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»In Neu-Delhi setzten sie auf Turner einen Killerhund an, der auf seine Pheromone und seine Haarfarbe programmiert war.« Computer Cowboys und Firmensöldner liefern sich im Namen von Megakonzernen unerbittliche Kämpfe, die sie oft genug mit ihrem Leben bezahlen. Doch als der Entwicklungsleiter von Maas Biolabs mitsamt seinen revolutionären Biochips zu Hosaka überlaufen will, ruft das Kräfte auf den Plan, die nicht nur menschlich sind ... In der Matrix des Cyberspace tobt ein gnadenloser Kampf um die Macht, geführt von riesigen Konzernen, für die Computer Cowboys ihren Verstand aufs Spiel setzen. Nach einem katastrophal schief gelaufenen Einsatz wird der Firmensöldner Turner nach Mexiko geschickt, um wieder auf die Beine zu kommen. Doch seine Erholungszeit findet ein abruptes Ende, denn sein Arbeitgeber, die Hosaka Corporation, reaktiviert ihn, für eine Mission die gefährlicher ist, als alle bisherigen. Er soll den Entwicklungsleiter von Maas Biolabs und die von ihm perfektionierten Biochips gegen alle Widerstände zu Hosaka bringen. Doch das erregt die Aufmerksamkeit gewisser skrupelloser Parteien und löst einen Krieg im Cyberspace aus, der die alte Ordnung auf den Kopf stellen wird.
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Seitenzahl: 427
William Gibson
Count Zero
Roman
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Tropen
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Count Zero« im Verlag Victor Gollancz Ltd., London
© 1986 by William Gibson
Für die deutsche Ausgabe
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung eines Fotos von © Steve Roe Photography
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50487-3
E-Book: ISBN 978-3-608-12112-4
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
COUNT ZERO INTERRUPT: Bei einem Interrupt den Zähler auf null dekrementieren
In Neu-Delhi setzten sie auf Turner einen Killerhund an, der auf seine Pheromone und seine Haarfarbe programmiert war. Der Hund fand ihn in einer Straße, die Chandni Chauk hieß, und kam durch einen Wald nackter brauner Beine und Rikscharäder auf seinen gemieteten BMW zugeschossen. Sein Kern bestand aus einem Kilo rekristallisiertem Hexogen und TNT in Flockenform.
Turner sah ihn nicht kommen. Das Letzte, was er von Indien sah, war die rosa Stuckfassade des Khush-Oil-Hotels.
Da er einen guten Agenten hatte, hatte er einen guten Vertrag. Da er einen guten Vertrag hatte, war er eine Stunde nach der Explosion in Singapur. Zum größten Teil zumindest. Der holländische Chirurg witzelte, ein gewisser Prozentsatz von Turner sei beim ersten Flug vom Palam International nicht mehr mitgekommen und habe die Nacht dort in einem Schuppen in Nährlösung verbringen müssen.
Der Holländer und sein Team brauchten drei Monate, um Turner wieder zusammenzustoppeln. Sie klonten ihm einen Quadratmeter Haut, die sie mithilfe von Collagenplättchen und Haiknorpel-Polisacchariden heranzüchteten. Augen und Genitalien kauften sie auf dem freien Markt. Die Augen waren grün.
Einen Großteil der drei Monate verbrachte er in der ROM-generierten Simstim-Konstruktion einer Bilderbuchkindheit im Neuengland des vorigen Jahrhunderts. Die Visiten des Holländers waren graue Morgenträume, Albträume, die verblassten, wenn der Himmel über seinem Zimmer im zweiten Stock hell wurde. Nachts konnte man den Flieder riechen. Turner las im Schein einer 60-Watt-Birne unter einem mit Klipperschiffen bedruckten Pergamentschirm Conan Doyle. Er masturbierte in die frisch duftende Bettwäsche und dachte dabei an Cheerleader. Der Holländer öffnete eine Tür in sein Hinterhirn und spazierte hinein, um Fragen zu stellen, aber am Morgen rief ihn seine Mutter zu Cornflakes, Rühreiern mit Schinken und Kaffee mit Milch und Zucker herunter.
Und eines Morgens erwachte er in einem fremden Bett. Der Holländer stand an einem Fenster mit tropischem Grün davor; das hereinfallende Sonnenlicht tat seinen Augen weh. »Sie können nach Hause, Turner. Wir sind fertig mit Ihnen. Sie sind so gut wie neu.«
Er war so gut wie neu. Wie gut war das? Er hatte keine Ahnung. Er nahm die Sachen, die der Holländer ihm gab, und floh per Flugzeug aus Singapur. Sein Zuhause war das nächste Flughafen-Hyatt.
Und das nächste. Und so fort.
Er flog weiter. Sein Kreditchip war ein spiegelndes schwarzes Rechteck mit Goldrand. Die Leute hinter den Schaltern lächelten und nickten, wenn sie den Kreditchip sahen. Türen öffneten sich für Turner und schlossen sich wieder hinter ihm. Räder hoben vom Stahlbeton ab, Drinks wurden gebracht, das Abendessen wurde serviert.
In Heathrow löste sich ein großer Brocken Erinnerung aus der leeren Himmelskuppel über dem Flughafen und stürzte auf ihn herab.
Er kotzte im Gehen in einen blauen Plastikbehälter. Als er den Schalter am Ende des Korridors erreichte, änderte er sein Ticket um.
Er flog nach Mexiko.
Und erwachte vom Scheppern von Blechkübeln auf Fliesen, dem feuchten Wischen von Schrubbern und der Wärme eines weiblichen Körpers an seiner Haut.
Der Raum war eine hohe Höhle. Kahler, weißer Putz warf jeden Laut überdeutlich zurück; durch das Geklapper der Hausmädchen im morgendlichen Innenhof drang von irgendwoher das Rauschen von Brandung. Die Bettwäsche, an der er sich festklammerte, war aus grobem, vom häufigen Waschen weichem Batist.
Turner erinnerte sich ans Sonnenlicht in einer riesigen, getönten Scheibe. Eine Flughafenbar, Puerta Vallarta. Er hatte vom Flugzeug aus zwanzig Meter gehen müssen und dabei die Augen vor der Sonne zusammengekniffen. Er erinnerte sich an eine tote Fledermaus, die platt gedrückt wie ein dürres Blatt auf dem Rollfeldbeton gelegen hatte.
Er erinnerte sich an eine Busfahrt, eine Bergstrecke, den Auspuffgestank, die postkartengroßen Heiligenhologramme in Blau und Pink um die Windschutzscheibe herum. Sein Interesse hatte nicht der bergigen Landschaft gegolten, sondern einer Kugel aus pinkfarbenem Acrylharz, in der Quecksilber schwabbelte. Sie krönte den krummen Schaltknüppel, war etwas größer als ein Baseball und umschloss eine zusammengekauerte, aus klarem Glas geblasene Spinne, die halb mit Quecksilber gefüllt war. Das Quecksilber hopste und kullerte, wenn der Fahrer den Bus durch Serpentinen jagte, und schwappte und zitterte auf den geraden Strecken. Der Knauf war lächerlich, handgemacht, unheilvoll; er hatte den Zweck, Turner wieder in Mexiko willkommen zu hießen.
Unter dem runden Dutzend Mikrosofts, die der Holländer ihm gegeben hatte, war eins, mit dessen Hilfe er halbwegs fließend Spanisch sprechen konnte, aber in Vallarta hatte er hinterm linken Ohr herumgefummelt und stattdessen einen Staubschutz eingesetzt, der Buchse und Stecker unter einem rechteckigen, hautfarbenen Mikropor-Pflaster verbarg. Ein Fahrgast ziemlich weit hinten im Bus hatte ein Radio. Der Sprecher unterbrach die blecherne Popmusik in regelmäßigen Abständen mit einer Litanei zehnstelliger Ziffern, den Gewinnzahlen des Tages in der Staatslotterie.
Die Frau neben ihm bewegte sich im Schlaf.
Er stützte sich auf den Ellbogen und sah sie an. Ein fremdes Gesicht, das jedoch keineswegs den Erwartungen entsprach, die aus seinem Leben in Hotels resultierten. Er hätte die übliche Schönheit erwartet, ein Produkt aus billiger Wahlchirurgie und dem gnadenlosen Darwinismus der Moden, einen archetypischen Extrakt aus den wichtigsten Mediengesichtern der letzten fünf Jahre.
