück.

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Seitenzahl: 379

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Herbert Pelzer

Cilli stirbt

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Es wird jemand sterben

Niemand

Rosental

Herbert Pelzer, geb. 1956, lebt und schreibt auf dem platten Land vor den Toren Kölns. Zuletzt hat er bis zum Frühjahr 2020 in der Film- und Fernsehausstattung gearbeitet, daneben widmet er sich seit einigen Jahren dem Schreiben.

Seit 2008 verfasst er Beiträge zur Regionalgeschichte, 2017 erschien mit Durch die Jahre sein Debütroman. 2021 veröffentlichte er bei KBV Es wird jemand sterben, die erste Kriminalerzählung, die – wie viele seiner Texte – in die Nachkriegszeit seiner Heimat führt. 2022 folgte mit Niemand der erste Band seiner Krimi-Trilogie um Kommissar Emil Glasmacher von der Dürener Polizei.

Herbert Pelzer

Cilli stirbt

Kriminalroman

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Foto: Herbert Pelzer

unter Verwendung eines Motivs aus dem LVR-Freilichtmuseum Kommern, Rheinisches Landesmuseum für Volkskunde

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-95441-706-3 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95441-717-9 (E-Book)

Inhalt

Prolog

1. Kapitel SALON HANKE

2. Kapitel VERÄNDERUNGEN

3. Kapitel FRAUEN

4. Kapitel HOLLYWOODSCHAUKEL

5. Kapitel WOLFGANG

6. Kapitel ANUSCHKA

7. Kapitel DRANBLEIBEN

8. Kapitel FALTER

9. Kapitel VORSICHT, KAMERAD

10. Kapitel NEUE HOFFNUNGEN

11. Kapitel STACHELBEER-BAISER-TORTE

12. Kapitel ÜBERALL BLUT

13. Kapitel HAFTBEFEHL

14. Kapitel SEELEN

15. Kapitel DIE KATASTROPHE

16. Kapitel IN DER GARAGE

Epilog

Für Helmut

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Prolog

Cilli Hausmann roch gut. Es schien, als hätte der betörende Duft ihres Lieblingsparfüms allmählich den gesamten Raum ausgefüllt. Hingebungsvoll hatte sie ihr blondes Haar frisiert, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel. Sie trug ein neues kurzärmeliges Trägerkleid aus knallrotem Bouclé-Jersey. Ihre Mutter hatte es sehr vornehm genannt, womit sie zum Ausdruck bringen wollte, dass sie diese Art Garderobe für übertriebenen Luxus hielt. Das Kleid reichte Cilli bis zu den Knien. Schwarze, hohe Lederstiefel und ein schwarzer, langärmeliger Rolli darunter bildeten den perfekten Rahmen. Sie bereiteten dem Rot des Kleides eine perfekte Bühne. Die Farbe ihres Lippenstifts war ein zartes Rosa. Mit den ebenfalls rosa lackierten Fingernägeln, dem schönen, goldenen Armreif an ihrem zierlichen Handgelenk und den aparten Perlenohrsteckern saß sie auf dem Sofa in diesem fremden Haus. Nein, Cilli saß nicht einfach dort, sie thronte vielmehr. Ganz vorne auf der Sitzkante, den Rücken kerzengerade, hatte sie nach dem Essen dort Platz genommen und sich seitdem nicht mehr von der Stelle gerührt. So wie sie jetzt dasaß, so schön und so begehrenswert, so saßen die adeligen Damen auf den mit feinster Seide bezogenen Lehnsesseln in den Sissi-Filmen, die Cilli so sehr liebte. Atemberaubend schöne und von Männern in affigen Fantasieuniformen angeschmachtete Diven.

Doch Cilli war keine Diva, und ein Mann war auch nirgends auszumachen. Sie saß alleine in diesem Wohnzimmer, das nicht ihr Wohnzimmer war. Nur der große Skalar in dem Aquarium neben dem Sofa sah sie an. Als sie den Raum betreten hatten, da hatte er stolz auf den silbrig glänzenden Fisch mit den dunklen Längsstreifen gedeutet und gesagt, dass das arme Tier von einem lästigen Hautpilz befallen sei und wie froh er sei, dass er nun wieder gesund wäre.

»Ist er nicht ein Prachtkerl?«, hatte er gefragt und den Fisch dabei angelächelt.

»Ja«, hatte Cilli geantwortet, »ein ganz wunderbarer Fisch.«

Er hatte nicht gesehen, wie sie dabei das Gesicht verzog. Sie war ein wenig enttäuscht. Was trieb einen erwachsenen Mann bloß dazu, sich ein blödes Aquarium neben das Sofa zu stellen und den Skalaren darin zuzuschauen, wie sie, von winzigen Guppys und bunten Schleierschwänzen begleitet, ihre immer gleichen Runden zogen? Die Namen der anderen Fische hatte er ihr natürlich auch genannt, dort hinter der Pflanze die Guppys, drüben in der Ecke die Schleierschwänze.

»Toll«, hatte Cilli gesagt und war froh gewesen, als er endlich von dem Viehzeugs abließ.

So saß sie da, immer noch kerzengerade und auch jetzt noch voller Anmut. Von Stille umgeben, regungslos, und nur ihr versteinerter Gesichtsausdruck ließ ihre grenzenlose Fassungslosigkeit erahnen. Noch immer hallte der donnernde Knall der zugeworfenen Haustür in ihrem Kopf nach, noch immer dröhnte es so heftig, dass das Blubbern der Filteranlage im Aquarium gleich neben ihr gar nicht in ihr Bewusstsein vorzudringen vermochte. Noch immer hatte sie sein wütendes Gesicht vor Augen, den weit aufgerissenen Mund, der so laut gebrüllt hatte. Sie sah die kleinen Spuckebläschen in seinem Mundwinkel, die geschwollene Halsschlagader. Sah ihn aus dem Zimmer stürmen. Ihr Herz raste. War sie wütend auf ihn? War sie wütend auf sich selbst? Wie blöd war sie gewesen! Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

Sie spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Auge löste und sich ihren Weg durch das Make-up suchte. Sie ließ es geschehen. Warum, verdammt noch mal, brüllten Männer eigentlich immer gleich los?

Ihre Handtasche kam ihr in den Sinn. Wo war die geblieben? Sicher noch auf dem Stuhl am Esstisch, auf dem sie gesessen hatte. Zwei Gläser Wein hatte sie während des Essens getrunken. Von dem schweren Roten, der ihr nicht geschmeckt hatte. Stoffservietten in goldenen Serviettenringen, zwei frische Kerzen in langstieligen Haltern, die ebenfalls golden waren. Weiße Teller mit schmalem, goldenem Rand und Besteck mit kannelierten Griffen. Goldenes Geglitzer und flackernder Kerzenschein, wohin sie auch geschaut hatte. Dazu der schwere rote Wein. Das Essen war wirklich schmackhaft gewesen, er hatte es selbst zubereitet. Er hatte sich Mühe gegeben, um sie zu beeindrucken, und sie hatte sich geschmeichelt gefühlt. In der Herrencreme zum Nachtisch war etwas zu viel Alkohol gewesen, das hatte sie sofort geschmeckt, und als sie sich entschieden hatte, den letzten Rest Creme nicht wie sonst mit dem winzigen Dessertlöffel aus dem Schälchen zu kratzen, weil sie meinte, das gehöre sich nicht zwischen all dem Geglitzer und vornehmen Getue, da hatte sie schon gemerkt, wie ihr der Alkohol allmählich zu Kopf stieg. Das Glas Asti Spumante, das sie zur Begrüßung getrunken hatten, der schwere Wein und der Rum in der Nachspeise, so viel Alkohol in so kurzer Zeit war sie nicht gewöhnt, der dämlich glotzende Skalar drüben im Aquarium hatte schon bald begonnen, seine scharfen Konturen zu verlieren.

