Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die 21-jährige Studienanfängerin Johanna stolpert mit großen Erinnerungslücken durchs Leben, die sie sich nicht erklären kann. Sie lebt zusammen mit ihren Tierarzt-Eltern in einer Kleinstadt. Ihre Eltern verbieten ihr strikt den Kontakt zu den beiden Brüdern Adam und Toni Cadeesh von nebenan, obwohl sie einst Sandkastenfreunde waren - doch das Warum bleibt bei jedem Gespräch unbeantwortet. Schade, denn in einen der beiden ist Johanna verknallt, seit sie sich im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal begegnet sind. Nachdem Johanna durch einen Unfall vorübergehend an den Rollstuhl gefesselt ist, fallen mit Hilfe der beiden Brüder allmählich die Mauern ihrer behüteten Erinnerung, und sie beginnt zu erkennen, was hinter all den verlorenen Erinnerungen steckt - und wer sie wirklich sein soll. Altersempfehlung 18+. Dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 394
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die 21-jährige Studienanfängerin Johanna stolpert mit großen Erinnerungslücken durchs Leben, die sie sich nicht erklären kann. Hierbei sind ihre Tierarzt-Eltern, mit denen sie zusammen in einer Kleinstadt wohnt, auch keine Hilfe. Stattdessen verbieten sie ihr strikt den Kontakt zu den beiden Brüdern Adam und Toni Cadeesh von nebenan, obwohl sie einst Sandkastenfreunde waren – doch das Warum bleibt bei jedem Gespräch unbeantwortet.
Schade, denn in einen der beiden ist Johanna verknallt, seit sie sich im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal begegnet sind.
Nachdem Johanna durch einen Unfall vorübergehend an den Rollstuhl gefesselt ist, fallen mit Hilfe der beiden Brüder allmählich die Mauern ihrer behüteten Erinnerung, und sie beginnt zu erkennen, was hinter all den verlorenen Erinnerungen steckt – und wer sie wirklich sein soll.
Die im Jahrgang 1989 in der Schweiz geborene Luna Cathedras wohnt und arbeitet mit ihrem Partner und zwei Katzen zurzeit in einer Kleinstadt in Brandenburg. Dort schreibt sie ihre Bücher in der Hoffnung, Menschen rund um die Welt mit ihren Geschichten zu begeistern.
Inhaltshinweis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Danksagung
Mehr von Luna Cathedras
Ebenfalls von Luna Cathedras erschienen:
Ab diesem Herbst von Luna Cathedras:
Solltest du als Leser:in mit den nachfolgenden Schlüsselwörtern aus irgendeinem Grund Probleme haben, steht es dir frei, das Buch zurückzulegen und weiterzugehen. Denn diese Geschichte, auch wenn frei erfunden und zu keinem Zeitpunkt gewollt auf Ereignisse und Personen (lebendig oder tot) in der realen Welt bezogen, wird all diese Schlüsselworte in irgendeiner Weise verarbeiten.
Noch dazu enthält dieses Buch zum Teil etwas längere Kapitel (das längste zählt 16 Seiten), was für einige Leser:innen abschreckend sein könnte.
Du musst selbst entscheiden, wie und ob du dem gewachsen bist.
Meine empfohlene Altersgrenze für dieses Buch ist 18+.
Schlüsselworte:
• Explizite Sexszenen
• Trauma & Kindheitstrauma
• Kindsmisshandlung & -entführung
• Emotionale Manipulation
• Vorübergehende Gehbehinderung & Unfall
Für alle Weltengänger da draußen.
Hört nicht auf, neue fiktive Welten zu entdecken, denn unsere eigene wäre ohne Fiktion ein gar trauriger Ort.
Ein letztes Mal hob Johanna den Kopf, um den Rest des Gekritzels von der Tafel auf ihr Notizblatt zu übertragen. Gerade als sie den Punkt auf dem Blatt gesetzt hatte, klingelte es zum Abschluss der Stunde.
»Vergesst bitte nicht, die Hausaufgaben für nächsten Mittwoch zu notieren!«
Herr Lokrat, ihr untersetzter älterer Mathematikdozent, ließ sein Lehrbuch mit einem scharfen Whamm in seiner linken Hand zuschnappen und zog sich hinter sein Pult zurück. Wie der Rest der Studierenden packte auch er seine Tasche.
»Endlich frei! Johanna, beeil dich!« Melanie winkte ihr von der Tür aus herrisch zu, setzte ihre Retro-Pilotensonnenbrille mit Goldrand auf und stolzierte Richtung Ausgang davon.
Johanna seufzte entnervt, zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und stieß sich von ihrem Stuhl ab, nur um direkt mit Toni zusammen zu prallen, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war. Sie schwankte leicht und drohte, wieder auf ihren Stuhl zurückzufallen, doch Toni streckte schnell die Hand aus und hielt ihren Ellbogen fest. Er grinste sie an. »Sorry Johanna, hab dich nicht gesehen.«
Johanna lächelte zurück. Sie deutete auf ihren Ellbogen und er ließ sie los.
»Wo findet eigentlich diese ominöse Party am Samstag statt?«, erkundigte er sich, während sie nebeneinander Richtung Tür losgingen. Johanna zuckte mit den Schultern. Dabei fielen ihre roten Haare nach vorn und sie strich sich eine lange Strähne aus dem Gesicht.
»Du weißt, dass Melanie mir so etwas nicht freiwillig sagen will. Sie hofft jedes Mal, dass ich die Info verpasse und nicht mitgehe.«
Toni legte den Kopf schief, sobald er die Bedeutung zwischen den Zeilen verstanden hatte.
»Ich glaube nicht, dass Melanie dich nicht mag, Johanna. Sie ist einfach etwas – «
»Anders als wir, jaja Toni. Nimm mal die rosarote Brille wieder ab, okay?«, schnaubte Johanna zynisch und beschleunigte ihre Schritte.
»Das habe ich nicht sagen wollen!«, rief er ihr hinterher, doch sie ignorierte ihn.
Wieso musste Toni ausgerechnet in Melanie verknallt sein!, überlegte sie aufgebracht. Sie ist eine echte Schlange. Alle wissen, dass man ihr besser nicht in die Quere kommt, sonst kann einem alles Mögliche drohen.
Schlimm genug, dass sie Melanies Clique angehörte, in der sie nur geduldet wurde, weil ihr ehemaliger bester Freund Toni immer für sie einsprang. Erbärmlich war jedoch, dass Johanna das nur tat, um seinem Bruder Adam näher sein zu können.
Was frau nicht alles für ein bisschen Aufmerksamkeit tut, schnaubte sie innerlich.
Wenn es nach ihren Eltern ginge, dürfte sie keinen der beiden Brüder überhaupt nur eines Blickes würdigen.
Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag wurde Johanna von ihren Eltern ein Verbot auferlegt, die Cadeesh-Brüder nicht mehr zu sehen. Nun war Johanna 21, Studentin und fest davon überzeugt, dass Eltern nicht immer alles zu wissen brauchen. Frei nach dem Motto »Was sie nicht wissen, macht sie nicht heiß«.