Ein Zug Mittelwesten im Kinn, archaisch und amerikanisch. Die blaue Bettdecke war über die Hüften hochgerutscht; die Sonne, die durch die Holzjalousien hereinfiel, zauberte ein goldenes Streifenmuster auf ihre langen Oberschenkel. Die Gesichter, neben denen er in den Hotels der Welt erwachte, sahen aus wie Gottes ureigenste Kühlerhaubenbemalungen. Schlafende Frauengesichter, identisch und einsam, nackt, ins Nichts gerichtet. Dieses Gesicht jedoch war anders. Irgendwie hatte es bereits eine Bedeutung. Eine Bedeutung und einen Namen.
Er setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Die Fußsohlen registrierten körnigen Strandsand auf den kühlen Fliesen. Es roch schwach nach den allgegenwärtigen Insektiziden. Nackt und mit schmerzendem Schädel stand er auf. Er setzte seine Beine in Gang. Ging durchs Zimmer, probierte die erste der zwei Türen, sah weiße Kacheln und noch mehr weißen Putz, einen klobigen, verchromten Duschkopf an einem rostfleckigen Eisenrohr. Aus den beiden Hähnen am Waschbecken kam das gleiche blutwarme Rinnsal. Eine Uralt-Armbanduhr lag neben einem Plastikbecher, eine mechanische Rolex mit hellem Lederband. Die Fensterläden im Bad waren geschlossen, und die Fenster hatten keine Scheiben, sondern ein feines grünes Plastikgitter. Turner lugte durch die Hartholzstäbe hinaus, zuckte angesichts der heißen, grellen Sonne zusammen und sah einen ausgetrockneten Brunnen mit geblümten Kacheln und das rostige Wrack eines VW Golf.
Allison. So hieß sie.
Sie trug ausgefranste Kakishorts und eins seiner weißen T-Shirts. Ihre Beine waren sehr braun. Die mechanische Rolex mit dem matten rostfreien Stahlgehäuse und dem Schweinslederband saß an ihrem linken Handgelenk. Sie gingen am Strand spazieren, folgten dem Verlauf der Bucht Richtung Barra de Navidad. Sie blieben auf dem schmalen Streifen oberhalb der Wasserlinie, wo der Sand nass und fest war.
Schon hatten sie eine gemeinsame Geschichte; er erinnerte sich, wie sie an jenem Morgen an einem Stand unter dem Eisendach des Mercado der kleinen Stadt einen großen Tonbecher Filterkaffee in beiden Händen gehalten hatte. Mit seiner Tortilla Eier und Salsa von dem gesprungenen weißen Teller auftunkend, hatte er den Fliegen bei ihrem Tanz um die dünnen Sonnenstrahlen zugeschaut, die durch ein Patchwork aus Palmblättern und Wellblechwänden hereinfielen. Sie hatte von ihrem Job in einer Anwaltskanzlei in Los Angeles und ihrem Single-Leben in einer der klapprigen Pontonstädte vor Redondo erzählt. Er hatte ihr erklärt, dass er im Personalsektor arbeitete. Bisher jedenfalls. »Vielleicht seh ich mich mal nach ’nem neuen Job um …«
Aber das Reden schien bei dem, was zwischen ihnen war, keine so große Rolle zu spielen, und jetzt stand ein Fregattvogel über ihnen, kreuzte gegen den Wind, glitt zur Seite, drehte ab und war weg. Seine Freiheit, sein unbekümmertes Dahingleiten ließen sie beide erschauern. Sie drückte Turners Hand.
Eine blaue Gestalt kam am Strand auf sie zugestapft, ein Militärpolizist auf dem Weg in die Stadt. Die blitzblank polierten schwarzen Stiefel wirkten irreal auf dem weichen, hellen Strand. Als der Mann vorbeiging – das Gesicht hinter der verspiegelten Brille dunkel und starr –, bemerkte Turner den Steiner-Optic-Laser im Karabinerformat mit Fabrique-Nationale-Visier. Die blaue Uniform war makellos sauber und hatte messerscharfe Bügelfalten.
Turner war selber die meiste Zeit seines Ewachsenenlebens Soldat gewesen, obwohl er nie eine Uniform getragen hatte. Ein Söldner im Dienst großer Konzerne, die insgeheim um die Kontrolle ganzer Wirtschaftssysteme kämpften. Er war Spezialist im Abwerben von Spitzenleuten aus Management und Forschung. Die Multis, für die er arbeitete, würden nie zugeben, dass es Leute wie ihn gab.
»Hast dich gestern Abend fast durch ’ne ganze Flasche Herradura gekämpft«, sagte sie.
Er nickte. Ihre Hand lag warm und trocken in seiner. Er beobachtete, wie sich ihre Zehen beim Auftreten spreizten. Der pinkfarbene Lack auf den Nägeln blätterte ab. Die Brecher rollten herein. Ihre Kämme waren transparent wie grünes Glas.
Die Gischt bildete Perlen auf ihrer Sonnenbräune. Nach ihrem ersten gemeinsamen Tag lebten sie nach einem simplen Muster. Sie frühstückten im Mercado an einem Stand mit einer abgenutzten Betontheke, die so glatt war wie polierter Marmor. Die Vormittage verbrachten sie mit Schwimmen, bis die Sonne sie zum Rückzug in das kühle Hotel mit den geschlossenen Fensterläden zwang, wo sie sich unter den trägen Holzflügeln des Deckenventilators liebten. Dann schliefen sie. An den Nachmittagen erkundeten sie das Gewirr der Gassen hinter der Avenida oder wanderten in den Bergen. Am Abend aßen sie in Strandrestaurants und tranken auf weißen Hotelterrassen. Mondlicht kräuselte sich in der auflaufenden Brandung.
Und mit der Zeit brachte sie ihm ohne Worte eine neue Liebestechnik bei. Er war es gewohnt, von geschickten Profis auf anonyme Weise bedient zu werden. Nun kniete er in der weißen Höhle auf den Fliesen. Er senkte den Kopf und leckte sie; Pazifiksalz mischte sich mit ihren Säften, ihre Schenkelinnenseiten lagen kühl an seinen Wangen. Seine Hände umfassten ihre Taille, und er hielt sie fest, hob sie wie einen Kelch, seine Lippen pressten sich an sie, und er suchte mit der Zunge die Stelle, den Punkt, die Frequenz, die es ihr brachte. Dann bestieg er sie lächelnd, drang in sie ein und kam selber ans Ziel.
Manchmal redete er danach, lange Ketten unkoordinierter Sätze, die sich davonschlängelten und eins wurden mit dem Rauschen des Meeres. Sie sagte sehr wenig, aber das wenige, das sie sagte, hatte er zu schätzen gelernt. Und immer hielt sie ihn in den Armen und hörte ihm zu.
Eine Woche verging. Dann noch eine. An ihrem letzten gemeinsamen Tag wachte er in dem kühlen Zimmer auf und fand sie neben sich. Beim Frühstück glaubte er, eine Veränderung bei ihr zu spüren, eine Anspannung.
Sie sonnten sich und schwammen, und im vertrauten Bett vergaß er die aufkeimende Besorgnis.
Am Nachmittag schlug sie einen Strandspaziergang Richtung Barra vor, wie an jenem ersten Morgen.
Turner zog den Staubschutz aus der Buchse hinter dem Ohr und steckte einen Mikrosoft ein. Die Struktur der spanischen Sprache nahm in ihm Gestalt an wie ein gläserner Turm; unsichtbare Pforten waren an Präsens und Futur, Konditional und Präteritumperfekt eingehängt. Er ließ Allison allein im Zimmer, überquerte die Avenida und betrat den Markt. Er kaufte einen Strohkorb, gekühltes Dosenbier, Sandwiches und Obst. Auf dem Rückweg erstand er bei einem Händler auf der Avenida eine neue Sonnenbrille.
Seine Bräune war gleichmäßig und intensiv. Das eckige Flickwerk, das die Transplantate des Holländers hinterlassen hatten, war verschwunden, und Allison hatte ihm beigebracht, dass sein Körper eine Einheit war. Wenn er morgens im Badezimmerspiegel die grünen Augen sah, dann waren es seine eigenen, und der Holländer verfolgte ihn nicht mehr mit seinen schlechten Witzen und seinem trockenen Husten im Traum. Manchmal träumte er noch bruchstückhaft von Indien, einem Land, das er kaum kannte. Bunte Splitter, Chandni Chauk, der Geruch von Staub und in Fett gebackenem Brot …
Die Mauern der Hotelruine standen im Bogen der Bucht, etwa auf einem Viertel des Weges. Die Brandung war stärker hier; jede Welle war eine Detonation.
