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»Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.« Mit der Neuromancer-Trilogie hat William Gibson die Science Fiction revolutioniert. Sein Debütroman »Neuromancer« gewann den Hugo-, den Nebula- und den Philip-K.-Dick-Award, die drei wichtigsten Preise des Genres. Zudem hat er nicht nur die Begriffe Matrix und Cyberspace geprägt, er hat ein ganzes Genre begründet: Cyberpunk. Das Netz ist allgegenwärtig, der Cyberspace zu einer zweiten Realität geworden, bestimmt von KIs und hart umkämpft von riesigen Firmenkomplexen, Hackern und Kriminellen. Ein Raum, der ungeahnte Möglichkeiten bietet, aber auch ein Ort, an dem das Gesetz des Stärkeren gilt und an dem Ethik und Moral längst überkommene Begriffe sind ... Nach einem fehlgeschlagenen Auftrag scheinen sich für den jungen Hacker Case die Träume erstmal erledigt zu haben. Sein Nervensystem ist beschädigt und der Zugang zum Cyberspace damit unmöglich. Aussichten auf Heilung scheint es erstmal keine zu geben, doch da kommt Case zu einem neuen Auftrag, einem, der das Blatt wenden soll. Die Frage ist nur, für wen ...
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Seitenzahl: 416
William Gibson
Neuromancer
Roman
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Tropen
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Neuromancer« im Verlag Ace, New York
© 1984 by William Gibson
Vorwort © 2016 by Neil Gaiman
Published by Arrangement with Neil Gaiman
Das Vorwort wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH
Für die deutsche Ausgabe
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung eines Fotos von © Steve Roe Photography
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50488-0
E-Book: ISBN 978-3-608-12111-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Es gibt ein Sprichwort, das besagt, das Goldene Zeitalter der Science-Fiction sei dann, wenn man gerade zwölf ist, und da ist etwas dran. In den späten 1960er und frühen 70er Jahren – meiner Kindheit – gab es die von Brian Aldiss edierten Kurzgeschichten-Anthologien, die erschütternden Armageddons eines J. G. Ballard, die sehr viel gemütlicheren Armageddons eines John Wyndham, die funkelnden, bitterbösen und urkomischen Zukunftsvisionen eines Alfred Bester. Und es gab Autoren wie Robert Sheckley, Ray Bradbury, Edgar Pangborn, Fritz Leiber und Philip K. Dick: allesamt kraftvolle Schriftsteller, die die Gedanken im Kopf dieses Jungen grundlegend veränderten, als er ihre Bücher las.
Es ist mir daher eine Freude, dieses Vorwort zu schreiben. »Für wen schreibst du es?«, hat mich meine Frau gefragt. Und ich hatte keine Antwort darauf. Doch jetzt, bei Tag betrachtet, glaube ich, ich schreibe es für jemanden, der neugierig ist. Sie haben ein paar Science-Fiction- oder Fantasy-Romane gelesen – oder vielleicht sehr viele – und Sie wollen noch mehr davon. Und Sie möchten wissen, was die ganze Aufregung soll.
Zu Beginn sollten wir unsere Begriffe schärfen. Für Science-Fiction – auch bekannt als Sci-Fi oder SF oder Phantastische Literatur (auf Englisch »Speculative Fiction«, den Begriff habe ich immer am meisten gemocht) – gibt es viele Erklärungen. Brian Aldiss’ Definition als »Hybris, die von der Nemesis verprügelt wird« gefällt mir ganz gut (und ist merkwürdigerweise ziemlich akkurat). Eine andere ist »die Literatur der Ideen«. Ich persönlich tendiere dazu, Science-Fiction als all das zu bezeichnen, auf das ich zeige, wenn ich sage »Jep, das ist Sci-Fi.« Das ist einfacher.
Phantastische Literatur erfüllt einen anderen Zweck als andere Genres der fiktionalen Literatur. Die meiste Literatur hat zum Ziel, die Welt, in der wir leben, zu beleuchten, indem sie sie so genau und vollständig wie möglich beschreibt. Das Ziel von Sci-Fi ist es hingegen, die Welt zu beleuchten, indem sie etwas sehr anderes beschreibt als die gewöhnliche, alltägliche Realität; stattdessen wird uns darin eine gespiegelte Welt gezeigt, eine extrapolierte Version unseres Lebens. Ein winziger Trend kann zu etwas Riesigem aufgeblasen, oder auch isoliert für sich betrachtet werden. Etwas, das wir erleben oder uns vorstellen, kann topografisch auf ein neues System übertragen werden, immer mit dem Ziel, es noch deutlicher zu beschreiben. In der Phantastischen Literatur werden Ideen und Betrachtungsweisen des Universums so wichtig wie – und manchmal sogar noch wichtiger als – die Menschen.
Doch auch wenn Sci-Fi eine Literatur der Ideen ist, heißt das nicht, dass es darin keine Figuren gibt, die uns am Herzen liegen, keine Schönheit der Sprache, keine menschlichen Entwicklungen oder Veränderungen in der Handlung. Es heißt jedoch, dass die Ideen oftmals wichtiger sind als alles andere in der Geschichte, oder vielleicht auch, dass die Ideen die Existenzgrundlage der Geschichte bilden. Und auch wenn wir die Menschen in den Geschichten sehen und sie uns am Herzen liegen, wird deren Zeitalter und Leben doch erleuchtet von Ideen.
Letzte Nacht, während ich in den Schlaf sank und gerade auf der Schwelle zum Reich der Träume stand, wurde mir auf einmal schlagartig die Gemeinsamkeit zwischen Science-Fiction und Surrealismus bewusst, nämlich dass beide, um die beste Wirkung zu erzielen, absolut für bare Münze genommen werden müssen. Metaphern sind immer Metaphern, klar. Doch erst, wenn wir sie wörtlich nehmen, erhalten wir Zutritt zum Land der Träume. In der Science-Fiction wird, wenn wir Sätze wie »Sie hatte Hasenaugen« oder »Vor fünf Jahren hatte sich ihre Welt aufgelöst« oder »Jeden Morgen wachte sie auf und starb« wörtlich nehmen, die Tür zu den Realitäten der Geschichte aufgestoßen. Das sind keine lahmen Metaphern; es sind Beschreibungen der Welt. Das gesamte Werk wird zur eigentlichen Metapher.
Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines
Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.
Als William Gibson 1983 diesen Satz schrieb – es ist der Eröffnungssatz seines Romans Neuromancer –, konnte ein toter TV-Kanal nur eines sein: eine Melange aus elektrostatischen Punkten, die über einen undefinierbaren grauen Hintergrund rauschten. Wir alle hatten sie schon mal angestarrt, irgendwann, wenn wir von Kanal zu Kanal schalteten, hatten mit zusammengekniffenen Augen geschaut, ob sich darin ein Bild verbarg, hatten dem Rauschen gelauscht.
1997, als ich gerade einen Roman namens Niemalsland schrieb, hatte ich meinen Spaß daran, eine kleine Hommage an Gibson einzubauen: »Der Himmel hatte dieses perfekte, sorgenfreie Blau eines Fernsehbildschirms ohne Signal«, schrieb ich. Im Jahr 1997 war die analoge Welt bereits in der Versenkung verschwunden und die digitale Welt war Realität geworden, und tote Kanäle auf Fernsehbildschirmen waren jetzt blau.
Letzte Woche befragte ich mehrere Teenager und junge Erwachsene in meinem Freundeskreis, die mit Fernsehsendungen auf Computern und Handys großgeworden waren, was sie glaubten, wie ein Fernseher auf einem toten Kanal ihrer Meinung nach als Himmel aussähe. Sie alle mussten kurz nachdenken, und sie alle waren der Meinung, dass ein solcher Himmel komplett schwarz wäre, ein Nachthimmel ohne Sterne.