Die Handtasche mit dem sauber gebügelten Taschentuch darin lag noch drüben auf dem Stuhl, darum wischte sie sich mit spitzen Fingern die Tränen aus den Augen. Er hatte sie angebrüllt. Er müsse raus, an die Luft. Unglaublich, wie stark seine Halsschlagader angeschwollen war. Er werde jetzt gehen, hatte er geschrien, und wenn er gleich zurückkomme, dann wolle er sie nicht mehr in seinem Haus sehen. Nie wieder wolle er sie sehen, und Cilli hatte versucht, das alles zu begreifen. Die plötzliche Verwandlung, die da vor sich gegangen war. Sein freundliches Gesicht. Die fast feierliche Stimmung im Raum; wie ein zerplatzter Luftballon war von einer auf die andere Sekunde alles weg gewesen. Warum waren Männer so?

Wie lange war er schon fort? Sie musste aufstehen, das Haus verlassen, doch sie saß auf diesem fremden Sofa, schaute vom Esstisch, auf dem sich das flackernde Kerzenlicht in den leeren Weingläsern spiegelte, hinüber zum Aquarium. Sie verspürte den Reiz, den gläsernen Aschenbecher auf dem Couchtisch zu greifen und mit Wucht in das blöde Aquarium zu schleudern. Doch sie blieb regungslos sitzen und merkte, wie ihr aufgewühltes Herz sich partout nicht beruhigen wollte.

Mit dem rechten Handballen rieb sie sich die Wangen trocken, als sie das Geräusch vernahm. Kam er etwa schon zurück? Würde er jetzt handgreiflich werden? Das Geräusch wurde lauter. Cilli hielt den Atem an, sie hatte zu lange gewartet. Doch dann stutze sie, langsam atmete sie aus.

1. Kapitel SALON HANKE

»Auf Wiederseh’n Frau Fuhs.« Alwina Hanke hatte ihr freundlichstes Kundenlächeln aufgesetzt. »Bis zum nächsten Mal. Kommen Sie gut nach Hause.« Sie hielt die Eingangstür weit geöffnet, bis die Alte die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte, dann wandte sie sich ab, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.

Die Fuhs gehörte zu einer Reihe Stammkundinnen, die sich regelmäßig im Salon Hanke frisieren ließen. »Wie immer?«, fragte Alwina jedes Mal, wenn Frau Fuhs auf dem immer gleichen Frisierstuhl Platz genommen hatte. »Wie immer«, antwortete die dann stets, und Alwina begann routiniert mit den Vorbereitungen für die zweite oder dritte und manches Mal sogar die vierte Dauerwelle an diesem Tag.

Der Salon Hanke war so etwas wie eine Institution im Dorf. Freundliche Bedienung, gute Arbeit und moderate Preise, das schätzten die Kundinnen hier. Er lag mitten im Ort, am Marktplatz, um den herum sich vor langer Zeit auch eine Bäckerei, eine Gaststätte und der kleine Laden, in dem es Tabakwaren, Zeitschriften und, sehr beliebt, eine Lottoannahmestelle gab, angesiedelt hatten.

1949 war sie nach Nörvenich gekommen, in schmutzigen Kleidern und mit dem Schreiben eines ihr unbekannten Hauptmannes in der Tasche, in dem er ihr umständlich berichtet hatte, dass ihr Konrad auf der Krim für Führer und Vaterland gefallen sei. Da war Cäcilia, die alle nur Cilli nannten, schon acht Jahre alt gewesen, ihren Vater hatte das Kind bis dahin kaum gesehen. 1955 hatte Alwina Lothar geheiratet, der ihr eine materielle Sicherheit gab, aber zeugungsunfähig war. Gottlob, hatte Alwina gedacht, das erste Kind hatte ihr schon kein Glück gebracht.

Fünf Jahre später war auch Lothar verstorben, ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung. Ein Aneurysma der Bauchschlagader hatte der Arzt post mortem festgestellt, jede Hilfe wäre zu spät gewesen. Alwina hatte einen Weizenkorn getrunken und eine Peer Export geraucht. Auf Lunge, was sie sehr selten tat. Die Heimat verloren, viel zu früh auch ihre Eltern, dann zwei Männer – Alwina war der Meinung, dass sie in ihrem Leben nun genug verloren hatte. Nun wollte sie endlich etwas haben. Etwas Bleibendes, nur für sich. Darum hatte sie ihrer Chefin in dem Salon am Kaiserplatz in Düren die Kündigung auf den Tresen geknallt und mit dem Geld, das Lothar ihr vermacht hatte, ihren eigenen Salon in Nörvenich eröffnet. Das Geschäft stand gerade zur Vermietung an, und Alwina hatte nur sehr kurz gezögert. Das war im August 1960 gewesen, in diesem Jahr würde sie das fünfzehnjährige Betriebsjubiläum feiern.

Der Anfang war nicht leicht gewesen. Mit einem gebraucht gekauften Frisierstuhl, einem viel zu kleinen Waschbecken an der Wand und drei simplen Stühlen in der Ecke für die wartenden Kundinnen hatte sie begonnen. Doch die Frauen des Dorfes waren gekommen. Zuerst aus Neugierde, dann aus Überzeugung. »Haare machen ist Vertrauenssache«, war schon früh Alwinas Leitspruch gewesen, und die Kundinnen vertrauten ihr. Jetzt, im Februar 1975, hatte sich der Salon Hanke zu einem modernen, lichtdurchfluteten Tempel der Schönheit entwickelt. Drei Frisierplätze standen hinter den großen Schaufenstern bereit, vor jedem war ein ausladender Konsoltisch mit eingelassenem Waschbecken und mehreren Schubladen platziert. Über den großen Spiegeln war je eine Trockenhaube an der Wand montiert, die sich dank eines stabilen Gelenkarms bequem in jeder gewünschten Position über die Köpfe der Kundschaft herabsenken ließen. Die Frisierstühle waren höhenverstellbar, zwei, drei Tritte auf das Pedal, und die Hydraulik hob Frau Fuhs, die in ihrem langen Leben nicht nur eisgrau, sondern auch um etliche Zentimeter kleiner geworden war, hinauf auf eine für Alwina sehr rückenschonende Höhe. In dem Regal hinter der Theke, hinter die Alwina jedes Mal huschte, um die Kundinnen abzukassieren, standen Produkte von Wella und Brisk, Haarspray neben Modelliercreme und ein Werbeaufsteller für Schauma Shampoo von Schwarzkopf.