Diesmal schleppte sie ihn hin, mit einem neuen, angespannten Ausdruck in den Augenwinkeln. Möwen flogen auf, als sie Hand in Hand über den Strand näher kamen und in das Dunkel hinter leeren Türrahmen spähten. Der Sand hatte nachgegeben, sodass die Fassade eingestürzt war. Die Mauern waren verschwunden, und die Zwischendecken der drei Geschosse hingen wie riesige Schindeln an verbogenen, verrosteten Sehnen aus fingerdickem Stahl. In jedem Geschoss hatte der Boden eine andere Farbe und ein anderes Fliesenmuster.
HOTEL PLAYA DEL M war in kindlichen Lettern aus Muscheln über einem Betonbogen zu lesen. »Mar«, ergänzte Turner, obwohl er das Mikrosoft wieder rausgenommen hatte.
»Es ist aus«, sagte sie und ging unter dem Bogen hindurch ins Dunkel.
»Was ist aus?« Er folgte ihr. Der Strohkorb scheuerte an seiner Hüfte. Der Sand hier war kalt und trocken und rieselte zwischen den Zehen hindurch.
»Aus und vorbei. Damit. Keine Zeit, keine Zukunft hier.«
Er schaute sie an, blickte an ihr vorbei zu einem Haufen rostiger Sprungfedern in einer Ecke zwischen zwei brüchigen Mauern. »Stinkt nach Pisse«, sagte er. »Gehn wir schwimmen.«
Das Meer half gegen das frostige Gefühl, aber die Distanz zwischen ihnen blieb. Sie setzten sich auf eine Decke aus Turners Zimmer und aßen schweigend. Der Schatten der Ruine wurde länger. Der Wind spielte mit Allisons sonnengestreiftem Haar.
»Du erinnerst mich an Pferde«, sagte er schließlich.
»Tja«, meinte sie, als wäre sie zutiefst erschöpft, »die sind ja auch erst seit dreißig Jahren ausgestorben.«
»Nein«, sagte er, »ihr Haar. Das Haar in ihrem Nacken, wenn sie laufen.«
»Die Mähne«, sagte sie, und Tränen standen in ihren Augen. »Verdammt.« Ihre Schultern begannen zu zucken. Sie holte tief Luft und warf die leere Carta-Blanca-Dose in den Sand. »Es, ich, was soll’s?« Die Arme schlossen sich wieder um ihn. »Ach komm, Turner. Komm.«
Als sie sich zurücklegte und ihn mit sich zog, fiel ihm etwas auf: ein Boot, so weit entfernt, dass es wie ein weißer Gedankenstrich aussah, dort, wo Wasser und Himmel verschmolzen.
Als er sich aufsetzte und seine abgeschnittene Jeans anzog, sah er die Jacht. Sie war jetzt viel näher, ein elegantes weißes Ding, das flach im Wasser lag. In tiefem Wasser. Der Strand musste hier nahezu lotrecht abfallen, der Brandung nach zu urteilen. Das war wohl auch der Grund, weshalb die Kette der Hotels weiter hinten am Strand endete und warum die Ruine nicht überdauert hatte. Die Wellen hatten das Fundament unterspült.
»Gib mir den Korb.«
Sie knöpfte sich die Bluse zu, die er ihr in einem der müden, kleinen Läden auf der Avenida gekauft hatte. Stahlblaue mexikanische Baumwolle, schlecht verarbeitet. Die Klamotten, die man in den Läden bekam, hielten selten länger als ein, zwei Tage.
»Ich sagte, gib mir den Korb.«
Sie tat es. Er wühlte in den Überbleibseln ihres Nachmittags und fand sein Fernglas unter einem Beutel mit Ananas in Scheiben, die mit Limone beträufelt und mit Cayenne bestreut waren. Er zog es hervor. Es war ein kompakter 6 x 30 Feldstecher. Er klappte die integrierten Schutzkappen auf den Objektiven und den gepolsterten Okularen zurück und musterte die stromlinienförmigen Ideogramme des Hosaka-Logos. Ein gelbes Schlauchboot umrundete das Heck und hielt auf den Strand zu.
»Turner, ich …«
»Steh auf.« Er stopfte die Decke und ihr Handtuch in den Korb, nahm eine letzte warme Dose Carta Blanca heraus und stellte sie neben das Fernglas. Er stand auf, zog sie schnell auf die Beine und drückte ihr den Korb in die Hand. »Vielleicht irre ich mich«, sagte er. »Falls nicht, dann verschwinde. Lauf zu dem zweiten Palmengehölz da drüben.« Er zeigte hin. »Geh nicht ins Hotel zurück. Fahr mit dem Bus nach Manzanillo oder Vallarta. Ab nach Hause.« Schon hörte er den Außenbordmotor brummen.
Er sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, aber sie gab keinen Laut von sich, als sie sich umdrehte und losrannte, an der Ruine vorbei, den Korb fest an sich gedrückt, und in einer Sanddüne stolperte. Sie blickte nicht zurück.
Dann wandte er sich um und schaute zu der Jacht hinaus. Das Schlauchboot hüpfte durch die Brandung. Die Jacht hieß Tsushima, und er hatte sie zuletzt in der Bucht von Hiroshima gesehen. Von ihrem Deck aus hatte er das rote Shinto-Tor bei Itsukushima gesehen.
Auch ohne das Fernglas wusste er, dass der Passagier im Schlauchboot Conroy, der Mann am Ruder ein Ninja von Hosaka war. Turner setzte sich im Schneidersitz in den abkühlenden Sand und öffnete seine letzte Dose mexikanisches Bier.
Er blickte zu der Reihe weißer Hotels zurück, die Hände auf die Teakholzreling der Tsushima gestützt. Hinter den Hotels leuchteten die drei Hologramme des Städtchens: Banamex, Aeronaves und die sechs Meter hohe Maria der Kathedrale.
Conroy stand neben ihm. »Dringender Job«, sagte Conroy. »Du weißt ja, wie das ist.« Conroys Stimme war flach und tonlos, wie einem billigen Sprach-Chip nachempfunden. Sein Gesicht war breit und blass, leichenblass. Er hatte dunkle Ringe unter den schwerlidrigen Augen und wasserstoffblonde Haare, die aus der breiten Stirn gekämmt waren. Er trug ein schwarzes Polohemd und eine schwarze Hose. »Rein«, sagte er und wandte sich um. Turner folgte ihm und trat geduckt durch die Kabinentür. Weiße Rollos, helles, makelloses Kiefernholz – Tokios nüchterner Firmenschick.
Conroy ließ sich auf einem niedrigen, rechteckigen, schiefergrauen Ultravelourkissen nieder. Turner blieb stehen, die Arme schlaff an den Seiten. Conroy nahm einen geriffelten silbernen Inhalator von dem niedrigen Emailletisch zwischen ihnen. »Cholinverstärker?«
»Nein.«
Conroy rammte sich den Inhalator ins Nasenloch und verpasste sich eine Dosis. »Wie wär’s mit Sushi?« Er legte den Inhalator auf den Tisch zurück. »Wir haben vor ’ner runden Stunde ein paar Red Snapper gefangen.«
Turner blieb stehen, wo er war, und starrte Conroy an.
»Christopher Mitchell«, sagte Conroy. »Maas Biolabs. Der Chef ihres Hybridomlabors. Er geht zu Hosaka.«
»Nie von ihm gehört.«
»Quatsch! ’nen Drink?«
Turner schüttelte den Kopf.
»Silizium ist auf dem absteigenden Ast, Turner. Mitchell ist der Mann, der funktionsfähige Biochips entwickelt hat, und Maas hockt auf den wichtigsten Patenten. Das weißt du. Er ist der Mann für monoklonale Antikörper. Er will raus. Du und ich, Turner, wir werden ihm beim Wechsel helfen.«
»Wie ich das sehe, bin ich im Ruhestand, Conroy. Hab mich hier sauwohl gefühlt.«
»Sagt das Psychoteam in Tokio auch. Ich meine, das ist ja nun nicht gerade was Neues für dich, oder? Sie ist ’ne Feldpsychologin auf Hosakas Gehaltsliste.«
Ein Muskel in Turners Oberschenkel begann zu zucken.
»Sie sagen, du bist so weit, Turner. Sie waren ein bisschen besorgt nach Neu-Delhi, also wollten sie’s ausprobieren. Und dir ’n bisschen Therapie angedeihen lassen. Kann ja nie schaden, was?«
Sie hatte sich für das Vorstellungsgespräch in ihre besten Klamotten geworfen, aber es regnete in Brüssel, und sie hatte kein Geld für ein Taxi. Also ging sie von der Eurotrans-Station aus zu Fuß.
