Colour & Bones - Luna Cathedras - E-Book

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Luna Cathedras

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Beschreibung

Sechs Monate ist es her, seitdem Adam verschwand und Johanna in einem Leben voller Zorn- und Panikattacken zurückgelassen hat. Von einer anonymen Nummer erhält sie schließlich einen konkreten Hinweis, wo Adam sich aufhalten könnte. Gleichzeitig offeriert der Kreis der Begnadeten, ihr bei der Suche nach ihm zu helfen - sofern sie der Organisation beitritt. Schnell aber wird Johanna klar, dass sie für etwas benutzt wird, was sich ihr noch nicht komplett erschließt. Gemeinsam mit Adams bestem Freund Toni versucht Johanna, die Intrigen zu entwirren und herauszufinden, was der Kreis der Begnadeten plant. Aber Toni überschreitet die feinen Grenzen der Freundschaft, wann immer sich ihm die Gelegenheit bietet - und Johanna ist nicht länger abgeneigt, seinen Avancen nachzugeben...

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Seitenzahl: 358

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Das Buch:

Sechs Monate ist es her, seitdem Adam verschwand und Johanna in einem Leben voller Zorn- und Panikattacken zurückließ. Von einer anonymen Nummer erhält sie schließlich einen konkreten Hinweis, wo Adam sich aufhalten könnte. Gleichzeitig offeriert der Kreis der Begnadeten, ihr bei der Suche nach ihm zu helfen – sofern sie ihnen beitritt.

Gemeinsam mit Adams bestem Freund Toni versucht sie, die Intrigen zu entwirren und herauszufinden, was genau der Kreis der Begnadeten mit ihr vorhat.

Währenddessen überschreitet Toni die feinen Grenzen der Freundschaft, wann immer sich ihm die Gelegenheit bietet – und Johanna ist nicht abgeneigt, seinen Avancen nachzugeben…

Die Autorin:

Die im Jahrgang 1989 in der Schweiz geborene Luna Cathedras wohnt und arbeitet mit ihrem Partner und zwei Katzen zurzeit in einer Kleinstadt in Brandenburg. Sie schreibt ihre Bücher in Begleitung von C-Drama und K-Drama OST und mit steter Unterstützung ihrer Vierbeiner. Sie liebt die fernöstliche Dramatik in den entsprechenden Serien und lässt die ein oder andere dadurch inspirierte Handlung in ihre Bücher miteinfliessen.

Inhaltshinweis

Solltest du als Leser:in mit den nachfolgenden Schlüsselwörtern aus irgendeinem Grund Probleme haben, steht es dir frei, das Buch zurückzulegen und weiterzugehen. Denn diese Geschichte, auch wenn frei erfunden und zu keinem Zeitpunkt gewollt auf Ereignisse und Personen (lebendig oder tot) in der realen Welt bezogen, wird all diese Schlüsselworte in irgendeiner Weise verarbeiten.

Du musst selbst entscheiden, wie und ob du dem gewachsen bist.

Meine empfohlene Altersgrenze für dieses Buch ist 18+.

Wer dieses Buch liest, den Smut jedoch überspringen möchte, der meide Kapitel 22 und 26.

Schlüsselworte:

Explizite Sexszenen

Leichte Form von Erpressung

Verlust, mit Folgen in Verbindung mit Panikattacken

Emotionale Manipulation

Experimente an Menschen

Gefährliche Handlungen ohne Einverständnis

Eintauchen und unserer Welt entfliehen, Als dunkler Bösewicht Wälderwärts ziehen? Stets auf der Suche nach dem wahren Glück, sinken wir aufs Neue in die Realität zurück, Und sehen nicht, dass es bereits liegt in uns’rer Hand, In Form von Geschichten oder einem fernen Land. Wer wären wir ohne Fantasie, ohne erdachte Religion und Magie, ohne herzzerreißende Liebesgeschicht, und den notwendigen Niederlagen? Die darstellende Kunst, sie bricht, auf dass man sehnt nach besseren Tagen, das Herz der Leser.

Luna Cathedras, 2024

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Was bisher geschah

Johanna McGibbons Leben war seit jeher durchzogen von Geheimnissen und Erinnerungslücken.

Nachdem sie eines Abends in einen Autounfall geriet, kümmerten sich ausgerechnet Toni und Adam Cadeesh – ihre Sandkastenfreunde von nebenan – um sie und stellten sicher, dass sie bis zur vollständigen Genesung umsorgt blieb.

Dass Johanna schon seit Kindheitstagen für Adam schwärmte, blieb dabei nicht lange verborgen. Aber dass er ihre Gefühle erwiderte – damit hätte sie nie gerechnet. Während sie sich auf eine romantische Beziehung mit Adam einließ, offenbarten die beiden Brüder mehr und mehr Details zu Johannas Erinnerungslücken und erklärten ihr, wer sie in Wahrheit waren: Opfer einer Vorfahrin Johannas, welche ihre Seelen dermaßen gequält hatte, dass diese erstarrten und somit unsterblich wurden.

Mithilfe der Brüder erfuhr Johanna einiges über die Organisation, der sie seit jeher auf Wunsch ihrer Eltern beitreten und ihre Fähigkeiten anbieten sollte. Und dass ihre heilenden Kräfte bereits seit Kindheitstagen in ihr schlummerten. Fest entschlossen übte sie sich im Umgang mit ihren Fähigkeiten, stürzte sich in die Aufgabe, gemeinsam mit Toni und Adam die Intrigen der Organisation zu durchschauen – und stetig brodelte eine Wut in ihr, die sie sich nicht zu erklären vermochte.

Schließlich brach jener Zorn in Form einer schwarzen Wolke aus ihr hervor und traf unbeabsichtigt ihren geliebten Adam, woraufhin dieser mit einem Schlag restlos aus ihrem Leben verschwand…

Prolog

Vor 6 Monaten

Ich (08:53): Adam, bitte verzeih mir! Ich (08:53): Ich wollte das nicht! Ich (08:55): Bitte, komm zurück und lass uns reden. Ich (08:57): Ich liebe dich und will dich nicht verlieren!

Vor 5 Monaten

Ich (16:38): Adam… Ich (16:41): Bitte, es tut mir leid. Ich (16:50): Können wir nicht darüber reden? Kann ich es nicht irgendwie wieder gut machen? Ich (17:04): Ich liebe dich.

Vor 3 Monaten

Ich (14:02): Ich vermisse dich so… Ich (14:03): Bitte, komm zurück. Ich (14:05): Ich liebe dich.

Ich (22:11): Adam… bitte. Rede mit mir…

Vor 1 Monat

Ich (03:01): Es tut mir so leid… Ich (03:47): Kann man sich entlieben?

Heute

Ich (02:21): Vielleicht kann ich die Erinnerungen an dich wieder blockieren. Damit zu leben ist schlimmer, als zu vergessen.