Johanna blickte nochmals über die Schulter zurück, nur um Toni hinter sich gehen zu sehen. Er starrte mit wütendem Blick zurück. Ihr Kopf wirbelte herum, sie bog um die Ecke und betrat den Fahrradparkplatz. Als sie den Gang betrat, in dem ihr eigenes Rad stand, entdeckte sie Melanie. Sie saß auf einem niedrigen Mäuerchen, die Brille auf der Nase und heftig Kaugummi kauend. Die pink lackierten Nägel – wohl eher Klauen, dachte Johanna schnaubend – verursachten nervtötend klickende Geräusche auf dem Glas ihres Smartphones.
Johanna verdrehte die Augen und schickte ein Stoßgebet irgendwo ins Nirgendwo hinaus, dass sie Melanie nicht eines Tages aus Versehen mit ihrem Fahrrad über den Haufen fuhr.
Warum muss Melanie im selben Viertel wohnen wie ich, wieso kann es nicht jemand anders sein!
Heute schien wohl ein Selbstmitleid-Tag zu sein. Ihr entfuhr ein gemarterter Seufzer und Melanies Blick huschte kurz in ihre Richtung. Sie bemerkte mit kalter Stimme: »Da bist du ja endlich! Ich muss heute schnell nach Hause, meine Mutter meinte, sie hätte Neuigkeiten von äußerster Dringlichkeit für mich.«
Johanna antwortete nicht. Sie wusste, dass Melanie, ohne zu fragen, wieder ihren Gepäckträger im Damensitz einnehmen würde, egal ob sie protestieren würde oder nicht. Also schob sie ihr Fahrrad aus der Lücke und stellte sich und das Rad neben Melanie hin. Als Melanie nicht sofort aufstieg, meinte Johanna in betont gelangweiltem Tonfall: »Ich fahr dann mal… «
Endlich sah Melanie von ihrem Smartphone auf und kniff die Augen hinter der Retro-Pilotenbrille zusammen. Ihr Blick sprach Bände: Wage es nicht!
Sie beide registrierten eine Bewegung und ihre Köpfe fuhren herum. Toni war schon fast an ihnen vorbeigegangen und betrat gerade den Einschlag vom Campus zur Straße.
»Toni Schatz, warte!« Melanie erhob sich und balancierte auf dem Mäuerchen zu ihm hinüber. Er hielt inne, einen seiner In-Ear-Kopfhörer bereits im Ohr. Kokett lächelte Melanie ihn an und warf gekonnt ihre goldblonden Haare über die Schulter. »Die Party am Samstag ist in Finton Valley, im Sixxers. Kannst du Adam fragen, ob er uns fährt? Es werden sicher auch Leute da sein, die er kennt, er muss sich also nicht langweilen.«
Wieder lächelte sie und drehte eine Haarlocke um ihren Zeigefinger. Johanna hasste es, wenn sie das tat.
Genau genommen hasse ich alles an dieser toxischen, falschen Kuh. Sie war kurz davor, wieder die Augen zu verdrehen, konnte es aber gerade noch unterdrücken.
Toni lächelte und nickte als Antwort, strafte Johanna anschließend jedoch mit einem bitterbösen Blick. Dann schob er den anderen Ohrstöpsel ins Ohr und joggte los. Er joggte jeden Tag und bei jedem Wetter von der Uni nach Hause, das war laut seiner Aussage der Ersatz für den Sportunterricht, den sie früher im Schulprogramm stehen hatten. Entsprechend war seine Figur muskulös und durchtrainiert. Dazu kamen seine blonden Haare, die er auf dem Haupt länger trug und an den Seiten stylisch kurz rasiert hatte. Das, in Kombination mit seinen eisblauen Augen war er ein echter Hingucker und beliebt bei den Frauen. Sein linkes Ohrläppchen zierte ein matt glänzender Metallring.
Toni verkörperte dem Aussehen nach das klischeehafte Bild des Frauenhelden – doch er hielt sich von allen fern. Bis auf Melanie.
Melanie Borthertorn, die größte Zicke auf dem Campus und personifizierte Tortur für Johannas Nerven seit der Mittelschule. Als Melanies Familie hierher gezogen war, hatte Johanna kurz die Hoffnung gehegt, eine neue beste Freundin finden zu können – doch Melanies sofortiger Hass ihr gegenüber hatte deutlich gemacht, dass das nicht in Frage kam. Wobei ihr immer noch unklar war, warum Melanie sie überhaupt so verachtete. Zwar hatte sie etliche Male versucht, Melanie zu fragen, was ihr Problem war, doch statt einer Antwort wurde sie nur noch mehr gemobbt. Mittlerweile war es Johanna egal, was das Biest, wie sie Melanie in ihren innerlich nannte, dachte beziehungsweise anstellte. Solange es nicht mit Toni oder seinem Bruder Adam Cadeesh zu tun hatte.
Beim Gedanken an Adams Namen erinnerte sie sich an das, was Melanie gerade gesagt hatte: »Kannst du Adam fragen, ob er uns fährt?« Ein freudiges Kribbeln breitete sich in Johannas Körper aus und eine leichte Wärme überzog ihre Wangen.
Melanies Smartphone klingelte. In ohrenbetäubender Lautstärke dröhnte der neuste Hit von Taylor Swift über die Straße. Sie studierte das Display und zog eine Schnute und Johanna verdrehte erneut genervt die Augen. Doch anstatt zu Johanna zurückzukommen, nahm Melanie den Anruf entgegen.
Johanna lehnte sich mit den Ellbogen auf den Sattel ihres Fahrrads. Verträumt ließ sie ihre Gedanken zu Adam zurückschweifen.
Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, musste jetzt schon über einen Monat her sein. Er hatte die Clique zu einer Party gefahren und sie wieder abgeholt. Seine schwarzen Haare waren länger gewesen als üblich, sie hingen ihm bis zu den Augen.
Ob er sich wohl sehr verändert hat?
Adam war eher der brütende, stille aber durchaus selbstbewusste Typ und er überragte Toni nochmals um eine halbe Kopflänge. Auch er gab, genau wie sie selbst, wenig auf neue Modetrends und trug alte T-Shirts und Jeans. Seine grünen Augen waren jedoch das Merkmal an ihm, welches ihr am meisten gefiel: Sie schienen Johanna so viel zu sagen, obwohl Adam gemeinhin kein einziges Wort an sie richtete.
Adam war auch der Grund dafür, warum Johanna an dieser Uni studierte: Sie folgte seinem Vorbild als erfolgreicher App-Entwickler.
Eigentlich darf ich mich heute nicht so aufregen, erinnerte sie sich selbst. Die Semesternoten waren an diesem Vormittag ausgehändigt worden und Johanna hatte mal wieder Bestnoten in ihrem Studiengang vorzuweisen. Den ganzen Tag über war sie durch ein wohliges Wolkenmeer aus Zufriedenheit geschwommen und hatte sich darüber gefreut, dass sie in die Fußstapfen ihres Idols getreten war.
Trotzdem ist er vier Jahre älter als du, schalt sie sich. Du solltest wirklich langsam aufhören, ihm hinterherzusabbern. Sie stieß ein ungläubiges Schnauben über ihre eigenen Gedanken aus und schüttelte den Kopf, um das Bild von Adam zu vertreiben.