In der Tasche ihrer guten Jacke – von Sally Stanley, allerdings schon fast ein Jahr alt – war ihre Hand um ein zerknülltes Telefax geballt. Obwohl sie es nicht mehr brauchte, da sie die Adresse auswendig wusste, konnte sie es nicht loslassen; ebenso wenig konnte sie die Trance brechen, in der sie sich jetzt befand, als sie ins Schaufenster eines teuren Herrenausstatters starrte und zwischen dezenten Flanellhemden und dem Spiegelbild ihrer dunklen Augen hin und her blickte.
Sicher würden allein schon die Augen sie um den Job bringen. Da war das nasse Haar nicht mehr nötig, das Andrea doch hätte schneiden sollen, wie sie nun fand. Der Schmerz und die Apathie in diesen Augen fielen jedem auf, und auch Herr Josef Virek, der unwahrscheinlichste aller potenziellen Arbeitgeber, würde sie bestimmt bald bemerken.
Als das Telefax gekommen war, hatte sie es beharrlich als grausamen Scherz, als neuerliche Belästigung angesehen. Damit war sie dank der Medien reich gesegnet – so reich, dass Andrea ein Sonderprogramm für das Telefon in der Wohnung bestellt hatte, das alle Anrufe von nicht in ihrem permanenten Adressenverzeichnis enthaltenen Anschlüssen aussonderte. Aber das, so hatte Andrea gemeint, müsse wiederum der Grund für das Telefax gewesen sein. Wie hätte man sie sonst erreichen können?
Doch Marly hatte den Kopf geschüttelt und sich tiefer in Andreas alten Frotteebademantel gekuschelt. Warum sollte Virek, der steinreiche Sammler und Mäzen, die diskreditierte ehemalige Betreiberin einer winzigen Pariser Galerie einstellen wollen?
Nun hatte Andrea den Kopf geschüttelt, aus Ungeduld mit der diskreditierten Marly Kruschkowa, die jetzt tagelang in der Wohnung herumhing und sich bisweilen nicht mal die Mühe machte, sich anzuziehen. Der versuchte Verkauf einer einzigen Fälschung in Paris sei kaum so eine Sensation gewesen, wie Marly glaube, sagte sie. Wenn die Presse nicht dermaßen erpicht darauf gewesen wäre, den Widerling Gnass als den Trottel bloßzustellen, der er ganz bestimmt sei, fuhr sie fort, hätte die Sache wohl kaum Schlagzeilen gemacht. Der reiche, vulgäre Gnass war genau das Richtige für einen Wochenendskandal. Andrea lächelte. »Wenn du nicht so attraktiv wärst, hättest du viel weniger Aufsehen erregt.«
Marly schüttelte den Kopf.
»Und die Fälschung war Alains Werk. Du warst unschuldig. Hast du das vergessen?«
Marly ging in dem abgetragenen Bademantel ins Bad, ohne etwas zu erwidern.
Hinter dem Wunsch der Freundin, sie zu trösten und ihr zu helfen, spürte Marly bereits die Ungeduld, die sich einstellt, wenn man gezwungen ist, sein winziges Apartment mit einem miesepetrigen, nicht zahlenden Gast zu teilen.
Und Andrea hatte ihr das Fahrgeld für den Eurotrans borgen müssen …
Mit einer bewussten, schmerzhaften Willensanstrengung riss sie sich von diesen Gedanken los, die sich ewig im Kreis drehten, und tauchte in den dichten, aber gemächlichen Strom seriöser Belgier auf Einkaufsbummel ein.
Ein Mädchen in einer leuchtenden Röhrenjeans und der übergroßen Lodenjacke eines Freundes schob sich an ihr vorbei, streifte sie und lächelte. An der nächsten Kreuzung bemerkte Marly ein Geschäft mit der Mode, auf die sie in ihrer Studentenzeit gestanden hatte. Die Sachen wirkten unglaublich jung.
In ihrer verkrampften, verborgenen Hand das Fax.
Galerie Duperey, 14 Rue au Beurre, Bruxelles.
Josef Virek.
Die Empfangsdame im kühlen, grauen Vorzimmer der Galerie Duperey hätte durchaus dort gewachsen sein können, eine hübsche, wahrscheinlich giftige Pflanze, die hinter einer polierten Marmorplatte mit eingelegter, emaillierter Tastatur Wurzeln geschlagen hatte. Sie hob ihre schimmernden Augen, als Marly näher trat. Marly stellte sich das Klicken und Surren von Blenden vor, während das Bild ihrer ungepflegten Erscheinung im Nu in irgendeinen fernen Winkel von Josef Vireks Imperium weitergeleitet wurde.
»Marly Kruschkowa«, sagte sie und kämpfte gegen den Impuls an, das zerknüllte Fax hervorzuziehen und auf dem kühlen, makellosen Marmor kläglich glatt zu streichen. »Ich möchte zu Herrn Virek.«
»Fräulein Kruschkowa«, sagte die Dame vom Empfang, »Herr Virek ist heute leider nicht in Brüssel.«
Marly starrte auf die perfekten Lippen. Sie spürte den Schmerz, den diese Worte verursachten, und zugleich das durchdringende Lustgefühl, das Enttäuschungen neuerdings bei ihr auslösten. »Ich verstehe.«
»Er möchte das Gespräch jedoch gern über eine Sensorverbindung führen. Wenn Sie bitte durch die dritte Tür links eintreten wollen …«
Der Raum war kahl und weiß. An zwei Wänden hingen ungerahmte, anscheinend wasserfleckige Kartons, die wiederholt mit verschiedensten Instrumenten durchstochen waren. Katatonenkunst. Konservativ. Arbeiten von der Sorte, wie man sie den Ausschüssen anbietet, die von den Vorständen holländischer Privatbanken herumgeschickt werden.
Sie setzte sich auf eine niedrige, ledergepolsterte Bank und ließ endlich das Fax los. Sie war allein, nahm jedoch an, dass sie irgendwie beobachtet wurde.
»Fräulein Kruschkowa.« Ein junger Mann in einem dunkelgrünen Technikerkittel stand in der Tür gegenüber jener, durch die sie eingetreten war. »Gleich durchqueren Sie bitte das Zimmer und gehen durch diese Tür. Umschließen Sie den Türknauf bitte langsam, aber fest, sodass der größtmögliche Kontakt mit der Haut Ihrer Handfläche hergestellt wird. Gehen Sie vorsichtig hindurch. Sie werden eine ganz kleine räumliche Desorientierung verspüren.«
Sie blinzelte. »Ich würde gern …«
»Die Sensorverbindung«, sagte er und verschwand. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Sie stand auf, versuchte, das feuchte Revers ihrer Jacke einigermaßen in Form zu bringen, griff sich ans Haar, überlegte es sich dann aber doch anders, holte tief Luft und ging zur Tür hinüber. Nach dem, was die Empfangsdame gesagt hatte, rechnete sie mit der einzigen sensorischen Verbindung, die sie kannte: dem Simstim-Signal via Bell Europa. Sie hatte angenommen, sie würde einen mit Dermatroden gespickten Helm bekommen und Virek würde sich eines passiven Beobachters bedienen, der als menschliche Kamera fungierte.
Aber Vireks Reichtum bewegte sich in ganz anderen Dimensionen.
Als sich ihre Finger um den kalten Messingknauf legten, schien er sich zu winden und in der ersten Sekunde des Kontakts ein ganzes Spektrum von Oberflächenstrukturen und Temperaturen zu durchlaufen.
Dann wurde er wieder zu Metall, zu grün lackiertem Eisen, das ausschwang und in der Perspektive zu einem alten, abwärts führenden Geländer wurde, an dem sie sich nun verdutzt festhielt.
Ein paar Regentropfen wirbelten ihr ins Gesicht.
Der Geruch von Regen und feuchter Erde.
Ein Wirrwarr kleinster Details, ihre Erinnerung an ein feuchtfröhliches Picknick mit Kommilitonen von der Kunstakademie, die mit Vireks perfekter Illusion im Clinch lag.
Unter ihr lag unverkennbar das Panorama von Barcelona, im rauchigen Dunst die merkwürdigen Türme der Kirche der Sagrada Familia. Sie hielt sich auch mit der anderen Hand am Geländer fest und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Sie kannte diesen Ort.
