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Die attraktive Ärztin Dr. med. RACHEL NGALAMULUME mit afrikanischen Wurzeln ist beinahe jeden Tag mit ihrem Ärzteteam in der Würzburger Missionsklinik für Tropenmedizin im Einsatz. Ngalamulumes Ehe ist darüber in die Brüche gegangen und ihr aggressiver belgischer Exmann ROLAND DUVALL, Professor an seiner eigenen privaten Klinik in Würzburg, droht ihr nun mit dem Entzug des Sorgerechtes für den gemeinsamen Sohn Schadrac.
Nach der Einnahme einer Überdosis Schlaftabletten und einer Halluzination vom Teufel findet sich Rachel mit ihrem Sohn plötzlich mitten in Afrika wieder. Verfolgt von ihrem Exmann, flüchtet Rachel zu ihrer Schwester in das östliche Afrika, dem Gebiet der Veranda-Vulkane und Berggorillas eines kleinen Landes.
Die Flucht nimmt eine dramatische Wende, nachdem Rachel ihre Schwester tot auffindet und der Dschungel die Tür zur Hölle öffnet.
Während des Probelaufes einer Betaversion an der Fakultät für Informatik in Lucilla wird klar, dass Rachel und Schadrac nur als Avatare mit künstlicher Intelligenz und eigenem Bewusstsein eines ausgeklügelten VR-Computerspieles fungieren.
Oder doch nicht?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Kapitel 1: Brief vom Gericht
Seit Wochen herrschte eisige Kälte in Mainfranken. Zwei der berühmtesten Schönheiten Würzburgs, das Käppele und die Festung Marienberg, einen Steinwurf vom Stadtzentrum entfernt, glänzten in exponierter Lage wie auf einem Postkartenpanorama am winterlichen Nachthimmel. Warme, gedämpfte Glut entwich den beleuchteten Kirchenfenstern und legte sich weich und honigsüß um die von Raureif geschmückten Baumkronen des Hangwaldes. Von gelben Glanz blickte der grimmige Frostmond zwischen dem Durcheinander aus streifigen Dunstfäden und flockigen Wölkchen auf die Metropole. Die letzten einzelnen Passanten in dicken Mänteln überqueren durch den Schnee stampfend mit ihren Einkaufstaschen die alte Mainbrücke in einem wegen der Wärmestrahlung des Wassers eher rauchigen und trüben Mondlicht. Noch nie seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen hatte der Winter die Region so frühzeitig mit seiner frostkalten Luft heimgesucht und in ein wunderschönes Weihnachtsmärchen verzaubert. Die Magie von Weihnachten schlängelte sich durch die schneebedeckte Landschaft Unterfrankens, umhüllte sanft die romantischen, verträumten Weindörfchen, welche zur Hingabe zu einem fröhlichen Lichterfest einluden.
Winterlich verschneit präsentierte sich auch an jenem Heiligen Abend eine Parkanlage in der Nähe der Privatklinik für Tropenmedizin in Würzburg. Dr. med. Rachel Ngalamulume, Stationsärztin, wie dem Anhänger ihres Ärztekittels zu entnehmen war, stand leicht benommen und für die Witterung unangemessen bekleidet, vor einem zugeschneiten Abfalleimer im Schein eines Laternenkegels. Der sich langsam kriechend ausbreitende Winternebel unterstrich die Einsamkeit abseits der Großstadt. Mit ihren fest angepressten Daumen und Zeigefingern starrte die Ärztin am ganzen Körper zittrig und hasserfüllt auf ein Blatt Papier. Dann torkelte sie gegen die Laterne, stolperte drei Schritte rückwärts durch den tiefen Schnee und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten.
„Ich kann nicht mehr.“ Kleine weiße Atemwölkchen entwichen ihrem Mund, während Rachel mit Entsetzen spürte, wie ihre Knie nachgaben.
Plötzlich wurde ihr schwindlig. Auch ihre Beine fühlten sich kraftlos und wackelig an. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch.
An all dem Unglück war Roland schuld. Wie konnte ein Mann in seiner Position die Familie nur so missbrauchen? Mit ihrem gemeinsamen Sohn Schadrac musste sie vor diesem kaltblütigen Psychopathen das Weite suchen. Nun schien Mutter und Sohn erneut dem Wahnsinn ausgeliefert zu sein.
Tiefes Ausatmen. Kälte und Müdigkeit zeichneten ihr Gesicht. Im Hintergrund blitzte aus der Dunkelheit eine Taschenlampe auf. Rachel schauderte, zerknüllte das Papier zwischen ihren Händen und steckte es in die Innenseite ihres Arbeitskittels. Sie drehte sich langsam um und sah die Silhouette einer Person, welche sich stampfend durch den tiefen Schnee ihr langsam näherte.
„Das wollen wir doch nicht, oder?“
„Stella?“
Es war kurz vor Mitternacht. Stella machte Rachel das Abendbrot warm und sah zu, wie sie aß. Dabei scheuerte Rachel immer wieder die in dicken Wollsocken gepackten Füße aneinander, weil sie draußen nur mit ihren Pumps unterwegs war und sich Erfrierungserscheinungen bemerkbar machten. Ihr entsetztes Gesicht und die angstgeweideten Augen konnte sie vor Stella Kramer nicht verbergen. Rachel wechselte sich mit Stella in der Kinderbetreuung ab und an diesem Abend übernachteten die beiden sechsjährigen Jungen bei der Kollegin und Freundin, welche heute aber vergeblich auf die Mutter nach dem Spätdienst wartete und nach ihr suchen musste. Die Kinder schliefen bereits und schöner als mit Kaminfeuer, Kerzenleuchten am Tannenbaum und Plätzchenduft aus dem Ofen ließe sich die dunkle Jahreszeit nicht überstehen. Unter dem Weihnachtsbaum lagen noch Spielsachen der Kinder von Heiligabend herum, in einigen Taschen steckten weitere Süßigkeiten für die bunten Teller. Dann gab es noch den Adventskranz auf dem Esstisch, an dem jetzt vier Kerzen so schön leuchteten. Rachel nippte am Punsch und warf sich einige Schlaftabletten aus dem Medizinschrank der Klinik ein. Mit ihrem Ärzteschlüssel hatte sie uneingeschränkten Zugang zu den Medikamenten. Stella schaute ihr schmunzelnd in die Augen.
„Schadrac habe ich wie immer zu Josnel in das Kinderzimmer gelegt. Sie schlafen und du bleibst heute auch hier. Es gibt immer einen Ausweg. Warum nutzt du nicht deine Ausbildung? Zeihe mit deinem Sohn einfach weg von diesem Frauenschänder.“
Während Stella begann, zwei Gläser mit Rotwein zu befüllen, machte es sich Rachel auf dem Sofa mit einer Kuscheldecke bequem. Sie drehte sich mit ihrem athletischen Körper fauchend in Richtung Stella, während sie sich ihre Echthaarverlängerung mit geballter Wucht aus den Augen schüttelte.
„Keine Situation ohne Ausweg? Schon vor zwei Jahren dachte ich, Roland wäre nach der Scheidung abgeschüttelt und gestrichen aus meinem Leben! Nun droht er mir mit dem Entzug des Sorgerechtes.“
Stella breitete ihre Arme aus mit den Handflächen nach oben.
„Soller doch klagen, dieser Griff in die Kloschüssel. So ein arrogantes und aggressives Verhaltensmuster war für dich doch nie eine Option auf Lebenszeit. Dein Ex-Chefarzt ist bestimmt der Stolz des ganzen Klinikums.“
Rachel klatschte mit ihrer rechten Hand auf die Stirn. „Auch nach meiner Scheidung bedrohte er mich mit Anrufen, kündigte mein Handy sowie zahlreiche Versicherungen, indem er meine Unterschrift fälschte.“
Stella ging auf Rachel zu, nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte ihr mit Bewunderung und tiefer Rührung in das erregte Gesicht und machte eine sonderbare stürmische Bewegung, so als wollte sie Rachel in ihre Arme schließen. Stattdessen verbeugte sie sich sehr tief und drückte ihr einen festen Kuss auf die Wange.
„Ich denke, du brauchst den nötigen Abstand zur Vergangenheit. Dein Sohn geht noch nicht zur Schule. Es ist nicht nötig, sich dem Fürsten der Finsternis zu stellen. Denke auch an Schadrac. Du lebst ohnehin sehr zurückgezogen und der stressige Krankenhausjob hinterlässt deutliche Spuren in deinem Gesicht. Lass Roland Duvall büßen, entziehe ihm Schadrac!“
Rachel überlegte kurz. „Jetzt sehe ich eine Möglichkeit. Ich werde ihm sicher nicht unseren Jungen geben, vielleicht ist das der Fluss zu einer Entwicklung in eine neue Richtung. Eine überschaubare Opfersumme. Wir hauen ab und lassen ihn mit seinem Zorn allein.“
Rachel richtete sich auf und holte vom Tisch das Glas und die Rotweinflasche dazu. Verdeckt schluckte sie weitere Tabletten. Empört, jedoch unbekümmert schaute sie alsdann zu Stella in der Erwartung der Bestätigung ihres genialen Planes. Ein feines Lächeln ging über das halbzufriedene Gesicht ihrer Freundin.
„Es wird Zeit, euch nach einem erreichbaren Lebensglück umzusehen. Dein ursprünglicher Wunsch, als Ärztin im afrikanischen Königreich Lucilla zu arbeiten war erkaltet, nun liegt es an dir, wieder die Flamme zu entzünden.“
„Und Schadrac? Was ist mit ihm? Was will er? Was ist für ihn gut?“, wollte Rachel mit weit aufgerissenen Augen von ihrer Freundin wissen.
