Crashkurs Liturgie - Liborius Olaf Lumma - E-Book

Crashkurs Liturgie E-Book

Liborius Olaf Lumma

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Beschreibung

"Ein herausragendes Werk über den katholischen Gottesdienst" – so loben viele Besprechungen den "Crashkurs Liturgie", der schon mit seiner ersten Auflage zum Standardwerk avancierte. Jetzt legt der Autor die fünfte, grundlegend neu bearbeitete Auflage vor. Eine neue Gliederung des Stoffs, wichtige Aktualisierungen, neue, übersichtliche Schautafeln und Abbildungen sowie ein Glossar, das Fachbegriffe erklärt und vertieft, markieren den Mehrwert der Neuauflage. Der Crashkurs bietet fundiertes, leicht lesbares Grundwissen über den katholischen Gottesdienst, verweist aber auch auf östliche Traditionen. Er thematisiert Eucharistiefeier, Tagzeitenliturgie, Wort-Gottes-Feiern, Sakramente und Sakramentalien, das Kirchenjahr, die Rollen in der Liturgie, Kirchenraum, Körperhaltungen und liturgische Gewänder – kurz: alles, was man über den katholischen Gottesdienst wissen sollte.

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Seitenzahl: 283

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Liborius Olaf Lumma

CRASHKURS LITURGIE

Eine kurze Einführung in den katholischen Gottesdienst

5., grundlegend neu bearbeitete Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | [email protected]

5., grundlegend neu bearbeitete Auflage

ISBN 978-3-7917-3530-6

Reihen-/Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de

Umschlagbild: Stock.adobe (wideonet)

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2024

eISBN 978-3-7917-7517-3 (pdf)

eISBN 978-3-7917-6264-7 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie unter

www.verlag-pustet.de

Inhalt

Vorwort zur 5. Auflage

Kapitel 1: Liturgie: Begriff und Bedeutung

Der Begriff der Liturgie in der Antike

Der Begriff der Liturgie in der Bibel

Der Begriff der Liturgie in der christlichen Theologie

Liturgia und pia exercitia im Konzilsdokument Sacrosanctum Concilium

Liturgie und Brauchtum in diesem Buch

Allgemeine Theorien über Liturgie?