Sie war im Park Güell, Antonio Gaudis schäbigem Märchenland auf der kargen Anhöhe hinter dem Stadtzentrum. Zu ihrer Linken war eine Riesenechse aus verrückt gemusterter Flickwerk-Keramik mitten auf einer groben Steinrutsche erstarrt. Ihr grinsendes Springbrunnenmaul berieselte ein Beet schlapper Blumen.
»Sie haben die Orientierung verloren. Verzeihen Sie mir.«
Josef Virek saß unterhalb von ihr auf einer der geschwungenen Parkbänke, die breiten Schultern in einem weichen Mantel hochgezogen. Seine Züge waren ihr seit frühester Jugend vage bekannt. Aus irgendeinem Grund fiel ihr jetzt ein Foto ein, das ihn neben dem König von England zeigte. Er lächelte sie an. Er hatte einen großen, schön geformten Kopf mit kurzen, festen, dunkelgrauen Haaren. Seine Nasenflügel waren ständig geweitet, als nähme er in einem fort die unsichtbare Witterung von Kunst und Kommerz auf. Die hellblauen, seltsam sanften Augen hinter der runden, randlosen Brille – seinem Markenzeichen – waren sehr groß.
»Bitte.« Er klopfte mit einer schmalen Hand auf das wirre Tonscherbenmosaik der Bank. »Sie müssen mir verzeihen, dass ich mich der Technik bediene. Ich liege seit über einem Jahrzehnt in einer Nährlösung. In einem scheußlichen Industrievorort von Stockholm. Oder der Hölle selbst. Ich bin nicht gesund, Marly. Setzen Sie sich zu mir.«
Mit einem tiefen Atemzug stieg sie die Steinstufen hinunter und ging über das Kopfsteinpflaster. »Herr Virek«, sagte sie, »ich habe Sie vor zwei Jahren in München gesehen, wo Sie einen Vortrag gehalten haben. Eine Kritik an Faessler und seinem autistischen Theater. Damals sind Sie mir recht gesund vorgekommen …«
»Faessler?« Vireks sonnengebräunte Stirn legte sich in Falten. »Da haben Sie ein Double gesehen. Ein Hologramm vielleicht. Vieles wird in meinem Namen verbrochen, Marly. Manche Aspekte meines Reichtums haben sich nach und nach verselbstständigt, zuweilen bekriegen sie sich sogar. Jedenfalls wurde meine Krankheit aus so komplexen Gründen, dass sie schon völlig okkult sind, nie publik gemacht.«
Sie setzte sich neben ihn und betrachtete das schmutzige Pflaster zwischen den abgestoßenen Spitzen ihrer schwarzen Pariser Stiefel. Sie sah einen hellen Kieselsplitter, eine rostige Büroklammer, eine kleine, staubige tote Biene oder Hornisse. »Erstaunlich, diese Details …«
»Ja«, sagte er, »die neuen Biochips von Maas. Sie sollten wissen«, fuhr er fort, »dass ich Ihr Privatleben praktisch ebenso detailliert kenne. In gewissen Punkten sogar besser als Sie selbst.«
»Wirklich?« Es war am einfachsten, stellte sie fest, wenn sie sich auf die Stadt konzentrierte und die Wahrzeichen suchte, die sie von einem halben Dutzend Urlaubsreisen während ihrer Studentenzeit her kannte. Dort, genau dort mussten die Ramblas sein, die Papageien und Blumen, die Tavernen, in denen es dunkles Bier und Tintenfisch gab.
»Ja. Ich weiß, dass Ihr Liebhaber Ihnen eingeredet hat, Sie wären auf ein verschollenes Original von Cornell gestoßen …«
Marly schloss die Augen.
»Er gab die Fälschung in Auftrag, heuerte zwei begabte Kunststudenten und einen angesehenen Kunsthistoriker an, der sich privat in einer schwierigen Lage befand. Er bezahlte sie mit Geld, das er bereits aus Ihrer Galerie abgezweigt hatte, wie Sie sicher längst bemerkt haben. Sie weinen ja …«
Marly nickte. Ein kühler Zeigefinger pochte auf ihr Handgelenk.
»Ich habe Gnass gekauft. Ich habe die Polizei geschmiert, damit sie die Sache fallen ließ. Die Presse zu kaufen hätte sich nicht gelohnt – das lohnt sich nur selten. Und jetzt gereicht Ihnen Ihr etwas anrüchiger Ruf vielleicht sogar zum Vorteil.«
»Herr Virek, ich …«
»Einen Moment, bitte. Paco! Komm her, Kind.«
Marly öffnete die Augen und sah ein Kind von etwa sechs Jahren, das in einer engen dunklen Jacke und Kniebundhose, hellen Strümpfen und hohen schwarzen Lackstiefeln steckte. Braunes Haar fiel ihm in einer weichen Welle in die Stirn. Der Junge hielt etwas in den Händen, eine Art Kästchen.
»Gaudi begann mit der Arbeit an seinem Park im Jahre 1900«, sagte Virek. »Paco trägt die Kleidung jener Zeit. Komm her, Kind. Zeig uns, was du da Schönes hast.«
»Señor«, lispelte Paco, verbeugte sich und trat vor, um das Ding in seinen Händen zu präsentieren.
Marly machte große Augen. Ein Kästchen aus schlichtem Holz mit gläserner Front. Objekte …
»Cornell«, sagte sie und hatte die Tränen vergessen. »Cornell?« Sie drehte sich zu Virek hin.
»Natürlich nicht. Das in dieses Knochenstück eingesetzte Objekt ist ein Biomonitor von Braun. Das ist das Werk eines lebenden Künstlers.«
»Gibt es noch mehr? Mehr Kästen?«
»Ich habe sieben gefunden. Innerhalb von gerade drei Jahren. Sehen Sie, die Virek-Kollektion ist eine Art schwarzes Loch. Die unnatürliche Konzentration meines Reichtums übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die erlesensten Werke des menschlichen Geistes aus. Ein autonomer Prozess, dem ich für gewöhnlich wenig Beachtung schenke …«
Aber Marly war in den Kasten vertieft, der ungeheure Distanzen, Verlust und Sehnsucht evozierte. Er war melancholisch, sanft und irgendwie kindlich. Er barg sieben Gegenstände.
Den schlanken, gerillten Knochen, der zweifellos zum Fliegen geschaffen war und vom Flügel eines großen Vogels stammte. Drei altertümliche Platinen mit goldenen Labyrinthen. Eine glatte weiße Kugel aus gebranntem Ton. Ein vom Alter geschwärztes Stück Spitze. Ein fingerlanges, grauweißes Knochensegment, vermutlich von einem menschlichen Unterarm, in das fein säuberlich der Siliziumschaft eines kleinen Instruments eingelassen war, das einst wohl bündig auf der Haut aufgelegen hatte; allerdings war das Oberteil des Instruments verkohlt und rußig.
Der Kasten war ein Universum, ein Gedicht, erstarrt an der Grenze menschlicher Erfahrung.
»Gracias, Paco.« Kasten und Knabe waren verschwunden.
Marly sperrte den Mund auf.
»Oh. Verzeihen Sie. Ich habe nicht daran gedacht, dass diese Übergänge zu abrupt für Sie sind. Nun müssen wir aber Ihren Auftrag besprechen.«
»Herr Virek«, sagte sie, »was ist ›Paco‹?«
»Ein Subprogramm.«
»Ich verstehe.«
»Ich habe Sie engagiert, um den Schöpfer des Kastens zu suchen.«
»Aber Herr Virek, mit Ihren Mitteln …«
»Zu denen nun auch Sie zählen, mein Kind. Wollen Sie nicht für mich arbeiten? Als mir zu Ohren kam, dass Gnass mit einem gefälschten Cornell betrogen wurde, dachte ich, Sie könnten in dieser Sache von Nutzen sein.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie müssen zugeben, dass ich ein gewisses Talent habe, das, was ich mir in den Kopf setze, auch zu erreichen.«
»Sicher, Herr Virek. Und ja, ich will für Sie arbeiten!«
»Sehr schön. Sie bekommen ein Gehalt. Sie haben Zugang zu bestimmten Geldern. Sollten Sie allerdings, sagen wir, größere Mengen von Immobilien erwerben müssen …«
»Immobilien?«
»Oder eine Firma oder ein Raumschiff – nun, in dem Fall brauchen Sie meine indirekte Zustimmung, die Sie ziemlich sicher bekommen werden. Ansonsten haben Sie freie Hand. Ich würde Ihnen aber raten, in einem Rahmen zu arbeiten, mit dem Sie selbst gut umgehen können. Andernfalls laufen Sie Gefahr, Ihre Intuition zu verlieren, und Intuition ist in einem Fall wie diesem von entscheidender Bedeutung.« Das berühmte Lächeln erstrahlte noch einmal für sie.