Beruhigend versuchte Stella auf Rachel einzuwirken. „Schadrac kommt erst nächstes Jahr in die Schule. Er wird auch in der neuen Heimat seinen Weg gehen. Schadrac spricht fließend Französisch, die Muttersprache braucht er zunächst nicht unbedingt.“
Rachel nahm die Anteilnahme und Bewunderung gerne entgegen und fühlte sich in diesem Augenblick von einer wohlig reizenden Atmosphäre umgeben. Die tiefen, warmen Blicke ihrer Freundin taten ihr sichtlich gut.
„Der heutige Tag war doch auch eine gute Sache: Wir redeten miteinander und tauschten uns aus. Das war die Hauptsache. Nun: ausschlafen, keinen Dienst, Aussicht auf eine leckere Pizzalieferung und eine Menge freier Zeit. Gute Nacht, Rachel!“
Die Zeit schien komprimiert zu verlaufen. Es war fast schon am Morgen, aber noch dunkel. Stella schlief bereits seit einiger Zeit im Nebenraum und Rachel hatte fast alle Tabletten und eine zweite Flasche Rotwein konsumiert, trotz besserer fachlicher Expertise. Unter dem warmen Winternest im Hof des Mehrfamilienhauses zogen schon die ersten Schneeräumer mit Schaufeln ihre Bahnen und Autos wurden freigekratzt. Es war leicht dunstig, die Leute trugen dicke Wintermäntel, Stiefel, Mützen, Schals und Handschuhe. Einer der Anwohner holte einen Schneebesen aus seinem Auto und hielt dabei mit einer Hand den Kofferraumdeckel nach oben, damit das Gewicht der Schneemassen den Deckel nicht gleich wieder nach unten drücken konnte. Einzelne Schneeflocken tanzten in der Luft, bewegten sich dann wie kleine Gleitschirme aber sicher gegen die Horizontalen.
„Schönes Weihnachtsfest! Geht es auch in den Urlaub?“, begrüßte der Herr mit dem Schneebesen einen anderen Mann der direkt gegenüber parkte.
Er blickte leicht mit dem Kopf schüttelnd zu dem Fragenden hinüber. „Leider nicht für mich! Habe Dienst an den Feiertagen. Augen auf bei der Berufswahl! Hätte halt nicht Fluglotse werden sollen…“
Ein paar geparkte Autos weiter schnurrte der Motor des protzigen Audi A7 vom Junggesellen aus der Wohnung gegenüber Stellas Appartement. Die Fahrertür war unökonomisch ganz geöffnet und die Weihnachts-CD beschallte mehr oder weniger angenehm die Umgebung.
„Fröhliche Weihnacht überall,
tönet durch die Lüfte froher Schall!“
Patsch! „Schönes Fest!“
Mit Schallgeschwindigkeit bekam der Playboy von seinem Übernachtungsdate einen Auffrischungskurs im sich Ohrfeigen lassen verpasst. Die Dame monierte, dass ein gebrauchtes Kondom zu viel in der Wohnung lag und ergo hier etwas mathematisch nicht stimmen könne.
Von dem ansonsten ganz normalen Feiertagsbeginn in der katholischen Bischofsstadt bekam Rachel auf dem Sofa liegend bereits nicht mehr viel mit. Der beleuchtete Weihnachtsbaum im Wohnzimmer vermittelte ein Bedürfnis nach Frieden und Reform des Lebens. Die schöne Atmosphäre bewirkte bei ihr das Imaginieren und Auftauchen versäumter ruhiger, träumerischer Bilder. Unter der Hingabe der üppigen Eindrücke und Gefühle schlief sie vollkommen ein.
Kurze Zeit später wurde Rachel durch ein leichtes Knistern und Vibrieren an ihrem Körper aufgeweckt. Knallgeräusche in unmittelbarer Nähe hörten sich für Rachel an, als läge eine defekte Stromleitung irgendwo in einer Pfütze herum. Sie wollte aufstehen, hatte jedoch keinerlei motorische Kontrolle über ihren Körper. Dieser schien leicht abgehoben von einem weiteren Körper über dem Bett zu schweben. Sie verspürte eine Art von Leichtigkeit, als würde jemand ihre Füße packen und versuchen, sie nach oben zur Decke zu ziehen. Sie schaute nach unten und betrachtete den anderen Körper. Dieser war mit ihrem schwebenden Leib durch eine Nabelschnur verbunden. Ein Weihnachtsteddy machte sich mit Skalpell und Fischmessern daran zu schaffen. Die ersten Versuche der Durchtrennung scheiterten jedoch, da die Schnur wie ein Gummiband wirkte und Rachel immer wieder in den liegenden Körper regelrecht zurückkatapultiert wurde. Ohne weitere Einwirkung glitt Rachel erneut heraus und bewegte sich nach oben zur Decke. Die Schnur fehlte dieses Mal. Eines der Messer hatte die gewünschte Wirkung erzielt und das Plüschtier war nicht mehr zu sehen. Nun konnte sich Rachel frei im Raum bewegen. Sie streckte ihre Arme zur Seite und es war ihr möglich wie ein Vogel zu fliegen oder zu gleiten. Die Flugrichtung veränderte sie so, dass sie nacheinander zu den zwei Lichtschaltern, zuerst an dem der Zimmertür und dann zu dem der Wohnzimmerlampe gelangte. Beide Schalter konnte sie zwar betätigen, doch die Lampen gingen weder an noch aus. Der Raum schien nun ohnehin etwas abgedunkelt zu sein, so wie mit einer Sonnenbrille betrachtet. Rachel fragte sich, ob sie überhaupt noch wach war. Sie beschloss, weiter nach oben zur Decke zu gelangen. Dieses Vorhaben erwies sich einfacher, als sie zunächst annahm. Wie eine Feder bewegte sie sich zur Zimmerdecke. Als sie daraufhin versuchte, die Wand zu berühren, war es ihr möglich, ihre Hände in die Wand hineinzustecken. Mit der Bewegung durch die Materie verspürte sie ein merkwürdiges Knistern, was sich noch verstärkte, als sie mit ihrem kompletten Körper durch die Decke hindurch in den Dachboden flog. Von dort gelangte sie auf die gleiche Weise durch das Dach ins Freie. Sie positionierte sich Richtung Süden und verglich den Eindruck mit ihrer gewohnten Umgebung. Das Grundstück und das Haus, der Hof, die Nachbarhäuser und Straßen entsprachen genau der Realität, die sie kannte. Doch wo war der Schnee? Die Sonne hatte ungewöhnlich viel Kraft und bewegte sich in einer unüblichen, schnelleren Bahn. Erschien vorher noch alles etwas unscharf und verdunkelt, wurde nun auch der Umgebung deutlich mehr Klarheit und Kontrast verliehen. Aus dem Nichts heraus materialisierten sich unter ihr Tiere und Menschen, welche sonst nie dagewesen waren. So konnte sie einen großen Laufvogel erkennen, der mit seinen aufgefächerten Federn wie ein Angeber kreuz und quer über den Hof stolzierte. Rachel interessierte sich aber eher für die Gärtner. Warum wurden Straßenhecken so massiv nach unten geschnitten? Weshalb trugen die vier Gärtner Einweghandschuhe und einen Mundschutz? Ferner gab es einen kleinen Arbeitswagen, gefüllt mit unterschiedlichen Sägen, Scheren und Beilen.
Rachel wurde übel. Die geringe Flugerfahrung war für sie eine plausible Erklärung. Sie beschloss, nach unten zu fliegen, um sich dort hinzusetzen und etwas auszuruhen. Zeitgleich wurde sie automatisch schwerer und sank nach Unten. Dabei verlor sie die Orientierung. Eine Fahrt durch einen Tunnel musste sich ähnlich anfühlen. Es wurde dunkel.
„Mann, war das knapp!“ Rachels Mutter hatte schon immer eine merkwürdige Art von Humor. Rachel hörte ihre Stimme und öffnete die Augen. Zunächst konnte sie noch nichts erkennen, alles war milchig trüb. Wo war sie? Vor ihr lichtete sich der Nebel und sie glaubte die vier Gärtner zu erkennen. Aber nein, langsam war sie sich sicher, dass sie auf dem Sofa lag und nur geträumt hatte. Aus den Gärtnern formten sich die vier Adventskerzen des Kranzes. Sie waren soweit heruntergebrannt, dass Rachel im Hintergrund das Gesicht ihrer Mutter mit dem französischen Vornamen Gertrude erkennen konnte.
Rachel sah deutlich, nach zwanzig Jahren, jenen märchenhaften Garten ihrer Eltern vor ihrem inneren Auge wieder, in dem sie mit all ihren Geschwistern in der Kindheit und Jugend spielte. All diese Gefühle des Kindesalters, die sie damals im Herzen hatte, standen Rachel nun wieder im Gesicht geschrieben und ließen ihre Augen aufleuchten.
„Mama?“
Die Mutter stand langsam auf, ging um den Tisch zu ihrer Tochter, strich ihr zärtlich über das Haar und ließ eine Hand einen Augenblick über Rachels Stirn liegen, um zu prüfen, ob diese heiß wäre. „Gleich bist du wieder in Afrika“, flüsterte Gertrude ihr in das Ohr. Rachel schloss wieder die Augen. Für einen Moment herrschte Totenstille.
Als Rachel wieder die Augen langsam öffnete, traf sie der Schock bis ins Mark. Sie glaubte, sich inmitten eines Horrorfilms zu befinden. Was sie da sah, war unglaublich, das ganze Zimmer sah aus, als hätte hier ein Update vom Tanz der Teufel stattgefunden. Und sie bekam auch den Beweis dafür, dass sie sich nicht geirrt hatte.
Vor ihr stand kein Mensch mehr, sondern eine Bestie. Rachel wollte aufstehen und weglaufen, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie kam einfach nicht von der Stelle und merkte noch nicht mal, dass sie nicht mehr atmete. Seltsamer Weise arbeitete ihr Denkapparat noch, sogar sehr nüchtern und rational. Das Wesen hatte ein mit Fell bewachsenen Schädel, zwei Hörner und der Mund war halboffen, sodass das Schimmern der beiden scharfen Zahnreihen aus der gedämpften Atmosphäre herausleuchtete, unterstrichen durch die blutunterlaufenen, geröteten Dämonenaugen. Rachel wünschte sich, dass alles nur ein Traum sei, und ihr war zugleich klar, dass sie das ganz schnell auch wieder vergessen konnte. Das hier war grausame Realität, für die sie keine Erklärung hatte.