Theologische Aspekte der Liturgie: Welt, Geschichte, Kirche

Theologische Aspekte der Liturgie: Ritual, Rollenspiel, Kultur

Theozentrische Liturgie

Kapitel 2: Zur Liturgiegeschichte

Christentum im Römischen Reich

Patriarchate, Pentarchie und Ritus

Die Entwicklung des römischen Ritus in Nord- und Westeuropa

Die Entwicklung des byzantinischen Ritus in Osteuropa

Christentum außerhalb der Reichskirche

Katholische und orthodoxe Kirche

Katholische Ritenvielfalt

Besonderheiten des römischen Ritus

Kapitel 3: Biblische Grundlagen und Geschichte der Eucharistiefeier

Eucharistiefeier – Messe

Biblische Wurzel

Auffälligkeiten der Entwicklung im 1. Jahrtausend

Auffälligkeiten der Entwicklung im 2. Jahrtausend

Reform durch das II. Vatikanische Konzil

Strukturelemente und ihre theologische Bedeutung

Anamnese

Epiklese und Doxologie

Katabasis und Anabasis

Essen und Trinken

Priestertum aller Getauften

Opfer – Dank – Mahl – Gedächtnis

Heutige Herausforderungen

Kapitel 4: Ablauf der Eucharistiefeier – Liturgie des Wortes

Eröffnungsteil

Liturgie des Wortes

Biblisches Wort und liturgische Gegenwart

Leseordnung an Sonntagen

Leseordnung an Werktagen

Leseordnung in der Praxis

Homilie

Credo und Allgemeines Gebet

Eucharistische Liturgie

Gabenbereitung

Eucharistisches Hochgebet

Kommunionvorbereitung

Kommunion

Abschlussriten

Ordo – Ordinarium – Proprium

Kapitel 5: Oration und Eucharistisches Hochgebet

Strukturelemente der Oration

Elemente der Collecta

Variationen

Eucharistisches Hochgebet

Einleitungsdialog

Präfation

Sanctus

Wandlungsepiklese und Einsetzungsworte

Exkurs: Wandlung, Transsubstantiation, Realpräsenz

Akklamation

Spezielle Anamnese und Darbringungsformel

Kommunionepiklese

Interzessionen

Doxologie und Amen

Canon Romanus und Chrysostomos-Anaphora

Kapitel 6: Rollen in der Liturgie

Versammlung

Ordination / Weihe

Bischof

Presbyter (Priester)

Ordination und Macht

Diakon

Laien in der Liturgie

Gottesdienstleiterin / Gottesdienstleiter

Predigerin / Prediger

Kommunionhelferin / Kommunionhelfer

Lektorin / Lektor

Kirchenmusik

Ministrantin / Ministrant

Lektorin / Lektor – Akolythin / Akolyth

Frauenordination und Zölibat

Kapitel 7: Kirchenraum, Körperhaltung und liturgische Gewänder

Biblische Aspekte

Basilika

Die weitere Entwicklung im Westen

Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Konzilsbeschlüsse zum Kirchenraum?

Gebetsrichtung

Ellipse als Grundform

Körperhaltungen, Gesten und Kirchenbänke

Liturgische Gewänder

Albe

Weitere Gewänder

Zum Sinn liturgischer Kleidung

Kapitel 8: Tagzeitenliturgie

Tagzeitenliturgie – Stundengebet – Offizium – Brevier

Religiöse Deutung weltlicher Phänomene

Sonnenuntergang – Nacht – Sonnenaufgang – Tag

Mönchische Gebetspraxis

Mischformen aus mönchischer und städtischer Gebetspraxis

Zur Geschichte der Tagzeitenliturgie im römischen Ritus

Die Tagzeiten heute

Gemeinschaftsliturgie und Privatgebet in den christlichen Kirchen

Kapitel 9: Vesper und Komplet

Erste Vesper und Zweite Vesper

Alte Elemente: Luzernar und Weihrauchdarbringung

Eröffnung

Hymnus

Psalmodie

Antiphonales Singen

Responsoriales Singen

Psalmen als Gebete?