Johanna fuhr mit dem mittlerweile etwas klapprigen, quietschroten Fahrrad zur Uni, welches ihre Eltern ihr gekauft hatten. Sie war kaum ausreichend groß genug gewesen, die Pedale zu erreichen – im Stehen versteht sich; Sitzen war total überbewertet in den Augen ihrer Eltern. Die Hänseleien ihrer Mitschüler waren schlimm gewesen – allen voran natürlich Melanie Borthertorn. Bis sie mit ihr einen Deal abgeschlossen hatte: Johanna sollte Melanie jeden Tag auf dem Gepäckträger mit nach Hause fahren, zum Ausgleich würde Melanie nicht mehr über sie lachen, wenn sie mit dem Schandfleck von einem Fahrrad auftauchte. Zusätzlich würde sie dafür sorgen, dass die anderen ebenfalls aufhörten, sie zu hänseln. Zähneknirschend hatte Johanna zugestimmt.
Hätte ich damals gewusst, dass mich dieser Pakt bis heute verfolgt, ich hätte lieber die Hänseleien ertragen.
Johanna hatte die Schnauze voll. Sie wollte nach Hause und nicht länger herumstehen wie ein persönlicher Page auf Abruf. Kurz entschlossen schob sie ihr Fahrrad vom Fahrradparkplatz und trat neben Melanie. »Wenn du mitfahren willst – ich gehe jetzt«, flüsterte sie ihr verärgert zu. Melanie lauschte weiter ihrem Gesprächspartner, reichte Johanna ihre Tasche und setzte sich auf den Gepäckträger. Sie umklammerte mit einer Hand fest den kleinen Henkel unter dem Sattel und telefonierte seelenruhig weiter. Zerknirscht trat Johanna in die Pedale.
Der Fahrtwind wehte ihr die roten Haare aus dem Gesicht und Johanna atmete die frische Septemberluft ein, in Gedanken ein weiteres Mal bei den Cadeesh-Brüdern.
Die seltenen Gelegenheiten, wenn Melanie nicht Johannas Gepäckträger in Anspruch nahm, teilte sie sich mit Toni, indem sie stumme Wettrennen darüber veranstalteten, wer zuerst zuhause war. Denn genau wie Melanie wohnten auch Toni und Adam in Johannas Wohnviertel.
Die beiden Brüder kannte sie, seitdem sie damals, als sie sechs Jahre alt gewesen war, nebenan eingezogen waren. Früher hatte Johanna all ihre Zeit mit Toni und Adam verbracht und sie waren unzertrennlich gewesen. Aber der letzte wirkliche Kontakt zwischen ihnen war nun sechs Jahre her.
Seit jenem Abend, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, waren sie zu Fremden geworden, die zufällig in derselben Clique gelandet waren. Jedoch sprachen sie nur noch so wenig wie möglich miteinander.
Und immer noch habe ich keine Ahnung, warum ich keinen Kontakt zu ihnen haben darf ...
Zwei Tage später weckte sie der Nachrichtenton ihrer Cliquen-Chatgruppe. Mit geschlossenen Augen griff Johanna nach ihrem Smartphone und blinzelte mehrfach, um den Schlaf zu vertreiben. Sie gähnte ausgiebig, wischte blind ihr Entsperrmuster mit dem rechten Daumen ein und prüfte den Gruppenchat.
Das Biest (09:54): Sweeties, die Party steigt definitiv heute Abend im Sixxers. Zieht euch sexy an, es wird hooottt!!
Johnny (09:59): Niiice, sexy Girls, Alk und vielleicht auch ein wenig Fummeln bei @Jo xxx??
Johanna reagierte schon lange nicht mehr auf diese Art von Anspielung, sie war sie leid geworden. Johnny hatte bereits sehr früh damit begonnen, ihr immer unflätigere Komplimente zu machen, bis er schließlich dazu übergegangen war, Vorstöße dieser Art zu versuchen.
Franky (10:02): Just eww...
Mike (10:03): :eye_roll: @Johnny...
Das Biest (10:04): Eher trocknet der Nil aus, als dass du DIE anfeuchten kannst hahaha
Adam (10:05): Erschreckend, wie der IQ jedes Einzelnen hier drin gesunken ist, sobald diese Zeilen gelesen wurden ... Halt die Klappe @Mels.
Toni (10:05): @Melanie wann geht’s los?
Das Biest (10:07): 19 Uhr sharp. Normale Tour, um alle einzusacken.
Franky (10:10): OK
Johnny (10:21): :thumbs_up:
Mike (10:25): Geht klar
Johannas Herz machte einen freudigen Hüpfer, als sie Adams Konter auf Melanies Frotzelei las. Sie tippte das Daumenhoch-Emoji ein, um zu signalisieren, dass sie heute Abend dabei war. Dann stand sie auf, suchte sich bequeme Klamotten aus dem Schrank zusammen und ging duschen.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, ihre Hausaufgaben für die Uni zu erledigen. Doch allzu oft wurde sie davon abgelenkt, dass sie Adam in seinem Arbeitszimmer dabei zusah, wie er an seinem Computer saß und programmierte.
Seitdem Adam sein Arbeitszimmer vor ein paar Jahren eingerichtet hatte, konnte Johanna direkt aus ihrem Schlafzimmer hinüber in sein Fenster blicken und ihn bei der Arbeit beobachten.
Als ihr Wecker um 16:30 Uhr schrillte, schreckte sie so intensiv zusammen, dass sie um ein Haar aus dem Stuhl fiel. Im letzten Moment konnte sie sich festhalten und wischte entnervt über das Smartphone, um den Alarm auszuschalten. Schnell warf sie einen Blick ins Arbeitszimmer gegenüber, doch Adam war verschwunden.
Seufzend stellte Johanna sich der Aufgabe der Kleiderwahl für heute Abend. Sie nahm einen neuen Rock heraus, ein Oberteil mit Glitzer und neutrale Unterwäsche. Hinterher holte sie ihre beste Jeans und das dazu passende Outfit hervor. Nachdenklich betrachtete sie die Teile, zog ihr Smartphone aus der Hosentasche ihrer Jogginghose und kontrollierte das Wetter. Da es nicht regnen sollte, entschied sie sich letztlich für den Rock. Bevor Johanna hineinschlüpfte, prüfte sie nochmals, dass die selbst eingenähte Tasche an der Innenseite keine Löcher bekommen hatte, dann steckte sie Notfallgeld und eine Kopfschmerz- sowie eine Anti-Kotz-Pastille hinein. Zum Schluss nahm sie den warmen Mantel vom Haken und schob Smartphone und Geld plus ihren Ausweis in dessen Taschen.
Beim Hinausgehen blieb Johanna einen Moment lang in der Diele stehen, checkte ihr Make-up im Spiegel, nahm den Hausschlüssel von ihrem Schlüsselbund und strich sich nochmals über die Haare.
Adam wird dich nicht beachten, du dumme Nuss. Warum machst du das überhaupt immer noch?! Seit mittlerweile fünfzehn Jahren schmachtest du ihn an, das ist unnatürlich, abartig. Du bist ein Freak, McGibbon!
Johanna zuckte mit den Schultern, um ihre eigenen Gedanken zu entkräften. Dann grinste sie in den Spiegel und verließ das Haus, um nebenan bei Toni zu warten, bis sie aufbrachen.
Wie jedes Mal, wenn die Clique gemeinsam loszog, kündigte sie bei ihren Eltern vorher an, dass sie mit der Straßenbahn fahren würde. In Wahrheit wartete sie im Garten der Cadeesh-Brüder, bis Adam und Toni ihre Villa verließen. Das war der Moment, in dem sie hinter ihnen auf die Straße trat und sich stumm dazu gesellte.
Bisher hatten sie die beiden nie beim Warten in ihrem Garten erwischt – oder sie sagten es ihr nicht und ließen sie machen.