Sie holte tief Luft. »Herr Virek, was ist, wenn ich es nicht schaffe? Wie viel Zeit habe ich, um diesen Künstler zu finden?«
»Bis an Ihr Lebensende«, sagte er.
»Verzeihen Sie«, hörte sie sich zu ihrem Entsetzen sagen, »aber wenn ich Sie recht verstanden habe, leben Sie in … in einer Nährlösung?«
»Ja, Marly. Und aus dieser ziemlich endgültigen Perspektive kann ich Ihnen nur raten, jede Stunde im eigenen Fleisch bewusst zu leben. Nicht in der Vergangenheit, wenn Sie mich verstehen. Ich spreche als jemand, der diesen simplen Zustand nicht mehr verträgt, nachdem sich meine Körperzellen allesamt entschieden haben, ihrer eigenen verstiegenen Wege zu gehen. Einen glücklicheren oder ärmeren Mann als mich hätte man längst sterben lassen oder ihn codiert in ein Stück Hardware gepackt. Ich jedoch zapple in einem monströsen Netz von Umständen, das meines Wissens ein Zehntel meiner jährlichen Einkünfte verschlingt. Damit dürfte ich der teuerste Invalide der Welt sein. Ihre Herzensangelegenheiten sind mir nahegegangen, Marly. Ich beneide Sie um das intakte Fleisch, dem sie entspringen.«
Und einen Moment lang schaute sie direkt in die sanften blauen Augen und wusste mit der Sicherheit des Säugetierinstinkts, dass die Superreichen nicht einmal mehr annähernd menschlich waren.
Der Himmel über Barcelona verfinsterte sich, als wäre eine riesige, träge Jalousie zugeklappt worden. Virek und Güell waren verschwunden, und Marly fand sich auf der niedrigen, lederbezogenen Bank wieder, den Blick auf die durchlöcherten, beklecksten Kartons gerichtet.
Man konnte so leicht draufgehen. Das wurde ihm jetzt klar. Es passierte einfach. Man machte einen winzigen Fehler, und schon war er da, der Tod, und blähte sich kalt und geruchlos aus den vier blöden Ecken des Zimmers, des mütterlichen Wohnzimmers in Barrytown.
Scheiße, dachte er. Two-a-Day lacht sich den Arsch ab. Das erste Mal draußen, und schon bau ich ’nen Wilson.
Das einzige Geräusch im Zimmer kam von dem leisen, stetigen Klappern seiner Zähne, der supersonischen Schüttellähmung, als sich die Rückkopplung in sein Nervensystem fraß. Er betrachtete seine erstarrte Hand, die leise zitterte, Zentimeter von dem roten Plastikknopf entfernt, der die Verbindung, die ihn tötete, abbrechen konnte.
Scheiße.
Er war heimgekommen und gleich ans Werk gegangen, hatte den von Two-a-Day gemieteten Eisbrecher eingelegt, eingesteckt und die Datenbasis angewählt, die er sich als erstes Live-Ziel ausgesucht hatte. So musste man’s machen, hatte er gedacht; wenn du’s tun willst, dann tu’s auch.
Obwohl er den kleinen Ono-Sendai erst seit einem Monat hatte, stand für ihn schon fest, dass er mehr sein wollte als irgendein Hotdogger – ein Konsolencowboy, ein Cyberspace-Freak – in Barrytown. Bobby Newmark alias Count Zero – aber damit war’s bereits Essig. Im Film lief das nie so, jedenfalls nicht gleich am Anfang. Im Film würde das Girl des Cowboyhelden oder sein Kumpel reingerannt kommen, die Troden runterreißen und den kleinen roten AUS-Schalter drücken. Damit man’s schaffte, heil wieder rauskam.
Aber Bobby war allein, sein autonomes Nervensystem war von den Abwehrmechanismen einer dreitausend Kilometer von Barrytown entfernten Datenbasis lahmgelegt worden, und er wusste es. Die drohende Dunkelheit hatte eine magische chemische Zusammensetzung, die ihm vor Augen führte, wie unendlich begehrenswert dieses Zimmer mit seinem teppichbodenfarbenen Teppichboden, seinen gardinenfarbenen Gardinen, seiner schäbigen Schaumgummi-Sitzgruppe und dem eckigen, verchromten Gestell mit den Komponenten eines sechs Jahre alten Hitachi-Unterhaltungsmoduls war.
Die Gardinen hatte er in Vorbereitung seines Runs sorgfältig zugezogen, aber irgendwie schien sein Blick jetzt trotzdem durch sie hindurch auf die aufbrandende Betonwelle der Wohnhäuser von Barrytown zu fallen, die sich vor den dunkleren Türmen der Projects brach. Die Welle hatte einen feinen Insektenflaum aus Antennen und zusammengestoppelten Drahtschüsseln, zwischen denen Wäsche zum Trocknen aufgehängt war. Seine Mutter zog gern darüber her; sie hatte einen Trockner. Er erinnerte sich an ihre weißen Knöchel am Handlauf des Balkongeländers aus Bronzeimitat, an die pergamentenen Falten an der Handgelenkbeuge. Er erinnerte sich an einen toten Jungen, der auf einer metallenen Bahre aus Big Playground weggetragen wurde, in eine Plastikfolie von der gleichen Farbe wie das Bullenauto gehüllt. War hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. Hingefallen. Auf den Kopf. Typischer Wilson.
Sein Herz blieb stehen. Er hatte das Gefühl, als würde es zur Seite kippen und wie ein Tier in einem Zeichentrickfilm strampeln.
Die Sechzehntel-Sekunde von Bobby Newmarks Tod. Seinem Hotdogger-Tod.
Und etwas kam auf ihn zu, etwas unaussprechlich Großes von jenseits der fernsten Grenzen seiner Vorstellung, und berührte ihn.
: : : WAS MACHST DU DA? WARUM TUN SIE DIR DAS AN?Mädchenstimme, Braunhaar, Dunkelaugen …
: BRINGT MICH UM BRINGT MICH UM WEG DAMIT WEG DAMIT.Dunkelaugen, Wüstenstern, Braunbluse, Mädchenhaar …
: : : ABER DAS IST EIN TRICK, VERSTEHST DU? DU BILDEST DIR NUR EIN, DASS ES DICH GEKRIEGT HAT. SCHAU, JETZT BIN ICH DAFÜR HIER, UND DU BIST DIE SCHLINGE LOS.
Und sein Herz kippte ganz um, legte sich auf den Rücken und stieß mit seinen roten Comic-Beinen sein Mittagessen wieder aus. Galvanische Froschschenkelzuckungen warfen ihn vom Stuhl und rissen ihm die Troden von der Stirn. Seine Blase entleerte sich, als er mit dem Kopf gegen die Kante des Hitachi knallte, und jemand sagte scheiße scheiße scheiße in den Staubgeruch des Teppichbodens. Mädchenstimme weg, kein Wüstenstern, die flüchtige Empfindung von kühlem Wind und glatt gewaschenem Stein …
Dann explodierte sein Kopf. Er sah es ganz klar, aus weiter Ferne. Wie eine Phosphorgranate.
Weißes Licht.
Der schwarze Honda schwebte zwanzig Meter über dem achteckigen Deck der aufgegebenen Ölbohrinsel. Der Morgen graute, und Turner konnte die verblichenen Umrisse eines Kleeblatts auf dem Hubschrauberlandeplatz ausmachen, das einen biologischen Gefahrenbereich kennzeichnete.
»Habt ihr ’n Biorisiko da unten, Conroy?«
»Keins, das du nicht gewohnt wärst.«
Eine Gestalt im roten Overall gab dem Honda-Piloten mit lebhaften Armbewegungen Zeichen. Der Luftstrudel der Rotoren wehte Verpackungsmüllfetzen ins Meer, als der Hubschrauber aufsetzte. Conroy löste sein Gurtschloss und beugte sich über Turner, um die Luke zu öffnen. Das Getöse der Motoren dröhnte ihnen in den Ohren, als die Luke aufging. Conroy stupste Turner an der Schulter und bedeutete ihm mit der nach oben gekehrten offenen Hand, sich zu beeilen. Er deutete auf den Piloten.