1

Sie schrie.

Alles in ihr, an ihr brannte, zerriss und zerfiel zu Asche.

Und doch stand sie an genau derselben Stelle und lebte. Atmete und zerbrach zugleich.

Johanna legte schützend die Arme um ihren Körper. Sie musste sich vor dem Verbrennen schützen, vor dem Zerfall bewahren. Es geschah trotzdem wieder und wieder – und am Ende stand sie da, in der Eingangshalle der Cadeesh-Villa, und der Moment wiederholte sich.

Ein Schluchzer zerriss die unheimliche Stille. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie weinte, doch keine Träne rann über ihre Wange.

Ein Traum.

Dieser Traum.

Es war immer dieser Traum, der sie heimsuchte, wann immer Johanna dachte, dass sie ein Stück freier atmen, ein Fitzelchen weniger deprimiert sein konnte.

Und jedes Mal war sie darin gefangen. Sie konnte sich nicht selbst aufwecken oder auf etwas anderes konzentrieren. Nein, sie musste wieder und wieder durch diese Hölle, die sie selbst über sich gebracht hatte, indem sie Adam eine düstere Form ihrer Fähigkeiten entgegengeschleudert hatte.

Ein weiteres Schluchzen löste sich von ihren Lippen. Morgen früh würde sie sich an nichts hiervon erinnern können. Der Horror, den sie im Augenblick empfand, würde zwar als schales Echo nachhallen, aber wenn der Traum sie erneut aufsuchte, wäre alles genauso schlimm wie beim ersten Mal.

2

»Guten Morgen, Leonessa.«

Tonis Stimme weckte Johanna aus einem Dunst finsterer Träume. Sie schlug die Augen auf, blinzelte ein paar Mal und erkannte, dass er auf der Bettkante sass, den Oberkörper ihr zugedreht, ein sanftes Schmunzeln auf seinen Zügen.

»Na, endlich wach?«, neckte er liebevoll und die blauen Augen begannen zu schimmern.

Johanna schüttelte missmutig den Kopf und wollte sich zur Seite drehen, um noch ein wenig länger im Bett zu bleiben.

Toni lachte leise, beugte sich weiter herunter und drückte ihr einen feuchten Schmatzer auf die Wange.

Mit einem »Igitt!« riss sie die Augen auf, wischte sich mit der Bettdecke die Spucke vom Gesicht und funkelte ihn empört an. Seine Frisur war ein wenig durcheinandergeraten, die blonden Strähnen hingen ihm über die Augen.

Die Augenfarbe ihres besten Freundes änderte sich in dieser Sekunde zu einem satten Saphirblau, das ihr förmlich entgegenstrahlte, so gut gelaunt schien er zu sein.

»Hopp! Frühstück in zehn, Aufbruch in dreißig Minuten«, verkündete Toni unbeeindruckt, erhob sich und ließ sie murrend zurück.

Mit einem Seitenblick auf den Wecker schlug Johanna seufzend die Bettdecke zurück. Sie griff nach ihrem Smartphone und prüfte die Benachrichtigungen. Nichts. Ein weiterer Tag ohne eine einzige Reaktion seitens Adam. Der Schmerz, der sich in ihr auszubreiten begann, ließ sie nach Luft schnappen. Kein Tag verging, an dem sie nicht bereute, ihn gehen gelassen zu haben.

Als hätte ich großartig eine Wahl gehabt.

Verbittert schlossen sich ihre Finger enger um das Gerät, die Knöchel knackten und Johanna stieß einen frustrierten Laut aus, bevor sie es zwischen die Kissen fallen ließ und aufstand, um ins Bad zu gehen.

Der Verlust von Adam war der Preis gewesen, den ich für meine Dummheit hatte bezahlen müssen.

Vor sechs Monaten hatte Adam sich zwischen sie und Toni gestellt, als ihre Fähigkeiten aus ihr hervorgebrochen waren. Sie hatte ihm wehgetan, das wusste sie – doch wie groß das Ausmaß seiner Verletzung war, blieb weiterhin unbekannt.

Toni hatte Adam in eine ihrer geheimen Wohnungen gebracht, dann jedoch den Kontakt zu ihm verloren. Auch er litt unter dem plötzlichen Verschwinden seines besten Freundes. Zwar versuchte er, Johanna mit allen Mitteln aufzuheitern, doch manchmal entdeckte sie ihn dabei, wie er mit leeren Augen Löcher in die Luft starrte, oder sein Smartphone wutentbrannt inspizierte.

Seither hatte sich so vieles verändert, dass es ihr zuweilen immer noch seltsam vorkam, dass bloß sechs Monate vergangen waren.

Gelleroy und Greta waren mittlerweile derart mit Arbeit für den Kreis der Begnadeten eingespannt, dass sie jedes Wochenende fortmussten. Aus diesem Grund hatte Johanna das Gästezimmer in der Cadeesh-Villa bezogen und wohnte an den Wochenenden hier – und die meisten Wochentage.

Unter der Woche stellte Toni sicher, dass sie rechtzeitig mit ihm an der Uni erschien, dass sie ihre Aufgaben und Projekte erledigte und ausreichend Essen zu sich nahm.

Ohne ihn wäre ich längst in einer dunklen Ecke verhungert, überlegte sie, während sie sich die roten Wellen kämmte und in einen Zopf band.

Sie blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und begutachtete sich. Die dunkelbraunen Augen waren dumpf geworden, es war kaum mehr Lebensfreude darin. Ihr Gesicht hatte zwar schon immer etwas Porzellanartiges, doch jetzt sah sie regelrecht ungesund bleich aus. Und die Wangenknochen traten deutlich daraus hervor – ein Zeichen für Unterernährung, trotz Tonis Bemühungen.

Seufzend schwang sie den Zopf über die linke Schulter. Das hatte alles keinen Sinn… Adam war weg und Johanna ging es seither so schlecht, dass sie teilweise nicht aus dem Bett kam, ohne einen Heulkrampf zu kriegen. Ihr Herz war gebrochen, ihr Körper mutierte mehr und mehr zu einem Wrack. Wären Tonis Versuche nicht gewesen, sie aufzuheitern, sie hätte schon längst aufgegeben.

Nebst ihrer körperlichen Verfassung vermisste sie Arissa. Ihre Vorfahrin war seit dem Unfall mit Adam wie vom Erdboden verschluckt.

Habe ich sie enttäuscht? Oder sind meine Kräfte auch für sie gefährlich? Habe ich sie etwa auch damit getroffen?

»Jojo…«

Johanna zuckte erschrocken zusammen. Toni lehnte mit der Schulter im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt und die Augenbrauen beunruhigt zusammengezogen. Sein eingehender Blick verriet ihr, dass sie länger in den Spiegel gestarrt hatte, als sie beabsichtigt hatte.