Die Villa der Cadeeshs war ein düster-moderner Bau mit Solar-Paneelen in den grauen Wänden, vielen gen Süden ausgerichteten Glasfronten, durch die man nicht hineinsehen konnte und einem riesigen nierenförmigen Pool im Garten hinter dem Haus. Die grünen Rasenflächen, die die Villa umgaben, waren stets gepflegt und auf der rechten Seite des Gebäudes stand eine einsame Hollywood-Schaukel. Dort saß Johanna für gewöhnlich und wippte nur so weit vor und zurück, wie ihre Füße reichten.
Heute parkte Adams Wagen nicht vor der Villa. Der schwarze Chevrolet Camaro mit den dunkellila Prisma-Aufklebern (den die meisten Menschen als „das Bumblebee Auto aus Transformers“ in gelber Variante kannten) stand am Straßenrand vor ihrem Viertel, der Motor schnurrte im Leerlauf – aber nicht Adam saß am Steuer, sondern Toni. Dieser winkte ihr ungeduldig zu, und als Melanie ihr vom Beifahrersitz aus zurief, dass die Gruppe auch ohne sie zum Sixxers fahren würde, setzte sich Johanna endlich in Bewegung. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache, öffnete ungeachtet dessen die linke Hintertür und quetschte sich neben Mike auf den Rücksitz.
Sofort gab Toni Gas und sie wurden alle in ihre Sitze gedrückt. Johanna lehnte sich vor und fragte Toni leise: »Wann hast du nochmal den Führerschein gemacht?«
Toni neigte leicht den Kopf in ihre Richtung und grinste wild. »Ich hab ihn noch nicht, erst in vier Wochen. Hab Adam die Karre geklaut für heute, weil er uns nicht fahren wollte. Er hat irgendwas von Glätte gefaselt und dass seine Augen zu müde seien im Halbdunkel.«
Johanna seufzte und ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Vorsichtshalber gurtete sie sich an, dann starrte sie in die dunkler werdende Landschaft hinaus, während ihre Clique sich lachend und singend auf die Party im Sixxers vorheizte.
Ihre Clique bestand aus sechs Mitgliedern: Melanie, Toni, Johanna, Francesca, Mike und Johnny. Sie alle hatten früher gemeinsam auf dem Pausenhof abgehangen, hatten miteinander gespielt und Gruppenprojekte durchgestanden. Sie hatten Streiche ausgeheckt und untereinander die ersten Küsse und Fummeleien ausgetauscht.
Später dann, in der Mittelstufe, wurden die Späße ernster; Mike und Johnny spezialisierten sich darin, Leute zu beschwatzen, um alles zu bekommen, was sie für die Clique wollten. Melanie schleppte die reichen Kerle an, um die Party-Abende zu bezahlen. Francescas und Johannas Aufgabe war es, die Männer bei Laune zu halten, damit nicht auffiel, dass Melanie das Weite gesucht hatte. Denn Melanie knutschte wenn dann nur mit Toni; ohne Liebesverhältnis versteht sich. Die Einzigen, die in einer Beziehung landeten, waren Francesca und Mike.
Johnny jedoch versuchte seit Jahren vergeblich, bei Johanna zu landen. Adam griff normalerweise jedes Mal ein, wenn Johnny zu viel getrunken hatte und übergriffig zu werden drohte.
Johanna lächelte über die Vorstellung, dass Adam immer noch auf sie aufpasste, obwohl sie nicht mehr befreundet waren, und lehnte ihre Stirn ans kalte Fenster.
Die Fahrt nach Finton Valley dauerte 45 Minuten mit dem Auto, wenn man nicht wie ein Geisteskranker namens Toni Cadeesh über die Landstraßen durch die dichten Waldabschnitte bretterte.
Er will Melanie wohl zeigen, wie cool er im Auto seines Bruders fahren kann, vermutete Johanna und verdrehte die Augen.
Sie wusste nicht, woher diese insgeheime Eifersucht kam, und sie nervte Johanna umso mehr, sobald sie sich ihrer bewusst wurde.
Der Camaro wurde langsamer und kurz darauf hielten sie vor dem Sixxers. Der Club stach heraus, obwohl er eingezwängt zwischen zwei anderen Diskotheken stand. Die pinke und blaue Neonfarbe des Namensschildes leuchtete weit über den großen Parkplatz gegenüber, die Musik dröhnte bis auf den Gehweg hinaus.
Mike stieß Johanna seinen Ellbogen in die Rippen und bedeutete ihr, auszusteigen. Schnell löste Johanna den Gurt und ließ sich aus dem Wagen gleiten. Ihre nackten Beine überzogen sich sofort mit einer feinen Gänsehaut; es war kühler geworden. Ich hätte doch die Jeans nehmen sollen.
Sie trat ein paar Schritte in Richtung Club und Mike, Francesca und Johnny kletterten aus dem hinteren Bereich des Camaro. Toni fuhr weiter und parkte ein Stück die Straße hinunter. Melanie stieg aus, hakte sich bei ihm unter und die Gruppe eilte auf den Eingang des Sixxers zu.
Das Sixxers war ein Club, der mittwochs und samstags für Jugendliche geöffnet hatte und dementsprechend beliebt war. Die Minderjährigen bekamen alle ein rotes Band ans Handgelenk geklebt, welches sie als solche auswies. Die Erwachsenen bekamen ein grünes Band. Diesen roten Bändern durfte kein Alkohol ausgeschenkt werden und der VIP-Bereich war für sie tabu. Dazu kam, dass die Security ein extra scharfes Auge darauf richtete, wenn rotes Band mit grünem Band tanzte, Getränke geholt wurden oder gar der Club zusammen verlassen wurde.
Melanies Clique war zu treuen Stammkunden herangewachsen. Sie alle hatten mittlerweile die 21-Jahre-Marke überschritten – Johanna selbst erst vor wenigen Wochen. Dementsprechend bekamen sie am Eingang grüne Bändchen um ihre Handgelenke gestanzt, bevor sie in den Club sprudelten. Mike und Johnny johlten und steuerten direkt auf die Bar zu, um Getränke für sie aufzutreiben.
Melanie zupfte an ihrem neuen roten Designerfummel herum, strich die paar Falten glatt, die während der Fahrt entstanden waren, zog die Finger durch die blonde Mähne und stolzierte mitten in die Tanzmenge hinein.
Toni, Francesca und Johanna suchten sich eine freie Sitzecke im hinteren Teil des Clubs, um ihre Sachen abzulegen. Gerade als sie sich hingesetzt hatten, kamen Mike und Johnny mit einer Flasche Wodka und kleinen Gläsern zu ihnen. Toni klatschte in die Hände und rief: »Jetzt kann’s losgehen!«
Melanie kam aus der tanzenden Menge heranstolziert und exte ihren ersten Wodka. Den zweiten trank sie in zwei Zügen, dann nahm sie Tonis Hand und zog ihn ins Getümmel zurück. Mike und Johnny animierten Francesca und Johanna und alle tanzten in der Masse, ab und zu gönnten sie sich einen weiteren Drink, und die Stimmung wurde ausgelassen.
Johanna fühlte sich bald ausgelaugt und musste dringend zur Toilette. Als sie sich endlich auf den Toilettensitz plumpsen ließ, um durchzuatmen, drehte sich alles und sie stellte erschrocken fest, dass sie jetzt schon zu viel getrunken hatte.