Lesung und Responsorium

Homilie

Magnificat

Fürbitten – Gebet des Herrn – Oration – Segen – Entlassung

Vierwochenpsalter

Laudes

Komplet

Kapitel 10: Kirchenjahr

Anlässe für Festtage und Festzeiten

Ostern – Osterfestkreis

Aschermittwoch – Österliche Bußzeit

Palmsonntag – Heilige Woche

Hoher Donnerstag – Karfreitag – Karsamstag

Osternacht

Osteroktav – Osterzeit

Weihnachten – Weihnachtsfestkreis – Epiphanie

Jahreskreis

Weitere Feste

Hochfest – Fest – Gedenktag

Sonntag

Liturgische Farben

Kapitel 11: Sakramente

Sakramente als Realsymbole

Siebenzahl der Sakramente

Initiation: Taufe, Firmung und Eucharistie

Erwachseneninitiation

Leitung von Taufe und Firmung

Sakrament der Versöhnung

Krankensalbung

Ordo und Ehe

Kapitel 12: Sakramentalien und pia exercitia

Sakramentalien

Segnungen

Begräbnis

Wort-Gottes-Feier

Ökumenische Liturgien

Pia exercitia

Eucharistische Frömmigkeit

Passions- und Weihnachtsfrömmigkeit

Marianische Frömmigkeit

Heiligenverehrung – Wallfahrten

Taizé-Gebet – neue Modelle der Tagzeitenliturgie

Neue liturgische Formen – elementarisierte Liturgien

Ikonenverehrung

Kerzen

Übersichten

Die Gemeinschaft der orthodoxen Kirchen

Die Teilkirchen der katholischen Kirche und ihre Riten

Eucharistiefeier an gewöhnlichen Sonntagen

Eucharistiefeier nach dem Messbuch von 1962 und dessen Überarbeitung von 1965

Eucharistiefeier im „kongolesischen Ritus“ von 1988

Eucharistiefeier im byzantinischen Ritus

Lesungen für die Sonntage im Jahreskreis, Lesejahr C

Propriumsgesänge des 1. Sonntags der Österlichen Bußzeit in deutscher Übersetzung

Die Vollform der Oration

Tagesgebet vom 23. Sonntag im Jahreskreis

Tagesgebet vom 12. Sonntag im Jahreskreis

Gebet zum Abschluss der „Friedensektenie“

Drittes Hochgebet

Canon Romanus (Erstes Hochgebet)

Chrysostomus-Anaphora

Die Liturgia Horarum

Struktur der einzelnen Tagzeiten in der Liturgie Horarum

Sacrosanctum Concilium zur Tagzeitenliturgie

Der Ablauf der Vesper

Psalmen und Cantica der Vesper im Vierwochenpsalter

Die Komplet in verschiedenen Epochen

Osterfestkreis

Osternacht

Exsultet

Weihnachtsfestkreis

Hochfeste und Feste am Beispiel des Bistums Innsbruck

Die Feier der Kindertaufe

Die Initiation Erwachsener in die katholische Kirche

Die Segnung eines Christusbildes

Begräbnisfeier

Wort-Gottes-Feier

Angelusgebet

Anhang

Glossar

Abkürzungen biblischer Bücher

Literaturhinweise

Bildnachweis

Vorwort zur 5. Auflage

Im Jahr 2010 gab mir der Verlag Friedrich Pustet zum ersten Mal die Gelegenheit, den „Crashkurs Liturgie“ zu veröffentlichen, der aus einer Einführungsvorlesung an der Universität Innsbruck entstanden war. Das Buch fand schnell seine Leserschaft, sodass 2012 eine zweite und 2015 eine dritte Auflage erscheinen konnte; die dritte Auflage wurde 2018 unverändert nachgedruckt. Jedes Mal konnte ich Aktualisierungen und Korrekturen vornehmen und einige neu gewonnene Erkenntnisse ins Manuskript eintragen.

Ich halte den „Crashkurs“ weiterhin regelmäßig als Vorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, seit einigen Jahren auch an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen (Südtirol), 2021 kam noch ein Intermezzo an der Universität Augsburg hinzu. Darüber hinaus habe ich viel Resonanz von Leserinnen und Lesern des Buches bekommen: von Studentinnen und Studenten, von Mitgliedern katholischer Pfarrgemeinden, von kulturgeschichtlich und religionskundlich Interessierten sowie von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern.

Mit der 5. Auflage war es an der Zeit, das Buch umfassend zu überarbeiten und dabei die Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern, von Studentinnen und Studenten einfließen zu lassen. Ich habe mich entschieden, begriffliche und systematische Vorbemerkungen an den Anfang zu stellen. Das alte Kapitel 13 wurde daher in Kapitel 1 integriert und um weitere Überlegungen ergänzt. Zwar muss eine sachgerechte Darstellung immer bei den Einzeldingen ansetzen und darf erst im Nachhinein zusammenfassende Theorien bilden. Es scheint mir aber sinnvoll, den Leserinnen und Lesern von vornherein eine „Lesebrille“ anzubieten, damit sie sich leichter im Thema zurechtfinden. Ich hoffe, dass auf diese Weise das selbstständige Denken nicht erschwert, sondern erleichtert wird. Kapitel 2 über Liturgiegeschichte, Ökumene und Riten benötigte einige nähere Erläuterungen. Das Buch hat somit nur noch 12 statt 13 Kapitel, dafür sind Kapitel 1 und 2 nun deutlich länger als die folgenden.