Fahrig griff Johanna nach dem dünnen Pulli, den sie ins Bad mitgeschleift hatte, und zog ihn sich über, um Tonis Betrachtung zu entgehen.

Er muss nicht mitkriegen, dass er mit allem, worum er sich bemüht, keinen Erfolg erzielt…

Bewegung kam in seinen Körper. Er stieß sich ab, entwirrte seine Arme und nahm ihre Hand. Wortlos führte er sie in die Küche der Villa. Erst als sie am Esstisch sass, hob Toni an: »Mal sehen, ob du heute essen kannst.« Obwohl sein Tonfall unbeschwert klang, wusste Johanna, dass er sich Sorgen um sie machte. Schuld rammte sich einem Bolzen gleich in ihr Herz. Sofort wies sie diese Emotion von sich – sie konnte nichts dafür, dass der bloße Anblick von Essen an manchen Tagen Grund genug war, dass ihr übel wurde. Es war wie verhext.

Nein, ich bin definitiv verhext, dachte sie lethargisch. Seit dem Tag, an dem meine Fähigkeiten aus mir herausgebrochen sind, bin ich nicht mehr ich selbst.

Zwar übte sie sich regelmäßig in der Sicht der Farben, aber Johanna hatte seit jenem Tag nichts mehr von ihrem Seelenteil Arissa gesehen oder gehört. Und dabei hatte sie noch so viele ungeklärte Fragen!

Eine weitere, weitaus unangenehmere Veränderung war allerdings, dass sie nun zwei Farbenwelten zur Verfügung hatte: Einmal die regenbogenartige Welt aus Seelenfäden mit goldenem und silbernem Horizont, und dann die düstere, aus Grau und Schwarz und giftigem Grün bestehende Welt. Es war nicht länger notwendig, diese Düsterwelt zu verbannen, damit die Farbenwelt zurückkam – nein, es war, als hätte Johanna zwei Seiten einer Medaille zur Auswahl. Und in der Düsterwelt fühlte sich Johanna immer wohler, spiegelte sie doch ihre eigenen Gefühle wider.

»Hier, iss«, unterbrach Toni ihre Gedanken. Passend zu seinen Worten stellte er einen Frühstücksteller mit einem Spiegelei und Speckstreifen vor sie auf den Tisch.

Seufzend langte Johanna nach dem Besteck und begann, die Mahlzeit hinunterzuwürgen. Es schmeckte nach Asche und Schuld, und kaute sich zäh wie Gummi. Johanna wusste, dass das eingebildet war. Trotzdem hatte sie das Gefühl, mit jedem Bissen ihre eigenen, bitteren Tränen zu schlucken.

»Gelleroy hat sich gestern Abend nach dir erkundigt.« Toni zerteilte seinen eigenen Speck und lud sich Ei auf ein Stück Toast. Johanna hob den Blick, doch er sah sie nicht an. Seine Augen waren starr auf sein Essen gerichtet, nur ein Muskel an seinem Kiefer zuckte.

Hastig schluckte sie den Bissen hinunter und erwiderte: »Und was hast du gesagt?«

Beinahe gleichgültig hob er die rechte Schulter und ließ sie wieder fallen, bevor er schnaubend antwortete: »Na, dass es dir gut geht und wir immer noch fleißig nach Adam suchen.«

Was nicht gänzlich gelogen war – sie waren in der Tat auf der Suche nach Adam. Aber es ging Johanna definitiv nicht gut. Allerdings würde ihr bester Freund den Teufel tun, sie an ihre Beschützer zu verraten, und dafür liebte sie ihn.

»Danke, Toni«, flüsterte sie.

Endlich hob er den Blick, und seine Augen trafen auf die ihren. »Nicht dafür, Leonessa.«

Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Hältst du an diesem Kosenamen fest?«, fragte sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, während sie sich die letzte Ladung Speck in den Mund schob.

Toni zwinkerte ihr wortlos zu, beendete sein Frühstück und meinte: »Bisher passt er am besten zu dir. Jojo wirst du zwar immer sein – süß und klein, wie du bist …«

Er grinste und Johanna schlug nach seinem Arm, als er ihren Teller nahm. Lachend wich er aus und fuhr fort: »Doch auch du wirst erwachsen und veränderst dich. Deshalb sollte dein Kosename angepasst werden.«

Johannas Schmunzeln verbreiterte sich zu einem Lächeln und sie betrachtete ihren besten Freund erneut. Toni stand vor der Spüle, räumte die Teller in die Spülmaschine, seine Miene konzentriert. Und doch war da dieser dauerhaft schelmische Zug um Mund und Augen, der ihn so attraktiv machte; ganz abgesehen von seinem hammermäßigen Aussehen.

Aus heiterem Himmel erinnerte sie sich an etwas, das Toni früher immer getan hatte, wenn er sich bei ihr bedankte. Kurzentschlossen stand Johanna auf, trat zu ihm und als er sich wieder aufrichtete, presste sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du für mich da bist.«

Diesmal wartete sie nicht ab, was er antworten würde, sondern eilte hinaus, um ihren Rucksack zu packen und ihre Zähne zu putzen.

3

Das Leben ist schon hart genug, wieso also muss sie immer noch darin vorkommen?

Ihre Augen fixierten Melanie Borthertorns Rücken durch den leichten Nieselregen, und sie malte sich aus, wie sie das Biest mit einem Seitwärtskick in die Pfütze beförderte, welche zwischen den Pflastersteinen links von ihr an Umfang zunahm.

Melanie hatte Toni immer noch nicht aufgegeben. Ständig wartete sie am Fahrradparkplatz auf Johanna und ihn, zog ihn mit sich und versuchte, auf ihn einzureden. Bislang hatte er alles abgeblockt, was sie zu sagen hatte und war mit stoischer Miene an Johannas Seite geblieben … bis heute.

»Okay, ich komme wieder in den Gruppenchat, aber damit hat es sich, Melanie«, warnte er sie gerade.

Doch anstatt eingeschüchtert zu sein, hopste Melanie euphorisch auf und ab und klatschte in die Hände.

Johanna konnte bloß die Kehrseite des Biests sehen, doch sie war sich sicher, dass Melanie Toni mit ihren gebleichten Zähnen strahlend anlächelte. Reflexartig verdrehte sie die Augen. Ein harter Stich ging ihr durch Mark und Bein. Mit einem Mal verspürte Johanna den mächtigen Drang, Melanie von Toni wegzustoßen, sie an den Haaren durch die Pfütze zu schleifen und ihr wehzutun, so wie sie es umgekehrt jahrelang mit Johanna getan hatte.