Ihre Gedanken kreisten erst um Toni, der draußen mit Melanie knutschte, anschließend um Johnny, der versucht hatte, ihr vorher unter dem Rock in den Schritt zu fassen, dann um Francesca und Mike, die irgendwann wie vom Erdboden verschluckt waren.
Sie kicherte leise vor sich hin, als unvermittelt ihr Smartphone klingelte. Johanna zog es aus ihrer Rockinnentasche, in der sie es vor dem Betreten des Clubs verstaut hatte, und blickte auf das Display. Ungläubig drückte sie auf den grünen Hörer und nahm das Gespräch an: »Adaaaaaam!«
»Hey Johanna. Ich kann Toni nicht erreichen. Dieser kleine Mistsack! Ist er bei dir? Seid ihr im Sixxers?«
Johanna nickte wild, ihre Augen geschlossen und sie stellte sich Adam vor, wie er durch sein Arbeitszimmer tigerte, während er mit ihr telefonierte. Seine langen Finger würden durch die schwarzen Haare fahren, die Frisur ein wenig wild aussehen lassen und seine Augenbrauen wären wütend zusammengekniffen. Sie grinste und antwortete dann mit einem verspäteten »Jupp«.
»Toni hat mein Auto geklaut! Bitte sag mir, dass er nicht getrunken hat! Ich werde ein Taxi rufen und fahre zu euch. Wenn du Toni siehst, sag ihm, ihn erwartet eine Lektion, die sich gewaschen hat!«
Sie konnte seine Besorgnis unter der ganzen Wut hören, kicherte und nuschelte: »S iss alles juuut Adam. Toni schmatzt mit Melanie, würd mich wunern wenn die nich noch – du weiß schon. Glaub nich, dass wir noch nach Haus fahrn. Brauchs nich komm, eeecht.«
Adam am anderen Ende seufzte frustriert und fluchte leise. »Versprich mir, dass ihr nicht mit dem Camaro nach Hause fahrt, okay? Nehmt Taxis oder ein Hotelzimmer auf meine Kosten. Fahrt nicht mit dem Camaro!«
Johanna nickte wild, merkte aber verspätet, dass er das ja nicht sehen konnte, und rief »Okidoki!« in die Sprechmuschel, bevor sie auflegte.
Sie grinste wild, verstand aber erst nicht wieso. Dann kam ihr trüb in den Sinn, dass sie nicht erwartet hatte, dass Adam ihre Handynummer in der Tat behalten hatte.
Sie hatte ihm die Nummer vor über zwei Jahren heimlich auf einem Post-it im Camaro gelassen, als er die Clique zu einer Party gefahren hatte. Darunter hatte sie gekritzelt: Nur für den Fall, dass du sie brauchst – Johanna. Natürlich hatte er, befehlshaberisch wie er war, von ihnen allen verlangt, seine Nummer in ihre Smartphones zu speichern, damit sie ihn im Notfall jederzeit kontaktieren konnten. Bisher hatte es nie eine Notsituation gegeben und Johanna hatte sich nie getraut, ihn von sich aus anzurufen. Die Worte ihrer Eltern waren klar gewesen: Kein unnötiger Kontakt zu den Cadeeshs. Dass Toni und sie in derselben Clique waren, war eines ihrer wohlbehütetsten Geheimnisse und sie hoffte, dass das weiterhin so blieb. Deshalb waren weder Adam noch Toni in ihrem Smartphone als Kontakt abgespeichert – sie hatte sich ihre Nummern schlicht und einfach eingeprägt. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie es so schön hieß – die Porzellankiste war in diesem Fall die maßlose Überwachungssucht ihrer Mutter.
Adam wacht immer über die Clique wie ein Alpha-Wolf über sein Rudel. Nur heute ist er nicht da, und prompt eskaliert das Rudel. Johanna prustete angesichts ihrer eigenen Gedanken und drückte auf die Toilettenspülung. Sie torkelte aus der Kabine, blieb kurz vor dem Waschbecken stehen und machte sich frisch. Dann stieß sie zurück zu den anderen und verschwendete keine Gedanken mehr an Adams Warnung.
»Johanna, lass uns gehen!«
Johanna schreckte auf und stellte fest, dass sie auf einer der Sitzbänke lag. Francesca rüttelte an ihrer Schulter und hielt ihr ein Glas Wasser unter die Nase. Johanna brummelte ein »Nein« und wollte sich wieder hinlegen, merkte aber, dass etwas sich zwischen ihren Beinen bewegte. Sie schreckte in einem panischen Atemzug kerzengerade hoch und starrte auf die Hand, die sich einige Sekunden zuvor noch in ihrem Schritt, genauer gesagt, in ihrem Höschen befunden hatte. Sie folgte der Hand mit ihren Augen und bemerkte Johnny, der neben ihr lag und lauthals schnarchte.
Johanna nahm das Glas von Francesca entgegen und stürzte die erste Hälfte in wenigen Zügen hinunter. Die andere ließ sie Johnny ins Gesicht platschen. Er zuckte hoch, starrte mit leeren Augen in die Runde und versuchte, sich zu orientieren. Als er Johanna bemerkte, die ihn wütend anfunkelte, zog er schnell die Hand weg und grinste ihr dann frech entgegen: »Hab nichts gemacht Jo, ehrlich!«
Johanna schnaubte. Sie ließ das Glas auf den Tisch knallen und stand wankend auf. Der Raum drehte sich und sie hielt sich den Kopf, als könnte das die Welt vor ihren Augen wieder stabilisieren.
»Alles okay? Kannst du allein gehen?«, wollte Francesca wissen. Sie legte Johanna eine Hand auf den Arm, um sie zur Not auffangen zu können.
»Hmm, weiß nicht«, murmelte Johanna träge und versuchte, sich nach ihrem Mantel zu bücken, der zerknautscht auf der Bank lag. Ihr Sichtfeld verschwamm, sie stürzte vornüber und Francescas Hand, die ihren Arm umklammerte, war der einzige Grund, warum sie nicht mit dem Kopf voran auf dem Boden landete.
»Uff! Gut, wir gehen mal zusammen an die frische Luft – die wird dir guttun. Johnny bringt deine Sachen sicher gleich mit – nicht wahr, Johnny?«, plärrte Francesca und führte sie hinaus zu Mike und Toni, der mit Melanie am Arm auf sie wartete. Einen Moment später kam Johnny mit ihrer Jacke hinterher.
Francesca behielt recht: Die frischkühle Nachtluft klärte den Nebel in Johannas Kopf und sie fühlte sich direkt besser. Gierig nahm sie einige Atemzüge und holte ihr Smartphone aus der Rocktasche, um die Uhrzeit zu prüfen. Eine Reihe von Mitteilungen von Adam waren eingetroffen und sie öffnete die Nachrichtenapp, um sie zu lesen:
Adam Cadeesh (02:42): Johanna, fahrt nicht mit dem Camaro!
Adam Cadeesh (02:45): Lasst mich wissen, welches Hotel ihr nehmt, ja?
Adam Cadeesh (03:41): Johanna, antworte mir, wo seid ihr?