Die Gestalt wusste, wohin sie zu gehen hatte. Und zwar zur Hausbar. Rachel konnte es noch erkennen. Der Ort des Geschehens war in ihrem Blickradius, aber sie traute sich nicht zu versuchen, den Kopf in die exakte Richtung zu drehen. Mal besser tot stellen, ging ihr durch den Kopf. Der Dämon öffnete die Glastür mittig des Schrankes, um Zugriff auf sämtliche alkoholischen Getränke zu erhalten. „Prima, Sprit für Genießer!“, stellte er freudig fest und kübelte dann in der Schnelle fröhlich, man konnte fast sagen, wie Zuhause, zwei Flaschen des teuren Whiskys leer, ohne auf die angefangene Flasche Küstennebels als Absacker zu verzichten. Neblig ging es bei diesem Höllenwesen dann auch weiter. Nachdem er seinen pinkelfeinen Anzug von Hugo Boss vollgekleckert hatte, ging die Meckerei los. „Verdammt, ich sehe schon wieder aus, wie ein Schwein!“
Der Dämon kippte nach vorn, drehte sich dabei einmal um seine eigene Achse und prallte am Boden mit seinem Gesicht auf. „Mann, bin ich voll. Noch Zigarren da? Was wollt ich hier nochmal?“
Das Ungeheuer im schwarzen Maßanzug stemmte sich hoch und versuchte, sich auf Rachel zuzubewegen. Man konnte dabei nicht von einem normalen Gehen sprechen, er schwankte hin und her, doch die Richtung stimmte im Groben.
Rachel scannte den Dämon. Es musste einer der gehobenen Klasse sein, denn der Anzug war nicht von der Stange und das Wesen hinterließ ansonsten passend nüchtern betrachtet doch einen recht seriösen und kompetenten Eindruck. Und das von den Hörnern bis zu den Hufen.
„Ausländer?“, fragte Rachel, jetzt etwas nach dieser Performance weniger ängstlich, nach.
Die Fratze des Dämons verzerrte sich hin zu einem freundlichen Lächeln.
„Habe keine Angst, ich bin nur der coole Luzifer! Da wären noch ein paar Formalitäten.“
„Warum bist du so gut gestylt?“, wollte Rachel wissen.
„Nun, egal ob Straßenschläger, Banker oder Dämon, der erste Eindruck zählt. Jeder sollte sich stets am Anfang von seiner besten Seite zeigen.“
„Warum trägst du dann Schlagringe an deinen Händen?“, bohrte Rachel nach.
„Die habe ich mir zu meinem Geburtstag gegönnt, ich bin nämlich schon etwas älter, als ich ausschaue. Aus Gammelfleisch sozusagen.“
„Warum bist du hier, Teufel?“
„Ich musste mich davon überzeugen, dass du tot bist. Du hast in Lucilla jetzt noch ein paar Sachen zu erledigen, die ich abhaken muss. Ich helfe dir und deinem Jungen mental, Roland Duvall zu plätten und damit meine ich nicht die Kronjuwelen in den Schraubstock spannen und auspeitschen. Wir Dämonen sind Gentlemen. Aber wer das Arschloch, ich meine den Herrn Prof. Dr. Duvall einmal kennengelernt hat, möchte keine Familie mehr gründen, das ist sogar mir als Teufel klar.“
„Ich bin tot?“ Rachels Augen stellten sich auf Weitwinkel und die erste dicke Träne rollte langsam ihre Wange hinunter.
„Du wirst gleich in Lucilla sein und dich nur noch an die Ereignisse vor dem Einschlafen erinnern. Es waren leider ein paar Schlaftabletten zu viel. Tut mir leid. Dennoch verspreche ich dir, es wird alles gut enden, auch für deinen Sohn. Bist du bereit?“
„Nein, bin ich nicht, aber danke für das nette und intellektuelle Gespräch, Teufel!“
„Also gut, Rachel: SHOWTIME!“
Kapitel 2: Zuhause
Mabuyi, Afrika. Drei Monate später.
Zweimal kurz geruckt, dann war es geschafft und das Flugzeug rollte aus. Das war das letzte, an das sich Rachel erinnern konnte. Vorher lag sie doch noch auf dem Sofa von Stella, oder nicht? Was suchte sie hier im Wagen unweit des Flughafens der Großstadt ihrer Heimat mit ihrem Sohn? Wie kam sie überhaupt so schnell in ihre Heimat? Es gab doch noch gar keinen Plan. Zeitweise Amnesie? Rachel war ratlos. Schadrac schlummerte neben ihr auf der Rücksitzbank und der uniformierte Polizist welcher das Fahrzeug lenkte hatte ihr gerade unmissverständlich in ihrer Landessprache klar gemacht, dass wir uns hier in einem demokratischen Königreich befinden und nicht etwa im mittleren Europäischen Osten. Hier wird nicht einfach auf der Straße massakriert. Rachel wusste noch von dem Vorhaben, wegen Roland in das Königreich Lucilla zu fliehen, aber alles andere war im Dunkeln, einfach aus dem Gedächtnis geblasen. Nun waren sie offensichtlich auf den Weg zu ihrer Mutter. Doch was für eine Geschichte hatte der Staatsdiener da aufgetischt? Ein Herr Duvall und ein Herr Kleinbauer wurden als vermisst gemeldet? Die Spur führe zur Mutter? Der Dienstausweis Kleinbauers von einem Würzburger Kaufhaus wurde gefunden? Der Geizkragen Roland hatte sich also nicht an eine professionelle Detektei gewandt, vielmehr einen billigeren Kaufhausdetektiv angeheuert, um nach ihnen zu suchen? Das sah ihm ähnlich!
Rachel versuchte vergebens, Stella anzurufen. Keine Verbindung. Nun hieß es abwarten in der Vorfreude ihre Mutter endlich wieder zu sehen, obgleich die Umstände schon sehr mysteriös erschienen. Nach dem Tod des Vaters zog Mutter Gertrude auf das Land. Etwas außerhalb der Stadt, mitten in Flora und Fauna versteckt sich ein bescheidenes Steinhaus mit einer Einliegerwohnung in der ihr Onkel lebt. Mutter gehört das Haupthaus. Veränderungen der Neuzeit sind hier spurlos vorbei gegangen. Rachel blickte aus dem Fenster. Sie fuhren an einer Wiese vorbei. Offensichtlich wurde trotz der permanenten heftigen Regengüsse bei dieser ungünstigen Witterung munter weiter gebuckelt. Der vermeintliche Obstbauer stand allerdings nur mit seinem gelben Regenmantel und gleichfalls gelben Gummistiefeln unter einem etwa drei Meter hohen Mangobaum, der hier als Kulturpflanze eingeführt wurde und dessen Äste gut vor dem Nasswerden schützen konnten. Eine Leiter war etwas weiter entfernt an einem weiteren der ansonsten ungeordnet stehenden Bäume angelehnt. Rachel erinnerte sich bei diesem Anblick an ihren ältesten Bruder Glori, der lange Zeit bei diesen Bauern wohnte, bis er durch die Arbeit einen Bandscheibenvorfall erlitt. Seine damalige Ehefrau versuchte eine Selbsttherapie, indem sie in der Nacht auf den schlafenden Bruder sprang, um die Bandscheibe wieder korrekt in Position zu bringen und somit unnötige Ruhezeiten und Arztbesuche einzusparen. In der Folge kam es zur Scheidung. Für Rachel war so etwas schon damals hier in der Prärie nichts Unbekanntes. Erst mit den Kindern in der katholischen Kirche „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen und danach den Ehepartner verprügeln ist hierzulande Kult. Nur Roland war es gelungen, ein solches Verhalten noch zu übertreffen.
„Wir sind gleich vor Ort. Ich melde mich in einer Stunde wieder.“
Der Polizist verständigte kurz und knapp seine Einsatzzentrale über Funk. Rachel fiel auf, dass sich sein Kopf leicht nach rechts oben in Richtung des Rückspiegels bewegte, um die Ist-Situation auf der Rücksitzbank einzuschätzen.
Vorbei an den Feldern bog der Wagen in ein Wohngebiet ab und es schüttete nun nicht mehr sintflutartig von Himmel. Aber ekelhafter Nebel mischte sich am Hang unter den Regen, schlammige Gartenböden spülten den Dreck auf die Straßen und überall hatten sich Pfützen gebildet. Das Fahrwerk des Autos leistete entsprechende Schaukelarbeit. Vor den letzten hochgelegenen Häusern fuhr der Wagenlenker in eine Stichstraße hinein und parkte das Dienstfahrzeug direkt neben der Garage. Von hier aus war es bis zur Haustür, welche am Ende des gepflasterten Weges über eine Treppe erreichbar war nur gut fünfzehn Meter weit. Vor der Treppe links befand sich die Einliegerwohnung des Onkels. Alles so, wie es Rachel noch gut in Erinnerung hatte. Ansonsten war das Anwesen auch hier von viel Wiese und Spalierobst versehen. An sonnigen und warmen Tagen sollte der Aufenthalt im Freien sicherlich zu einem Vergnügen werden. Nicht jedoch zu diesem Zeitpunkt. Die Orthografie verursachte pfeifende Windgeräusche und nur widerwillig ließ sich die Fahrertür öffnen.
„Aussteigen, wir sind da!“, forderte der Polizist zur Bewegung auf.
Das wusste Rachel. Hier kannte sie sich aus. Es war ihr Zuhause. Rachel ruckelte an den Jungen, der desorientiert seinen Kopf in alle Richtungen drehte und sich alsdann aus dem Auto zwängte, als der Polizist die Hintertür öffnete. Rachel folgte ihrem Sohn und stellte sich unter dem Schirm des Mannes, der alle vor dem Regen schützte. Er hatte ihn wohl auf dem Beifahrersitz liegen. Rachel hatte jedenfalls keine weiteren Erinnerungen.