Der Eröffnungssatz von Neuromancer hat sich nicht verändert, wir hingegen verändern uns stetig, und mit uns verändert sich auch die Art, wie wir die Worte auf dem Papier lesen. Die Zeit ist erbarmungslos und Wandel und Unsicherheit sind die einzigen Konstanten auf unserer Reise ins Morgen und alle Morgen, die noch folgen. Alvin Toffler nannte das in seinem Buch von 1970 den »Zukunftsschock« – das Gefühl, dass sich die Dinge zu schnell verändern, als dass wir dabei mithalten können, die Orientierungslosigkeit und die Belastung, der wir ausgesetzt sind, während wir in die Zukunft taumeln. Science-Fiction, phantastische Literatur, die Fiktion der Vorstellung, ist ein Kissen, oder vielleicht ein Stoßdämpfer, gegen den Zukunftsschock. Die Zeit mag uns und die Welt, in der wir leben, verändern – die Science-Fiction ist schon dort gewesen und hat uns mit einem Verständnis für die Welt ausgestattet, in der wir uns nun wiederfinden.
Jede fiktionale Literatur handelt von dem Jetzt des Schreibenden; von was könnte sie sonst handeln? Doch sie ist auch eine Methode, um das Jetzt erträglicher und verständlicher zu gestalten. Historische Romane handeln vom Jetzt. Fantasy-Romane, egal, wann oder wo sie spielen, handeln vom Jetzt. In beiden Fällen hält die Fiktion uns, den Leserinnen und Lesern, einen Spiegel vor, und zeigt uns uns selbst: Vielleicht tragen wir seltsame Kleidung, aber unter den ungewohnten Gewändern sehen wir in unsere eigenen Gesichter.
Was jene, die Science-Fiction- und Fantasy-Romane schreiben, tun, ist, über uns zu schreiben – das tun alle Menschen, die schreiben. Wir schreiben darüber, was wir sehen und was wir denken und was wir fürchten und was wir hoffen. Was wir nicht tun, wenn wir Sci-Fi schreiben, ist, zu versuchen, die Zukunft vorherzusagen, und selbst wenn wir einmal zufällig die Dinge beschreiben, wie sie in der Zukunft sind, erhalten wir keine Extrapunkte fürs Rechthaben.
Wir mögen zuweilen Zukünfte erschaffen oder bei ihrer Entstehung helfen, oder die Welt und die Leserschaft vor Gefahren warnen, die uns auflauern wie Wölfe im tiefen, dunklen Wald. Denn was immer wir glauben, was wir tun, wenn wir schreiben, in Wirklichkeit schreiben wir doch über unsere Gegenwart. Was wir schreiben, ist immer eine Spiegelung unserer jeweiligen Zeit, und wird es immer sein, wie die Frisuren in Filmen, die unsichtbar sind für die Menschen, die die Filme bei ihrem Erscheinen sehen, und die sie dann für immer in einer bestimmten Zeit verankern.
Während sich die Zeiten ändern, verändert sich auch das, was wir geschrieben haben, selbst, wenn die Worte auf dem Papier die gleichen bleiben. Aus einer Zukunftsvision aus den 1950ern erfahren wir mehr über die Ängste und Hoffnungen und Träume der 1950er, als wir darin jemals über die Zukunft erfahren werden.
Das trifft jetzt mehr denn je zu: Immerhin leben wir jetzt in der Zukunft, die man sich in so viel Sci-Fi-Literatur der Vergangenheit vorgestellt hat. Im Jahr 2001 haben wir jedenfalls nicht, wie in Arthur C. Clarkes Roman, den seltsamen Monolithen auf dem Mond gefunden. Für einige von uns war es das Jahr, in dem das World Trade Center zerstört wurde; für andere ist es bereits Teil der fernen Vergangenheit, der unendlich weiten Geschichte der Zeit vor unserer Geburt. Doch ich vermute, je prophetischer und stichhaltiger durchdacht ein Science-Fiction-Text ist, vielleicht sogar je genauer ein solcher Text als Vorhersage fungiert, desto weniger Nutzen hat er als Fiktion, sobald sein Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Die genauen Vorhersagen werden zum reinen Hintergrund und damit geradezu unsichtbar für die Leserschaft, während die Löcher und Ungenauigkeiten ablenken. Während also einige alte Zukünfte nur schlecht altern – von innen vermodern und irgendwann zerbröckeln –, gibt es andere, die reifen wie guter Wein.
Einen größeren Nutzen als Vorhersagen bieten uns Gedankenexperimente. Es ist egal, dass 1984 in seinen Details, wenn man sie als Vorhersagen versteht, nicht eingetroffen ist. Was uns Orwell über Organisationen und Menschen erzählt hat, über das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, über die Art, wie Regierungen und Gruppierungen das Individuum kontrollieren und zerstören können – all das ist heute so wahr wie eh und je. Gedankenexperimente – jene, die mit »Was wäre, wenn …« beginnen und mit »Wenn doch nur …« und »Wenn es so weitergeht …« – ermöglichen uns zu sehen, dass die Dinge anders sein können, und dann schreiben wir selbst Geschichten, die von jenen Gedanken inspiriert sind.
Was wäre, wenn wir mithilfe von Elektrizität die Toten wieder zum Leben erwecken könnten? Was wäre, wenn eine Invasion von Marsianern in riesigen dreibeinigen Maschinen die Erde bedroht?
Wenn doch nur die Menschen in einer perfekten Welt leben würden …
Wenn es so weitergeht, werden Bücher verboten und verbrannt von Menschen, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass niemand mit verstörenden neuen Gedanken infiziert wird.
Wenn diese Konzepte in Geschichten gefasst werden, dann oft mit dem Ziel, die Hauptfiguren aus ihrer bestehenden Weltanschauung in eine neue, radikal andere Sicht auf die Dinge zu führen. Es ist dieselbe Reise, auf die Schriftsteller*innen auch ihre Leserschaft mitzunehmen hoffen. Wir möchten Ihnen zeigen, dass Ihre Art, die Welt zu sehen, wie auch bei den Menschen in den Geschichten, irgendwie falsch ist – dass vielleicht Ihre Weltanschauung veraltet ist oder irrelevant; vor allem, dass sie unvollständig ist. Wir möchten, dass Sie sich vorstellen, dass die Dinge anders sein können. Und wir möchten das, weil Sie dann am Ende der Geschichte das Buch zuklappen und, vielleicht, Ihre Welt verändern werden.
Klassiker der Phantastischen Literatur müssen lange genug existieren, um Klassiker zu werden. Wenn sie dann zu Klassikern geworden sind, sind ihre Mahnungen oftmals zu den Mahnungen von gestern geworden, der Zeitgeist, den sie heraufbeschwören oder dem sie abschwören oder vor dem sie warnen, ist nicht mehr der unsrige. Was sie jedoch zu Klassikern macht, ist ihre Stimme, die uns davon berichtet, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, die uns die Augen öffnet für eine Welt, die wir, oder unsere Eltern, oder deren Eltern, uns niemals hätten vorstellen können.
Das Jahr 1984 scheint noch so nah und doch schon so weit weg. Es war ein Science-Fiction-Jahr: Orwells Vision von einem totalitären England – was wiederum eine dunkle Spiegelung des Jahres 1948 darstellte – war nicht eingetroffen, aber ein Science-Fiction-Zeitalter war angebrochen. Die Zukunft lag unmittelbar vor uns, aber niemand von uns wusste, was uns darin erwartete.
Wir hatten damals noch keine Handys oder das Internet. Wir hatten noch keine Konzepte davon, was auf uns zukam.
Ich frage mich selbst heute noch, inwieweit William Gibson eine Zukunft beschrieben, und wie sehr er sie vielleicht auch ermöglicht hat – wie sehr die Menschen, die Neuromancer gelesen und geliebt haben, die Zukunft um Gibsons Vision herum gebaut haben. In jedem Fall bedeutete Neuromancer eine Zäsur in dem Genre.