Johanna schaute rasch auf die Uhr: 04:34. Sie tippte eine Rückmeldung an Adam, wurde aber unterbrochen, als sie den Camaro röhren hörte. Verwirrt sah sie auf und erblickte Toni am Steuer des Camaro, Melanie auf dem Beifahrersitz. Mike und Francesca waren soeben dabei, einzusteigen. Entgeistert sah Johanna ihrer Clique entgegen. Johnny stupste sie in die Seite, grinste und meinte: »Willst du nicht einsteigen?«
Johanna schüttelte den Kopf. Ganz bestimmt nicht!
Sie stapfte auf Toni zu und beugte sich zu seinem Fenster herunter. In gleichmütigem Tonfall versuchte sie ihn davon zu überzeugen, dass sie in diesem Zustand nicht fahren sollten. »Toni, wir haben alle zu viel intus, lass uns lieber zwei Taxis rufen.«
Toni zwinkerte ihr mit einem draufgängerischen Lächeln zu und meinte: »So viel war’s nicht Johanna. Und ich bin schon ausgenüchtert. Steig ein, ich fahre vorsichtig, versprochen.«
Johanna schüttelte vehement den Kopf, die Warnung von Adam nun wieder glasklar in den Ohren. »Adam möchte nicht, dass wir mit dem Camaro nach Hause fahren. Und wir haben wirklich alle einen sitzen ... Lass es gut sein, bitte.«
Melanie beugte sich mit einem genervten Zischen herüber und giftete: »Mensch, steig ein oder vergiss es, du Baby, aber macht endlich das Fenster zu, es ist eisig!«
Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und schmollte leicht vor sich hin. Toni reichte ihr seine Jacke und sie legte sie sich über den Schoß. Im Anschluss sah er wieder zu Johanna hinaus und erwiderte entschlossen: »Du hast die Lady gehört, Johanna. Steig ein oder lass es. Deine Entscheidung. Du kannst auch auf Papa Adam warten, er holt dich sicher mit einem Taxi ab.«
Seine Augen zuckten für einen Moment zu Melanie, dann lehnte er sich weiter hinaus und raunte: »Wobei mir miserabel dabei wäre, dich allein hier zu lassen, Jojo.«
Einen Herzschlag lang war seine Miene ernst, dann ließ er die Fensterscheibe hochfahren. Johanna wollte weitere Einwände finden, aber Melanie und Mike lachten nach nur wenigen Augenblicken so sehr über etwas hinter Johannas Rücken, dass sie sich umdrehte. Sie bemerkte Johnny, der eindeutige Stoßbewegungen in Richtung ihres Hinterteils nachahmte. Schnaubend entriss sie ihm ihren Mantel und stelzte zur Autotür, zerrte sie wütend auf und setzte sich auf den Rücksitz.
Wenn ich jetzt kneife, bin ich endgültig raus aus der Clique, überlegte sie. Melanie ist stinksauer und sucht nur nach einem Grund, mich ein für alle Mal loszuwerden. Auf keinen Fall will ich diese letzte Möglichkeit verlieren, Adam und Toni sehen zu können.
Dennoch war Johanna die Situation nicht geheuer – sie konnte nur darauf hoffen, dass Toni wahrhaftig wieder fit genug war, um sie alle heil nach Hause zu bringen. Unzufrieden verzog sie ihr Gesicht zu einer leidenden Grimasse und seufzte. So zwischen Francesca und Johnny eingekeilt, hatte sie keine Chance sich anzuschnallen, geschweige denn Adam ungesehen eine Antwort zu schicken.
Melanie fummelte am Radio herum, bis sie ein Lied fand, welches ihr gefiel, und drehte die Lautstärke unerträglich hoch. Die Clique feierte im Auto weiter, sie sangen und hoben die Hände – alle außer Johanna.
Ein ungutes Gefühl hatte sie überkommen, sobald sie die Einfahrt des Parkplatzes verlassen hatten. Energisch prüfte sie, ob sie sämtliche Sachen bei sich hatte, die sie in den Club mitgenommen hatte. Alles war da ... Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf und wollte ihr Smartphone herausholen, als Johnnys Hand sich selbstsicher auf ihre eigene legte. Sie schreckte herum und starrte ihn an. Seine Augen lagen auf ihren Brüsten und er leckte sich die Lippen, bevor er mit rauer Stimme sagte: »Es ist jedes Mal so sexy, wenn du deine Hände im Rock verschwinden lässt, Jo. Lass mich doch auch mal.«
Er beugte sich zu ihr und versuchte, sie zu küssen. Johanna drehte sein Gesicht ruckartig mit ihrer Hand weg und schlug ihm dann auf die Finger, die ihren Oberschenkel umklammert hielten. Alle um sie herum lachten, selbst Johnny stieg nach wenigen Sekunden mit ein.
Melanies giftiger Blick bohrte sich in ihren und ihre Stimme triefte vor Hohn. »Johanna ist so verklemmt, dass nicht mal ein gynäkologischer Spreizer ihre Beine auseinanderkriegt. Aber für wen ziehst du diese Keuschheitsnummer ab? Toni wird niemals dir gehören.«
Damit legte sich Stille über die Clique. Nur die Musik dröhnte aus dem Radio. Toni drehte es rasch leise, räusperte sich und schaute immer wieder in den Rückspiegel. Alle holten schnell ihre Smartphones heraus und widmeten sich ihnen.
Johanna schwieg und starrte ebenfalls auf ihr Smartphone.
Ich (04:59): Adam, wir fahren jetzt los ... Wartest du auf uns an der Straße zum Viertel?
Einen Moment später kam die Antwort:
Adam Cadeesh (05:00): Klar, ich warte auf dich Jojo.
Jojo ... So hat er mich seit Jahren nicht mehr genannt. Johanna lächelte und starrte auf den Bildschirm ihres Smartphones. Sie freute sich auf Adams Gesicht, auch wenn er mit ihnen allen schimpfen und Toni eine runterhauen würde dafür, dass er sein Auto gestohlen hatte. Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre Gesichtszüge und sie schloss für einen Moment die Augen, um sich die Situation vorzustellen.
Schlagartig wurde ihr Körper nach links katapultiert, kollidierte mit Francesca und drückte diese fast platt. Instinktiv krallte Johanna sich an ihr Smartphone. Gerade als sie meinte, sehen zu können, was geschah, wurde ihr Körper nach vorn geschleudert. Unaufhaltsam schoss sie an Melanie vorbei, die kreischend Tonis Jacke umklammerte. Johanna bemerkte, wie Toni seine Hand in Richtung ihres Arms ausstrecke, um sie aufzufangen, doch er war zu langsam. Sie brach durch die Frontscheibe, Glas klirrte, sie sah ein Reh, dann einen Baum in rasendem Tempo größer werden.
Johanna versuchte, sich zu drehen, sodass sie nicht mit dem Kopf voran in den Baum prallte, aber sie erreichte kaum etwas damit. Ihre Körpermitte streifte den Stamm. Ihr blieb die Luft weg, sie sah Sterne. Sie wurde nach vorn geschleudert, fiel und rollte weiter und weiter.
Johanna hörte das Knacken und Brechen von Ästen und Gehölz, konnte sich aber kein bisschen aus ihrer Schockstarre lösen.
Am Ende stoppte ihr Körper, umgeben von Unterholz in einem winzigen Bach und sie starrte in den Himmel. Ihr Atem kam hektisch und abgehakt, sie hatte das Gefühl zu ersticken. Langsam versuchte sie, ihre Finger zu bewegen, und begann damit, den Kopf zu drehen, hielt aber sofort inne. Schwindel und Übelkeit überkam sie, alles drehte sich unablässig. Automatisch hob sie die schmerzenden Arme und wollte sich den Kopf halten, da bemerkte sie, dass sie noch immer ihr Smartphone in der Hand hielt. Der Chatverlauf mit Adam war offen.