Turner kletterte hastig hinaus und sprang hinunter, der Propeller über ihm ein verschwommenes, donnerndes Etwas, und schon stand Conroy geduckt neben ihm. Sie räumten das verblichene Kleeblatt im krummbeinigen Schweinsgalopp, wie auf Hubschrauberlandeplätzen üblich; im Wind des Honda flatterten ihnen die Hosenbeine um die Knöchel. Turner trug einen schlichten grauen Koffer aus kugelsicherem ABS, sein einziges Gepäckstück. Irgendwer hatte ihm den Koffer im Hotel gepackt, und er hatte schon auf der Tsushima bereitgestanden. Eine plötzliche Veränderung in der Tonhöhe der Rotoren verriet ihm, dass der Honda abhob. Er flog heulend Richtung Küste, ohne Licht. Als der Lärm verklang, hörte Turner das Geschrei von Möwen und das Rauschen und Plätschern des Pazifiks.
»Irgendwer hat mal versucht, hier ’n Datenparadies aufzuziehen«, sagte Conroy. »Internationales Gewässer. Damals lebte noch niemand im Orbit, also war’s für ein paar Jahre ganz sinnvoll.« Er ging auf einen rostigen Wald von Pfeilern zu, die die Aufbauten der Plattform trugen. »Hosaka hat sich ein Szenario ausgedacht, in dem wir Mitchell hierher holen, durchchecken, auf die Tsushima setzen und mit Volldampf ins alte Japan verschiffen. Hab ihnen gesagt, das sollten sie mal lieber ganz schnell wieder vergessen. Wenn Maas das nämlich spitzkriegt, gehen die auf das Ding hier los mit allem, was sie haben. Hab ihnen erklärt, ihr Gelände im Distrito Federal wär die Lösung. Da würde Maas nicht so ’nen Scheiß abziehen, nicht mitten in Mexico City.«
Eine Gestalt, deren Kopf von den wulstigen Gläsern eines Bildverstärkers entstellt wurde, löste sich aus dem Schatten und winkte sie mit den stumpfen, dicht an dicht sitzenden Läufen eines Lansing-Flechette-Gewehrs vorwärts. »Biorisiko«, sagte Conroy, als sie die Gestalt passierten. »Zieh den Kopf ein! Und pass auf, die Stufen sind oft glitschig!«
Auf der Plattform stank es nach Rost, Verfall und Salzwasser. Fenster gab es nicht. Sich ausbreitende Rostflecken verunzierten die ausgebleichten, cremefarbenen Wände. Batteriebetriebene Leuchtstofflampen hingen alle paar Meter von Deckenträgern und verbreiteten ein scheußliches, grünliches Licht, das intensiv und zugleich unangenehm ungleichmäßig war. Mindestens ein Dutzend Leute arbeiteten in diesem zentralen Raum; sie bewegten sich mit der lässigen Präzision guter Techniker. Profis, dachte Turner. Sie sahen einander kaum an, und es wurde wenig gesprochen. Es war kalt, saukalt, und Conroy hatte ihm einen riesigen, mit Schlaufen- und Reißverschlüssen überzogenen Parka gegeben.
Ein bärtiger Mann in einer lammfellgefütterten Bomberjacke befestigte gebündelte Glasfaserstränge mit silbernem Klebeband an einem verbeulten Schott. Conroy diskutierte im Flüsterton mit einer Schwarzen, die den gleichen Parka wie Turner trug. Der bärtige Techniker schaute von seiner Arbeit auf und sah Turner. »Scheiße«, sagte er gedehnt, immer noch kniend. »Hab mir schon gedacht, dass es ’ne dicke Sache ist, aber jetzt wird’s wohl auch ’ne harte.« Er stand auf und wischte sich mechanisch die Hände an der Hose ab. Wie das übrige technische Personal trug er Mikropor-OP-Handschuhe. »Du bist Turner.« Er grinste, warf einen kurzen Blick zu Conroy hinüber und zog einen Flachmann aus schwarzem Kunststoff aus der Jackentasche. »Davon wird’s einem wärmer. Du erinnerst dich an mich. Hab bei dem Job in Marrakesch mitgemischt. IBM-Knabe, der zu Mitsu-G ging. Hab die Ladung in dem Bus installiert, den du mit dem Franzosen ins Hotelfoyer gefahren hast.«
Turner nahm die Flasche, klappte den Deckel ab und setzte sie an. Bourbon. Er brannte sich säuerlich die Kehle hinunter, und von der Gegend hinterm Brustbein breitete sich Wärme aus. »Danke.« Er gab die Flasche zurück, und der Mann steckte sie ein.
»Oakey«, sagte der Mann. »Ich heiß Oakey. Erinnerst du dich?«
»Klar«, log Turner. »Marrakesch.«
»Wild Turkey«, sagte Oakey. »Bin über Schiphol gekommen, hab da in den Duty-free reingeschaut. Dein Partner da«, ein zweiter Blick zu Conroy, »der ist nicht grade locker drauf, was? Na ja, nicht wie in Marrakesch, stimmt’s?«
Turner nickte.
»Wenn du was brauchst«, sagte Oakey, »dann rühr dich.«
»Was zum Beispiel?«
»Noch ’nen Schluck. Ich hab auch peruanischen Schnee, den echten gelben.« Oakey grinste wieder.
»Danke.« Turner sah, dass Conroy sich von der Schwarzen abwandte. Oakey sah es auch, kniete sich rasch wieder hin und riss einen neuen Streifen des silbernen Klebebands ab.
»Wer war das?«, fragte Conroy, nachdem er Turner durch eine schmale Tür mit einer brüchigen schwarzen Gummidichtung geführt hatte. Conroy drehte das Rad, das die Tür verriegelte. Es war frisch geölt.
»Heißt Oakey.« Turner inspizierte den neuen Raum. Er war kleiner. Zwei von den Lampen, Klapptische, Stühle, alles neu. Auf den Tischen irgendwelche Geräte unter schwarzen Abdeckhauben aus Plastik.
»Freund von dir?«
»Nein«, sagte Turner. »Hat mal für mich gearbeitet.« Er ging zum nächsten Tisch und klappte eine Abdeckhaube hoch. »Was ist das denn?« Die Konsole machte den nüchternen, halb fertigen Eindruck eines firmeninternen Prototyps.
»Maas-Neotek Cyberspace Deck.«
Turner zog die Brauen hoch. »Eures?«
»Wir haben zwei. Eins ist vor Ort. Hat Hosaka beschafft. Offenbar das Schnellste in der Matrix. Hosaka kann nicht mal die Chips zerlegen, um sie nachzubauen. Ganz andere Technik.«
»Und die haben sie von Mitchell?«
»Das sagen sie nicht. Dass sie die Dinger rausgerückt haben, nur um unseren Jockeys ’nen Vorsprung zu geben, zeigt, wie scharf sie auf den Kerl sind.«
»Wer sitzt am Gerät, Conroy?«
»Jaylene Slide. Hab grade mit ihr gesprochen.« Conroy machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Der Mann in der Basis ist einer aus L. A., heißt Ramirez.«
»Taugen die beiden was?« Turner deckte das Gerät wieder ab.
»Will ich hoffen, bei dem Preis, den sie verlangen. Jaylene hat sich in den letzten zwei Jahren ’nen ziemlichen Namen gemacht, und Ramirez ist ihr Ersatzmann. Na ja.« Conroy zuckte mit den Achseln. »Du kennst ja diese Cowboys. Total durchgeknallt …«
»Woher hast du sie? Und woher hast du Oakey, wo wir gerade dabei sind?«
Conroy lächelte. »Von deinem Agenten, Turner.«
Turner starrte ihn an und nickte dann. Er wandte sich ab und lüftete die nächste Abdeckhaube. Behälter aus Plastik und Styropor waren säuberlich auf dem kalten Metalltisch gestapelt. Er berührte eine blaue, rechteckige Plastikschachtel mit dem Silbermonogramm S&W.
»Dein Agent«, sagte Conroy, als Turner den Deckel aufklappte. In hellblauen Schaumstoff gebettet lag dort eine Handfeuerwaffe, ein massiver Revolver, unter dessen kurzem Lauf sich ein hässliches Gehäuse wölbte. »S&W Tactical, Kaliber .408, mit xenon-Projektor. Er hat gesagt, den wolltest du haben.«
Turner nahm die Kanone in die Hand und drückte mit dem Daumen auf den Batterietestknopf für den Projektor. Ein rotes LED im Walnussholzgriff blinkte zweimal. Er klappte die Trommel heraus. »Munition?«
»Auf ’m Tisch. Von Hand zu laden, Explosivkopf.«
Turner sah einen transparenten Würfel aus bernsteinfarbenem Plastik, öffnete ihn mit der Linken und nahm eine Patrone heraus. »Warum haben sie mich dafür ausgesucht, Conroy?« Er begutachtete die Patrone und steckte sie dann behutsam in eine der sechs Kammern der Trommel.