»Schampong«, verlangte Frau Fuhs, »das grüne, mit den Apfelblüten.«

An der Wand mit der rosa und weiß gestreiften Tapete hingen Werbefotografien mit sehr schönen Frauengesichtern, die aufwendige Frisuren trugen. Daneben lächelten Männer mit blütenweißen Zähnen und stramm gescheitelten Kurzhaarfrisuren die Kundschaft an. Dabei kamen jetzt sogar Männer in den Salon Hanke, die eine Dauerwelle verlangten. Minipli nannte man das, und Alwina erfüllte auch diese Wünsche zur Zufriedenheit. Umgeben von einer sich nie verflüchtigenden Duftwolke aus pinkfarbenen Haarspraydosen, Sprühgold von Goldwell für jede Kundin, routiniert hantierend mit Effilierschere, Onduliereisen und Modelliercreme für die Herren, führte Alwina hier das Regiment, wie sie sich ausdrückte. Sie war die Herrin über all das Waschen, Schneiden, Bürsten, Kämmen, Ondulieren, Toupieren, Sprühen und Nackenauspinseln im Salon Hanke am Marktplatz im Dorf Nörvenich. Immer freundlich, immer emphatisch und niemals zu aufdringlich.

»Bitte gerne, selbstverständlich, das steht Ihnen aber ganz ausgezeichnet!«

Immer trug sie dieses Lächeln im Gesicht. Von morgens bis abends lächelte sie, auch wenn ihr die Beine schmerzten oder das nervige Geschnatter von so mancher Kundin fast den gesamten Salon ausfüllte. Zwischendurch scherzte sie, stimmte zu, war bass erstaunt oder tief betroffen. Sie selbst beklagte sich nie vor der Kundschaft. Schimpfte nicht auf die Politiker, die doch tatsächlich gerade in diesen Tagen die Volljährigkeit in Deutschland auf achtzehn Jahre abgesenkt hatten. »Du meine Güte, das sind doch noch Kinder, und die sollen jetzt für sich selbst entscheiden können?«, ereiferte sich die Kundin unter der Progress-Trockenhaube, blätterte in der Illustrierten, und Alwina lächelte ihr zu.

Nie klagte Alwina über Kanzler Schmidt, über Bundestrainer Schön oder die horrenden Spritpreise. Sie blieb freundlich und zurückhaltend. »Der Kunde ist König«, hatte sie Cilli eingeschärft, und daran hatte sich gefälligst jeder zu halten im Salon Hanke.

Draußen hatte es zu schneien begonnen, schwere, nasse Flocken schmolzen, sobald sie zu Boden gesunken waren. Obwohl es erst zwanzig vor vier am Nachmittag war, hatte der Wagen, der gerade über den Marktplatz fuhr, bereits das Fahrlicht eingeschaltet. Alwina ließ die Ladentür hinter Frau Fuhs zufallen und wendete sich der nächsten Kundin zu. »Nur Waschen und Spitzen schneiden«, wünschte diese und beugte sich vor, über das Waschbecken, nachdem Alwina ihr den hellblauen Umhang umgebunden hatte. Während sie mit ihrem Handrücken die Temperatur des Wassers aus der kleinen Handbrause kontrollierte – »wir wollen hier ja niemanden verbrennen« –, erschien Cilli mit dem Besen in der Hand und fegte am Nachbarstuhl Frau Fuhs’ eisgraue Haare zusammen. Dann wischte sie das Sitzkissen ab, wendete es und brachte den Frisierstuhl in Position. Da keine weitere Kundin auf den Wartestühlen saß, rückte sie auch diese gerade, legte die Illustrierten zu einem sauberen Stapel zusammen und schaute dann einen Moment lang hinaus auf den Platz, wo die Autos auf der Straße schon tiefe Rillen in den Schneematsch gezogen hatten.

Nachdem sie die Schule beendet hatte, war Cilli in die Fabrik gegangen. Bei Peill in Düren hatte sie in der Veredelung an der Schleifmaschine gearbeitet und filigrane Muster in schwere Bleikristallgläser geschliffen. Damit hatte sie gutes Geld verdient, doch eines Tages hatte ihre Mutter ihr beim Abendbrot völlig unvermittelt die Frage gestellt, vor der Cilli sich stets gefürchtet hatte. »Denkst du nicht auch, dass es allmählich mal an der Zeit wäre, zu mir in den Salon zu kommen?«

Cilli konnte sich eine Arbeit als Friseuse durchaus vorstellen. Das lange Stehen, die vielen Chemikalien, mit denen sie hantieren musste, das alles störte sie nicht. Das Problem war Alwina. Die Zeit, die Mutter und Tochter in einer gemeinsamen Wohnung gelebt hatten, war keine gute gewesen. Ein bisschen wie Hund und Katze hatten sie sich verhalten, immer lag Spannung in der Luft, jederzeit stand eine von ihnen kurz vor der Eruption. Vor sechs Jahren hatte Alwina die Frage gestellt, und eigentlich war es gar keine Frage gewesen, sondern die deutliche Aufforderung Alwinas, die Arbeit in der Fabrik zu kündigen und bei ihr in die Lehre zu gehen.

Jetzt war Cilli 34, verheiratet und ausgebildete Friseuse. Glücklich war sie mit beidem nicht geworden. Weder als Ehefrau von Wolfgang Hausmann noch als angestellte Friseuse im Salon Hanke.

Wolfgang und sie hatten vor vier Jahren geheiratet. »Eine Frau, die mit dreißig noch nicht unter der Haube ist, läuft Gefahr, entweder als hässlich oder als Flittchen angesehen zu werden«, hatte Alwina gemeint. Und hässlich war Cilli nun wahrhaftig nicht. Ganz im Gegenteil, Cilli konnte getrost als Schönheit bezeichnet werden. Volles, blondes Haar, harmonische Gesichtszüge, ein klarer Blick aus blauen Augen, und wenn sie sprach, dann blitzten ihre strahlend weißen Zähne auf.

»Wie eine Filmschauspielerin«, hatte Lothar gemeint, und Alwina hatte ganz genau beobachtet, wohin dabei seine Blicke gewandert waren. Nein, von hässlich konnte hier keine Rede sein, und dass ihre Tochter als Flittchen angesehen würde, dieser Gedanke wäre für Alwina unerträglich gewesen. Zum Glück hatte Cilli dem Drängen der Mutter schon bald nachgegeben, und kurze Zeit später hatte Wolfgang begonnen, um sie zu werben.

»Ein gut aussehender Mann ist das, schau ihn dir doch mal an, ihr passt so wunderbar zusammen«, hatte Alwina geschwärmt.

Wolfgang war fünf Jahre älter, er hatte sie beim Schützenfest zum Tanz aufgefordert, und Cilli war überrascht gewesen, wie gut er sie zur Musik der Kirmeskapelle über den Tanzboden geführt hatte.