„Die Alte hatte zwei Vertreter kurz nach dem Runterwurf von ihrem Grundstück als vermisst gemeldet. Entweder sie ist verrückt, oder wir haben zwei Leichen zu suchen.“
Rachel interessierte das Gequatsche überhaupt nicht. Ihr Herz klopfte und der Puls fing stark an zu rasen. Die Bewegung der Halsschlagadern konnte man deutlich wahrnehmen. Oberhalb der Treppe öffnete sich die Haustür.
„Oma?“ Obwohl Schadrac seine Großmutter nur von Fotos kannte, rannte er stürmisch auf sie zu, direkt in ihre weit geöffneten Arme hinein. Die Frau hob ihn hoch, drehte sich mit ihm einmal um die eigene Achse und stellte Schadrac wieder ab, da Rachel die kleine Plattform nach der Treppe erreichte.
„Mein liebes Kind, jetzt wird alles gut!“ Gertrude drückte ihre Tochter und den Jungen fest an sich, während aus Rachels Augen nach und nach Tränen der Rührung und der Erleichterung flossen.
„Ich möchte die glückliche Familienzusammenführung ungern stören, aber ich suche zwei als vermisst gemeldete Personen. Hat sich alles aufgeklärt, oder muss ich Untersuchungen einleiten? Wo ist der Dienstausweis vom Detektiv?“
„Mal langsam“, erwiderte Oma Gertrude. „Ich hole ihn. Schadrac, kommst du mit?“ Nachdem Gertrude mit Schadrac kurz in der Wohnung verschwand, kam sie alsdann alleine mit dem Ausweis und zwei Wassergläsern wieder zurück, welche sie an ihre Gäste verteilte.
„Alles bestens! In der Garage liegen allerlei Knochen herum, die sind wohl von den Besuchern übriggeblieben. Weiß auch nicht, wie die da hingekommen sind!“, winkte Gertrude lapidar mit ihrer rechten Hand ab.
„Wie bitte?“ Der Polizist würgte etwas Spucke herunter, begutachtete das Ausweisbild und nahm einen kräftigen Schluck Wasser. Seine Mimik veränderte sich nun von neutral zu deutlich gestresst. Die Hände zitterten schon leicht und die innere Wut war ihm klar anzusehen.
„Wer wohnt in der Einliegerwohnung?“, wollte der Ermittler nun wissen.
„Mein Bruder mit seiner Frau und den Kindern. Es sind dutzende von Kindern.“
„Gut, dann begutachte ich die Garage und besuche die anderen. Ihre Tochter nehme ich mit. Sie passen auf den Jungen auf und verlassen die Wohnung nicht mehr!“, forderte der Polizist Rachels Mutter auf.
Rachel blickte in die Augen ihrer Mutter. Gertrude nickte kurz, sammelte die Gläser wieder ein und verschwand im Haus.
„Verrückte“, murmelte der Polizist, als sie die geöffnete Garage betraten. In jener Garage fühlte man sich einem Paradiese eher nicht wohlig näher gerückt. Knochenmüll war zu Hauf rund um einen alten Toyota Pickup zerstreut und auf der Fahrzeughaube war äußerst stümperhaft ein grüner Gummischädel in Menschenkopfgröße befestigt, vermutlich mit Klebstoff. Die Knochen müssten dem ersten Eindruck nach Geflügelreste gewesen sein.
„Eine lächerliche Zusammenstellung!“, analysierte der Gast.
Rachel bekam seit langer Zeit wieder gute Laune und musste sich das Lachen verkneifen.
„Die Geisterbahnfahrt geht hier erst los, der Bulle wird bald restlos bedient sein“, dachte sich Rachel. Sie kannte ja ihre Verwandten.
Der Raum hatte eine Länge um locker zwei Fahrzeuge hintereinander parken zu lassen. Dieses Auto stand vorne und mit der Fahrerseite zur Ausfahrt. Der Polizist ging aber erst einmal zur Rückseite und öffnete die Ladeklappe. Nichts! Die Ladefläche war frei. Mit etwas Abstand musterte er dann den Fahrzeugtyp.
„Dieser Planwagen braucht auch bereits einen Priester mit Sterbesakramenten. Nicht einmal im Königreich Lucilla fährt man mit so einem Schrott herum“, schüttelte er den Kopf.
Bei der weiteren Untersuchung des Autos konnte er allerdings ein auf der Beifahrerseite kleinen Knäuel getränkter Wolle in einen seiner mitgeführten durchsichtigen Minitüten sicherstellen.
„Vermutlich handelt es sich um ein Anästhetikum zur Blockade von Bewusstsein und der motorischen Reaktion“, versuchte der Ermittler der teilnahmslos erscheinenden Rachel zu erklären.
„Was du nicht sagst, du Klugscheißer“, dachte sich die Ärztin und tat so, als sei sie nicht vom Fach.
„Dann mal besser nicht die Nase allzu tief in diese Wolle stecken“, empfahl sie aber mit einem verschmitzten Lächeln.
Unter der Fußmatte fand der Polizist noch einen gelblichen Blockzettel mit einer Zeichnung, die einen Teich zeigte.
„Da hatte wohl einer eine Vorahnung und hat absichtlich Spuren hinterlassen. Ich hab so eine Idee…“
„Nicht gut. Der muss eine bessere Schulbildung haben und wurde nicht wie die meisten anderen Polizisten hier in einem Ziegenstall großgezogen“, bemerkte Rachel.
„Auf zu ihrem Onkel! Ein Interview und eine Objektbegehung sind jetzt fällig!“
Rachels Onkel war früher sehr wohlhabend. Er war Direktor in einem Internat eines belgischen Unternehmens. Das Unternehmen baute in Zusammenarbeit mit dem König viele Jahre Gold ab. Mit dem Geld finanzierte er alle Studiengänge der Kinder seiner Schwester in Lucilla. Ihm selbst blieben Kinder versagt. Das ist in Lucilla heute noch eine Schande. Mit ihrem Diplom konnte Rachel nach Deutschland reisen, um dort weiter zu studieren. Mittlerweile sind alle Kinder in ganz Europa und den USA verteilt. Das Unternehmen gibt es nicht mehr, doch im Verhältnis zu der allgemeinen Bevölkerung ging es Rachels Verwandtschaft immer sehr gut.
Am feuchten undurchsichtigen Himmel weinten sich die Dauerregenwolken unerschöpflich das Wasser aus und hatten bereits den Kanaldeckel am Wendeplatz unterspült. Viele Straßen sind im Königreich nicht geteert und so fluteten mächtige Überschwemmungen die grüne Wiese bis hin zur Vortreppe. Ein unruhiger Windzug drehte sich gepresst um sich selber. Die Luft war dick und schmeckte fad und so wurde es Rachel etwas übel, als der Überraschungsbesuch an der Haustür klopfte. Bald darauf erschien die Dame des Hauses. Die Frau des Onkels präsentierte sich als rundes Wesen, voll Grübchen und mit dicken, kindlichen Wurstfingern.
„Wir kaufen nichts! Haben selbst genug Mangos und Kokosnüsse. Haben Sie heute nach der Morgentoilette noch schnell per Knopfdruck Ihren IQ halbiert?“
Rachels Begleitung war die Frau auf Anhieb nicht sympathisch, musste aber letztlich den Uniformierten reinlassen. Rachel folgte den beiden bis zum Wohnzimmer. Am Tisch saß der Onkel in seinem Rollstuhl, eingekleidet mit einem uralten dunkelblauen Trainingsanzug und weißen nachgemachten US-Turnschuhen. Erst jetzt wurde seiner Frau klar, dass Rachel in der Wohnung stand. Sie ist die Frau aus zweiter Ehe und hatte ihre Nichte vorher noch nie gesehen.
„Rachel, liebe Rachel! Was ist aus dir geworden? So eine hübsche und erwachsene Frau!“
Rachel umarmte ihren Onkel in dem Bewusstsein, was sie ihm alles zu verdanken hatte. „Leider bin ich nicht zu Besuch hier, aber Mutter bringt später noch Schadrac runter. Ich muss bei dem Polizisten bleiben.“
„Ich weiß, meine Liebe.“
Beim Onkel gab es Probleme mit dem Rücken, soviel wusste Rachel, er hatte jedoch auch eine Körpergröße von über zwei Meter. Sie alle kamen aus einem großgewachsenen Familienclan. Auch keiner ihrer Brüder brachte es auf unter zwei Meter. Die Mutter war in ihrem Alter von fünfundsechzig bereits auf etwas unter zwei Meter geschrumpft und hatte nur noch die Größe von Rachel und derer Schwestern. Der Vater verstarb vorzeitig und war ebenfalls Lehrer. Der Onkel rundete mit seiner Nickelbrille und den lichten grauen Haaren das Gesamtbild eines betagten Schulsportlers gut ab und seine Frau zeigte sich in ihrem rosafarbenen Hausanzug und den rosafarbenen Gummistiefeln auch eher von der ungefährlicheren Seite. Deren Auftritt konnte mit Frau Flodder aus dem Film die Flodders verglichen werden. Fehlte nur noch die Zigarre. Dennoch erschloss sich für den Betrachter in dieser Wohnung eine total andere Welt.
„Ich war in meinem Berufsleben schon in vielen Wohnungen gewesen. Professoren lebten auf Matratzen, Hunderudel mit ihren Herrchen und so weiter. Aber was ist das?“, schüttelte der vom optischen Eindruck überwältigte Kommissar den Kopf.
Im Küchenbereich konnte man überall Puppen finden, alles war von diesem Spielzeug vollgestellt. Die Puppen trugen extra angefertigte Kleidung und waren ganz nett angezogen. Aber im Wohnbereich war keine Tapete mehr wirklich zu erkennen. An den Wänden hingen überall Totschläger, sogenannte Nunchakus herum. Die kannte der Polizist von seiner Ausbildung. Auch Rachel musste etwas schlucken und konnte das bestätigen.