»Keine Ahnung. Kam mir so vor, als hätten sie dich von Anfang an im Auge gehabt, seit sie von Mitchell erfahren haben.«
Turner ließ die Trommel rotieren und klappte sie in den Rahmen zurück. »Ich hab dich gefragt: Warum haben sie mich dafür ausgesucht, Conroy?« Er hob den Revolver mit beiden Händen, streckte die Arme aus und richtete ihn direkt auf Conroys Gesicht. »Bei so ’ner Knarre kann man manchmal durch den Lauf schauen, wenn das Licht günstig ist, und erkennen, ob ’ne Kugel drinsteckt.«
Conroy schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Oder man sieht sie vielleicht in einer der übrigen Kammern …«
»Nein«, sagte Conroy sehr leise. »Ausgeschlossen.«
»Vielleicht haben die Ballonflicker Murks gebaut, Conroy. Was meinst du?«
»Nein«, sagte Conroy mit ausdruckslosem Gesicht. »Haben sie nicht, und du wirst es auch nicht tun.«
Turner drückte ab. Der Hahn traf auf eine leere Kammer. Conroy blinzelte einmal, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sah zu, wie Turner die Smith & Wesson senkte. Ein einzelner Schweißtropfen perlte von Conroys Haaransatz und verschwand in einer Augenbraue.
»Und?« Turner ließ die Kanone hängen.
Conroy zuckte mit den Achseln. »Lass den Scheiß.«
»Brauchen die mich so dringend?«
Conroy nickte. »Es ist deine Show, Turner.«
»Wo ist Mitchell?« Turner klappte die Trommel wieder auf und lud die übrigen fünf Kammern.
»In Arizona. Rund fünfzig Kilometer von der Grenze nach Sonora, in einer Forschungsarcologie in einem Tafelberg. Maas Biolabs North America. Denen gehört alles da in der Gegend, bis runter zur Grenze, und der Tafelberg liegt im Bereich von vier Aufklärungssatelliten. Mucho dicht, der Laden.«
»Und wie sollen wir da reinkommen?«
»Gar nicht. Mitchell kommt raus, von selber. Wir warten auf ihn, lesen ihn auf und schaffen ihn unversehrt zu Hosaka.« Conroy fuhr mit dem angewinkelten Zeigefinger unter den offenen Kragen seines schwarzen Hemdes und förderte eine schwarze Nylonkordel zutage, an der ein schwarzer Nylonbeutel mit Klettverschluss hing. Er öffnete ihn vorsichtig und entnahm ihm einen Gegenstand, den er Turner auf dem Handteller hinhielt. »Hier. Das hat er geschickt.«
Turner legte die Knarre auf den nächsten Tisch und nahm das Ding von Conroy entgegen. Es glich einem zu dick geratenen Mikrosoft; an einem Ende saß der übliche Neurokontakt, am anderen ein seltsames rundes Gebilde, wie er es noch nie gesehen hatte. »Was ist das?«
»Ein Biosoft. Jaylene hat sich’s reingetan und sagt, ihr kam’s vor wie der Output einer KI. Ist eine Art Dossier über Mitchell mit einer Nachricht für Hosaka hintendran. Zieh’s dir am besten mal selber rein, du solltest baldmöglichst im Bilde sein …«
Turner blickte von dem grauen Ding auf. »Wie ist es für Jaylene gewesen?«
»Sie sagt, du solltest dich dabei lieber hinlegen. Ihr schien’s nicht so gut gefallen zu haben.«
Maschinenträume verursachen ein spezielles Schwindelgefühl. Turner legte sich im provisorischen Schlafraum auf eine jungfräuliche Matratze aus grünem Temperschaum und steckte sich Mitchells Dossier rein. Es ging langsam los; er hatte noch Zeit, die Augen zu schließen.
Zehn Sekunden später waren seine Augen wieder offen. Er krallte sich an dem grünen Schaumstoff fest und kämpfte gegen den Brechreiz an. Dann schloss er von Neuem die Augen. Wieder ging es langsam los; ein flackernder, nicht linearer Schwall von Informationen und Sinneseindrücken, eine Art Geschichte, die in surrealen, sprunghaften Schnitten und Parallelmontagen erzählt wurde. Es ließ sich entfernt mit der Fahrt in einer Achterbahn vergleichen, die in willkürlichen, unglaublich schnellen Intervallen ins Dasein trat und wieder verschwand, wobei Höhe, Schwung und Richtung bei jedem Übertritt aus dem Nichts wechselten, nur dass diese Wechsel nichts mit einer physischen Orientierung zu tun hatten, sondern eher mit blitzschnellen Änderungen im Paradigmen- und Symbolsystem. Die Daten waren nicht für den menschlichen Gebrauch gedacht.
Mit offenen Augen riss er das Ding aus der Buchse und hielt es in der schweißnassen Hand. Es war, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Nicht aus einer Horrorvision, in der gestaute Ängste simple, schreckliche Gestalten annahmen, sondern aus einem ungleich verstörenderen Traum, in dem alles absolut und grauenhaft normal und dennoch ganz und gar falsch war.
Die Intimität des Dings war tückisch. Er kämpfte Wogen ungefilterter Übertragung nieder und musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um ein Gefühl zu überwinden, das mit Liebe verwandt war: die zwanghafte Zuneigung, die ein Beobachter für die Person entwickelt, die er längere Zeit überwacht. Tage oder Stunden später, das wusste er, würden ihm die kleinsten Einzelheiten aus Mitchells akademischem Werdegang ins Bewusstsein treten, vielleicht auch der Name einer Geliebten, der Duft ihres dichten roten Haars im Sonnenlicht, das durch …
Er setzte sich rasch auf, sodass die Kunststoffsohlen seiner Schuhe aufs rostige Deck knallten. Er hatte immer noch den Parka an, und die Smith & Wesson in der Seitentasche schlug unsanft gegen seine Hüfte. Es würde sich wieder geben. Mitchells psychische Fährte würde sich ebenso verlieren, wie sich die spanische Grammatik im Lexikon nach jeder Benutzung verflüchtigte. Er hatte ein Dossier des Sicherheitsdienstes von Maas in sich aufgenommen, das ein empfindungsfähiger Computer zusammengestellt hatte, mehr nicht. Er steckte das Biosoft wieder in Conroys kleinen Beutel, strich mit dem Daumen den Klettverschluss zu und hängte sich die Kordel um den Hals.
Das Geräusch der Wellen, die gegen die Bohrinsel schwappten, drang an sein Ohr.
»He, Boss«, sagte jemand hinter der braunen Militärdecke, die den Eingang zum Schlafraum verschloss, »Conroy sagt, es wird Zeit, dass du die Truppe inspizierst. Danach fliegst du mit ihm woandershin.« Oakeys bärtiges Gesicht lugte herein. »Ich würde dich sonst nicht wecken.«
»Ich hab nicht geschlafen.« Turner stand auf. Wie im Reflex massierte er die Haut um die implantierte Buchse.
»Schade«, sagte Oakey. »Ich hab Derms, die legen dich echt flach. Genau ’ne Stunde lang, dann so ’n richtiger Muntermacher, der dich wieder hochbringt, und du bist voll da, ungelogen …«
Turner schüttelte den Kopf. »Bring mich zu Conroy.«
Marly nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel mit Grünpflanzen in schweren Messingtöpfen, dessen Korridorböden wie abgegriffene Marmorschachbretter gefliest waren. Der Aufzug war ein verschnörkelter, vergoldeter Käfig mit Rosenholztäfelung, in dem es nach Zitronenöl und Zigarillos roch.
Ihr Zimmer lag im vierten Stock. Ein einziges großes Fenster, das man tatsächlich noch aufmachen konnte, ging auf die Straße hinaus. Als der lächelnde Hotelpage gegangen war, sank Marly in einen Sessel, dessen Plüschbezug angenehm auf den gedämpften belgischen Teppich abgestimmt war. Sie öffnete die Reißverschlüsse ihrer alten Pariser Stiefel zum letzten Mal, stieß sie von sich und betrachtete das Dutzend glänzender Tragetaschen, die der Page auf dem Bett arrangiert hatte. Morgen, dachte sie, würde sie Gepäck kaufen. Und eine Zahnbürste.