»Gas, Wasser, Scheiße«, hatte er geantwortet, als Cilli ihn nach seiner Arbeit gefragt hatte, und für sie hatte das damals eklig geklungen. Aber er war tatsächlich ein gut aussehender Mann, hochgewachsen und nie um eine Antwort verlegen. Dazu fuhr er ein bombastisches Auto, einen gelben Ford Capri RS, fast neu und unglaublich schnell. Als er mit ihr in einem Höllentempo durch die Eifel gedonnert war, als Bäume, Kühe und erschrocken aufblickende Männer in kleinen Dörfern nur so an ihr vorbeigeflogen waren, da hatte sie sich am Türgriff festgehalten und war in den Beifahrersitz gepresst worden. Er hatte zu ihr rübergeschaut und sie angelächelt, und sie hatte sich frei gefühlt. Am Abend dann, als er ihr, nachdem sie sich auf dem engen Rücksitz seines Capris geliebt hatten, einen Heiratsantrag gemacht hatte, da war sie glücklich gewesen und hatte gleich Ja gesagt. Sie bezogen eine Wohnung im Buchenweg in Zülpich und sahen sich die meiste Zeit nicht. Er arbeitete in Euskirchen als Installateur, machte abends Überstunden und am Wochenende ein paar Lappöhrchen, wie er die Schwarzarbeit nannte, und sie war sechs Tage in der Woche im Salon ihrer Mutter in Nörvenich beschäftigt.

»Wie schön für Sie, Frau Hanke«, freuten sich die Kundinnen, »dass die nächste Generation auch schon Gewehr bei Fuß steht.«

Alwina zog dann immer die Mundwinkel runter, wiegte den Kopf leicht hin und her, so als ob sie zweifelte, und stieß ein spitzes »Na! Das warten wir mal ab« aus.

Nie war sie mit Cillis Arbeit zufrieden, obwohl diese sich sehr bemühte. Fast an jedem Tag, wenn am Abend die letzte Kundin den Salon verlassen hatte, stand Alwina mit gar nicht mehr so freundlichem Gesicht hinter der Theke, zählte die Tageseinnahmen und hielt ihrer Tochter vor, bei welcher Kundin sie welche Arbeit nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt hatte. »Du musst dich anstrengen, Cilli.« Das Geld steckte sie in eine flache Tasche aus grünem Kunstleder von der Raiffeisenkasse, das Kundenlächeln war aus Alwinas Gesicht verschwunden.

»Wir haben einen Ruf zu verlieren, denk auch mal da dran bitte.« Als ob Cilli das nicht schon Dutzende Male gehört hätte. Als ob sie sich nicht wirklich anstrengen würde. Sie selber war eigentlich mit den Dauerwellen und Kurzhaarschnittfrisuren, die sie den Frauen auf den Kopf zauberte, zufrieden, doch sie hatte längst gemerkt, dass sie unter den Augen ihrer Übermutter niemals an der Haarfront bestehen konnte. Alle Stammkundinnen, alle Frauen der Nörvenicher Geschäftsleute, alle Frauen, die »was Besseres« waren, wie Alwina das nannte, wurden von der Chefin bedient. Ausnahmslos. »Bitte sehr, wie Sie wünschen.«

Cilli stand dann daneben und wünschte sich wieder in die Glasfabrik zurück. Dort hatte sie Anerkennung erfahren, ihre Arbeit war geschätzt worden, und das hatte sich sehr gut angefühlt. Ihre schlechte Stimmung wurde sehr bald schon verstärkt durch die zunehmenden Spannungen in ihrer überhastet eingegangenen Ehe mit Wolfgang. Viel zu oft saß sie am Abend alleine in ihrer Wohnung und schaute auf das Fernsehbild, ohne etwas zu sehen. Weil er noch mal weggegangen war. Seine Freunde zu treffen, mit denen er an ihren Autos herumschraubte, in der Kneipe hockte oder das Geld in den Flipperautomaten steckte. Freispiel statt Vorspiel. Und niemals fragte er sie, ob sie mitkommen wollte. Wenn er spät nach Hause kam, stank er nach Motoröl und Bier und schlief ein, sobald er sich furzend in ihr Ehebett fallen gelassen hatte. Dann lag sie von ihm abgewandt da, hellwach, während er schon laut schnarchte, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und sah dabei zu, wie die Minuten auf der beleuchteten Anzeige ihres Radioweckers verstrichen.

»Na, das warten wir mal ab«, hatte ihre Mutter gesagt, und plötzlich, mitten in einer dieser trostlosen Nächte neben diesem besoffenen Kerl in ihrem schönen, neuen Ehebett, hatte Cilli einen Entschluss gefasst. Dann warte halt ab, du aufgedonnerte, alte Krähe, hatte sie gedacht, und der Gedanke hatte ihr tatsächlich ein Lächeln geschenkt. Warte, bis es zu spät ist und du in deinem Scheiß Salon hinter der alten Fuhs und all den anderen Schrapnellen verrottet bist!

Im Salon Hanke tat Cilli jetzt einen leisen Seufzer, löste sich von ihren düsteren Gedanken, wandte sich ab von der grauen Januartristesse draußen auf dem Marktplatz und ging hinüber zu der Kundin, die ihre Mutter mit einer Wolke Sprühgold eingenebelt hatte. Mit geübten Handgriffen öffnete sie den Verschluss des hellblauen Umhangs und half der Frau aus dem Frisierstuhl. »Danke, Cilli, das ist nett von dir«, sagte diese, und Cilli lächelte sie an, »das ist doch selbstverständlich, die neue Dauerwelle steht Ihnen wieder ganz ausgezeichnet!«

Wie gut, dass das alles hier bald ein Ende haben sollte, Cilli nahm den Besen, fegte den Boden und beobachtete ihre Mutter, die freundlich lächelnd der Kundin die verglaste Eingangstür aufhielt.

2. Kapitel VERÄNDERUNGEN

Von der Bushaltestelle in der Römerallee war sie in den Hertenicher Weg eingebogen, ihr war kalt, im Schneeregen hatte sie den Tannenweg passiert und war dann endlich bei ihrem Mietshaus im Buchenweg angekommen. Ihr Mantel war klatschnass geworden, sie war müde, und ihre Füße schmerzten vom langen Stehen im Salon. Als Cilli an diesem Abend ihre Wohnung betrat, erkannte sie an der Jacke, die an der Garderobe hing, dass Wolfgang zu Hause war. Das war beileibe keine Selbstverständlichkeit, oft fuhr er nach der Arbeit direkt zu seinen Freunden oder zu seinen Privatkunden. Geld könne man nie genug haben, sagte er, und damit hatte er ohne Zweifel recht, so wie er es für seinen persönlichen Fez mit vollen Händen ausgab. Doch an diesem Abend saß er bereits auf der Couch im Wohnzimmer. In seiner schmutzigen Arbeitshose, ungewaschen. Cilli meinte den Geruch eines schmierigen Abflussrohrs, den er oft an sich hatte, bis hinaus in den Flur zu riechen.

»Bist du schon da?«, rief sie ins Wohnzimmer.