Mit dieser Emotion kam die Wut. Ihre Sicht kippte, sie sah alles in Grün- und Graustufen. Melanies Umriss schillerte giftgrün auf, und Johannas Wut fokussierte sich auf diese stechende Farbe. Unwillkürlich ballten sich ihre Hände zu Fäusten, die sie zitternd an ihre Seite presste. Halb im Rausch, halb erschüttert fühlte sie, wie dunkel wabernde Schlieren an ihren Händen zu tanzen begannen. Ihr gesamter Körper war steif vor Anspannung und unterdrücktem Zorn, den sie an Melanie –

Nein! Nicht die Kontrolle verlieren!

Allein dieser Gedanke löste eine solch tief greifende Furcht in ihr aus, dass die Wut augenblicklich verschwand. Stattdessen kämpfte Johanna jetzt mit der bereits bekannten, plötzlichen Atemnot, während sich ihre Fäuste entspannten und ihre rechte Hand sich um die eigene Kehle schloss, weil keine Luft hindurchkam.

Sie erinnerte sich an jenen Moment, in dem Adam mit ihr zusammen geatmet hatte, als es ihr ähnlich ergangen war. Auch wenn es weh tat, ihn in ihrem Bewusstsein zu visualisieren, so war diese Erinnerung das einzige, was ihr bislang zuverlässig geholfen hatte. Dabei stellte sie sich vor, was er zu ihr sagen würde, wenn er hier wäre.

»Sie ist deinen Zorn nicht wert – lass dich nicht auf ihr Niveau herabsinken. Zügle deine Emotionen. Wer weiß, ob deine Fähigkeiten erneut aus dir herausbrechen könnten. Lass es nicht zu, Kätzchen.«

Der rasende Puls entschleunigte sich, ihre Kehle schnürte ihr nicht länger die Luft ab. Johanna zog kontrolliert die Luft durch die Nase ein und atmete tief durch. Langsam, Muskel für Muskel, entspannte sich ihr gesamter Körper. Ihre Sicht kippte zurück in die Realität. Weg waren der stechende, giftgrüne Umriss um Melanies Körper und die tanzenden Schlieren um ihre Hände.

Froh darüber, den Moment überstanden zu haben, fokussierte Johanna sich auf die Szene vor ihr. Melanie war fort. Toni allerdings stand keine zwei Schritte mehr von ihr entfernt und seine besorgte Miene verriet, dass er genau wusste, was gerade passiert war: Sie hatte erneut eine Panikattacke erlitten.

»Was hat dich getriggert?«, forderte er und überwand die restliche Distanz zwischen ihnen. Ohne zu zögern, griff er nach Johannas Hand, um sie festzuhalten.

Sie schüttelte den Kopf, um den letzten Rest Panik und toxische Gedanken von sich abzuschütteln. Dann sah sie zu ihm auf und erwiderte: »Was wohl? Melanie natürlich.«

Johanna hatte damit gerechnet, dass er lächeln und einen Witz darüber reißen würde, wie er es immer nach einer ihrer Attacken tat, um sie aufzumuntern, doch nichts davon war der Fall. Toni hob seine freie Hand an ihr Kinn und studierte ihr Gesicht. Zentimeter für Zentimeter wanderten seine Augen darüber, ließen ihr Herz nervös flattern und ihren Puls schneller schlagen – diesmal aus einem anderen Grund.

»Es geht dir besser«, stellte er mit rauer Stimme fest.

Johanna nickte langsam, erwiderte jedoch nichts. Niemals käme sie auf die Idee, ihm ihre wahren Emotionen zu verraten. Sie steckte dermaßen tief in ihrer Trauer um Adam fest, dass sie selbst nicht wusste, was sie damit anfangen sollte.

Toni beugte sich ein wenig zu ihr hinab, die Augen so hell wie Eis und strahlend wie der Mond. »Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden, Leonessa. Meine Treue liegt ganz bei dir.«

Ertappt zuckte Johanna zusammen. Doch bevor sie sich verteidigen konnte, trafen seine Lippen für wenige Sekunden auf ihre. Dann richtete er sich wieder auf und lächelte verschmitzt. »Wie wäre es mit einem Eis, um diese brennenden Wangen zu kühlen?«, spottete er.

Johanna starrte ihn mit offenem Mund an. Das prickelnde Gefühl seiner Lippen schoss durch ihre Adern, ließ sie erzittern und die Sehnsucht auflodern, endlich wieder etwas zu fühlen. Sie blinzelte, fasste sich und lachte einmal auf, bevor sie erwiderte: »Diesmal hast du mich eiskalt erwischt, Toni. Fast hätte ich es dir geglaubt.«

Für einen winzigen Moment glaubte sie, Toni erstarren zu sehen. Doch dann war es weg und sein Schmunzeln mutierte zu einem Grinsen. Er trat neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern, dann zog er sie in Richtung Eisdiele davon.

»Hast du von Gelleroy gehört?«, erkundigte sie sich.

Toni schüttelte den Kopf, legte ihn dann schief und sagte: »Greta schreibt ab und an eine SMS.« Er machte eine Pause, in welcher er theatralisch seufzte. »Pass auf Johanna auf! Lass Johanna nicht allein!«

Die Imitation von Gretas wutentbrannter Stimme ließ zu wünschen übrig und Johanna prustete. Er grinste und fuhr fort: »Als wüsste ich nicht, wie ich auf dich aufpassen soll, kleine Jojo.« Und schon landete die Hand, die vorhin auf ihrer Schulter gelegen hatte, in ihren Haaren und verwuschelten diese zu einem heillosen Durcheinander.

»Hey!«, schnaubte Johanna entrüstet und versuchte, ihre Frisur in Ordnung zu bringen, während Toni lauthals lachte.

»Hier, ich helfe dir«, offerierte er und glättete eine Stelle an ihrem Kopf, bis er zufrieden war. Dann zwinkerte er ihr zu und nahm ihre Hand in seine.

»Also: Eis oder heiße Schokolade?«, fragte er.

Kurz dachte Johanna nach, dann antwortete sie: »Heiße Schokolade. Für Eis ist es eindeutig zu kalt.«

Toni schnaubte. »Es ist nie zu kalt für Eis, Leonessa. Und es ist fast Juli, also –«

»Aber es gab dieses Jahr noch keine Temperaturen über dreißig Grad«, warf sie ein.

Toni stieß einen unzufriedenen Laut aus, kämmte sich mit der freien Hand durch seine blonden Haare und schwieg einen Moment lang. Dann meinte er: »Wie steht es eigentlich um die Zeremonie der Befreiung, hast du dich entschieden?«

Er hätte auch einen Eimer Eiswasser über ihrem Kopf ausschütten können, das hätte dieselbe Wirkung auf sie gehabt. Johanna seufzte schwer und schwieg.