„Ich bin hochdekorierte Dan-Trägerin im Karate, dem Weg der leeren Hand und kann ihnen sagen, dass Leute, die damit umgehen können, sich selbst so oft beim Training die Birne weich geschlagen haben, dass sie niemanden etwas zu Leide tun könnten. In Deutschland sind diese Waffen sowie das Enterdigen von Leichen in einigen Bundesländern auch verboten, glaube ich!“
„So ist das also, Karate, der gewaltfreie Weg der leeren Hand? Haben Sie noch eine zweite Ausbildung, etwa wie die geheime Kunst des Mordens? Würde zur Aufklärung vor Ort sehr viel beitragen. Vielleicht sind die Herrschaften auch in einem solchen Verein? Da einige Puppen ein demoliertes Gesicht aufweisen, könnte durchaus polizeipsychologisch eine latente Aggression der beiden Charaktere vermutet werden“, stellte der Polizist fest und blickte Rachel streng in die Augen.
„Ich habe eine Aufklärung für die ungewöhnliche Dekoration“, meldete sich die Frau des Onkels zu Wort.
„Herr Kommissar, wir haben keine Kinder“, seufzte sie. „Wir haben alles versucht, bis die Pfeife qualmte. Schließlich baute ich eben diese Kinder!“
„Aber wozu denn diese vielen Totschläger an der Wand?“, fragte der Ermittler nach.
„Habe ich alle selbst gebastelt“, erklärte der Onkel stolz.
„Zwei Hölzer mit drei Zentimetern Durchmesser und einer Länge von achtundzwanzig Zentimetern. Verbunden mit zwei Schrauben und einer Kette von zehn Zentimetern. Alles im Baumarkt in der Stadt erhältlich! Ich weiß natürlich, meine Nichte hat so etwas nicht, denn wie sie schon erwähnte, sind diese Waffen in einigen deutschen Bundesländern verboten!“
„Sie sind wohl eher in ganz Deutschland verboten“, entgegnete der Polizist, während er sicherheitshalber und aus seiner Sicht gutem Anlass die Dienstwaffe durchlud und entsicherte, dann jedoch wieder in den Halter steckte.
„Dort ist alles verboten, sogar das enterdigen von Leichen für ein klitzekleines Voodoo-Ritual! Dazu braucht man tatsächlich einen Antrag. Lächerlich, einfach nur lächerlich!“, fügte die Frau des Onkels hinzu.
Der Polizist war sichtlich genervt, holte aus seiner Gesäßtasche ein Taschentuch, tupfte sich seine Stirn ab und schloss für einen Moment seine Augen.
„Wofür brauchen Sie diese vielen Waffen?“, fragte der Ermittler mit Nachdruck.
„Wir brauchen diese Instrumente für die Kindererziehung“, mischte sich nun wieder die Frau in das Gespräch ein, während Rachel grinste.
„Wie bitte?“
„Kinder müssen gehorchen. Grenzen müssen klar aufgezeigt werden. Den autoritativen Erziehungsstil halten wir für völlig überholt und unmodern. Wenig Wärme und knallharte Zucht für ein erfülltes und zufriedenes Kindesalter sind angesagt! Im Sinne einer Verhaltensprophylaxe vermöbeln wir unsere Kinder, also die Puppen, entsprechend jeden zweiten Samstag das ganze Jahr hindurch per Nunchakugebrauch. Darum haben vereinzelte Puppen verbeulte Gesichter. Selber schuld!“
„Die Herrschaften wirken etwas sarkastisch, vielleicht will man mich hier verarschen?“, stellte der Polizist die Frage in die Runde. Dann richtete sich noch sein Augenmerk auf den Altar, direkt neben dem Opfertisch für Dämonen am Ostfenster. Minisärge mit Voodoo-Puppen sowie Minimultifunktionsgalgen waren dort aufgestellt und ein paar heidnische Utensilien lagen verteilt auf dem Holztisch. Für den Polizisten war das kein Problem, denn die netten Einheimischen hatten auf den Dörfern alle die gleichen Hobbys, damit fiel diese Familie nicht aus dem Rahmen.
„Frau Malagalume, wir machen jetzt einen Spaziergang um das Haus, folgen Sie mir!“
Ohne sich zu verabschieden, verließ der Staatsdiener das Haus. Rachel lief ihm gehörig hinterher. Das Gebäude war durch einen Plattenweg von außen rund herum begehbar. Der Polizist wollte auf die andere Seite, auf der er zwei Leichen vermutete. Sowohl aber der Weg dorthin als auch der Garten insgesamt glich durch die heftigen Regengüsse mit anschließenden Schauern und orkanartigen Winden einem schauderhaften Schlachtfeld. Mehrere Bäume lagen am Boden und der weite Garten bildete einen Trümmerhaufen von Ästen, Wurzeln und Erdblöcken ab. Auf den Nachbargrundstücken in der Ferne waren abgeknickte und abgedrehte Baumkronen zu erkennen und von oben schien der Himmel über diese Vernichtung schadenfroh zu lachen, denn der Niederschlag hatte nun ganz aufgehört.
Auf der anderen Seite des Grundstückes angekommen klagten nicht nur weitere Baumleichen mit entblößtem Wurzelwerk, sondern auch die teuflisch dreckigen Leiber der Vermissten, auf dem Bauch liegend auf einem Erdgefälle. Unweit der Personen war auch der überflutete Teich. Der Polizist drehte sich zu Rachel um und musterte sie. Für Sekunden stand Rachel nun da, betäubt, atemlos in Schwindel und animalischer Angst in den Augen. Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: „Ich muss wohl zwei Morde einräumen!“
Plötzlich bekam der Polizist einen Spatenschlag auf den Hinterkopf verpasst. „Treffer!“, freute sich Rachels Mutter. Unbemerkt hatte sie die beiden verfolgt.
„Was hast du da angestellt?“, kreischte Rachel hysterisch und fuchtelte mit ihren Armen wild durch die Luft. „Du kannst doch nicht jeden einfach umlegen!“
„Alles gut“, wirkte die Mutter beruhigend ein. „Die beiden Trottel da sind nur betäubt und der Bulle wird mit Kopfweh aufwachen.“
Rachel überprüfte die Vitalfunktionen der außer Betrieb gesetzten Gäste und legte alle in eine stabile Seitenlage.
„Und jetzt? Das gibt etwa keinen Ärger?“
„Nein, wird es nicht geben!“, erwiderte Gertrude. „Der Polizeichef in der Hauptstadt von dem ich einige Fotos habe, wie er sich von den Brüsten einer nackten Transsexuellen Koks reinzieht, hat mit mir ausgemacht, dass er mir noch ein paar Gefälligkeiten leisten möchte.“
„Wieso hast du die beiden nicht mit einem Voodoo-Zauber platt gemacht, das ist doch die übliche saubere Sache?“, wollte Rachel wissen.
„Ich war ja im Nachbardorf der Inzuchtschwachköpfe und habe bei der zugezogenen, sympathischen Hohepriesterin nachgefragt. Die ist intellektuell. Zeiten ändern sich nun Mal. Aber seit ihrem Bachelorabschluss in Psychologie an einer deutschen Fernuniversität ist sie ebenfalls völlig durchgeknallt. Sie lässt sich nun auf einer Sänfte von ihren Hexen durch den Tempel tragen.“
„Na und? Sie muss sich doch nicht über ihre Mitwelt erheben können und nur einen billigen Zauber durchziehen, um Abschaum fachgerecht zu entsorgen“, meinte Rachel.
„So billig ist der Zauber eben nicht. Die studierte Hexe meinte, so ein professionelles Voodoo-Ritual sei heutzutage akademisch und ganz schön komplex. Zeit, Qualität und Kosten spielen dabei eine große Rolle. Im Vorfeld müssten Forschungsfragen gestellt und konkrete Hypothesen abgeleitet werden. Nach der Auftragsannahme sollten die Schritte Informationsanalyse, Konzept, Planung, Initiierung, Durchführung und die Evaluation der Maßnahme erfolgen. Publikationen für andere schwarzmagische Hexen gehören auch zum guten Ruf. Dafür braucht sie viel Personal und die Kosten wachsen über die Jahre hinweg. Im Tempelbüro liegen sogar für solche Fälle Kreditformulare von deutschen Banken aus. Meist sterben die Opfer aber schon an Altersschwäche, bevor das Ritual überhaupt wirkt.“
„Was soll ich tun? Meine Erinnerung, alles ist verschwommen…“
„Ich weiß, mein Kind. Wir haben aber keine Zeit für Erklärungen. Denke weder an mich, noch an deinen Onkel, noch an deine Freundin. Du musst sofort los. Die Verfolger werden wieder aktiviert aber du wirst im Laufe der Zeit mentale Klarheit erhalten. Vertraue mir!“
„Mein Telefon, es funktioniert nicht, Mama. Kein Empfang?“
„Deine Entwicklung hängt nicht vom Telefon ab, vielmehr vom Dschungel, liebe Rachel. Du musst mit Schadrac in den Dschungel und darfst keine Angst vor etwas Neuem haben. Fliehe zu deiner Schwester Micheline. Bis zu den Berggorillas werden euch, sobald die Formalitäten erledigt sind, Roland und der Detektiv zwar zu folgen versuchen, aber nicht mithalten können. Jeder Europäer macht bei so einer Tour schlapp. Der Dschungel ist euer Zuhause. Zweihundert Meilen nördlich gibt es immer noch diesen Stamm von geistig minderbemittelten Kannibalen, die planlos durch die Wildnis laufen. Fahre erst einmal dorthin und eröffne nun für Robert nach und nach seine Privathölle, das hat sich dieser Mistkerl verdient.“
„Jetzt sofort?“, fragte Rachel noch einmal nach.