»Die blöde Kuh hat mich weggeschickt«, kam es zurück, fast vom Lärm aus dem Fernseher verschluckt. »Heute passte es ihr nicht, ich soll das Scheißwaschbecken nächste Woche montieren.«

Cilli ging zu ihm, warf einen tadelnden Blick auf seine Arbeitshose und küsste ihn zur Begrüßung auf den Mund. Er schmeckte nach Tabak und Alkohol. Zum Abendessen gab es Kartoffelpüree aus der Packung, Erbsen und Möhrengemüse aus der Dose und Spiegelei. Schnelle Küche, schweigend verzehrt auf zwölf Quadratmetern zwischen Besenschrank und bunt bemaltem Zwiebelkasten an der Wand über dem Spülbecken aus robustem Edelstahl. Drüben lief immer noch der Fernseher, Fetzen der Werbespots, die das Vorabendprogramm unterbrachen, drangen zu ihnen in die Küche. Wolfgang legte noch einmal nach, nie mäkelte er am Essen herum, und nie äußerte er einen Wunsch. Er aß, was Cilli auftischte. Und er aß schnell, legte dann sein Besteck auf den leeren Teller, stand auf, nahm seine Bierflasche an sich und sagte: »Ich geh schon mal rüber.«

So geschah es auch an diesem Tag. Während Cilli die Spuren des Abendessens beseitigte, hörte sie ihn im Badezimmer hantieren. Waschen, Arbeitsklamotten an den Haken hinter der Tür, Trainingsanzug anziehen und dann mit Bier und Zigaretten in der Couch vorm Fernseher versinken. Sie wusste, ohne dass sie es beobachtet hätte, was gerade in ihrer Wohnung vor sich ging.

Gerade hatte Wolfgang die Zigarette nach dem Essen im Aschenbecher ausgedrückt, als Cilli, jetzt in ihren himbeerfarbenen Freizeitanzug aus weichem Frottee gekleidet, in der Wohnzimmertür erschien, um ihm zu sagen, dass sie noch ein bisschen arbeiten wolle.

»Okay, ist gut, Schatz«, sagte er und sah ihr nach, wie sie die Tür hinter sich zuzog. Sie war wirklich gut gebaut, seine Cilli, dachte er, aber die Neue in der Firma war auch nicht schlecht. Seit zwei Wochen arbeitete sie dort im Büro. Ein steiler Zahn sei sie, hatten die Kollegen gemeint, und Wolfgang war unter einem Vorwand hinübergegangen und hatte sie sich angesehen. Mittlerweile wussten jedoch alle im Betrieb, dass Tino, der eigentlich Quentino hieß und aus der italienischen Region Basilikata stammte, schon schwer damit beschäftigt war, sie aufzureißen. Wolfgang nahm einen Schluck aus der Flasche, während im Fernsehen Tante Tilly die Hand einer Kundin in eine Schüssel voll Geschirrspülmittel drückte.

Dieser Abend gehörte für Wolfgang zu der Sorte, die er am wenigsten mochte. Em Höttche, in seiner Stammkneipe, war Ruhetag, und keiner seiner Freunde hatte Zeit gehabt, sich mit ihm zu treffen. Statt an ihren Autos zu schrauben oder am Flipperautomaten zu beeindrucken, gab es ein langweiliges Fernsehprogramm und Cilli im Frotteeanzug.

Sein Blick ging vom Fernseher hinüber zur Schrankwand, dann weiter zur Stereoanlage, unter der seine Schallplatten aufgereiht dastanden und langsam verstaubten. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal seine Lieblings-LP gehört? Könnte er ja jetzt machen, dachte er, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen. Vier Jahre wohnte er nun schon mit Cilli in dieser Wohnung, sie hatte alles dafür ausgesucht: die Möbel, die Tapeten, den Teppichboden. Die Vorhänge sollten nach ihrer Meinung unbedingt bis zum Boden hinabreichen. Er hatte allem zugestimmt, es hat ihm gefallen, wie sie ihr gemeinsames Nest, wie sie es nannte, eingerichtet hatte. »Sehr gefällig«, hatte seine Mutter geurteilt, als seine Eltern zum ersten Mal zum Essen zu ihnen gekommen waren, und er war stolz gewesen.

Mittlerweile nahm er das Gefällige in ihrer Wohnung gar nicht mehr wahr. »Schatz, ich habe die Gardinen gewaschen, riech doch mal, wie gut die jetzt wieder duften«, hatte Cilli gesagt, und er hatte mit seinen schmutzigen Gas-Wasser-Scheiße-Fingern danach gegriffen, worauf sie fast einen Schreikrampf bekommen hatte. Er war eben nicht der Typ Mann, dem auffiel, dass die Gardinen gewaschen worden waren. Feingeister nannte man diese Männer wohl, aber so einer war er eben nicht. Er gehörte eher zu der Kategorie, die sofort heraushörte, wenn ein Ventil im Motor seines Capris klapperte. Tagsüber Syphons und Toilettenspülkästen montieren und abends Bremsbeläge und Nockenwellen kontrollieren.

Wolfgang öffnete die zweite Flasche Bier an diesem Abend, trank und fragte sich, was zum Teufel in diesem Wohnzimmer eigentlich gefällig sein sollte. Es war ihm egal, ob die Gardinen dufteten oder nach Nikotin rochen. Er erhob sich von der Couch, ging zum Fernseher, schaltete zu einem anderen Programm und sah, wie sich zwei Kandidaten in Dalli Dalli in einem albernen Wortspiel verhaspelten. Er dachte an die Neue in der Firma und an seinen Capri. Drüben in der Küche blieb es still, Cilli brütete wieder über ihrer neuen Leidenschaft. Parfüms und Seifenkram fremden Frauen an der Haustüre andrehen. Damit alle und alles gut aussahen und dufteten. Er war sofort einverstanden gewesen, als sie damit ankam, Geld konnte man nie genug haben. Und die Sache schien ja nicht schlecht zu laufen, erst gestern hatte die Nachbarin ihn wieder abgepasst, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war. »Es ist wieder ein Paket für Ihre Frau angekommen, Herr Hausmann. So kann das aber jetzt nicht weitergehen, ich kann ja schließlich nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben wegen Ihnen.« Cilli war später hinuntergegangen und hatte ihr einen kleinen Parfüm-Rollstift geschenkt. »Moonwind«, hatte sie geschwärmt, »der Dufterfolg der Saison, den benutze ich selber täglich!«

Liebte er Cilli eigentlich noch? Konnte die Liebe tatsächlich schon nach vier Jahren versiegt sein? Durch den Spalt in der Wohnzimmertür sah er, wie Cilli hinter der verglasten Küchentür zum Kühlschrank ging. Vielleicht hätte er einfach alleine bleiben sollen, hatte ja fünfunddreißig Jahre lang gut funktioniert. Nächstes Jahr würde er vierzig werden, davor fürchtete er sich ein wenig, denn mit vierzig, so prophezeiten es ihm seine Freunde, hätten Männer den Zenit erreicht. Ab dann geht es nur noch bergab. Mit allem.

Bei Dalli Dalli zählte Mady Riehl die Punkte zusammen, und Wolfgang stellte sich vor, wie Cilli später den Frotteeanzug ausziehen würde.

Im Raum gegenüber, hinter der verglasten Tür, saß Cilli derweil an ihrem Küchentisch in den Wegweiser zum Erfolg Nr. 6 vertieft. Gerade war sie erst auf der vierten Seite angekommen. Sich auf den Text zu konzentrieren, fiel ihr schwer. Sie war müde, aber sie machte weiter. Sie musste weitermachen, irgendwie würde sie es schon schaffen. Danach wollte sie noch rasch einen Blick in die Broschüre zur aktuellen Winterkampagne werfen, dann konnte sie endlich Schluss machen und zu Bett gehen.