Kapitel 3 bis 5 über die Eucharistiefeier habe ich völlig neu gegliedert. Die Kapitel behandeln das Thema nun von außen nach innen: Zuerst geht es um einen historischen Überblick und grundsätzliche theologische Hinweise (Kapitel 3), dann um eine Beschreibung des heutigen Ablaufs inklusive eines näheren Blicks auf die Liturgie des Wortes (Kapitel 4), schließlich um Detailbeobachtungen an Orationen und Hochgebeten (Kapitel 5).

Kapitel 6 bis 12 habe ich weitgehend beibehalten, aber sprachlich überarbeitet und inhaltlich aktualisiert, vor allem unter Berücksichtigung laufender innerkirchlicher und fachwissenschaftlicher Diskussionen. Neu eingefügte Abschnitte behandeln die Bedeutung der Versammlung (Kapitel 6) sowie Gesten und Körperhaltungen (Kapitel 7). Die Bilder in Kapitel 7 sind ausgetauscht.

Erstmals hat das Buch ein Glossar erhalten (Anhang 1), das als kleines Liturgielexikon verwendet werden kann: Es enthält zahlreiche Fachbegriffe mit Verweisen auf die betreffenden Buchkapitel, fügt manchmal nähere Erläuterungen hinzu und bietet darüber hinaus zahlreiche weitere Begriffe rund um die Liturgie, die im Buch anderswo keinen Platz gefunden haben. Es war aber weder möglich noch sinnvoll, im Buch vollständig auf Fachbegriffe zu verzichten, denn diese sind oft notwendig für das präzise Verständnis der Sache, um die es geht, sowie für die selbstständige Beschäftigung mit Fachliteratur, zu der dieses Buch einladen will. Darüber hinaus ist die Kenntnis der Wortherkunft oft für das Verständnis hilfreich. Ich hoffe aber, dass das Buch auch für all diejenigen gut nachvollziehbar bleibt, die es nicht so sehr aus wissenschaftlichem, sondern eher aus praktischem Interesse lesen, beispielsweise um die eigene Mitwirkung an katholischen Gottesdiensten besser zu verstehen.

Ich hoffe, dass diese Neuauflage für die nächsten Jahre ihren Zweck erfüllt, Grundverständnis für Inhalte und Ausdrucksformen katholischer Liturgie zu vermitteln und zur Lektüre fachwissenschaftlicher Literatur zu befähigen. Mein Dank gilt auch den studentischen „Versuchskaninchen“, die die neu gestaltete Crashkurs-Vorlesung in Innsbruck, Brixen und Augsburg als erste gehört und durch ihre Anfragen und Rückmeldungen das Manuskript mitgestaltet haben.

Ich widme diese 5. Auflage allen meinen Freundinnen und Freunden in den orthodoxen Kirchen und den katholischen Ostkirchen. Ihre eindrucksvolle Kultur und Theologie steht in diesem Buch zwar nicht im Zentrum, bildet für mich aber die wichtigste Vergleichsgröße zum Verständnis römisch-katholischer Liturgie.

Kapitel 1

Liturgie: Begriff und Bedeutung

Was versteht man unter dem Begriff Liturgie? Die Antwort auf diese Frage kann in unterschiedlicher Weise gegeben werden, denn das aus dem Griechischen stammende Wort Liturgie wurde und wird in der wissenschaftlichen Fachsprache und in der religiösen Praxis nicht einheitlich verwendet.

Dieses einleitende Kapitel soll die schillernde Begriffsgeschichte kurz bündeln und einige Charakteristika und theologische Deutungsmodelle der Liturgie vorstellen.