Seitdem Adam verschwunden war, hatten Toni und sie unermüdlich daran gearbeitet, dass ihre Fähigkeiten nicht mehr aufs Geratewohl aus ihr herausbrachen. Schnell hatten sie erkannt, dass sie dazu viel mehr miteinander kommunizieren mussten, als gedacht – und vor allem ehrlich zueinander sein. Denn Emotionen waren es, die Johannas Kräfte beeinflussten, zum Guten oder zum Schlechten. Ihre Wut darauf, in allen Belangen nur das Nötigste gesagt zu bekommen, hatte damals den ersten Ausbruch verursacht. Deshalb war Toni dazu übergegangen, ihr jegliche Informationen mitzuteilen, nachdem er diese verifiziert hatte.

Noch dazu hatte sich seine Art, sich ihr körperlich zu nähern, immens verstärkt – was sie heillos verwirrte. Johanna konnte nicht leugnen, dass ihr gefiel, was Toni mit ihr anstellte. Er scheute sich nicht davor, ihre Hand zu nehmen, wenn er es wollte, und er zog sich nie vor einem Streit mit ihr zurück, sondern argumentierte mit ihr, bis die Wogen sich geglättet hatten, nur um sie kurz darauf wieder in den Arm zu nehmen.

Mit ihm so offen und ehrlich umzugehen fühlte sich gut an – richtig. Toni war der einzige Grund, warum sie überhaupt noch fühlen konnte. Es schien, als wäre er der letzte Anker, der sie erdete. Wäre er nicht gewesen… Johanna wollte sich nicht ausmalen, was dann mit ihr geschehen wäre.

Adams Verschwinden hatte ihre gemeinsamen Pläne zur Infiltration der Organisation allerdings massiv beeinträchtigt. Johanna war sich nicht länger sicher, ob sich hineinzuschmuggeln und die gesammelten Informationen gegen die Organisation zu verwenden, weiterhin klug war. Schließlich bestand der Kreis der Begnadeten nach all den Jahrhunderten aus mehreren tausend Mitgliedern. Und sie waren bloß zu zweit. Ja, gut, Toni war uralt und all das, doch er war kein Computer-Crack – und so einer war in diesem Plan schlichtweg unentbehrlich. Adam war das fehlende Stück zu dem Puzzle, welches ihr die Sicherheit gegeben hätte, dass sie nicht Kopf voran gegen Mauern rannten.

Vielleicht sollte ich die Chance nutzen und komplett vom Radar der Organisation verschwinden… Wenn ich die Zeremonie nicht bestehe – oder gar nicht erst teilnehme –, werde ich für immer aus dem Kreis ausgeschlossen. Dann könnte ich in Ruhe mein Studium abschließen und mit Toni weiter nach Adam suchen.

»Toni?«

Das Bimmeln eines Glöckchens unterbrach sie. Toni hatte die Tür zu ihrem Lieblingscafé geöffnet und stand im Durchgang, um sie vor sich eintreten zu lassen.

»Johanna!«

Überrascht blickte sie erst zu ihm auf, dann dahinter in den Raum hinein. Francesca und Mike sassen an Johannas rundem Lieblingstischchen, das neben dem großen Fenster stand, welches zur Straße hinausblickte.

»Franky!«, rief Johanna erfreut und drängte los.

Ihre Freundin drückte sie in einer festen Umarmung an sich. Mike nahm sie ebenfalls kurz in den Arm, begleitet von einem zurückhaltenden »Hey«, dann setzten sie sich.

Toni glitt rechts von ihr in einen freien Stuhl und grinste. Johanna kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Du hast hier doch nicht etwa deine Finger im Spiel?«

Verteidigend hob er die Arme in die Höhe. »Easy, McGibbon – ich war das bestimmt nicht.«

Franky lachte und lenkte Johannas Aufmerksamkeit damit auf sich. Sie zwinkerte und meinte: »Wir wussten selbstverständlich, wann deine Lesungen vorbei sind, und dass du beinahe jede Woche mit Toni hier bist. Mike und ich sind übers Wochenende hergekommen, um meine Eltern zu besuchen, und wir dachten uns, wir kommen auf Gutglück hierher.«

»Okay«, erwiderte Johanna mit einem ehrlich erfreuten Lächeln und wandte sich an Mike. »Und wie geht es euren Eltern? Und euch beiden? Wie ist die neue Uni?«

Mike lächelte und nahm Frankys Hand in seine. »Danke, es läuft super. Da die Uni kleiner ist, nehmen sich die Professoren mehr Zeit für uns. Unsere Noten sind spitze!« Er räusperte sich, plötzlich verlegen, vermochte jedoch seine Begeisterung nicht zu zügeln. »Und wir sind aus einem bestimmten Grund hergekommen: Franky ist schwanger!«

Verdattert starre Johanna zwischen den beiden hin und her. Francescas Augen leuchteten, ihr Körper strahlte förmlich vor Glück, als sie Mike ansah. Sein schiefes Grinsen wurde breiter, sobald er ihren Blick erwiderte.

Wahre Liebe, höhnte es von irgendwo in ihrem Gehirn. Schlagartig sah sie nur noch das Neongrün von Adams Augen, seinen Körper, seine Nähe.

Wahre Liebe, und mir blieb sie verwehrt.

Johanna blieb erneut die Luft weg. Sie versuchte, ihr Lächeln auf dem Gesicht zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen, während ihre Sicht erneut zu kippen drohte und die Kehle sich zuschnürte.

Eine Hand griff nach der ihren in ihrem Schoss und Johannas Kopf schnellte zur Seite. Tonis Augen strahlten Besorgnis aus, doch er sah sie einfach nur an, während ihre Finger die seinen zu zerquetschen drohten.

»Dann herzlichen Glückwunsch euch beiden«, antwortete er verspätet an ihrer statt und sein Blick glitt zu ihren Freunden. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das Johanna selbst durch den Dunst ihrer Atemlosigkeit als falsch erkannte.

»Ja«, setzte sie selbst an, »herzlichen Glückwunsch.«

Zu lahm. Sie werden merken, dass du es nicht ernst meinst, McGibbon.

Langsam kehrte die normale Sicht zu ihr zurück, das Atmen fiel ihr leichter, und sie brachte ein ehrliches Lächeln zustande. »Wie wollt ihr das alles unter einen Hut bekommen?«

Frankys Blick huschte zu den verschränkten Fingern auf Johannas Schoss und wieder zurück in ihr Gesicht, bevor sie antwortete: »Oh, meine Eltern wollen auf jeden Fall helfen. Mike hat zwar gesagt, dass er sein Studium auch für ein zwei Jahre pausieren könnte, aber das will ich gar nicht erst hören.«

Mike seufzte theatralisch auf. »Du wirst nachher viel mehr verdienen als ich, und ich kann es mir leisten, mal auszusetzen.«

Mahnend funkelte Francesca zu ihm hinüber. »Nur weil deine Familie und du reich seid, heißt das nicht, dass ihr euch auf die faule Haut legen sollt«, tadelte sie ihn sachte. Es entstand eine kurze, peinliche Pause, in der alle sich räusperten, dann fragte Franky: »Und wie läuft es bei euch? Schon eine Spur von Adam?«

Johanna schüttelte den Kopf und Toni sagte: »Bisher nicht. Aber wir geben nicht auf.«

Wie zur Ermutigung drückte er Johannas Hand fester.