Zusätzlich zum berühmten Eröffnungssatz – ich habe weiter oben bereits darüber gesprochen, wie die Zeit die Bedeutung des fernsehfarbenen Himmels verändert hat – gibt es andere Momente in Neuromancer, die uns vergegenwärtigen, dass wir uns nicht in unserer Zukunft befinden, sondern hinausblicken auf die Zukunft von 1983: Hier sehen wir eine Reihe altertümlicher Münztelefone nacheinander klingeln, dort ein Modem (1983 eine absolute High-Tech-Spielerei), und meinen persönlichen Favoriten: »drei Megabyte heißes RAM«, die im ersten Kapitel die Handlung lostreten. (Als ich, im Jahr nach dem Erscheinen von Neuromancer, meinen ersten Computer kaufte, versuchte mich der Verkäufer davon zu überzeugen, dass ich keine 20-Megabyte-Festplatte bräuchte. Ich würde die nie vollmachen, erklärte er mir. Ich sollte mir lieber die günstigere 10-Megabyte-Variante zulegen.) Doch das alles schmälert weder das Buch noch Gibsons Errungenschaft.
Konsolencowboy Case hat die ultimative tickende Zeitbombe in seiner Blutbahn und muss eine Mission erfüllen, um am Leben zu bleiben. Dazu kommt, dass er alles und jeden verloren hat, der ihm jemals wichtig gewesen ist, und jetzt tut er das Einzige, was er kann oder in dem er einigermaßen gut ist. Molly, mit den implantierten verspiegelten Brillengläsern und Rasierklingen unter den Fingernägeln, versucht ihn am Leben zu halten so gut sie kann. Es gibt die ein oder andere frei herumlaufende künstliche Intelligenz, und natürlich die Turing-Polizei, die ein Auge auf das Treiben der abtrünnigen KIs hat.
Neuromancer ist sui generis, hat gleichzeitig jedoch einen klar erkennbaren Sci-Fi-Hintergrund, eine furchtlose Vereinigung von Samuel R. Delanys Prosa und Alfred Besters narrativem Bombast. Vor allem hält sich Gibson an Raymond Chandlers Bemerkung, dass man für das Schreiben von Pulp-Fiction, »konstant Action braucht; wenn man innehielt, um nachzudenken, war man verloren. Im Zweifel musste man einfach einen Mann ins Zimmer kommen lassen, der eine Waffe in der Hand hält.« In Neuromancer kommen Männer und Frauen, und teilweise nicht ganz menschliche Dinge durch Türen, und sie alle haben Waffen in den Händen. Wir halten nie inne, um nachzudenken. Das ist sicherer.
Neuromancer ist Gibsons Debütroman, und es ist eine wahre Freude, einem jungen Autor, der zuvor noch nie einen Roman geschrieben hat, dabei zuzuschauen, wie er alles, was er zu bieten hat, in einen großen Topf schmeißt, inklusive seiner Liebe zur Band Velvet Underground, deren Song »Cool It Down« ebenso viel von der Handlung von Neuromancer andeutet, wie es der Song »Pale Blue Eyes« bei Gibsons Kurzgeschichte »Burning Chrome« getan hatte.
Gibson sollte noch zwei weitere Romane in der Zukunft des Sprawl schreiben, die auf die Handlung von Neuromancer aufbauen: Biochips und Mona Lisa Overdrive. Seitdem haben sich die von ihm beschriebenen Zukünfte, allesamt akribisch beobachtet, immer weiter an ihre Bestimmungsorte und auf unsere eigene Zeit zubewegt. Wenn heutzutage Gibsons Romane im Hier und Jetzt spielen, liegt das vielleicht daran, dass das Hier und Jetzt bereits Science-Fiction ist. Wir schwimmen bereits im Zukunftsschock und brauchen jemanden, der uns sagt, wie das Wasser um uns herum schmeckt.
Sciene Fiction nimmt die Menschen mit auf eine Reise. Und wenn man zurückkehrt, ist man möglicherweise nicht mehr dieselbe Person, die man bei der Abreise gewesen ist.
Auf dass Sie unbeschadet zurückkehren, und auf dass Ihre Reise nie ganz ungefährlich ist.
Neil Gaiman
Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.
»Ich bin ja kein User«, hörte Case jemanden sagen, als er sich durch die Menge an der Tür des Chat drängte. »Mein Körper leidet neuerdings einfach unter Drogenmangel.« Es war eine Sprawlstimme und ein Sprawlspruch. Das Chatsubo war eine Bar für Berufsexilanten; man konnte dort eine Woche bechern, ohne ein Wort Japanisch zu hören.
Ratz schmiss die Bar. Seine Armprothese zuckte monoton, als er einen Schwung Gläser mit Kirin vom Fass füllte. Er sah Case und lächelte. Sein Gebiss war ein Flickwerk aus osteuropäischem Stahl und brauner Fäulnis. Case fand einen Platz an der Theke zwischen der unnatürlichen Bräune einer Hure von Lonny Zone und der steifen Marineuniform eines großen Afrikaners, dessen Wangen von präzisen Reihen wulstiger Stammesnarben gezeichnet waren. »Wage war schon da, mit zwei Mackern«, sagte Ratz und schob Case mit seiner unversehrten Hand ein Bierglas über den Tresen. »Geschäfte, ihr beide, Case?«
Case zuckte mit den Achseln. Das Mädchen zu seiner Rechten stupste ihn kichernd an.
Das Lächeln des Barmanns wurde breiter. Seine Hässlichkeit war legendär – im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung. Der altertümliche Arm surrte, als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik. »Spielst den Künstler, Monsieur Case.« Ratz grunzte, ein Geräusch, das bei ihm als Lachen fungierte. Er kratzte sich mit der pinkfarbenen Klaue den in ein weißes Hemd gezwängten, überhängenden Bauch. »Jonglierst mit irgendwelchen komischen Deals.«
»Klar«, sagte Case und trank einen Schluck Bier. »Einer muss hier ja komisch sein. Du bist’s jedenfalls nicht, verdammte Scheiße.«
Das Kichern der Hure stieg um eine Oktave.
»Und du auch nicht, Schwester. Also zieh Leine, okay? Zone ist ’n persönlicher Freund von mir.«
Sie sah Case in die Augen und gab den allerleisesten Spucklaut von sich, ohne die Lippen groß zu bewegen. Aber sie ging.
»Mann, was ist das denn für’n mieses Loch?«, sagte Case. »Hier kann man ja nicht mal in Ruhe einen trinken.«
»Ha!« Ratz fuhr mit einem Lappen über das abgescheuerte Holz. »Zone kommt wenigstens mit Prozenten rüber. Der einzige Grund, warum du hier arbeiten darfst, ist dein Unterhaltungswert.«
Als Case nach seinem Bierglas griff, senkte sich einer jener seltsamen Momente der Stille auf den Laden, als wären hundert eigenständige Gespräche gleichzeitig bei einer Pause angelangt. Dann ertönte das schrille Kichern der Hure, durchsetzt von einer gewissen Hysterie.
»Da ist gerade ein Engel durch«, brummte Ratz.
»Die Chinesen«, grölte ein betrunkener Australier, »die Chinesen haben das verdammte Nervenspleißen erfunden. Wenn’s die Nerven sind, würd ich aufs Festland gehen. Die kriegen dich wieder hin, Kamerad …«
»Ach was«, sagte Case zu seinem Glas, und seine ganze Verbitterung stieg wie Galle in ihm auf, »das ist doch totaler Schwachsinn.«
Die Japaner hatten schon mehr Neurochirurgie vergessen, als die Chinesen je beherrscht hatten. Die schwarzen Kliniken von Chiba waren führend auf dem Gebiet; dort wurden ganze Operationstechniken von einem Monat auf den anderen durch neue ersetzt. Trotzdem schafften sie es nicht, den Schaden zu beheben, den Case in einem Hotel in Memphis abbekommen hatte.
Nach einem Jahr hier träumte er immer noch vom Cyberspace, doch seine Hoffnung schwand mit jeder Nacht. Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge durch die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich vor der farblosen Leere entfalteten … Das Sprawl lag jetzt in seltsam weiter Ferne jenseits des Pazifik, und er war kein Konsolenfreak, kein Cyberspace-Cowboy mehr. Nur ein kleiner Gauner unter vielen, der sich durchzuschlagen versuchte. Doch in der japanischen Nacht brachen die Träume über ihn herein wie Hochspannungsvoodoo, und dann weinte er, er weinte im Schlaf und wachte allein im Dunkel seiner Kapsel in irgendeinem Sarghotel auf, die Hände in die Matratze gekrallt, Temperschaum zwischen den Fingern, die nach der Konsole zu greifen versuchten, die nicht da war.