Dieses Buch widmet sich der Einführung in die katholische Liturgie, genauer gesagt in die römisch-katholische Liturgie (siehe dazu Kapitel 2). Oft ist es dabei hilfreich – manchmal sogar notwendig –, den Blick auch auf andere Ausdrucksformen des Christentums sowie auf das Judentum als seine Ursprungsreligion zu richten. Dies geschieht vor allem durch vergleichende Gegenüberstellungen sowie durch Informationen zur geschichtlichen Entwicklung.

Andere Religionen werden in diesem Buch nicht vorkommen. Insofern spielt es hier auch keine Rolle, in welcher Form der Fachbegriff Liturgie in der Religionswissenschaft, der Soziologie, der Kunstgeschichte oder anderen Kulturwissenschaften verwendet wird.

Der Begriff der Liturgie in der Antike

Das griechische Wort leitourgia (geschrieben λειτουργία – es wird das einzige Mal bleiben, dass in diesem Buch griechische Buchstaben vorkommen!) leitet sich von den Wortbestandteilen laos (Volk) und ergon (Werk) ab, man könnte es als Dienst an der Allgemeinheit wiedergeben. In der Antike bezeichnet leitourgia zum Beispiel die Steuern, die die Bürger für die öffentliche Verwaltung zu entrichten haben, oder auch die Verwaltungsaufgaben als solche. Dazu können auch religiöse Tätigkeiten gehören, etwa die Organisation und Durchführung von Opferfesten oder Theaterspielen zu Ehren einer örtlichen Gottheit.

Der Begriff der Liturgie in der Bibel

Etwa ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. übertragen jüdische Gelehrte ihre Heilige Schrift aus dem Hebräischen ins Griechische als vorherrschende Kultursprache. Sie übernehmen den Begriff leitourgia, um den kultischen Dienst der Priester am Jerusalemer Tempel zu bezeichnen, besonders das Darbringen aller Arten von Opfer gemäß der Lebensweisung Gottes für das Volk Israel, der Tora (Fachbegriffe wie hier Tora werden im Anhang ab Seite 170 näher erläutert).

Auf der Grundlage der Botschaft Jesu und der Erzählungen rund um seinen Tod entsteht etwa ab dem Jahr 30 eine neue jüdische Gruppierung, die sich auch für Nichtjuden öffnet, sich von anderen jüdischen Richtungen abgrenzt und schließlich eigenständig weiterentwickelt: das Christentum. Der bestehenden Sammlung heiliger Schriften werden im Christentum weitere Texte hinzugefügt. So kommt es zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Altem (nicht im Sinne von veraltet, sondern bereits früher überliefert) und Neuem Testament, die gemeinsam die christliche Bibel bilden.

Das Neue Testament wird ausschließlich auf Griechisch verbreitet. Der Begriff leitourgia findet sich nun zur Deutung der Lebenshingabe Jesu Christi am Kreuz. Besonders der für heutige Leserschaft nur schwer zugängliche Hebräerbrief (besonders Hebr 5–10), der genaue Kenntnisse des Jerusalemer Tempelkults voraussetzt, versteht den Kreuzestod Jesu als einzig wahre leitourgia, durch die jede weitere leitourgia überflüssig geworden ist (im Anhang Seite 195 f. findet sich eine Liste der Abkürzungen aller biblischen Bücher).

Daneben kennt Phil 2,7 auch die „leitourgia des Glaubens“: Die Annahme der Botschaft Jesu ist demnach die angemessene Art, sich Gott so hinzugeben wie dies eine Opfergabe auf dem Altar des Tempels tut.