Ich (05:02): dsf dtv j
Adam Cadeesh (05:02): Was?
Adam Cadeesh (05:02) Johanna, was ist los bei euch? Antworte mir.
Johanna kniff die Augen zusammen und drückte auf das kleine Büroklammer-Symbol. Ihre Arme waren unendlich schwer, um ein Haar wäre ihr das Smartphone aus der Hand gefallen. Sie atmete gezielt ein und aus, legte ihre letzte Kraft in die Arme und tippte auf Standort, um diesen mit Adam zu teilen. Sie streifte die Anruftaste mehr, als dass sie sie erwischte, und ließ das Smartphone neben ihren Kopf fallen. Nach dem zweiten Klingeln hörte sie Adams herrische Stimme: »Johanna?«
Sie seufzte erleichtert auf und versuchte, einen geraden Satz zu formulieren, konnte aber nichts zustande bringen. Also ächzte sie nochmals. Sie merkte, wie ihr Bewusstsein langsam in Dunkelheit überging und schloss die Augen.
Alles schmerzte.
Ihr war so übel ...
»Johanna?! Was ist los? Wieso teilst du deinen Standort mit mir – Johanna, ich rufe einen Krankenwagen, okay?«
Adams Stimme zog sie zurück in die Realität und sie schluckte mehrfach, um sich nicht zu übergeben.
Sie flüsterte ein »Danke« und versank endlich in tiefer Dunkelheit.
Johanna erwachte aus einem schwarzen Dunst. Sie war verwirrt und orientierungslos. Ihre Augen wollten sich nicht so richtig öffnen, jedes Mal, wenn sie es versuchte, fielen sie ihr sofort wieder zu und die Dunkelheit umfing sie erneut. Sie lag da und wartete darauf, dass sich dieser Zustand legte. Sobald sie sich ein wenig beruhigt hatte, kamen die Erinnerungen zurück. Ihr Puls kletterte abrupt in die Höhe, sie schlug endgültig die Augen auf und sah sich leicht panisch um.
Sie lag in einem Krankenzimmer. Ihr gegenüber stand ein leeres Patientenbett, eine blaue, breite Tür führte auf den Flur hinaus und eine etwas kleinere Tür zu ihrer Linken war angelehnt. Sie war in der Lage, das Waschbecken zu sehen – ein Badezimmer. Sachte drehte sie den Kopf nach rechts, wovon ihr schwindelig wurde. Sofort schloss sie die Augen und konzentrierte sich. Sobald sie ihre Atmung wieder im Griff hatte, öffnete Johanna die Augen und schielte in die andere Hälfte des Raumes. Auf ihrem Nachttisch lag ein zugeklapptes MacBook – sie erkannte das Markenzeichen des Konzerns auf dem Deckel – und ihr Smartphone lag daneben. Dahinter ein leeres Glas und eine Flasche Wasser. Ihr Blick flackerte nochmals über den Laptop.
Das gehört mir nicht ..., entsann sie sich träge und ließ ihren Blick weiterwandern. Jetzt erst realisierte sie, dass sie ihre Beine nicht bewegen konnte. Sie versuchte sacht, Zehen oder Knöchel zu rühren, aber es tat sich nichts. Sie runzelte verwirrt die Stirn, beließ es für den Moment dabei, diese offene Frage zu all den anderen zu stecken, die sie dem Personal oder sonst jemandem an den Kopf werfen würde.
Adam saß auf einem Stuhl neben ihrem Krankenbett, sein Oberkörper unweit ihrer Decke auf der Matratze, den Kopf auf seine Arme gebettet. Er schlief. Johanna bemerkte, wie ihre Wangen warm wurden und ihr Herz mit einem Mal schneller schlug und sah ihn für lange Zeit ungestört an. Verwirrende Bilder des Unfalls kamen ihr wieder in den Sinn, sie fing an, sich um die anderen zu sorgen.
Was ist nur passiert? Alles war gut ... Ich habe Adam geschrieben ...
Der Baum!
Johanna setzte alle Bilder in die geschätzt korrekte Abfolge und ließ sie mental immer wieder von vorn ablaufen. Was war genau passiert? Nachdenklich studierte sie Adams Gesicht. Er würde ihr die fehlenden Puzzlestücke geben, wenn er nur aufwachen würde.
Sie wurde jäh in ihrer Betrachtung unterbrochen, als es herrisch an der großen Tür klopfte und eine Krankenschwester hereinkam. Sie schob einen riesigen Wagen vor sich her, der aus drei Etagen voller Utensilien bestand. Zielstrebig wuselte sie auf Johannas Bett zu und lächelte sie an, bevor sie nach einem Klemmbrett oben auf dem Wagen griff. »Frau McGibbon, Sie sind wach! Wie schön, wie schön – trinken Sie erst mal etwas Wasser, dann rufe ich den Herrn Doktor, damit er Ihnen berichten kann.«
Die Schwester schritt kurz ins Bad, Johanna hörte lautes Rumoren, dann kam sie wieder hinaus. Sie desinfizierte sich die Hände neben der Tür und das Stakkato wurde fortgeführt: »Ich bin Schwester Drujiç und werde bis zum Abend auf dieser Station sein. Wenn etwas ist, drücken Sie einfach diesen roten Knopf und eine Pflegekraft wird schnellstmöglich zu Ihnen kommen.« Sie deutete auf den Schalter über Johanna, der an einem dieser speziellen Griffe hing, um sich hochzuziehen.
Schwester Drujiç machte sich an den Schläuchen und Maschinen rund um Johannas Bett zu schaffen. Währenddessen ließ sie Smalltalk auf Johanna niederprasseln, öffnete die besagte Wasserflasche bis zum vertrauten Knacken und stellte sie wieder hin. Sie stürmte um Adam herum und ertastete Johannas Puls. Hinterher rauschte sie mit einem »Der Doktor kommt gleich!« davon. Johanna blieb sprachlos zurück.
Adam rührte sich und setzte sich auf seinem Stuhl auf, gähnte und streckte seine Arme gen Himmel. Er realisierte, dass sie ansprechbar war, lächelte verschlafen und sah sie mit seinen grünen Augen an. Er schien trotz seines Nickerchens weiterhin müde zu sein. »Na, auch wieder wach, Jojo?«
Johanna schnitt eine Grimasse und schielte auf das Glas neben der Wasserflasche. Adam verstand den Wink, goss ihr ein Glas ein und reichte es ihr in die rechte Hand – die Hand ohne Zulauf. Vorsichtig trank sie es Schluck für Schluck aus und starrte Adam an. Dieser ließ sich nichts anmerken, nahm sein Smartphone und tippte eine Nachricht an jemanden ein. Dann steckte er es weg und sah sie mit ernstem Gesicht an. Sie reichte ihm ihr leeres Glas und er stellte es wieder auf den Nachttisch. In die Stille hinein sagte er leise: »Deine Eltern kommen gleich, ich habe ihnen getextet.«
Johannas Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe.
Adam hat die Nummer meiner Eltern?! Sie sind hier ...
»Sie sind hier?«, wiederholte sie die Frage laut. Ihre Stimme klang krächzend und Johanna schloss rasch den Mund.