»Hab gestern Abend dein Mädchen gesehn«, sagte Ratz, als er Case das zweite Kirin hinstellte.
»Ich hab keins.«
»Miss Linda Lee.«
Case schüttelte den Kopf.
»Kein Mädchen? Nichts? Nur Geschäfte, mein Künstlerfreund? Voll dem Kommerz verschrieben?« Ratz’ kleine braune Augen saßen tief in faltigen Höhlen. »Mit ihr hast du mir, glaub ich, besser gefallen. Hast mehr gelacht. Irgendwann übernimmst du dich vielleicht mal beim Jonglieren und landest in den Organbanken, im Ersatzteillager.«
»Mir kommen die Tränen, Ratz.« Case trank sein Bier aus, bezahlte und ging, die schmalen Schultern in der regennassen, kakifarbenen Nylonwindjacke hochgezogen. Als er sich durch die Menschenmenge auf der Ninsei zwängte, roch er den eigenen muffigen Schweiß.
Case war vierundzwanzig. Mit zweiundzwanzig war er ein Cowboy, ein Aktiver gewesen, einer der besten im Sprawl. Er war bei den ganz Großen in die Lehre gegangen, bei McCoy Pauley und Bobby Quine, Legenden im Geschäft. Mit ständigem Adrenalinüberschuss, einem Nebenprodukt seiner Jugend und seines Könnens, hing er an einem speziellen Cyberspace-Deck, das sein entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzination der Matrix projizierte – ein Dieb, der für andere, reichere Diebe arbeitete, für Auftraggeber, die die erforderliche exotische Software lieferten, um schimmernde Firmenfassaden zu durchdringen und Fenster zu reichen Datenfeldern aufzutun.
Er beging den klassischen Fehler, obwohl er sich geschworen hatte, gerade den um jeden Preis zu vermeiden: Er bestahl seine Auftraggeber. Er zweigte etwas für sich ab und versuchte, es über einen Hehler in Amsterdam zu verticken. Er wusste noch immer nicht genau, wie sie ihm auf die Schliche gekommen waren, obwohl das jetzt freilich keine Rolle mehr spielte. Als es dann so weit war, rechnete er mit dem Tod, doch sie lächelten nur. Natürlich könne er das Geld gern behalten, meinten sie, sehr gern. Er werde es auch brauchen. Denn – noch immer lächelnd – sie würden dafür sorgen, dass er nie wieder arbeiten könne.
Sie schädigten sein Nervensystem mit einem russischen Mykotoxin aus Kriegszeiten.
In einem Hotel in Memphis ans Bett gefesselt, halluzinierte er dreißig Stunden lang. Mikron für Mikron brannte sein Talent aus.
Der Schaden war winzig und unauffällig, aber äußerst wirksam.
Für Case, der für die körperlosen Freuden des Cyberspace gelebt hatte, war es der Sturz in den Abgrund. In den Bars, in denen er als Supercowboy verkehrt hatte, gehörte bei der Elite der Branche eine gewisse lässige Verachtung fürs Fleisch zum guten Ton. Der Körper war nur Fleisch. Und nun war Case ein Gefangener seines Fleisches.
Seine ganze Habe war schnell in Neue Yen eingetauscht, ein dickes Bündel Scheine der alten Papierwährung, die endlos durch die geschlossenen Kanäle des weltweiten Schwarzmarkts kursierte wie die Muscheln der Trobriand-Insulaner. Es war schwierig, im Sprawl legale Geschäfte mit Bargeld abzuwickeln; in Japan war es bereits verboten.
In Japan, so hatte er sich verbissen eingeredet, würde er hundertprozentig Heilung finden. In Chiba. Entweder in einer registrierten Klinik oder in der Grauzone der schwarzen Medizin. Chiba, ein Synonym für Implantationen, Nervenspleißen und Mikrobionik, war ein Magnet für die technokriminellen Subkulturen des Sprawl.
In Chiba hatte er seine Neuen Yen in einer zweimonatigen Serie von Untersuchungen und Konsultationen dahingehen sehen. Die Leute in den schwarzen Kliniken, seine letzte Hoffnung, hatten die gekonnte Verstümmelung bestaunt und dann langsam den Kopf geschüttelt.
Nun schlief er in den billigsten Särgen, denen in unmittelbarer Hafennähe unter den Halogenstrahlern, die die Docks Tag und Nacht wie riesige Bühnen beleuchteten; wegen des grellen Fernsehhimmels waren von dort die Lichter von Tokio nicht zu sehen, nicht einmal das himmelhohe holografische Logo der Fuji Electric Company, und die Bucht von Tokio war nichts als eine weite schwarze Fläche, auf der weiße Styroporhaufen trieben, über denen Möwen kreisten. Hinter dem Hafen lag die Stadt mit ihren Fabrikkuppeln, die von den riesigen Würfeln der Unternehmensarcologien überragt wurden. Hafen und Stadt waren durch einen schmalen Gürtel älterer Straßenzüge getrennt, ein Niemandsland ohne offiziellen Namen. Night City mit einer Straße namens Ninsei als Herz. Bei Tag waren die Bars an der Ninsei mit Rollläden verschlossen und unscheinbar; die Neonbeleuchtung war aus, die Hologramme warteten deaktiviert unter dem giftigen Silberhimmel.
In einem Teashop namens Jarre de Thé zwei Blocks westlich vom Chat spülte Case die erste Pille des Abends mit einem doppelten Espresso hinunter. Es war ein flaches, pinkfarbenes Oktagon mit einem stark wirkenden brasilianischen Dexedrin, das er bei einem von Zones Mädchen gekauft hatte.
Das Jarre hatte verspiegelte Wände; jede Scheibe war mit rotem Neon eingefasst.
Mutterseelenallein in Chiba, mit wenig Geld und noch weniger Hoffnung auf Heilung, hatte er zunächst eine Art Overdrivesymptom entwickelt. Mit einer kalten Verbissenheit, die seinem Wesen eigentlich gar nicht entsprach, war er losgezogen, um Kapital zu beschaffen, und im ersten Monat hatte er zwei Männer und eine Frau umgebracht – für Summen, die er vor einem Jahr noch als lächerlich betrachtet hätte. Die Ninsei zehrte ihn aus, bis die Straße selbst für ihn zur Verkörperung einer Todessehnsucht wurde, eines verborgenen Giftes, das er ahnungslos in sich getragen hatte.
Night City glich einem kranken Experiment in Sozialdarwinismus, ersonnen von einem gelangweilten Forscher, der den Daumen ständig auf der FF-Taste hatte. Wenn man zu lahmarschig wurde, ging man spurlos unter, aber wenn man sich zu sehr ins Zeug legte, durchbrach man die empfindliche Oberflächenspannung des Schwarzmarkts und wurde ebenfalls abserviert; in beiden Fällen blieb von einem nur die vage Erinnerung im Kopf einer Gestalt wie Ratz, die zum Inventar gehörte, obwohl Herz, Lungen oder Nieren durchaus im Dienste eines Fremden weiterleben konnten, der genug Neue Yen für die Organbank hatte.
Das Geschäft hier war ein pausenloses, unterschwelliges Brummen und Summen, und der Tod war die allseits akzeptierte Strafe für Untätigkeit, Leichtsinn oder Ungeschick, kurz, für die Nichteinhaltung der Anforderungen eines tückischen Protokolls.
Als Case allein an einem Tisch im Jarre de Thé saß und das Oktagon reinknallte, sodass sich an seinen Handflächen Schweißperlen bildeten und er jedes kitzelnde Haar an Armen und Brust plötzlich einzeln spürte, erkannte er, dass er seit einiger Zeit ein Spiel mit sich spielte, ein uraltes Spiel ohne Namen, ein letztes Solitär. Er hatte keine Waffe mehr, scherte sich nicht mehr um die simpelsten Vorsichtsmaßnahmen. Er machte die schnellsten, lockersten Deals auf der Straße und stand im Ruf, alles beschaffen zu können, was gewünscht wurde. Ein Teil von ihm wusste, dass der grelle Lichtbogen seiner Selbstzerstörung unübersehbar war für seine Kunden, die immer rarer wurden, aber derselbe Teil wärmte sich in dem Wissen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Und das war auch der Teil, der in seiner eitlen Todeserwartung den Gedanken an Linda Lee am meisten hasste.