„Sofort! Nehme bitte den Toyota. Ich hole noch die Notrucksäcke, Ersatzklamotten, etwas Überlebensausrüstung und einen Arztkoffer. Der Koffer ist von einem ebenfalls guten Bekannten, der mir noch einiges schuldet, wegen eines Fotos von ihm mit einer Ziege. Zusammen mit Benzin und Wasser findest du alles auf der Ladefläche. Im Königreich ist man jederzeit für so etwas vorbereitet, das weist du ja. Dann fährst du mit Schadrac, Häckler und Koch gleich los. Noch ist es hell und ihr habt einen guten Vorsprung.“
„Wer sind Häckler und Koch“, rätselte Rachel erstaunt. „Hast du dir wieder Diener zugelegt?“
„Dummchen! Das ist die Knarre, welche ich dem Detektiv abgenommen habe. Keine Ahnung, wie er damit im Flughafen einchecken konnte. Für Herren im Anzug und mit Waffenkoffer gibt es sicherlich auch noch Kaffee und Kuchen und Musik auf der Toilette bevor sie mit dem BMW Achter Cabriolet zum Flugzeug gefahren werden. Ist ja auch egal, wie man dort mit Extrawünschen umgeht. Ich leg die Waffe mit Ersatzmunition jedenfalls in das Handschuhfach.“
In der Zwischenzeit machte sich Schadrac auf die Suche nach seiner Mutter. Unten am Hang war er in seinem Spiderman-Shirt schon gut zu erkennen.
„Schadrac? Wir fahren zu den Kannibalen!“
„Juhu, Mama!“
Schadrac ging den Hang hinauf, wie sonst in tadelloser kindlicher Performance und mit einem sportmäßigen Schritt, fröhlich, aufrecht und elastisch.
Gertrude legte sanft die Hand auf die Schulter ihrer Tochter und flüsterte: „Dann kann ich jetzt schon Offenheit für neue Erfahrungen abhaken, oder?“
Rachel bemerkte nicht, wie die Augen ihrer Mutter kurz teuflisch rot aufleuchteten.
Kapitel 3: Die Kidnapper
Rachels Zeitgefühl war vollkommen verschwunden. Es mussten bestimmt schon Tage seit dem Beginn der Flucht vergangen sein. Rachel hatte derweil ihr langes und verklebtes Kunsthaar abgeschnitten. Noch glich dieses wiederentdeckte Paradies einer harmonischen Zauberwelt, aber der Vorgeschmack der zu erwartenden Hölle warf bereits jetzt einen Schatten auf die malerische Landschaft. Einzelne Vögel schrien plötzlich grell und angstvoll auf und flatterten in das Gemüt der beinahe schon Träumenden. Unruhige Windstöße erbrausten die hohen Wipfel der vereinzelt stehenden Bäume, welche während der Fahrt am Fahrzeug vorbeihuschten. Elegante buntgefärbte Schmetterlinge ließen sich in wehrlosen Anflugversuchen vom Winde davonführen. Das warme Abendsonnenlicht wurde bereits fahl und siech. Die Luft im Fahrzeug war unangenehm aufgeheizt und die Klimaanlage funktionierte nicht mehr. Noch war die Landschaft flach und mit spärlicher Vegetation versehen. Die Straße bestand nur aus festgefahrenem Sand. Ein Pseudo-SUV-Geländewagen der wichtigtuerischen Europäer hätte auf diesem Gelände schwer zu kämpfen. In erbärmlich nach Kloake stinkender Kleidung lenkte Rachel den Toyota 4WD stur geradeaus, bog dann aber in einen Nebenweg ab. Noch ein kurzes Aufheulen des Motors und der Wagen war gut versteckt hinter einem kräftigen Busch geparkt. Sie öffnete die hintere Fahrzeugtür und gab Schadrac einen zärtlichen Kuss auf seine Wange. Schadrac betete mit einer weinerlichen Stimme in Todesangst. Sofort bekam Rachel ein richtig schlechtes Gewissen. Tränen kullerten in kurzen Abständen über ihr Gesicht.
„Lieber Heiland in der Nacht, halt über unserem Hause wacht. Behüte meine Oma, meinen Papa, eine Mama und mich selber. Amen!“
„Ist das alles richtig?“, fragte sich Rachel. „Kann ich Schadrac solche Strapazen aussetzen?“ Die ersten Zweifel kamen auf.
Rachel holte das Zelt, einen Rucksack mit Verpflegung und Wasserflaschen von der Ladefläche. Niederschlag fiel schon eine längere Zeit nicht mehr. Der Boden hatte Risse und der viele Regen vor der Abfahrt hinterließ keine Spuren mehr. Bald sollte es dunkel werden. Zur Not könnten sie natürlich auch im Auto übernachten. Der Toyota hatte eine Rücksitzbank mit einer Windschutzscheibe zur Ladefläche. Dadurch wäre eine anrückende Gefahr schneller erkennbar. Doch das Schlafen im Auto ist unbequem. Während Schadrac aus dem Fahrzeug stieg und mit dem Sammeln von Holz zumindest etwas Spaß hatte, begann Rachel mit dem Aufbau des Zeltes. Mit zwei sich kreuzenden Gestängen über dem Zeltmittelpunkt war das Kuppelzelt sehr schnell bezugsfertig. Diese Form des Zeltes ist selbsttragend und benötigt bei schwachen Winden keinerlei Heringe. Wichtig war bei der Übernachtung im Freien aber das Feuer. Wie schon in den letzten Nächten hält es wilde Tiere fern. Natürlich läuft man dann aber schneller in die Gefahr, entdeckt zu werden. Rachel wog noch einmal Pro und Contra ab und entschied sich für ein weniger auffälliges Gitterfeuer zum Kochen. Sie nahm zwei kräftige Hartholzstücke aus Schadracs Materialsammlung als Fundament in sicherer Entfernung vom Zelt und legte in mehreren Schichten schwächere Holzscheite darüber. Noch hatte Rachel genügend Papier als Anzündmasse und ein Feuerzeug. Jetzt entfachte sie in der Mitte unter dem aufgeschichteten Turm das Feuer. Eine starke Flamme gab nach allen Seiten eine strahlende, kräftige Hitze ab.
Derweil zerrte Schadrac den Klappspaten vom Heck des Autos herunter und fing einige Meter von der Lagerstelle an zu graben.
„Was tust du da?“, fragte Rachel.
„Ich mache Wasser!“
„Wie das?“ Rachel war irritiert.
„Im Kindergarten kam nie der Nikolaus, dafür aber der Wetterfrosch…“
„Und der hat euch beigebracht, wie man Wasser herstellt?“
„Ja!“
„Aber wir müssen doch nur etwas graben“, gab Rachel zu bedenken.
„Darauf fallen alle herein, sagte der Frosch zu uns! Es ist doch viel zu trocken!“
„Interessante Frühförderung!“, stellte Rachel fest. Solche Aktionen der Vorschule waren ihr neu.
„Wusste der Frosch auch, wie das Wetter in einer Stunde sein wird?“, grinste Rachel.
„Der wusste sogar, wie spät es in einer Stunde ist, Mama!“
„So, so“, dachte sich Rachel. „Kein Wunder. Die haben ja auch im mittleren Dienst schon alle ein Studium. Zumindest im Königreich Lucilla, als möglichem Vorbild, soll das so schon sein. Eine erweiterte pädagogische Leistung wäre dann auch zu erwarten. Aber besser solche Ratschläge, als die dämlichen Bücher von meiner Mutter. Schwarze Magie für Dummys. Mit solchen Überlebenstricks würden wir jetzt im Dschungel garantiert bald drauf gehen. Merkwürdiger Weise hatten sich aber auf der Leipziger Buchmesse für Mutters Exposé sehr viele Verlage interessiert.“
„Passt schon!“
„Das war es?“, fragte Rachel nach.
„Muss da reinpassen!“
„Da müssen wir aber noch etwas nachgraben!“, meinte Rachel.
Der Kleine begutachtete das Loch, presste die Zunge sichtbar zwischen Über- und Unterlippe hindurch, nickte und übergab seiner Mutter den Spaten, ohne einen Blick vom Loch zu lassen.
„Ein halber Schadrac muss da rein passen und oben ein Schadrac groß!“
Rachel nickte zweimal mit dem Kopf und grinste.
„Das passt ja tatsächlich schon, Schadrac! Was brauchen wir noch?“
„Unten einen Eimer rein, dann ein großes Teil vom Zelt drauf!“
„Schadrac meint bestimmt eine Folie“, dachte sich Rachel. „Mal sehen, Schadrac, aber gut gebuddelt…“
Rachel ging zum Auto, öffnete die Beifahrertür und kramte in dem Ablagefach herum. „Da haben wir ihn schon, unseren Müllsack! Ich wusste doch, dass dort einer ist. Nun brauchen wir noch eine Schere!“
Zügig holte Rachel den Verbandskasten von der Ladefläche und nahm noch einen Kochtopf mit.
„Gut, dass Oma an so viele Sachen dachte“, rief Rachel zu Schadrac. Noch vor dem Auto auf dem Boden kniend schnitt Rachel die Plastikfolie zu einem Stück von etwa 2 x 2 m Größe zusammen, stellte dann den Topf in die Mitte des 60 Zentimeter tiefen Loches, legte die Plastikfolie über den Rand und befestigte sie rundum mit kleinen Steinen und mit Erde. Anschließend legte sie noch einen faustgroßen Stein in die Mitte der Folie, um sie damit bis zum Oberteil des Behälters etwa 40 Zentimeter nach unten zu drücken.
„Die unterirdische Sonnendestillationsanlage funktioniert wohl durch die Sonnenwärme, die die Temperatur von Luft und Boden unter der Plastikhülle erhöht und dadurch die Verdunstung aus dem Boden beschleunigt“, dachte sich Rachel.