Sie hatte Francesca drei Wochen nach Adams Verschwinden erzählt, dass sie mit ihm zusammen gewesen war und dass sie einen großen Streit gehabt hatten, nach welchem er wie vom Erdboden verschluckt blieb. Seither hatte Francesca sich vorbildlich um sie bemüht und ihr bewiesen, was für eine tolle Freundin sie war. In den ersten zwei Monaten hatte sie Johanna täglich geschrieben. Wenn jene nicht geantwortet hatte, folgten Anrufe seitens Francesca, in welchen sie ihr von ihrem Tag erzählt hatte.

Nach und nach waren die Nachrichten weniger geworden, doch Johanna und Franky telefonierten seither jede Woche.

Eine Welle der Dankbarkeit überkam Johanna und sie ihre Freundin an.

Mikes Augenbrauen schoben sich verwirrt nach oben. Er deutete auf Johannas und Tonis verschränkte Finger und meinte: »Ich dachte, ihr beiden seid jetzt zusammen.«

Diese Worte brachten ihm einen Stoß zwischen die Rippen von seiner Freundin ein, und er verstummte.

Toni grinste frech zur Antwort. »Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden, was?«

In diesem Moment klingelte Johannas Smartphone. Dankbar für diese Ablenkung griff sie danach und nahm den Anruf entgegen, ohne auf den Anrufer zu achten. »Ja?«

»Tochter.«

Alles in ihr erstarrte zu Eis.

Gelleroy und Greta, die sich seit Johannas Geburt als ihre Eltern ausgegeben hatten, waren in Wirklichkeit die ihr zugewiesenen Beschützer der Organisation. Gelleroy hatte das Geheimnis gelüftet, kurz bevor sie sechzehn Jahre alt geworden war und Adam in einem Zelt hinter der Cadeesh-Villa geküsst hatte. Doch da sie daraufhin ihre eigenen Erinnerungen an diesen traumatischen Tag blockiert hatte, wusste sie davon nichts mehr – bis vor knapp einem halben Jahr. Adam hatte ihr dabei geholfen, die entsprechende Erinnerungen freizulegen. Seither hütete Johanna das Geheimnis, dass sie um die wahre Identität dieser beiden Menschen wusste – und um die Tatsache, dass ihre wahren Eltern am Abend ihrer Geburt ermordet worden waren.

Johanna atmete tief ein und erwiderte kühl: »Was verschafft mir die Ehre?«

Greta lachte lieblos auf, bevor sie erwiderte: »Erst entfernst du dich von deinem Schoßhündchen, dann reden wir.«

Also beobachtet sie mich. Wie könnte es auch anders sein.

Sie erhob sich, nickte den anderen entschuldigend zu und wechselte einen eingehenden Blick mit Toni, woraufhin sie hinaus eilte.

»Also?«, hakte sie nach, nachdem sie das Café verlassen hatte.

»Die Organisation will dir einen Deal vorschlagen. Da du in letzter Zeit nicht mehr … überzeugt davon zu sein scheinst, dass der Kreis der Begnadeten dein Zuhause sein könnte, wurde mir aufgetragen, dir das Folgende auszurichten: Trete dem Kreis bei und wir helfen dir dabei, Adam zu finden.«

Johannas Puls beschleunigte sich, ihre Gedanken rasten. Besaß der Kreis Informationen, die sie nicht hatten? Wussten ihre Beschützer mehr als sie und verschwiegen es ihr auf Geheiß von Thorn Borthertorn, dem CEO der Organisation?

Ihre vermeintliche Mutter fuhr fort: »Ob und welche Informationen wir bereits über sein Verschwinden besitzen, wird dir mitgeteilt, nachdem du die Zeremonie der Befreiung bestanden hast – und der Zeitpunkt angemessen erscheint.«

Alles, was Toni und sie bisher an Informationen hatten, war ein ungefährer Aufenthaltsradius, doch diese konkrete Intel war bereits drei Monate alt. Was also hätten die Mitglieder der Organisation rausfinden können? Oder war das hier ein Bluff, um sie in den Kreis der Begnadeten zu bekommen? Wussten diese Leute von ihren Zweifeln und von den Zeiten, in denen Johanna erwähnte, diesen Teil ihrer Welt in der Vergangenheit zurückzulassen?

Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass ihr das bekannt vorkam.

So viele Fragen… Beinahe wie damals, als wir zu dritt beschlossen, endlich Antworten zu finden.

Ihr Mund war trocken und ihr Puls raste immer noch, als sie fragte: »Was ist der Haken an der Sache?«

Greta schnaubte entrüstet in die Sprechmuschel. »Die Konditionen wurden genannt: Du trittst dem Kreis der Begnadeten bei, mit allem, was dazugehört. Als Gegenleistung hilft der Kreis dir bei der Suche nach Adam Cadeesh. Wenn der Zeitpunkt angemessen erscheint.«

»Und das ist alles?«, bohrte Johanna nach.

»Das ist alles«, bestätigte Greta – und legte auf.

Hinter ihr bimmelte das Glöckchen des Cafés und sie drehte sich halb herum. Toni trat aus der Tür und musterte sie eingehend, sobald er sie entdeckte. Er steckte seine Hände in die Collegejacke und zog eine Augenbraue hoch.

»Du siehst nicht gerade erfreut aus«, stellte er langsam fest.

Johanna schüttelte den Kopf, steckte ihr Smartphone weg und machte einen Schritt auf ihn zu. Doch er fing sie ab, nahm ihre Hand und steuerte sie auf dem Absatz herum in Richtung zuhause.

»Ich hab uns entschuldigt«, erklärte er. »Und jetzt sag mir, wer dich angerufen hat – du schaust regelrecht grimmig drein.«

Trotz ihrer schlechten Laune musste sie grinsen. »Wer sagt denn, dass das nicht mein normaler Gesichtsausdruck ist?«, spottete sie.

Toni lachte laut auf, dann argumentierte er: »Ich kenne dein Gesicht in- und auswendig, Leonessa. Das hier …« Er stupste mit seinem Zeigefinger an ihre Nase. »Ist nicht dein resting bitch face.« Auffordernd zog er eine Augenbraue hoch. »Also?«

Johanna seufzte und lenkte ein. »Es war Greta.«

»Mhmm«, machte er und wartete. Da sie jedoch nicht reagierte, bohrte er nach: »Irgendetwas sagt mir, dass das noch nicht alles war.«

Ein frustrierter Laut kam über ihre Lippen und sie verdrehte die Augen. »War es nicht. Sie hatte ein offizielles Angebot in der Tasche.«

Sie erzählte ihm, was Greta ihr offeriert hatte. Tonis Miene wurde bei jedem Satz düsterer, und seine Finger krallten sich unbeugsam um ihre eigenen. Nachdem sie geendet hatte, stoppte er mitten im Schritt und drehte sich ihr zu.