Er hatte sie eines Nachts – es regnete – in einer Spielhalle gefunden.
Unter gleitenden Schemen, die durch blauen Zigarettendunst leuchteten, den Hologrammen von Wizard’s Castle, von Tank War Europa, von der New Yorker Skyline … Und so sah er sie jetzt vor sich, das Gesicht in hektisches Laserlicht getaucht, die Züge zum bloßen Code reduziert: Scharlachrot glühten die Wangen, als das Zauberschloss brannte, azurblau leuchtete die Stirn, als München im Panzerkrieg fiel, golden schimmerten die Lippen, als der wandernde Cursor einen Funkenregen aus der Wand einer Wolkenkratzerschlucht fräste. Er war an jenem Abend in Hochstimmung gewesen, da ein Kilo von Wages Ketamin auf dem Weg nach Jokohama war und er das Geld schon in der Tasche hatte. Aus dem warmen Regen kommend, der aufs Pflaster der Ninsei prasselte, war er hineingegangen, und als er sie sah – ein Gesicht unter Dutzenden an den Konsolen, in das Spiel vertieft, an dem sie saß –, hatte er irgendwie sofort gewusst: die oder keine. Ihr Gesichtsausdruck war der gleiche gewesen wie Stunden später in einem Sarg am Hafen, als sie schlief. Die Oberlippe glich dem geschwungenen Strich, mit dem Kinder einen Vogel im Flug zeichnen.
Als er die Spielhalle durchquerte und sich neben sie stellte, beschwingt von dem Geschäft, das er gerade gemacht hatte, blickte sie auf. Graue Augen mit verschmiertem schwarzem Eyeliner. Tieraugen, starr im Scheinwerferkegel eines näher kommenden Fahrzeugs.
Ihre gemeinsame Nacht dauerte bis zum Morgen; anschließend Tickets fürs Hovercraft und sein erster Ausflug über die Bucht. Der Regen ließ auch in Harajuku nicht nach und perlte von ihrer Plastikjacke, während die Kinder Tokios in weißen Slippern und Regenmänteln an den berühmten Boutiquen vorbeimarschierten. Als sie mit ihm schließlich im mitternächtlichen Geklapper einer Pachinkohalle stand, hielt sie seine Hand wie ein Kind.
Es dauerte einen Monat, bis die Konfiguration von Drogen und Anspannung, die sein Leben prägte, diese ewig erschrockenen Augen in Brunnen verwandelte, in denen sich das gleiche Bedürfnis spiegelte. Er hatte beobachtet, wie sich ihre Persönlichkeit spaltete, wie ein Eisberg kalbte, in Schollen davontrieb, und er hatte schließlich das nackte Bedürfnis gesehen, das hungrige Gerippe der Sucht.
Er hatte beobachtet, wie sie sich den nächsten Druck setzte – mit einer Konzentration, die ihn an die Gottesanbeterinnen erinnerte, die auf Marktständen an der Shiga neben blauen Zuchtkarpfen in ihren Becken und Grillen in Bambuskäfigen feilgeboten wurden.
Er starrte auf den schwarzen Kaffeering in seiner leeren Tasse. Sie wackelte; das kam von dem Speed, das er sich reingezogen hatte. Die braune Kunstharzbeschichtung des Tisches war von einer stumpfen Patina winziger Kratzer überzogen. Als das Dex ihm die Wirbelsäule hochstieg, sah er die unzähligen willkürlichen Stöße, die es dazu gebraucht hatte. Das Jarre war in einem veralteten, namenlosen Stil des vorigen Jahrhunderts eingerichtet, einer ungemütlichen Mischung aus japanischer Tradition und fahlem Mailänder Plastik, aber alles schien von einem feinen Film überzogen, als hätten die schlechten Nerven von Millionen Gästen die Spiegel und einstmals glänzenden Plastikflächen angegriffen und eine trübe Schicht hinterlassen, die sich nicht mehr abwischen ließ …
»Hey, Case, alter Freund!«
Er blickte auf, sah in graue Augen mit Eyeliner. Sie trug einen ausgewaschenen französischen Orbit-Overall und nagelneue weiße Turnschuhe. »Hab dich die ganze Zeit gesucht, Mensch.« Sie nahm ihm gegenüber Platz und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Die Ärmel des blauen Overalls waren an den Schultern abgetrennt. Automatisch suchte er ihren Arm nach Spuren von Derms oder Einstichen ab. »Zigarette?« Sie kramte ein zerknülltes Päckchen Yeheyuan Filter aus einer Tasche in der Knöchelgegend und bot sie ihm an. Er nahm eine und ließ sie sich mit einem roten Plastikfeuerzeug anzünden. »Schläfst du nicht gut, Case? Siehst müde aus.« Ihr Akzent verriet, dass sie aus dem südlichen Sprawl stammte, aus der Gegend von Atlanta. Die Haut unter ihren Augen war blass und sah ungesund aus, aber sie hatte noch glattes und festes Fleisch. Sie war zwanzig. Die ersten Kummerfältchen gruben sich in ihre Mundwinkel. Ihr schwarzes Haar war mit einem bedruckten Seidenband zurückgebunden; das Muster erinnerte an Mikroschaltkreise oder einen Stadtplan.
»Bloß wenn ich vergesse, meine Pillen zu nehmen«, sagte er. Eine greifbare Woge der Sehnsucht überrollte ihn; Lust und Einsamkeit kamen auf der Wellenlänge des Amphetamins. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haut im überheizten, dunklen Sarg beim Hafen, an ihre über seinem Kreuz verzahnten Finger.
All das Fleisch, dachte er, und all seine Gelüste.
»Wage«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Der will dir ’n Loch in den Schädel pusten.« Sie zündete sich selber eine Zigarette an.
»Wer sagt das? Ratz? Haste mit Ratz gesprochen?«
»Nee. Mit Mona. Ihr neuer Typ ist einer von Wages Mackern.«
»Dafür schulde ich ihm nicht genug. Wenn er mich alle macht, sieht er die Knete erst recht nicht.« Er zuckte mit den Achseln.
»Zu viele schulden dem was, Case. Vielleicht will er an dir ein Exempel statuieren. Solltest echt lieber aufpassen.«
»Mach ich. Und du, Linda? Haste ’nen Platz zum Pennen?«
»Pennen.« Sie schüttelte den Kopf. »Klar, Case.« Sie zitterte und krümmte sich über dem Tisch zusammen. Ihr Gesicht war schweißbedeckt.
»Da«, sagte er, wühlte in der Tasche seiner Windjacke und zog einen zerknüllten Fünfziger hervor. Automatisch strich er ihn unterm Tisch glatt, faltete ihn zweimal und gab ihn ihr.
»Du brauchst es selbst, Süßer. Gib’s lieber Wage.« In den grauen Augen war jetzt ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte, den er noch nie darin gesehen hatte.
»Ich schulde Wage ’ne Menge mehr. Nimm schon! Ich krieg bald noch was«, log er, während er zusah, wie seine Neuen Yen in einer Tasche mit Reißverschluss verschwanden.
»Wenn du das Geld hast, Case, geh gleich zu Wage.«
»Bis dann, Linda«, sagte er und stand auf.
»Ja.« Ein Millimeter Augenweiß zeigte sich unter ihren Pupillen. Sanpaku. »Pass auf dich auf, Junge!«
Case nickte. Er hatte es auf einmal sehr eilig.
Als die Plastiktür hinter ihm zufiel, blickte er zurück und sah ihre Augen im Spiegel, umschlossen von rotem Neon.
Freitagnacht auf der Ninsei.
Vorbei an Yakitoribuden und Massagesalons, einem Café der Franchisekette Beautiful Girl, dem elektrischen Getöse einer Spielhalle. Er trat zur Seite, um einen dunkel gekleideten Sararimann vorbeizulassen, einen typischen Angestellten, und erhaschte dabei einen Blick auf das Mitsubishi-Genentech-Logo, das in seinen rechten Handrücken eintätowiert war.