„Prima, die Stelle sollte schattenlos sein! Letzt wird gemolken, nicht wahr, Schadrac?“
„Gut gemacht, Mama!“
„Wir schauen Morgen mal nach, bevor es weitergeht. Bin sehr gespannt, Spiderman.“
Gesättigt mit einem kurzen Abendbrot aus Wurstdosen, Wasser und Kekspackungen brachte Rachel den Jungen in das Zelt und setze sich nach einem Gute-Nacht-Küsschen nochmals an das Feuer. Die beiden hätten lieber woanders gehaust, doch so weit abseits der Zivilisation gab es keine Alternative. Zerlumpt und abgehungert waren Rachel und Schadrac noch nicht, doch bald schon sollte sich jene trockene, noch relativ offene Landschaft in einen tropischen Regenwald mit undurchdringlichen Buschbewuchs aus Lianen und Schlingpflanzen wandeln. Ein solcher Dschungel ist schwierig, aber dennoch mit Aussicht auf Erfolg zu durchqueren.
„Dann wäre da noch die Sache mit den Kannibalen. Ob die wirklich nur einen IQ von 0,1 haben und uns ungerupft durch ihr Gebiet marschieren lassen ist eher unwahrscheinlich“, überlegte Rachel, während Schadrac, noch klein, zart und zerbrechlich, tief eingepackt und schnarchend in seinem Schlafsack bereits schlief, geschützt von dem praktikablen Zelt.
„Der tropische Regenwald ist aber auch mit vermodernder Vegetation bedeckt, über die Armeen von Blutegeln kriechen. Ekelhafte und lästige Insekten werden uns das Leben zur Hölle machen. Killerschlangen hängen von Bäumen oder kriechen durch das zähe und dornige Gestrüpp auf der Suche nach Beute. Stromschnellen und Wasserfälle müssen umgangen werden. Der Aufenthalt im Dschungel mag ja vielleicht für Wetterfrösche mit einer gewissen Coolness und pragmatischem Sachverstand unterhaltsam sein, aber gewiss nicht bei einer Mutter mit Kind“, grübelte Rachel weiter.
„Tolle Aussichten. Und warum sollte uns Roland folgen? Vielleicht riecht er den Braten bereits. Der Feigling wird sich wohlmöglich erst gar nicht durch das Kannibalen-Publikum im Dschungel durchprügeln wollen, nur um seiner Ex-Familie noch ein paar Steine hinterherzuwerfen, oder doch?“
Ohne in Panik zu verfallen, machte sich Rachel noch ein paar weitere Gedanken. Schließlich war sie Ärztin. Mit vielen Problemen würde sie fertig werden: Schlangenbisse, Fieber, Infektionen, Parasiten, Sonnenbrand und Hitzschlag wären mit dem Inhalt des Notkoffers, den ihr Gertrude mitgegeben hatte, überlebbar. Aber eine sehr große Strecke ist am Schluss hin noch zu Fuß und bergauf zu bewältigen. Mit diesen Gedanken schlief Rachel ein.
Sie fing zu träumen an. Entgegen der Furcht vor einem ungewissen Schicksal führte sie der Pfad des Lebens mit ihren Sohn immer weiter in den dunklen Urwald hinein. Bunte Paradiesvögel zwitscherten in den Ästen der Bäume, in der Ferne brüllten Affen. Streckenweise war der Dschungel so dicht, dass Rachel ihren Sohn an den Händen nehmen musste. Der Junge stolperte über ein Unterholz, taumelte ein paar Schritte und marschierte dann aber stur weiter, ohne sich den Ärger über diesen unsinnigen Ausflug anmerken zu lassen.
„Mama, ich habe Durst und meine Trinkflasche ist leer!“
„Schau nach vorne, Schadrac! Wir haben Glück! Eine Dönerbude mit einem Cola-Automaten!“
„Eine Dönerbude?“, fragte sich Rachel jetzt. „Wie das?“
Penetrantes Gezirpe drang durch die Nacht, als sie plötzlich aufwachte. Rachel drehte ihren Kopf in Richtung des Zeltes, um zu prüfen, ob noch alles in Ordnung war. „Du bist so süß, mein Kleiner!“ Sie lächelte, während sich ihre Augenlider wieder senkten und Rachel erneut sanft einschlief. Schon im Traum, wanderte ihr Blick hoch zu den Sternen am klaren Nachthimmel, die über ihr funkelten wie ein Ozean voller Perlen. In der Finsternis jedoch leuchteten zwei jener Sterne rot und formten sich zu glühenden Augen. Rachel hörte eine Stimme. Die Augen sahen nun böse aus und fixierten Rachel.
„Hör zu, Rachel: Manchmal ist zu viel Neugier und Tatendrang auch nicht gut. Bleibe vorsichtig, denn deine Offenheit ist schon sehr stark ausgeprägt!“
Um sie herum raschelte es unaufhörlich. Die Augen von Rachel öffneten sich langsam. Sie sah, wie Schadrac ein paar Mangos vor dem Zelt aß. Ihre Haut juckte und brannte von etlichen Moskitostichen. Dann fiel ein Schuss. Wenige Augenblicke später knalle es noch einmal. Schlagartig war Rachel vollkommen wach. Sie setze sich auf und zögerte keine Sekunde mit dem Einpacken.
„Da war Wasser drin, Mamma!“
„Wasser? Ach ja. Aber komm schnell und helfe der Mama, wir müssen sofort weg.“
Auf die Schnelle wurde alles auf die Ladefläche geworfen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. „Wie konnte das passieren? Warum habe ich so lange geschlafen?“, fragte sich Rachel.
„Kommen böse Männer, oder kommt der böse Papa?“
„Weiß ich nicht, aber es ist besser, wenn wir schnell abhauen. Mit Oma kann ich nicht telefonieren. Sie kann uns also nichts sagen.“
Schadrac starrte mit offenem Mund seine Mutter an, dann stürze er sich in das Auto und schlug die Beifahrertür zu.
Rachel beeilte sich. Zwar gibt es auch in Afrika viele nette Menschen im Busch, aber auch welche, die Gesetze missachten, Wilderer die begehren, in einer Nacht oder an einem Tag mehr zu verdienen, als die meisten Menschen hier in einem ganzen Monat verdienen können. Und überall Aufruhr, auch in den Dörfern und Städten. Polizisten und Paramilitärs bedrohen immer wieder Frauen und Männer, ein Beweis, dass der Zeiger der Gerechtigkeit stets in falscher Richtung steht. Es gibt auch nichts gefährlicheres, als wenn man eine Gruppe von Trotteln unterschätzt, welche die gleiche Meinung haben.
„Wenn es Roland und sein Adjutant sind, müssen wir sie jetzt abschütteln. Im Dschungel haben wir Vorteile“, versuchte Rachel ihren Sohn zu beruhigen und gab ordentlich Gas.
Schreiend durch das Buschwerk flatterten Wildvögel gegen die pralle Sonne und Weidengewächse schluckten den Wind, während Rachel käseweiß in Furcht den Wagen durch die grüne Wildnis peitschte. Schweißnass, zitternd und verstört hielt Schadrac immer wieder seine Hände vor sein Gesicht, als wolle er von nichts wissen.
„Das bleibt aber unter uns“, versuchte Rachel den Knaben zu erheitern. Mit vorgestreckter Hand kniff sie ihm dabei in die linke Backe.
„Bei deiner Tante können wir unsere Freiheit behalten, das ist doch eine großartige Sache, falls wir überhaupt ankommen!“ Rachel zeigte auf die Straße und murmelte: „Das hier haben Leute gebaut, die nach der vierten Klasse schon ihr Abschlusszeugnis erhielten. Hoffentlich endet die Straße nicht an einem steinernen Abgrund!“
Schadrac stimmte der Mutter nickend zu und lächelte nun vor sich hin.
Die nächste unübersichtliche Kurve jedoch schnürte Rachel abrupt die Luft in ihrem Hals ab. Nur durch eine Vollbremsung konnte sie den Toyota noch rechtzeitig und leicht gedreht vor einer Autoblockade stoppen. Bevor sie den Wagen wenden konnte, tauchte schon im Rückspiegel ein bewaffneter Mann auf und ihr war sofort bewusst, dass die Gelegenheit zur Flucht in Sekundenschnelle bereits verstrichen war. Sie umschloss das Lenkrad fest mit beiden Händen und fühlte sich wie ein zum Tode verurteilter der auf der Pritsche liegt. Anstelle eines Schlafmittels der ersten Stufe pumpte ihr Körper jedoch Adrenalin in die Venen, welche die Todesangst wellenförmig aus ihrem Leib spülte und ihr einen Moment der absoluten mentalen Klarheit verschaffte. Die Entscheidung, ob ein vermeintlicher Kontrollpunkt echt oder eine Touristenfalle ist, kann eine Überlebensfrage sein, und Rachel wusste, dass sie sich jetzt auf ihren Instinkt verlassen musste. Für Kontrollen werden Autos als Blockade benutzt, um den Verkehr zu verengen. Doch es handelte sich im aktuellen Fall nicht um das Militär oder die Polizei. Die beiden Afrikaner, der eine am hinteren Ende des Toyotas, hatte eine Pistole und der andere Mann, der vor dem blockierenden Privatwagen stand, eine Langwaffe in der Hand. Sie trugen zerfetzte olivgrüne Overalls und sahen den Komikern Dick und Doof aus den 40ern sehr ähnlich, allerdings als farbige Zeitgenossen. Rachel glaubte dennoch nicht, dass die beste Lösung sei, die Blockade zu durchbrechen. Sie hatte im Kampfsport auch gelernt, dass man einen Gegner niemals unterschätzen durfte. Angesichts der Bewaffnung und Schadrac auf dem Beifahrersitz, entschied sich Rachel zur Aufgabe, obwohl man das andere Auto sehr leicht über die Vorderachse aus dem Weg stoßen könnte. Der dünne Mann tauchte von hinten mit seiner Pistole an Rachels Seitenfenster auf und deutete an, das Seitenfenster zu öffnen, indem er mit seiner linken gestreckten Hand von oben nach unten durch die Luft strich. Rachel öffnete den Gurt und flüsterte zu Schadrac: „Egal was passiert, erst einmal nicht weglaufen! Mama macht das schon!“ Dann fuhr sie das Fenster herunter.