Hinter dem Liturgiebegriff des Neuen Testaments steht durchaus dieselbe Grundidee wie hinter dem des Alten Testaments. Demnach geschieht Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit durch rituelle Handlungen, vor allem durch Opferkulte. Insbesondere lassen sich durch Opferhandlungen Beziehungen zwischen Mensch und Gott wiederherstellen, die durch menschliches Fehlverhalten immer wieder beschädigt werden. Wenn der Hebräerbrief den Begriff leitourgia auf den Kreuzestod Jesu anstatt wie zuvor üblich auf die Tempelopfer bezieht, drückt er damit aus, dass Jesus Christus in seiner Lebenshingabe den eigentlichen Sinn aller Opfer erfüllt. Dieser Sinn besteht nämlich nicht darin, unabhängig von der eigenen Lebensgestaltung rituelle Ersatzleistungen zu erbringen und dadurch Gott zufriedenzustellen. Vielmehr sollen alle Opfer dazu dienen, dass Menschen sich selber Gott hingeben und sich ihm als dem Schöpfer und Bewahrer anvertrauen, mit allen Konsequenzen, die das für die eigene Lebensführung haben kann. Diese Thematik taucht übrigens schon im Alten Testament auf, wenn Propheten einen von der Lebensführung losgelösten Opferkult mit scharfen Worten kritisieren (zum Beispiel Jes 1,11–17 oder Am 5,21–24).

Das alles wird dadurch deutlich, dass Jesus seine ganze Existenz nach dem Willen seines göttlichen Vaters ausrichtet (Mt 26,39; Lk 2,49) und diesem Weg sogar dann noch treu bleibt, als es ihn das Leben kostet: Er vertraut Gott mehr als allem Irdischen. Diese Form der Lebensführung erweist sich als die einzige gegenüber Gott wirklich angemessene „Liturgie“.

Judentum wie Christentum werden in ihrer Entwicklung erheblich durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. beeinflusst. Nach dem Verlust des zentralen Kultortes Israels kann das Christentum seine Deutung des Kreuzestodes Jesu als eigentlicher Liturgie nachhaltig etablieren. Im Judentum setzt sich ein anderes Denkmodell durch: Den Platz des Tempelkultes übernimmt nun das Studium der Tora. So bildet sich das rabbinische Judentum heraus: Maßgebliche Autorität sind spätestens ab dem 3. Jahrhundert die Rabbiner (Lehrer) – in jüngster Zeit auch Rabbinerinnen –, die über anerkannte Autorität in der Auslegung der Tora verfügen. Übrigens: Der weltweit verbreitete Name Cohen (auch Kohn, Kahn, Kogon u. Ä.) kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Priester. Da das Priesteramt im Judentum vererbt wird, stammen heutige Trägerinnen und Träger dieses Namens in aller Regel von einer alttestamentlichen Priesterfamilie ab. Seit dem Verlust des Tempels haben Priester im Judentum aber nur noch eine geringe zeremonielle Funktion ohne jede geistliche Autorität.

Nur an einer einzigen Stelle des Neuen Testaments findet sich der Begriff leitourgia in einem Zusammenhang, der an ein gemeinschaftliches Ritual denken lässt. In Apg 13,2 heißt es: „als sie für den Herrn Liturgie hielten (leitourgounton) und fasteten …“ Leider gibt diese Textstelle keine Auskunft darüber, worum es sich dabei konkret handelte.

Der Begriff der Liturgie in der christlichen Theologie

In der späteren christlichen Theologie bilden sich unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs Liturgie heraus.

Eine dieser Verwendungsweisen reserviert den Begriff Liturgie für ein einziges Ritual, nämlich die Eucharistiefeier (Kapitel 3–5), die dann meist Göttliche Liturgie oder Heilige Liturgie heißt. Diese Begrifflichkeit wurde überall dort gebräuchlich, wo sich das Christentum in den ersten Jahrhunderten in griechischer Sprache entwickelte, das heißt im östlichen Mittelmeerraum und vielen Gebieten, die von dort das Christentum übernahmen, zum Beispiel Osteuropa, der arabische Raum und weite Teile (Ost-)Afrikas (Kapitel 2).