War das echt? Falls ja, dachte Case, kriegt er Ärger. Falls nicht, geschieht’s ihm recht. MG-Angestellten ab einer bestimmten Stufe waren moderne Mikroprozessoren implantiert, die den Mutagenspiegel im Blut regulierten. Mit einem solchen Gerät konnte man in Night City sehr schnell unter die Räder geraten und in einer schwarzen Klinik landen.
Der Sararimann war Japaner gewesen, aber das Ninsei-Volk bestand aus Gaijin, Ausländern. Matrosengruppen vom Hafen, einzelne Touristen, auf der Jagd nach Vergnügungen, die in keinem Reiseführer standen, schwere Jungs aus dem Sprawl, die mit Transplantaten und Implantaten protzten, und Dutzende Arten von Gaunern – ein einziges großes Gewimmel, ein komplizierter Reigen von Lust und Geschäft.
Es gab zahllose Theorien darüber, warum Chiba City die Enklave der Ninsei duldete, aber Case neigte zu der Ansicht, dass die Yakuza diesen Ort gewissermaßen als historischen Park erhielten, als Denkmal für ihre bescheidenen Anfänge. Andererseits leuchtete ihm auch ein, dass der technische Fortschritt Freiräume brauchte, dass Night City nicht wegen seiner Bewohner existierte, sondern als bewusst ungeregelte Spielwiese der Technologie.
Als er zu den Lichtern hinaufblickte, fragte er sich, ob Linda recht hatte. Würde Wage ihn umlegen lassen, um ein Exempel zu statuieren? Das kam ihm ziemlich unsinnig vor, aber Wage handelte ja auch vornehmlich mit rezeptpflichtiger Bioware, und es hieß, wer so was tat, musste verrückt sein. Doch Linda meinte, dass Wage seinen Tod wollte. Cases wichtigste Einsicht in die Dynamik der Straßendeals lautete, dass er weder vom Käufer noch vom Verkäufer wirklich gebraucht wurde. Das Geschäft eines Mittelsmannes besteht darin, sich zu einem notwendigen Übel zu machen. Die fragwürdige Nische, die Case sich in der kriminellen Ökologie von Night City geschaffen hatte, war durch Lügen aufgetan und Nacht für Nacht durch Betrügereien ausgebaut worden. Als er nun spürte, dass ihre Mauern zu bröckeln begannen, empfand er eine seltsame Euphorie.
In der Woche davor hatte er den Weiterverkauf eines synthetischen Drüsenextrakts verzögert und ihn mit einer größeren Gewinnspanne als üblich in kleinen Portionen verhökert. Er wusste, das hatte Wage nicht gefallen. Wage, seit neun Jahren in Chiba und einer der wenigen Gaijin-Dealer, denen es gelungen war, mit dem starr hierarchisch gegliederten kriminellen Establishment jenseits der Grenzen von Night City Kontakte zu knüpfen, war sein wichtigster Lieferant. Gen- und Hormonmaterial sickerte durch ein kompliziertes, gestaffeltes System aus Strohmännern und Tarnfirmen in die Ninsei. Irgendwie hatte Wage es einmal geschafft, etwas zurückzuverfolgen, und nun erfreute er sich dauerhafter Beziehungen in einem Dutzend Städten.
Case ertappte sich dabei, wie er in ein Schaufenster starrte. In dem Laden wurde bunter Krimskrams an Matrosen verkauft. Uhren, Klappmesser, Feuerzeuge, Taschenvideorekorder, Simstim-Decks, beschwerte Manriki-Ketten und Shuriken. Die Shuriken, stählerne Sterne mit messerscharfen Spitzen, hatten es ihm schon immer angetan. Die einen waren verchromt, die anderen schwarz, wieder andere mit einem regenbogenähnlichen Film wie Öl auf Wasser beschichtet. Aber die verchromten Sterne fesselten seinen Blick. Sie waren mit fast unsichtbaren Nylonschlingen auf scharlachrotem Ultravelours befestigt und in der Mitte mit Drachen oder Yin-Yang-Symbolen geprägt. Sie warfen das Neonlicht von der Straße verzerrt zurück, und Case kam auf einmal der Gedanke, dass dies seine Leitsterne waren, sein Schicksal in Gestalt einer Konstellation aus billigem Chrom.
»Julie«, sagte er zu seinen Sternen. »Zeit, den alten Julie zu besuchen. Der weiß bestimmt Bescheid.«
Julius Deane, dessen Stoffwechsel allwöchentlich mit einem Vermögen an Seren und Hormonen gewissenhaft zurechtfrisiert wurde, war hundertfünfunddreißig Jahre alt. Sein wichtigster Schutz gegen das Altern bestand in einer jährlichen Pilgerfahrt nach Tokio, wo Gentechniker den Code seiner DNS neu einstellten, ein Verfahren, das in Chiba nicht verfügbar war. Anschließend flog er immer nach Hongkong, um sich die Anzüge und Hemden fürs ganze Jahr anfertigen zu lassen. Geschlechtlich ein Neutrum und mit übermenschlicher Geduld ausgestattet, schien er sich Befriedigung vornehmlich dadurch zu verschaffen, dass er einem esoterischen Schneiderkult frönte. Case hatte ihn nie zweimal im selben Anzug gesehen, obwohl er offenbar ausschließlich peinlich genaue Nachbildungen der Mode des vorigen Jahrhunderts trug. Er hatte eine Vorliebe für altmodische Brillen mit schmalem Goldgestell und pinkfarbenen, aus dünnem, synthetischem Quarz geschnittenen Gläsern, deren Kanten schräg geschliffen waren wie die Spiegel in einem viktorianischen Puppenhaus.
Sein Büro befand sich in einem Lagerhaus hinter der Ninsei. Einige Räume waren vor Jahren mit einem Sammelsurium europäischer Möbel sparsam eingerichtet worden, als hätte Deane einmal die Absicht gehabt, diese Zimmer als Wohnung zu benutzen. Neoaztekische Bücherregale, auf denen sich Staub sammelte, säumten eine Wand des Zimmers, in dem Case wartete. Zwei plumpe, bauchige Lampen im Disney-Stil standen auf einem niedrigen Beistelltischchen im Kandinsky-Look aus rot lackiertem Stahl. Zwischen den Bücherregalen an der Wand hing eine Dali-Uhr. Das verzerrte Zifferblatt reichte bis zum nackten Betonboden, und die Zeiger bestanden aus Hologrammen, die sich beim Vorrücken entsprechend dem verzerrten Zifferblatt veränderten, aber nie die korrekte Zeit angaben. Das Zimmer war vollgestopft mit stapelbaren weißen Versandboxen aus Fiberglas, die nach kandiertem Ingwer rochen.
»Scheinst sauber zu sein, alter Knabe«, erklang Deanes körperlose Stimme. »Komm doch rein!«
An der massiven Tür aus Rosenholzimitat links von den Bücherregalen fuhren Magnetbolzen zurück. Auf dem Plastikfurnier stand in abblätternden Großbuchstaben JULIUS DEANE IMPORT EXPORT. Wenn die Möbel in Deanes provisorischem Vorzimmer an das Ende des letzten Jahrhunderts erinnerten, so schien das eigentliche Büro von dessen Beginn zu stammen.
Deanes faltenloses, rosiges Gesicht musterte Case aus dem Lichtkegel einer antiken Messinglampe mit rechteckigem, dunkelgrünem Glasschirm heraus. Der Importeur war hinter einem riesigen Schreibtisch aus lackiertem Stahl verschanzt, der zu beiden Seiten von hohen Schränken aus hellem Holz mit vielen Schubfächern flankiert war. Aktenschränke, vermutete Case, wie sie in vorelektronischer Zeit zur Aufbewahrung schriftlicher Unterlagen gebräuchlich gewesen waren. Die Schreibtischfläche war übersät mit Tapes, vergilbten Schlangen bedruckten Endlospapiers und verschiedenen Teilen einer uhrwerkähnlichen Schreibmaschine; offenbar fand Deane nie die Zeit, sie zusammenzubauen.