Fragend sah er zu ihr herüber. »Warum sollten sie das nicht sein? Sie sind in der Mensa, um Mittag zu essen. Sie kommen gleich zurück.«
Johanna verdrehte die Augen. »Und was machst du hier?«
Adam versteifte sich. Sein Blick wurde hart und er sagte in leisem, kaltem Tonfall: »Es ist meine Schuld, dass du in dieser Situation gelandet bist. Ich habe mich geweigert, euch zu fahren, und bin nicht direkt los, um Toni eine Abreibung zu verpassen und den Wagen zu holen. Es ist meine Pflicht, hier zu sein und zu sehen, wie es dir geht. Auch für Toni ...«
»Was ist mit Toni?«, fragte sie umgehend, doch Adam schwieg und starrte die Wand hinter ihr an.
Sie räusperte sich, so mühelos wie sie konnte, ohne ihre schädelspaltenden Kopfschmerzen zu verschlimmern. Ihre Stimme war rau und leise, aber Adam hörte sie trotzdem. »Wa–was ist mit den anderen?«
Seine linke Augenbraue hob sich und ein kleines Lächeln stahl sich in seinen Blick, erreichte aber nicht seinen Mund. »Sie sind alle wohlauf – dank dir, Johanna.« Nun strahlten seine grünen Augen regelrecht.
Johanna schluckte ein paar Mal und bat um mehr Wasser. Adam schenkte ihr wortlos nach und reichte ihr das Glas. Dann schwiegen sie wieder.
Sie überwand sich, ihn nach mehr Details bezüglich des Unfalls und des Faktes, dass Adam die Nummer ihrer Eltern hatte, zu fragen. In genau diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ihre Eltern, gefolgt von einem älteren Mann mit weißem Kittel, stürmten herein.
Adam erhob sich wie von der Tarantel gestochen, schnappte sein MacBook vom Nachttisch und trat von Johannas Bett zurück, um ihren Eltern Platz zu machen. Ihr entging nicht, wie ihr Vater Adam kurz zum Dank den Arm drückte.
Ihre Mutter setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl, ihr Vater platzierte sich dahinter und legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. Beide lächelten beruhigend auf sie herab, doch Johanna ahnte, dass ein dickes Donnerwetter im Raum schwebte.
Unschlüssig sah sie von ihren Eltern zu dem Mann im Kittel und fragte: »Sie sind mein Arzt?« Der Fremde nickte, lächelte und machte sich auf seinem Klemmbrett Notizen.
Wahrscheinlich, dass ich einen geraden Satz rausgebracht habe, beurteilte sie sarkastisch.
»Ich bin Doktor Martin, leitender Chirurg Ihrer OP.«
Johanna stutzte verwirrt und runzelte die Stirn. Dr Martin bemerkte es und fuhr fort: »Sie hatten einen Autounfall, bei dem Sie sich beide Beine gebrochen haben.«
Johanna wollte ihn unterbrechen, doch Dr Martin hob beruhigend die Arme mitsamt Klemmbrett in der linken Hand. »Es sind beides relativ problemlose Brüche, weshalb Sie für jedes Bein ein Vacoped bekommen haben. Das ist kein Gips, sondern ein Plastikschuh, der die Unterschenkel und Füße in der jeweils korrekten Position hält.
Die OP dazu verlief positiv und Sie werden voraussichtlich keine bleibenden Schäden davontragen. Hinzu kommt eine leichte Gehirnerschütterung und Ihre linken Rippen sind angeknackst. Dafür haben wir Ihnen eine entsprechende Korsage mit Klettverschluss umgewickelt. Diese müssen Sie Tag und Nacht tragen, damit sich die Rippenknochen während des Heilungsprozesses in korrekter Position befinden.«
Erneut wollte Johanna Fragen stellen, doch Dr Martin überging sie. »Ihnen werden einige Medikamente verschrieben gegen die Schmerzen und wegen des Schwindels und der Übelkeit.«
Dr Martin wandte sich von Johanna ab und richtete sich an ihre Eltern: »Alles in allem ist die Prognose für Ihre Tochter ausgezeichnet. Zur Sicherheit möchten wir sie aber noch eine Nacht hierbehalten, um ihre Werte bei Bewusstsein im Auge zu behalten. Falls sie in vierundzwanzig Stunden immer noch stabil ist, kann sie nach Hause gehen. Sie können die Entlassung erst morgen unterschreiben, aber wir haben einige Details zu den Medikamenten, die sie gerne nachher klären können. Unverträglichkeiten oder Allergien liegen nicht vor, korrekt?«
Diese Frage war eher rhetorischer Natur, denn er zog bereits eine kleine Taschenlampe aus der Brusttasche seines Kittels, checkte Johannas Augenreflexe, ihren Puls und fragte sie nach ihren Kopfschmerzen. Nachdem er einige weitere Notizen auf seinem Klemmbrett gemacht hatte, verabschiedete er sich und eilte hinaus.
Johannas Fragen bezüglich der Details rund um die Handhabung der Vacopeds, der Heildauer, wann sie wieder gehen könnte und alle anderen, die in ihrem Kopf herumgeisterten – sie hatte sie nicht stellen können. Verärgert runzelte sie die Stirn. Sie ließ vorsichtig ihre Finger über ihren Bauch fahren und bemerkte darunter einen Klettverschluss – das musste besagte Korsage für die Rippen sein. Es erstaunte sie, wie wenig Schmerzen sie hatte, kam allerdings zu dem Schluss, dass die Schwestern ihr bestimmt eine ordentliche Dosis Schmerzmittel untergemischt hatten.
Johannas Mutter nahm ihre Hand, streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken und seufzte. Ihr Vater beugte sich kurz herunter, um ihre Finger zu drücken. Dann brach Johanna das Schweigen. »Was ist mit den anderen?«
Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Alle sind okay, da du schnell Hilfe gerufen hattest. Melanie und Toni werden derzeit physiotherapeutisch behandelt aufgrund der Airbags, die zu einem Schleudertrauma führten. Da sich das Auto frontal um den Baum gewickelt hat, mussten die beiden von der Feuerwehr rausgeholt werden. Dank deines schnellen Anrufs konnten jedoch weitere Schäden an den Beinen vermieden werden. Es sind Quetschungen, blaue Flecken und einige Schnittwunden geblieben …«
»Und der Schock«, fügte ihr Vater hinzu.
Johanna war verwirrt. »Was für ein Schock? Was genau ist überhaupt passiert?«
Ihr Vater nahm seine Brille ab und kniff sich in die Nasenwurzel, wie er es immer tat, wenn er sich zurückhielt oder konzentrierte. »Toni hat versucht, einem Reh ausweichen, das auf die Straße gesprungen ist, und hat die Kontrolle über das Auto verloren. Dazu kam erster Bodenfrost, weshalb Adam euch alle von Anfang an nicht mit dem Camaro zur Party fahren wollte – laut seiner Aussage.«
Adam schnaubte. Johannas Blick schweifte zu ihm hinüber. Er lehnte an der Wand gegenüber, ein Fuß am Mauerwerk, die Arme verschränkt. Das MacBook lag auf der gefalteten Decke des leeren Bettes.
Ihr Vater fuhr fort und ignorierte Adams Schnauben: »Toni hat einen Baum gerammt und du bist durch die Frontscheibe geflogen, hast den Stamm mit deinen Rippen gestreift und bist in den Graben gerollt …«