»Wirst du annehmen?«, fragte er.

Er versuchte, lässig zu wirken, doch Johanna durchschaute ihn. Der Muskel an seinem Kiefer zuckte, und er fuhr sich rastlos mit der freien Hand durch die Haare.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu.

Toni atmete hörbar aus. »Nun, falls meine Meinung für dich auch nur ansatzweise von Belang sein sollte …«

»Natürlich ist mir deine Meinung wichtig, Toni.«

Er lächelte, doch es erreichte nicht seine Augen. Sie blieben eisig. »Dann tu es nicht. Du kennst diese Leute nicht, ihre Intentionen sogar noch weniger. Ich schon. Deshalb rate ich dir, so weit wie möglich wegzubleiben, bis wir Adam gefunden und zurückgebracht haben. Dann können wir gemeinsam entscheiden, was wir tun werden.«

Johanna lachte einmal freudlos auf. »Ja, weil es ja so einfach ist, diesen Penner zu finden. Und das, bevor in einem Monat die Zeremonie der Befreiung stattfindet.«

Toni schaute grimmig auf sie herunter und schwieg. Ihre Blicke trugen stumm denselben Kampf aus, den sie die letzten Monate über immer führten, wenn es um den gemeinsamen Plan ging: Johannas Wut und Enttäuschung trafen auf Tonis unerschütterliche Zuversicht, es auch allein schaffen zu können.

Letztenendes wechselte er das Thema, indem er fragte: »Vorhin, als wir ins Café gingen, da wolltest du etwas sagen, hab ich Recht?«

Sie nickte und betrachtete ihn aufmerksam. »Ich habe mit der Idee gespielt, der ganzen Sache einfach den Rücken zuzukehren.«

Die Überraschung, die Toni bei diesen Worten im Gesicht stand, hätte sie zum Lachen bringen können, wenn ihr Herz ihr nicht plötzlich bis in den Hals geschlagen hätte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr seine Meinung darüber dermaßen wichtig war; dass sie regelrecht danach gierte, seinen Starrsinn zu hören. Weil sie ihn, Toni Cadeesh, in der Zwischenzeit derart nah an sich herangelassen hatte, dass sie ohne seine Unterstützung niemals aus der Sache aussteigen wollte.

»Den Rücken zukehren, wie in: Du würdest nicht an der Zeremonie teilnehmen, deine Fähigkeiten nicht kennenlernen und somit ein normalsterbliches Leben wählen?«, hakte er nach. Trotz des lockeren Tonfalls hörte Johanna die Anspannung daraus hervor, die er zu verbergen versuchte.

»Ja, genau diese Art von Rücken zukehren.«

Tonis Iriden wechselten innerhalb eines Augenblicks von Bergseeblau zu Eisblau und dann zu einem Sturmgrau. Seine Kiefermuskeln spannten sich, doch er bemühte sich um einen entspannten Tonfall, als er entgegnete: »So sehr ich mir das auch wünsche, Leonessa …«

Er löste seine Finger aus ihrem Griff und umfasste ihre Wangen mit beiden Händen. »Es wird nicht geschehen, und das wissen wir beide nur zu gut. Denn du willst genauso sehr deine Fähigkeiten kennenlernen, wie du Adam finden willst. Und wenn das eine erst einmal erledigt ist, dann wird das andere an diese leere Stelle treten.«

Johanna sah ihn für lange Zeit einfach nur an. Toni erwiderte ihren Blick, in seinen Augen tobte ein steter Sturm – ein Kampf der Emotionen.

Aber er hat Recht. Irgendwann, wenn Adam nicht mehr meine erste Priorität ist, will ich das kennenlernen, was mein ganzes bisheriges Leben eingenommen hat. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht genügend Wissen darüber erlangt habe, könnte ich den beiden noch größeren Schaden zufügen, als ich es schon getan habe.

Sie seufzte tief und brach den Blickkontakt ab, indem sie die Augen schloss. »Ich hasse es, wenn du Recht hast«, murmelte sie.

Tonis Lachen ließ sie aufblicken. Er nahm die Hände von ihren Wangen und zwinkerte ihr zu. »Immer wieder gern, ma chère.«

4

Entgegen Johannas Befürchtungen lief das Studium wie am Schnürchen. Auch wenn Tonis Hauptstudienfach Betriebswirtschaft war, so hatten sie ausreichend Kurse gemeinsam, und in diesen war seine Unterstützung Gold wert.

Algebra hatte sich schnell als Johannas schwächstes Fach herausgestellt, weshalb sie dazu übergegangen war, zweimal die Woche mit ihrem besten Freund am Küchentisch zu sitzen und zu pauken. Zusätzlich stand die Semesterarbeit vor der Tür, bei der Johanna bis zum heutigen Tag keine Ahnung hatte, welches Thema sie wählen sollte. Sie hatte schlicht wichtigere Dinge im Kopf.

Zu ihrem Studium kamen drei Abende, an welchen Toni Johanna mit ihren anderen Studien half: Sie trainierten Kampftechniken oder versuchten sich an Übungen bezüglich ihrer Fähigkeiten.

»Leonessa!«

Toni erschien in ihrem Türrahmen, sein wohl geformter Körper in eine Jogginghose und ein simples, hellblaues Trainigsshirt ohne Ärmel gekleidet. »Du bist ja noch gar nicht umgezogen«, bemerkte er nach einem Blick auf Johannas Erscheinung.

Sie stöhnte gemartert auf und ließ ihre Stirn auf das aufgeschlagene Buch fallen. Schon den ganzen Tag über hatte sie sich seltsam gefühlt und sie rechnete in schnellem Tempo aus, wann ihre letzte Periode gewesen war. Mit drohenden Krämpfen würde sie niemals einen anständigen Kampf gegen Toni gewinnen. Er würde sie in Grund und Boden triezen, da war sie sich sicher.

»Bitte«, flehte sie in nuschelndem Ton. »Lass uns heute einfach nicht trainieren.«

Kurzentschlossen trat er neben sie und hob ihren Kopf vom Buch hoch, indem er die linke Hand unter ihr Kinn schob und daran zog.

»Na, na, na«, sagte er glucksend. »Jetzt lass den Kopf nicht so hängen.« Er ließ Johanna los und sofort sackte sie zurück auf das aufgeschlagene Buch.