»Was führt dich zu mir, mein Junge?«, fragte Deane und bot Case ein längliches Bonbon an, das in blau-weiß kariertes Papier eingewickelt war. »Probier mal! Ting Ting Djahe, das Beste, was es gibt.«
Case lehnte das Ingwerbonbon ab, setzte sich auf einen knarrenden Holzdrehstuhl und strich mit dem Daumen an der ausgebleichten Beinnaht seiner schwarzen Jeans entlang. »Julie, ich hab gehört, dass Wage mich umlegen will.«
»Aha. So, so. Und wer sagt das, wenn ich fragen darf?«
»Die Leute.«
»Die Leute«, wiederholte Deane, an seinem Ingwerbonbon lutschend. »Was für Leute? Freunde?«
Case nickte.
»Nicht immer ganz einfach zu unterscheiden, wer ein Freund ist und wer nicht, was?«
»Ich schulde ihm ein bisschen Geld, Deane. Hat er was zu dir gesagt?«
»Hab ihn ’ne Weile nicht gesehen.« Deane seufzte. »Falls ich natürlich was wüsste, könnt ich’s dir nicht unbedingt sagen. So wie die Dinge stehen, du weißt schon.«
»Dinge?«
»Er ist ’ne wichtige Connection, Case.«
»Ja. Will er mich killen, Julie?«
»Nicht dass ich wüsste.« Deane zuckte mit den Achseln, als verhandelten sie über den Preis von Ingwer. »Wenn es sich als unbegründetes Gerücht erweist, alter Knabe, schau in ’ner Woche oder so wieder bei mir rein. Dann hab ich ’ne Kleinigkeit für dich, aus Singapur.«
»Vom Nan Hai Hotel in der Bencoolen Street?«
»Kannst auch nichts für dich behalten, alter Knabe!« Deane grinste. In dem Schreibtisch steckte ein Vermögen an Geräten, die verhindern sollten, dass er abgehört wurde.
»Bis dann, Julie! Ich werd Wage von dir grüßen.«
Deanes Finger strichen über den perfekten Knoten seiner hellen Seidenkrawatte.
Er war noch keinen Block von Deanes Büro entfernt, als es ihn wie ein Blitz traf. Es war eine plötzliche Wahrnehmung auf zellularer Ebene: Jemand war ihm auf den Fersen, dicht auf den Fersen.
Die Kultivierung einer gewissen harmlosen Paranoia war für Case nahezu selbstverständlich. Das Kunststück bestand darin, sie in Schach zu halten. Aber das konnte ein ganz schön schwieriges Kunststück sein mit einer Ladung Oktagonen im Leib. Er kämpfte gegen den Adrenalinschub an, setzte eine gelangweilte, leere Maske auf und tat so, als triebe er im Strom der Menge mit. Als er ein verdunkeltes Schaufenster entdeckte, gelang es ihm, davor stehen zu bleiben. Es war eine Chirurgieboutique, zwecks Renovierung geschlossen. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, starrte er durch die Scheibe auf eine flache Raute laborerzeugten Fleisches auf einem aufwendig gearbeiteten Postament aus falscher Jade. Die Farbe der Haut erinnerte ihn an Zones Huren; die leuchtende, von einem subkutanen Chip gespeiste Digitalanzeige darauf war wie eine Tätowierung. Wozu eine Operation auf sich nehmen, fragte er sich unwillkürlich, während ihm der Schweiß an den Rippen hinunterlief, wenn man das Ding ebenso gut in der Tasche bei sich tragen konnte?
Ohne den Kopf zu bewegen, hob er den Blick und musterte die vorüberziehende Menge in der spiegelnden Scheibe.
Da.
Hinter Matrosen in kurzärmeligem Kaki. Dunkles Haar, verspiegelte Brille, dunkle Kleidung, schlank …
Und weg.
Case duckte sich und rannte im Zickzack durch die Menge.
»Vermietste mir ’ne Knarre, Shin?«
Der Junge lächelte. »Zwei Stunden.« Sie standen hinter einer Sushibude an der Shiga, wo es nach frischen, rohen Meeresfrüchten roch. »Du in zwei Stunden wiederkommen.«
»Ich brauch sie sofort, Mann. Haste nicht jetzt was?«
Shin wühlte hinter leeren Zweiliterdosen, die Meerrettichpulver enthalten hatten, und zog ein schmales, in graue Plastikfolie eingewickeltes Bündel hervor. »Taser. Die Stunde zwanzig Neue Yen. Dreißig Kaution.«
»Scheiße. Das nützt mir nichts. Ich brauch ’ne Knarre. Vielleicht muss ich einen erschießen, kapiert?«
Der Kellner hob die Schultern und verstaute das Bündel wieder hinter den Meerrettichdosen. »Zwei Stunden.«
Case ging in den Laden, ohne den ausgestellten Shuriken auch nur einen Blick zu gönnen. Er hatte noch nie mit einem geworfen.
Er kaufte zwei Päckchen Yeheyuan mit einem Mitsubishi-Bank-Chip, der seinen Namen mit Charles Derek May angab. Das schlug Truman Starr – was Besseres war ihm für seinen Pass nicht eingefallen – um Längen.
Die Japanerin hinter dem Terminal sah aus, als hätte sie dem alten Deane noch ein paar Jahre voraus, allerdings ohne dafür die Segnungen der modernen Wissenschaft in Anspruch genommen zu haben. Case zog seine schmale Rolle Neuer Yen aus der Tasche und zeigte sie ihr. »Ich möchte ’ne Waffe kaufen.«
Sie deutete auf eine Vitrine voller Messer.
»Nee«, sagte er. »Ich mag keine Messer.«
Sie holte eine längliche Schachtel unter der Ladentheke hervor. Auf dem gelben Pappdeckel war eine primitive aufgerichtete Kobra mit gespreiztem Nacken aufgedruckt. In der Schachtel lagen acht identische, in Seidenpapier eingewickelte Zylinder. Case sah zu, wie die fleckigen, braunen Finger einen davon aus dem Papier schälten. Sie hielt das Ding zur Begutachtung hoch, ein mattes Stahlrohr mit einem Lederriemchen am einen und einer kleinen, bronzenen Pyramide am anderen Ende. Sie umfasste das Rohr mit einer Hand, nahm die Pyramide zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand und zog. Drei geölte, ausziehbare Spiralfedern schossen teleskopartig hervor und schnappten ein.
»Kobra«, sagte sie.
Der Himmel über dem Neongeflacker der Ninsei hatte einen hässlichen Grauton. Die Luft war schlechter geworden; an diesem Abend schien sie Zähne zu haben. Die Hälfte der Leute trug Atemschutzmasken. Case hatte zehn Minuten in einem Pissoir herumprobiert, wie er seine Kobra unauffällig bei sich verstauen könnte; schließlich hatte er sich dafür entschieden, den Griff in den Hosenbund seiner Jeans zu stecken, sodass die Röhre quer über seinem Bauch lag. Die pyramidenförmige Schlagspitze befand sich zwischen seinem Brustkorb und dem Futter der Windjacke. Er hatte nun ständig das Gefühl, das Ding würde beim nächsten Schritt klirrend auf den Boden fallen, aber damit ging es ihm schon besser.
Das Chat war eigentlich keine Bar zum Dealen, lockte jedoch an Wochentagen eine verwandte Klientel an. Freitag- und samstagabends war das anders – da waren die Stammgäste zwar größtenteils auch da, aber sie verloren sich im Gedränge der Matrosen und der Spezialisten, die es auf sie abgesehen hatten. Als Case die Tür aufstieß, suchte er nach Ratz, aber der Barkeeper war nicht zu sehen. Lonny Zone, der Stammzuhälter der Bar, verfolgte mit glasigem, väterlichem Blick, wie eins seiner Mädchen einen jungen Matrosen anzubaggern begann. Zone war abhängig von einem Hypnotikum, das die Japaner als »Wolkentänzer« bezeichneten. Als Case einen Blick des Zuhälters erhaschte, winkte er ihn zu sich an die Bar. In Zeitlupe schob sich Zone durch die Menge, das längliche Gesicht schlaff und gelassen.