Doch sie schweifte ab, immer wieder ging sie in Gedanken zurück zu dem Moment, in dem ihr, ohne dass es einen besonderen Anlass gegeben hätte, schmerzlich bewusst geworden war, dass ihr Leben nicht das schöne Leben war, das sie gerne gehabt hätte. »Schließlich sollte sich jeder hin und wieder auch mal selbst hinterfragen«, hatte Frau Sprengel gesagt, während Cilli ihr Haar aufgewickelt hatte. Frau Sprengel unterrichtete an der Schule in Nörvenich, Deutsch und Hauswirtschaft, und Cilli hatte aufmerksam verfolgt, was die Sprengel über die Gründe für die tiefe Unzufriedenheit, die sie gerade bei vielen Leuten um sich herum bemerke, zu sagen hatte. Bis zu diesem Tag hatte Cilli gar nicht gewusst, dass so was für jeden Menschen wichtig sein konnte. Sich selbst zu hinterfragen. Doch an diesem Tag hatte sie es getan, nachdem die Sprengel gegangen war und sie ihre Haare auf dem Boden zusammenfegte. Und nun saß sie an ihrem Küchentisch, müde und immer noch erschrocken über das, was ihr damals klar geworden war. Erschrocken über ihren faden Alltag in der Ehe mit Wolfgang. Erschrocken über die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter. Ausgerechnet die beiden Menschen, mit denen sie ihr Leben teilte, waren ihr am wenigsten nahe. Nie zuvor hatte sie sich alles das selbst eingestanden. Sie war verunsichert, enttäuscht, es hatte sich angefühlt wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Und dann hatte sie gewusst: So wollte sie nicht weitermachen, so konnte sie nicht weitermachen. Das Leben war ihr noch etwas schuldig. Glück, Zufriedenheit, Seelenfrieden, echte, tiefe Liebe. Ganz egal, was es war, am liebsten alles auf einmal, und wenn der liebe Gott oder wer auch immer dafür zuständig war, meinte, es solle nur das eine oder nur das andere davon für sie geben, dann war es ihr auch recht. Wenn sich ihr Leben nur endlich hin zum Besseren, Schöneren wenden würde. »Jeder kann etwas tun«, hatte Frau Sprengel gesagt, »für sich und auch für das Gemeinwohl.« Die Worte waren ihr nicht mehr aus dem Sinn gegangen an diesem Tag.

Später dann, auf der Fahrt mit dem Bus nach Hause, da war sie plötzlich fest entschlossen gewesen, ihr Leben zu verändern. Ihr Blick war nach draußen gerichtet gewesen, hatte sich verloren in der totalen Finsternis, die über den Feldern entlang der Bundesstraße gelegen hatte. »Jeder kann etwas tun.« Mit ihrem Handrücken hatte sie über die beschlagene Fensterscheibe gewischt, hatte das kühle Glas gespürt und gewusst, dass sie sich nicht auf den lieben Gott verlassen wollte. Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen, und in dieser Sekunde war sie bereit dazu. Wie gut hatte es da gepasst, dass Frau Engelmann, die schöne Ehefrau vom schönen Ingo aus der Pfarrer-Völl-Straße, kurz darauf bei einem ihrer regelmäßigen Besuche im Salon Hanke von den ganz wundervollen Produkten geschwärmt hatte, die ihre persönliche Avon-Beraterin ihr regelmäßig zu Hause vorstellte und dann prompt und zuverlässig bis an die Haustür lieferte. Die neue, bequeme Art für die moderne Frau, sich mit allem, was zur Schönheitspflege gehörte, zu versorgen. »Das wäre bestimmt auch etwas für Sie, Cilli, was meinen Sie?«

Zuerst war Cilli erschrocken von der Vorstellung, zu fremden Leuten ins Haus zu gehen und ihnen dort etwas verkaufen zu wollen. Dann, während die Engelmann weiter schwärmte, war sie angetan und schließlich regelrecht begeistert gewesen von dem Gedanken, dass ihr eine solche Arbeit vielleicht sogar dabei helfen konnte, zu der glücklichen Frau zu werden, die sie sein wollte.

Von der Engelmann bekam sie eine Telefonnummer. Ihr Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen, als sie in der Telefonzelle gestanden und ihren Finger in die Wählscheibe gesteckt hatte. Und es hatte noch schneller geschlagen, als ihr eine klare, warme Stimme am anderen Ende der Leitung in freundlichem Ton eröffnet hatte, dass neue Kolleginnen jederzeit willkommen seien im Team. Von wirtschaftlicher Unabhängigkeit und der dringend notwendigen Emanzipation der Frau von heute hatte die warme Stimme geschwärmt. Cilli war begeistert gewesen, genau das alles wollte sie! Eigenständig werden. Persönlichen Erfolg haben. Sich emanzipieren von Wolfgang. Von Alwina, und wenn sie genug eigenes Geld verdiente, dann könnte sie vielleicht sogar ihre Arbeit im Salon Hanke kündigen. Ein wohliger Schauer war ihr damals über den Rücken gelaufen. Was würde ihre Mutter staunen! Was würde Wolfgang sich wundern, wenn sie nicht mehr um Geld für den wöchentlichen Einkauf bitten musste.

An einem Samstagnachmittag hatte Frau Rombach mit ihrer warmen Stimme bei ihr in der Wohnung gesessen. Wolfgang war bis zum Abend hin mit seinen Lappöhrchen in irgendeinem Neubau beschäftigt gewesen, und sie waren sich bei Tee und dem Duft von Räucherstäbchen rasch einig geworden. Cilli konnte sogar das Gebiet zwischen Nörvenich und Zülpich übernehmen, die Kollegin, die es bisher betreute, würde froh sein, näher an ihrem Wohnort arbeiten zu können. Cillis erste Kundin war, natürlich, Frau Engelmann gewesen. Wolfgang hatte unbedingt die Ventile am Capri einstellen müssen, darum war sie schon drei Wochen später, wieder an einem Samstagnachmittag, mit dem Bus nach Nörvenich gefahren. In dem schicken Kostüm unter ihrem Wintermantel, das sie als Avon-Beraterin nun tragen durfte, und der Verkaufstasche in der Hand war sie dort in die Pfarrer-Völl-Straße gegangen und hatte sich sehr gut dabei gefühlt.

Immer noch Seite vier im Wegweiser zum Erfolg Nr. 6 vor sich, kehrte Cilli aus ihren Gedanken zurück in die Küche. Mit leerem Blick sah sie auf die ausgebreitete Broschüre hinab – und klappte sie zusammen. Drüben im Wohnzimmer herrschte Stille, Wolfgang war bereits zu Bett gegangen. Sorgfältig legte sie ihre Unterlagen zusammen, schob sie in ihre Aktentasche und ging hinüber ins Bad. Seife, Gesichtscreme, alles aus der Serie Moonwind. Das Lächeln des Mondes sehen, versprach die Werbebroschüre. Cilli liebte diesen Duft, und auch die zärtliche Sprache in der Werbung gefiel ihr sehr. Mit einem Lächeln im Gesicht betrachtete sie sich im Spiegel, dann ging sie hinüber ins Schlafzimmer. Den himbeerfarbenen Frotteeanzug legte sie sorgfältig gefaltet über den Stuhl vor ihrem Bett, während Wolfgang leise schnarchend unter seinem Plumeau vergraben lag.