Augenverdrehend erwiderte sie: »Ha ha!«

Schmunzelnd kniete er sich neben ihr hin und sah sie an. »Nur eine Stunde, okay? Der angestaute Frust muss raus, das weißt du selbst am besten, Leonessa.«

Und wie ich das weiß… Wenn ich es nicht tue, bricht diese düstere Kraft bei jeder Gelegenheit aus mir hervor.

Prompt wurde Johanna flau imMagen.

Das werde ich nicht noch einmal zulassen – nicht in diesem Haus.

Er stupste ihr mit der Nase gegen den Arm. »Ich bin nur zu gern dein Sparring-Partner.«

Ein erneutes Stöhnen löste sich von ihren Lippen. »Du bist ein Foltermeister durch und durch«, erwiderte sie leidend.

»Aber natürlich, schließlich habe ich von der Besten gelernt«, gab Toni grinsend zurück. Er zwinkerte ihr zu und erhob sich, nur um einen Moment später hinter Johanna zu treten und ihr unter die Arme zu greifen. Ungefragt flatterte es in ihrem Bauch und sie erstarrte für einen Moment, zu überrumpelt von diesem Körperkontakt. Mit einem Ruck hob er sie vom Stuhl hoch und schleifte ihren Körper in Richtung Bett.

Johanna fand ihre Stimme, quietschte und protestierte lautstark: »Lass mich los! Ich komme ja schon!«

Prompt ließ er sie auf die Matratze plumpsen.

»In fünf Minuten im Keller«, bestimmte er mahnend und verließ das Schlafzimmer.

Mit rasendem Herzen wartete Johanna ab, bis er verschwunden war. Erst danach erlaubte sie sich, tief durchzuatmen.

Absurd, schnaubte sie und schüttelte den Kopf. Mein Bewusstsein hat Liebeskummer nach Adam. Nein, ich habe Liebeskummer nach Adam. Nichtsdestotrotz reagiere ich je länger je mehr auf Toni…

Brummelnd und ihre innere Zerrissenheit ignorierend stieg Johanna in ihre Trainingshose, zog sich einen Sport-BH über und band die Haare zu einem Pferdeschwanz, bevor sie Toni folgte.

Vor sechs Monaten hatte Adam ihr eine geheime Tür ins Wohnzimmer offenbart, indem er daraus hervorgetreten war, ein abhörsicheres Smartphone für sie in der Hand. Durch ebenjene Tür trat Johanna jetzt. Eine Treppe führte hinab in etwas, das sie als Vorraum bezeichnete. Hier führten drei Durchgänge in verschiedene Räume: Adams kühl temperierter Server-Strich-Bastelraum, eine Sauna und einem weitläufigen, fensterlosen Zimmer voller verschiedener Dinge; darunter Artefakte, Dokumente und haufenweise Bücher.

Toni hatte das Zentrum freigeräumt und dicke Matten auf den Boden gelegt, sobald klar geworden war, dass Johanna die meiste Zeit in der Villa verbringen würde. Zusätzlich zu den Matten war ein Arsenal an Waffen und Boxutensilien eingezogen, welches, fein säuberlich aufgereiht, die der Tür entgegengesetzte Wand zierte.

Ihr bester Freund stand vor einem Regal voller Handpratzen und wählte zwei davon aus. Sobald Johanna sich bemerkbar machte, wandte er sich ihr mit einem Lächeln zu.

»Ich verstehe nicht, wie du dich nicht auf dieses Training freuen kannst, Leonessa«, begann er, indes er auf der Matte Aufstellung nahm. »Ich meine – du hast das Privileg, mich schlagen zu dürfen. Oder es zumindest zu versuchen.«

Ein Ziepen in ihrem Unterleib ließ Johanna die Mundwinkel nach unten verziehen. Ihre Nerven waren bereits jetzt schon zum Zerreißen gespannt. Tonis betont beiläufiges Gerede befeuerte zusätzlich die immerwährende Wut in ihrem Bauch und sie schüttelte schnaubend den Kopf.

»Vielleicht sollte ich dir dieses schamlose Grinsen aus dem Gesicht prügeln«, schlug sie angefressen vor.

Zwar zwinkerte Toni ihr nach diesen Worten zu, das Lächeln noch breiter als zuvor, doch seine Augen verrieten, dass er achtsam wurde und jeden ihrer Schritte ab sofort beobachtete.

Johanna atmete einmal tief durch und schüttelte die Arme aus, lockerte die Beine und hüpfte auf und ab, um die Knöchel auf das vorzubereiten, was gleich passieren würde: Mitten im Aufwärmen holte sie blitzschnell aus und zielte mit dem Fußballen auf seine Schulter. Tonis linke Hand zuckte hoch und die Handpratze fing den Schlag ab.

Mit zusammengepressten Zähnen zog Johanna sich zurück. Sie umkreiste Toni auf leisen Sohlen. Er jedoch schien starr auf einen festen Punkt zu starren und rührte sich nicht.

Urplötzlich schoss ihre geschlossene Faust vor, um ihn am Kinn zu treffen. Toni riss die rechte Handpratze gerade noch rechtzeitig hoch, um ihren Angriff zu blocken. Pfeilschnell zuckte sein linkes Bein ihr entgegen und traf sie punktgenau in den Oberschenkel.

Harter Schmerz explodierte an der Stelle und Johanna zog scharf die Luft ein, während sie sich rasch von Toni entfernte. Wieder ziepte ihr Unterleib und sie grollte entnervt.

»Was ist los?«, fragte ihr bester Freund voll Argwohn. »Du bist nicht bei der Sache, Leonessa.«

»Halt den Rand«, zischte Johanna.

Die Wut in ihrem Bauch mischte sich mit der Frustration über die kommenden Schmerzen und dem Brennen ihres Oberschenkels. Sie sah rot und ihre Sicht kippte. Tonis Gestalt brannte weißlich in der Farbenwelt aus Grau und Grün, was sie weiter ärgerte. Hektisch wechselte sie die Farbenwelt und entdeckte das Burgunderrot seiner Emotionen. Einen Augenblick später griff sie frontal an.

Toni schien genau das erwartet zu haben, denn er konterte ihre Fäuste mit den Handpratzen. In rascher Folge sendete Johanna eine Anzahl Schläge und Tritte aus, die ihm sichtlich Mühe bereiteten. Blaue Schlieren wanden sich um seine Oberweite, die ihr mitteilten, dass er in Bedrängnis kam. Und dann war sie da, die Gelegenheit. Ohne zu überlegen, winkelte sie ihr Knie an und stieß zu: mitten in sein Gemächt. Neonrot explodierte zusammen mit Orange und einem Tupfer Blau um seine Silhouette herum. Ihrem bester Freund blieb umgehend die Luft weg und er sank auf die Matte, sein Körper vornübergebeugt und die Züge schmerzverzerrt.