»Haste Wage heut Abend schon gesehn, Lonny?«
Zone sah ihn seelenruhig wie immer an und schüttelte den Kopf.
»Bestimmt nicht?«
»Vielleicht im Namban. Vor zwei Stunden vielleicht.«
»Hat er so ’n paar Macker dabeigehabt? Einer davon dünn, dunkle Haare, vielleicht mit ’ner schwarzen Jacke?«
»Nein«, sagte Zone schließlich mit gerunzelter Stirn, um anzuzeigen, welche Mühe es ihn kostete, sich solch belangloser Details zu entsinnen. »Große Kerle. Transplantis.« Zones Augen hatten sehr wenig Weiß und noch weniger Iris; die Pupillen unter den lappigen Lidern waren geweitet und riesengroß. Er schaute Case lange ins Gesicht und senkte dann den Blick. Er sah die Wölbung der Stahlpeitsche. »Kobra«, sagte er und zog eine Braue hoch. »Willste jemand den Arsch aufreißen?«
»Tschüs, Lonny.« Case verließ die Bar.
Sein Beschatter war wieder da. Case war sich ganz sicher. Freudige Erregung durchzuckte ihn, als die Oktagone und das Adrenalin sich mit etwas anderem mischten. Dir gefällt das auch noch, sagte er sich – du bist verrückt.
Seltsamerweise war es nämlich ganz ähnlich wie ein Run in der Matrix. Wenn man entsprechend kaputt war und hoffnungslos in einer ziemlich unerklärlichen Klemme steckte, konnte man die Ninsei durchaus als Datenfeld sehen, so wie ihn die Matrix einst an die Auffaltung der Proteine erinnert hatte, die den Zellen ihre unterschiedlichen charakteristischen Eigenschaften verliehen. Dann konnte man sich mit hoher Geschwindigkeit treiben lassen und dahingleiten, total von dem Geschehen gefesselt, aber gleichzeitig völlig losgelöst, und ringsum der Reigen der Geschäfte, interagierende Informationen, fleischgewordene Daten im Labyrinth des Schwarzmarkts …
Mach schon, Case, sagte er sich. Leg sie rein! Damit würden sie am wenigsten rechnen. Er war einen halben Block von der Spielhalle entfernt, in der er Linda Lee kennengelernt hatte.
Er flitzte die Ninsei entlang und scheuchte eine Horde gemächlich dahinschlendernder Matrosen auseinander. Einer schrie ihm etwas auf Spanisch nach. Dann war er durch den Eingang. Der Lärm schlug über ihm zusammen wie eine Welle, die Unterschallbässe pulsierten in seiner Magengrube, jemand landete bei Tank War Europa einen 10-Megatonnen-Treffer; eine simulierte Luftexplosion überflutete die Spielhalle mit einem tosenden weißen Rauschen, während ein düsterrotes Feuerball-Hologramm pilzförmig aufloderte. Case schwenkte nach rechts und lief eine Treppe aus unlackierten Spanplatten hinauf. Er war einmal mit Wage hier gewesen, um mit einem gewissen Matsuga einen Deal zu besprechen, bei dem es um rezeptpflichtige Hormonauslöser ging. Er erinnerte sich an den Korridor, den schmutzigen Mattenbelag, die Reihe identischer Türen, die in winzige Büros führten. Eine Tür stand jetzt offen. Eine junge Japanerin in einem ärmellosen, schwarzen T-Shirt blickte von einem weißen Terminal auf; hinter ihrem Kopf ein Reiseposter von Griechenland, ägäisches Blau mit schnittigen Ideogrammen.
»Rufen Sie den Sicherheitsdienst rauf!«, befahl Case.
Dann lief er durch den Korridor und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die beiden letzten Türen waren geschlossen und vermutlich abgesperrt. Er wirbelte herum und rammte die Sohle seines Nylonturnschuhs gegen die blau lackierte Kunststofftür ganz am Ende. Sie sprang auf. Billiges Metall fiel aus dem zersplitterten Rahmen. Drinnen Dunkelheit und die weiße Rundung eines Monitorgehäuses. Schon war er an der Tür rechts davon, legte beide Hände um den transparenten Plastikknopf und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Etwas brach, und er war drinnen. Hier hatten er und Wage sich mit Matsuga getroffen, aber die Scheinfirma, die Matsuga betrieben hatte, gab es längst nicht mehr. Kein Terminal, nichts. Durch rußiges Plastik fiel Licht aus der Gasse hinter der Spielhalle herein. Er konnte eine gewundene Schlinge Lichtleitfasern ausmachen, die aus einer Dose in der Wand ragte, einen Haufen weggeworfener Essensbehälter und das flügellose Rumpfstück eines elektrischen Ventilators.
Das Fenster bestand aus einer einzigen Scheibe aus billigem Plastik. Case schlüpfte aus seiner Windjacke, wickelte sie sich um die rechte Hand und schlug zu. Die Scheibe bekam einen Sprung und fiel nach zwei weiteren Schlägen aus dem Rahmen. Das gedämpfte Getöse der Spielhalle wurde von einer Sirene übertönt, die entweder die zerbrochene Scheibe oder das Mädchen vorne am Korridor ausgelöst hatte.
Case wandte sich um, zog seine Jacke wieder an und fuhr mit einem Ruck die Kobra ganz aus.
Da die Tür geschlossen war, rechnete er damit, dass sein Verfolger annehmen würde, er wäre durch diejenige verschwunden, die er halb aus den Angeln gerissen hatte. Die bronzene Pyramide der Kobra begann leicht zu schwingen, weil der Stahlfederschaft seinen Pulsschlag verstärkte.
Nichts geschah. Da war nur das Sirenengeheul, der Lärm der Spiele und sein klopfendes Herz. Dann kam die Angst wie ein halb vergessener Freund. Nicht der kalte, flinke Mechanismus der Dex-Paranoia, sondern blanke, tierische Angst. Er lebte nun schon so lange am Rand der Furcht, dass er beinahe vergessen hatte, was nackte Angst war.
Dieses Zimmerchen war so ein Ort, wo Menschen starben. Vielleicht würde er hier sterben. Vielleicht hatten sie Schusswaffen.
Ein lautes Krachen am anderen Ende des Korridors. Eine männliche Stimme, die auf Japanisch etwas rief. Ein schriller Aufschrei, voller Entsetzen. Ein weiteres Krachen.
Und Schritte, die ohne Hast näher kamen.
Sie gingen an seiner geschlossenen Tür vorbei. Blieben dann stehen, drei schnelle Herzschläge lang. Und kehrten um. Eins, zwei, drei. Ein Stiefelabsatz scharrte über den Mattenbelag.
Seine vom Oktagon ausgelöste künstliche Tapferkeit bröckelte vollends ab. Er schob die Kobra in den Schaft und flitzte zum Fenster, blind vor Angst, mit kreischenden Nerven. Er war drauf, draußen und fiel, ehe er überhaupt wusste, was er tat. Beim Aufschlag auf dem Pflaster schoss dumpfer Schmerz durch seine Schienbeine.
Ein schmaler Lichtkegel aus einem halb offenen Versorgungsschacht umrahmte einen Abfallhaufen aus Glasfasern und dem Gehäuse eines kaputten Spielautomaten. Er war mit dem Gesicht voran auf eine durchnässte Spanplatte gefallen; er rollte sich herum, in den Schatten des Automaten. Das Fenster des kleinen Büros war ein matt erleuchtetes Rechteck. Die Sirene heulte immer noch, lauter hier, da die Rückwand den Lärm der Spiele dämpfte.
Ein Kopf erschien im Fenster, durch die Leuchtstoffröhren im Korridor von hinten beleuchtet, verschwand wieder, tauchte erneut auf. Case konnte die Züge nicht erkennen. Silberglanz über den Augen. »Scheiße«, sagte jemand, eine Frau, mit dem Akzent des nördlichen Sprawl.
Der Kopf verschwand. Case blieb im Schutz des Spielautomaten liegen und zählte bis zwanzig. Dann stand er auf. In der Hand hielt er noch die stählerne Kobra, aber er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu entsinnen, was es war. Dann hinkte er durch die Gasse davon und rieb sich dabei den linken Knöchel.