* * *

Den Abend hatte Emil Glasmacher zusammen mit Rita im Dalmatiner am Wirteltorplatz verbracht. Er hatte wie immer den Grillteller gewählt, ihr war nach etwas Leichtem gewesen, der Salatteller mit Meeresfrüchten hatte ausgezeichnet geschmeckt. Er trank Bier, sie Weißwein, halbtrocken. Weil sie ablehnte, verzichtete auch er auf ein Dessert, obwohl er, wenn er alleine hier aß, fast immer den Becher Vanilleeis mit heißen Kirschen und Sahne bestellte.

Wann waren sie zum letzten Mal zusammen hier gewesen? Als er vorhin an der Eingangstür gestanden und auf sie gewartet hatte, da hatte er darüber nachgedacht. Drei Jahre, hatte er sich erinnert, mehr als drei Jahre war das nun schon her. Nervös hatte er zur Normaluhr drüben beim Fußgängerüberweg geschaut, schon kurz nach acht, aber pünktlich war sie ja noch nie gewesen. Im August 1971 waren sie hier gewesen, ein paar Tage, bevor sie in den Urlaub geflogen waren. An die Costa Brava, wo er jede Möglichkeit, im Schatten zu sein, genutzt und sie mit gespreizten Fingern in der prallen Sonne gelegen hatte. Kurz nachdem sie wieder zurück in Düren waren, hatte sie ihn verlassen. Ohne dass er in den Tagen zuvor auch nur die geringste Veränderung an ihr bemerkt hätte. Die Zeiger der Normaluhr standen schon auf zehn nach acht, unruhig hatte er zur Wirtelstraße hinübergeschaut, denn von dort musste sie kommen. In der ersten Zeit hatte er noch nicht einmal gewusst, wo sie sich damals aufhielt. Später hatte sie angerufen und ihm ihre neue Telefonnummer gegeben. »Falls mal was ist«, hatte sie gesagt, »aber bitte nur dann!« Wie die Frau von der Zeitansage hatte sie dabei geklungen, kalt und völlig emotionslos.

Im vergangenen August hatten sie sich dann plötzlich gegenübergestanden. Er war auf dem Weg hinüber zum Discounter gewesen, rasch noch ein paar Einkäufe erledigen. Sie war auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit. Fast hätte er sie angerempelt, und beide waren sie stehen geblieben und hatten sich entschuldigt. Das war ziemlich genau in der Jahreszeit, in der sie ihn vor drei Jahren verlassen hatte, und er hatte das als ein gutes Omen begriffen und sie angesprochen.

»Huch, ’tschuldigung«, hatte er gestammelt, was nicht sehr vornehm geklungen haben dürfte.

»Ist ja nix passiert«, war ihre Antwort, und sie hatte gelächelt dabei.

So lange waren sie nun schon voneinander getrennt, lebten immer noch in der gleichen Stadt, und jetzt standen sie sich plötzlich so nahe gegenüber. Das konnte doch kein Zufall sein! Sie hatten ein paar Floskeln ausgetauscht, das Wetter, die Arbeit, und gerade als sie von der Annakirmes sprach, die in diesem Jahr wieder von Menschenmassen von überallher geflutet worden sei, da hatte er sie spontan unterbrochen und vorgeschlagen, noch flott einen Kaffee trinken zu gehen. Doch es tat ihr leid, aber heute hatte sie gar keine Zeit mehr. Emil Glasmacher war echt enttäuscht. Von wegen Omen hatte er gedacht. Aber dann hatte sie weitergesprochen: »Nächste Woche ginge es, am Montag, da hab ich ab Mittag frei, da könnte ich es einrichten.«

Bereits zweimal waren sie seitdem im Café Lichtschläger gewesen, immer montagsnachmittags und immer hatte er sein Glück kaum fassen können. Da verbot sie ihm, sie anzurufen, war wie vom Erdboden verschwunden in einer so kleinen Stadt wie Düren, und dann lief sie ihm plötzlich sozusagen direkt in die Arme. Nach einundvierzig Monaten, die ihm vorgekommen waren, als ob es einundvierzig Jahre gewesen wären.

Die Uhr hatte exakt acht Uhr fünfzehn angezeigt, als er sie auf dem Fußgängerüberweg vorm Kaufhof erblickte. Den Mantelkragen hochgeschlagen, den blauen Wollhut mit der schmalen Krempe auf dem Kopf und dieses strahlende Lächeln im Gesicht, das er so sehr an ihr mochte. Vorm Dalmatiner hatte es ein gehauchtes Wangenküsschen für ihn gegeben und drinnen dann die freudige Nachricht, dass sie mit ihm Schluss gemacht habe. »Frag einfach nicht, wer er war, ich werde dir seinen Namen nicht nennen. Nur so viel sollst du wissen, er und die Eifel sind erst mal gestorben für mich.«

Emil Glasmacher hatte nicht gefragt, natürlich nicht, der Kerl interessierte ihn einfach nicht, aber als er sie in diesem Moment so angeschaut hatte, da hatte sie sofort weitergesprochen.

»Du brauchst mich jetzt gar nicht so anzuschauen. Von einer festen Beziehung habe ich fürs Erste genug, also lass uns Freunde sein, Emil. Einfach nur Freunde, das ist doch auch etwas sehr Schönes.« Dabei hatte sie ihm wieder dieses Lächeln geschenkt, ihre Augen hatten ihn angestrahlt, und sie hatte ihr Glas gehoben und ihm zugezwinkert.

Er hatte an seinem Bier genippt, tapfer gelächelt und sehr genau registriert, dass sie gerade den Ausdruck »fürs Erste« benutzt hatte.

Später waren sie durch die Innenstadt geschlendert. Vorbei an beleuchteten Schaufenstern, in denen die Weihnachtsdeko längst gegen bunten Karnevalskram ausgetauscht worden war. Clownsmasken in allen Größen und bunte Luftschlangen, die sich über Kochtöpfe und Gleitsichtbrillen ergossen.