„Ihr seid wohl in der Twilightzone falsch abgebogen, nicht wahr?“, wollte der Doofe wissen. Noch ein Moment des Zögerns, dann riss er die Tür auf, packte Rachel an den Haaren und zerrte sie aus dem Auto, professionell wie ein altgedienter GTA5-Spieler. Zum Vordschungelritual und zur Begrüßung gab es noch einen Handkantenschlag in das Genick und einen Tritt in den Hintern. Der ließ Rachel straucheln. Doch schon gab es weiteren Tritt. Sie stolperte noch ein paar Schritte nach vorn, kippte um und stürzte zu Boden. Im nächsten Moment wurde Rachel auf den Rücken gedreht und geohrfeigt.
„Wau, das nenn ich mal einen tollen, tollen Empfang“, verspottete Rachel darauf ihren Angreifer. „Dankeschön, du Trottel!“
Schadrac flüchtete aus dem Auto zu seiner Mama und flehte die Männer an: “Nein, bitte nicht weiter zuschlagen. Wir tun alles was ihr wollt, aber töten sie uns nicht! Meine Mutter ist Ärztin, vielleicht kann sie euch helfen?“
Währenddessen durchsuchte der Dicke den Wagen. „Stimmt, hier ist ein Arztkoffer! Bist du Ärztin? Unser Chef kratzt gerade ab. Kannst du ihm helfen?“ Der Dicke sprach offensichtlich Deutsch.
Rachel sah in das wutverzerrte Gesicht und stimmte der Hilfe aus nachvollziehbaren Gründen auch zu.
„Ich kneble euch auch ganz toll! So wie es mir Edelnutten in Lucilla beigebracht haben, versprochen“, meinte der Doofe in Rachels Landessprache Liniglu. Letzte Frage: “Habt ihr ein Analversteck angelegt?“ Das konnte Rachel mit ruhigem Gewissen verneinen.
Rachel und Schadrac taten so, als fügten sie sich in ihr Schicksal. Sie blickten ihre Entführer nicht an und gaben sich unterwürfig. So hatte Rachel den Knaben schon vor der Entführung theatermäßig geimpft. Und der Junge war sehr gut und glaubhaft.
Der Doofe erwies sich als ausgesprochen sehr doof und steckte den beiden nur ein Wollknäuel in den Mund, ohne die Münder zusätzlich zuzukleben, fesselte die Beiden schlampig auf dem Rücken und schleppte sie dann zum Fahrzeug der Entführer. Er verfrachtete beide in den Kofferraum und klappte den Deckel herunter. Dann öffnete er den Kofferraum nochmals um eine Frage zu stellen: „Wie groß sind eigentlich deine Hupen?“ Der Doofe bekam vom Dicken drauf eine Schelle verpasst und der Deckel des Kofferraumes knallte wieder zu. Bald darauf setzten sich beide Fahrzeuge in Bewegung. Rachel hörte zunächst den Toyota an ihnen vorbeifahren. Vielleicht doch noch die Gelegenheit zur Flucht?
Es dauerte nicht lange und Rachels Zunge klebte an ihrem Gaumen. Nach und nach gelang es ihr und auch Schadrac, die lästige Wolle auszuspucken. Rachel war nass im Gesicht, denn die Luft unter dem Deckel hatte sich unangenehm aufgeheizt.
„Mama, wohin fahren wir“, wollte Schadrac wissen.
„Sicher nicht in das Disneyland, aber habe keine Angst“, versuchte Rachel auf ihren Jungen beruhigend einzuwirken.
Während die Entführer versuchten, das sichere Versteck anzufahren, bereitete sich ihre Ware Rachel und Schadrac im Kofferraum munter auf den Vorzeitigen Abgang vor. Rachel zog ihre gefesselten Handflächen so weit wie möglich auseinander, beugte die Hüfte und führte die Arme unter dem Gesäß durch. Dann zog sie die Arme unter das Knie und stieg liegend mit einem Fuß nach dem anderen durch die Fesseln. Nun konnte sie mit dem Mund die Fesseln an den Händen lösen und danach Schadrac befreien. Sport zahlt sich mitunter sehr wohl aus.
„Und es werde Licht!“ Mit einem kräftigen Tritt konnte Rachel eines der Rücklichter herausstoßen, um eine Sicht nach außen zu haben, natürlich in der Hoffnung, dass dieser Krach nicht bemerkt würde. Sie hatten Glück. Das Loch nach außen ermöglichte einen Blick auf die ersten Zungen des Urwaldes. Sie mussten nach Norden gefahren sein und es gab keine weiteren Verfolger.
Einen Atemzug lang war es ganz still im Kofferraum. Dann fragte Schadrac leise: „Und jetzt?“
„Ich würde ja gerne zu dir sagen, das Schönste kommt noch, doch dann müsste deine Mama lügen“, antwortete Rachel und blickte wieder auf die Straße. Ein heftiger Regenschauer prasselte auf den Kofferraum des Fahrzeuges und die saftgrünen mannshohen Büsche entlang der Fahrbahn verloren rasch an Schärfe und Kontrast. Fette Blasen zerplatzten auf der festgefahrenen Sandstraße. In der Ferne durchdrang ein furchtbares Donnern die königliche Weite. Derweil glichen schon die ersten tiefer liegenden Flächen der Landschaft silbrig glitzernden Seen. Das Auto begann durch die orkanartigen Windböen heftig zu wackeln und Fahrwasser klatschte gegen den Fahrzeugrahmen. Man sah vor lauter Regenschauer den Himmel nicht mehr. Gut, dass das Loch relativ klein war. Rachel entschied sich nun doch nicht zur vorzeitigen Flucht. Unter diesen widrigen Wetterbedingungen war das Risiko der Verletzung für den Jungen zu hoch, obwohl das Auto in den Kurven lehr langsam war und sich der Kofferraum von innen leicht öffnen ließ.
Das überfallartige Unwetter verschwand wie es heranzog. Dann gab es einen heftigen Knall. Schadrac kuschelte sich ohne ein Wort zu sagen an Rachel und sie spürten, wie das Fahrzeug talwärts fuhr, einem möglichen undurchsichtigen Ende entgegen. Nun eine Rechtskurve und wieder eine Rechtskurve. Fuhren sie im Kreis? Sie sahen sich an und wussten es nicht.
Plötzlich stoppten die Fahrzeuge abrupt. „Müssen wir jetzt sterben?“, fragte Schadrac jammernd.
„Habe keine Angst! Du wirst nicht sterben, wir werden nicht sterben, ich werde das schon verhindern“, beruhigte Rachel. Dann wurde von außen der Kofferraum wieder geöffnet. Das kaltstrahlende Gesicht des Doofen starte die beiden an. Sogleich kratzte er sich mit seinem rechten Zeigefinger an die Schläfe und Rachel hatte den Eindruck, dass er anfängt, zu denken.
„Mist! Reifen kaputt und das Licht ist weggefallen. Die haben uns eine Schrottkarre verkauft und verarscht!“
„Ich hab dir doch gleich gesagt, alles was fährt, schwimmt, fliegt oder vögelt, soll man nicht kaufen, sondern mieten, du Trottel, schnauzte ihn der Dicke an. Zeitgleich packte er Rachel an den Haaren, zog sie aus dem Kofferraum und zwei Meter durch den Schlamm vom Auto weg, während Schadrac schluchzte und weinte. „Willkommen zur Musterung!“
„Was für eine Musterung, du Fettsack?“, fauchte Rachel mit Wut und Hass im Bauch. Ihre Augen quollen bereits deutlich aus den Augenhöhlen heraus. Sie richtete sich langsam auf und versuchte jene aufsteigende Wut über ihre Situation niederzukämpfen, um das Leben von Schadrac nicht noch mehr zu gefährden.
„Meine Mama ist Ärztin, meine Mama ist Ärztin, sie tut niemanden etwas an, lasst uns in Ruhe“, rief Schadrac. Die Mine des Dicken wurde augenblicklich hart. Mit einer Hand griff er an Schadracs Nacken und zerrte auch ihn aus dem Wagen. Er griff nach seiner Wasserflasche am Gürtel, trank einen winzigen Schluck und gab die Flasche Schadrac.
„Hier, Kleiner, du verstehst mein Deutsch doch etwas. Trinke! Als Offizier bist du eh noch nicht zu gebrauchen. Unsere Mindestaltersgrenze liegt bei 11 Jahren. Wir sind ehrliche Leute und machen nicht mit jedem beim Militär Kasse.“ Schadrac scheute zunächst zurück, im Zweifel, dem Dicken vertrauen zu können, nahm aber dann einen Schluck nach dem anderen, denn sein Mund war trocken und das Wasser linderte sein Brennen im Hals. Dann gab er ihm die Flasche zurück.
Während nach den ersten Sonnenstrahlen paradiesische Dschungelvögel die Szene in eine romantische Richtung herunter zu zwitschern versuchten, war es Rachel noch nie in ihrem Leben so elend zumute gewesen. „Dieser Roland hat bestimmt eine Fernbedienung um die beiden Schwachköpfe zu steuern und uns so aus der Distanz zu tyrannisieren“, grübelte sie mit zynischem Gedankengut.
„Es sind nur wenige Meter ins Gebüsch bis zum Herrn Major! Aus dem Toyota scheint nichts herausgefallen zu sein, wegen der hohen Ladekante! Lassen wir die Karren hier einfach stehen! Die Zündschlüssel werden nicht gefunden, denn die habe ich einfach stecken gelassen. Damit rechnet keiner!“ Der Doofe hatte schon den Arztkoffer in der Hand und zeigte in die Richtung, in die sie zu gehen hatten. Dick und Doof schubsten ihre Gefangenen an, der Dicke ging voraus, Rachel und Schadrac folgten und der Doofe bildete die Nachhut.