Eng nebeneinander gingen sie durch die bitterkalte Nacht. Die Hände tief in die Manteltaschen vergraben und kondensierten Atem vor ihren Mündern, erreichten sie den Kaiserplatz. »Es ist spät geworden«, hatte Rita gesagt, »ab hier nehme ich ein Taxi. Gute Nacht, Emil, es war ein schöner Abend.« Dann hatte sie ihn auf die Wange geküsst, »Schlaf gut« gehaucht und war in den Wagen gestiegen, in dem der beleibte Taxifahrer sein Kreuzworträtselheft verschwinden ließ und zum Taxameter griff. Emil Glasmacher sah dem Wagen nach, bis sich die Abgaswolke in der Zehnthofstraße verflüchtigt hatte. Er wusste immer noch nicht, wo Rita jetzt wohnte, wusste nicht, wie es mit ihnen weitergehen würde. Aber nach mehr als drei Jahren hatten sie wieder einmal den Abend miteinander verbracht. Lange hatte er nicht mehr geglaubt, dass das geschehen würde. Keinen Pfennig hätte er darauf verwettet – und doch war es geschehen. Obwohl gerade Schneeregen einsetzte, war ihm nicht kalt. Immer noch spürte er ihre Lippen auf seiner Wange, es fühlte sich gut an, sehr gut sogar. Mit leichtem Schritt trat er den Rest seines Weges hinüber zu seiner Wohnung in der Holzstraße an. Den Gedanken, noch ein Bier in der Holzpoez zu trinken, verwarf er gleich wieder, der Schneeregen wurde heftiger, jetzt nur schnell nach Hause, ohne noch einen einzigen Menschen zu sehen. Ohne noch eine andere Stimme zu hören. Konnte es wirklich sein, dass Rita noch einmal zu ihm zurückkehren würde? Sie würden in Urlaub fliegen, sofort, am besten wieder an die Costa Brava. Er würde neben ihr in der Sonne liegen, sich die Haut verbrennen lassen, mit ihr Paella essen und schwärmen, wie gut sie ihm schmeckte. Im April würde er seinen sechzigsten Geburtstag feiern, dann konnte er in Pension gehen. Vier Wochen anstatt der üblichen zwei würden sie bleiben können. Oder sechs Wochen, ihr Urlaub könnte so lange andauern, wie sie es wollten.

In seiner Wohnung angekommen, war er versucht, zu dem grünen Telefon auf der Kommode zu greifen und ihre Nummer zu wählen. Halb elf zeigten ihm die Zeiger seiner Armbanduhr an. War das zu spät, um sie anzurufen? Er zog seinen nassen Mantel aus und hing ihn an die Heizung. Was würde sie wohl denken, wenn sie jetzt mit ihm hinauf in die Wohnung gekommen wäre und das grüne Ding hier stehen sähe? Er lächelte leise. Sie würde denken, sieh an, Emil hat das Telefon als Erinnerung an mich behalten. Es liegt ihm also immer noch was an mir.

»Fürs Erste«, wie hoffnungsvoll das klang. Nein, er würde sie nicht mehr anrufen heute, aber morgen früh, gleich wenn er im Büro angekommen war, dann wollte er ihre Nummer wählen und ihr sagen, wie schön der gestrige Abend gewesen sei.

Bei dem Gedanken an das Büro kam ihm ihr aktueller Fall wieder in den Sinn. Diese lästige Einbruchsserie in die Häuser vermeintlich wohlhabender Leute, die sie gerade beschäftigte. Noch keinen Schritt weitergekommen waren sie dabei. Vermehrte Einbrüche in Privathäuser in der dunklen Jahreszeit waren nicht ungewöhnlich, damit waren sie beinahe regelmäßig beschäftigt. Aber diese Kerle waren so dreist, als wollten sie die Polizei vorführen, so provokant gingen sie bei ihrem Streifzug durch das südliche Kreisgebiet vor. Dafür, dass es mehrere Täter waren, hatten sie mittlerweile genügend Anhaltspunkte gesammelt, und irgendwann würden die Kerle einen Fehler machen, der sie auf ihre Spur führen würde.

Emil Glasmacher wendete seinen Blick vom Telefon ab, gleich morgen früh rufe ich sie an, dachte er, sobald ich im Büro angekommen bin. Als er bald darauf im Bett lag, nahm er ihr Hochzeitsfoto aus der Nachtkommode und betrachtete es, bis ihm die Augen zufielen.

3. Kapitel FRAUEN

Er mochte es nicht, wenn die Ordnung auf seinem Schreibtisch durcheinanderkam. Gerade eben hatte der Kunde die Halle verlassen, und schon begann Ingo Engelmann damit, alles wieder zurück an seinen Platz zu räumen. Die Prospekte wieder in den Ständer, den Kugelschreiber in die Ablage und den Schmierzettel, auf dem er den allerletzten Sonderpreis errechnet hatte, in die Schublade mit der Aufschrift Angebote.

Einen Mittelklassewagen, Modell Taunus Coupé, hatte der Mann sich angesehen. Gemeinsam waren sie um den Wagen herumgegangen. Ingo hatte auf die Vorzüge der überaus großzügigen Innenraumgestaltung hingewiesen. Den Mann schätzte er auf mindestens sechzig Jahre, viel zu alt für so ein Geschoss, hatte er gedacht. Doch der Alte schien angetan von dem Wagen, und Ingo hatte ihn aufgefordert, unbedingt einmal auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen. Das Lenkrad fest umklammert, hatte er seinen bewundernden Blick über das Armaturenbrett schweifen lassen, während Ingo ihn mit technischen Daten überschüttete. »2,3 Liter Hubraum, satte einhundertacht PS! V6! Das bedeutet: Sechszylinder V-Motor. Damit beschleunigen Sie von null auf hundert in schlappen elf Sekunden. Der Wagen ist ein Geschoss, genau das Richtige für Männer wie Sie!«

Der Mann war aus dem Grinsen gar nicht mehr rausgekommen. Beherzt hatte er den Schalthebel zwischen den Sitzen gegriffen und damit in den einzelnen Gängen herumgerührt. Ingo hatte das Gesicht verzogen, der Kerl musste raus aus dem Wagen, hatte er gedacht und geflötet: »Bitte folgen Sie mir doch zu meinem Schreibtisch, damit ich Ihnen ein Angebot unterbreiten kann.«

Endlich hatte der Alte vor ihm gesessen, in seinem dicken Wintermantel, der ihn schon mächtig ins Schwitzen gebracht hatte, und seinem etwas zu klein geratenen Hut aus braunem Cord, den er auch im Auto nicht abgenommen hatte. Ingo hatte ihm das Prospekt vorgelegt, hatte mit flinker Hand den Preis errechnet, inklusive aller Sonderwünsche. Der Mann hatte auf die Zahlen geschaut und keine Miene verzogen. So waren sie, diese knauserigen Spießbürger, das Beste vom Besten für einen Appel und ein Ei haben wollen. Das kannte Ingo nur zu Genüge, darum hatte er gleich die zweite Stufe seiner Strategie gezündet. Mit übertriebener Heftigkeit hatte er die Zahlen durchgestrichen und leise vor sich hin murmelnd eine neue, exklusiv für diesen Kunden geltende Berechnung angestellt. Ach ja, den Gebrauchtwagen, den konnte er natürlich auch noch in Abzug bringen. Schließlich hatte Ingo den aller-, allerletzten Preis aufgeschrieben, in extra großen Zahlen, zweifach unterstrichen, und der Alte hatte immer noch geschaut, als hätte man ihm gerade offenbart, dass er an Leberkrebs im Endstadium litt.

»Ich weiß nicht«, war es aus dem faltigen Mund gekommen, im Oberkiefer hatten zwei Goldzähne aufgeblitzt. »Ich muss da noch mal drüber nachdenken.« Er war gegangen, ohne den Prospekt mitzunehmen.

Das war ganz klar wieder einer dieser Tage, die unbarmherzig Ingos Selbstwertgefühl attackierten. »Schaumschläger«, hatte er gemurmelt und dem Mann zugesehen, wie er draußen in seinen alten, schon reichlich von Rost befallenen VW Käfer gestiegen und vom Hof gefahren war.