Anders verhält es sich in jenen Gebieten, in denen sich das Christentum in lateinischer Sprache ausbildet: der westliche Mittelmeerraum und alle Regionen, die von dort her mit dem Christentum vertraut gemacht werden, darunter auch Nord- und Westeuropa inklusive des deutschen Sprachraums. Lateinischsprachige Gelehrte verwenden das griechische Wort leitourgia lange Zeit überhaupt nicht. Für die christlichen Rituale etablieren sich andere Wörter, etwa officium oder ministerium (beide bedeuten Dienst/Pflicht) oder opus Dei (Gottesdienst). Erst ab dem 16. Jahrhundert begegnet häufiger die lateinische Schreibweise liturgia, die genaue Verwendung bleibt aber lange Zeit uneindeutig.

Liturgia und pia exercitia im Konzilsdokument Sacrosanctum Concilium

Im 20. Jahrhundert wird in der katholischen Theologie um eine sinnvolle und einheitliche Verwendung des Begriffs liturgia gerungen, bis sich schließlich das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) in seiner Konstitution über die heilige Liturgie, die nach ihren lateinischen Anfangsworten Sacrosanctum Concilium heißt und als SC abgekürzt wird, einer der vorgeschlagenen Begriffsverwendungen anschließt.

Das Konzil unterscheidet zwischen sacra liturgia (heilige Liturgie, man könnte hier von „Liturgie im engeren Sinn“ sprechen) und pia exercitia (fromme Übungen, man könnte auch „religiöse Bräuche“ übersetzen).

Die eigentliche Liturgie, also die sacra liturgia, ist daran erkennbar, dass sie für die gesamte katholische Kirche verbindlich geordnet ist. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass der Papst (Kapitel 2) ein Buch herausgibt, in dem der Ablauf, die einzelnen Elemente, Texte, Handlungen usw. festgelegt sind.

Die pia exercitia hingegen unterliegen keiner solchen Normierung. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „Brauch“: Sie werden privat, in kleinen Gruppen oder möglicherweise auch weltweit in der katholischen Kirche eingeführt, erprobt, verändert, abgeschafft oder geraten wie von selbst außer Mode. – Als Zwischenkategorie nennt das Konzil noch sacra exercitia (heilige Übungen). Das sind Rituale, die zwar nicht für die gesamte Weltkirche, aber für einzelne Regionen durch die dort zuständigen Bischöfe (Kapitel 6) festgelegt sind.

Die Unterscheidung zwischen Liturgie und Brauchtum ist also zunächst eine rein juristische. Man kann einem Ritual nicht von außen ansehen, ob es sich um eine Liturgie oder um Brauchtum handelt. Mehr noch: Durch einen päpstlichen Federstrich kann ein Ritual von heute auf morgen von einem exercitium zur liturgia werden, ohne dass sich am Ritual selber etwas ändert.

Dennoch ist die Unterscheidung wichtig, denn laut SC 13 bildet die Liturgie den weltkirchlichen Orientierungspunkt, an dem das Brauchtum zu messen ist. Kurzum: Die Liturgie ist theologisch wichtiger als die exercitia. An der Liturgie soll die Identität der katholischen Kirche erkennbar sein, in der Liturgie ist die Kirche ganz bei sich selbst und schöpft aus ihren zentralen Quellen, und das sogar über Generationen hinweg. Liturgie will die Grenzen von Zeit und Raum sprengen, so wie ja auch die Kirche immer größer ist als eine zu einer konkreten Feier versammelte Gruppe von Personen. Auch wenn die Liturgie – wie wir noch sehen werden – immer wieder Änderungen, Anpassungen und Weiterentwicklung erfährt, soll sie doch nicht der Willkür einzelner Personen oder kleiner Gruppen unterliegen. Sie steht unter dem Anspruch, raum- und zeitübergreifender Ausdruck des christlichen Glaubens zu sein. Daher ist sie verbindlich normiert. Die exercitia dienen dagegen eher der Pflege individueller Spiritualität, dem Ausdruck des Lebensgefühls, der Hoffnungen und Nöte einer Gruppe von Personen, einer Region oder einer ganzen Epoche.

Es lässt sich leicht erahnen, dass manchmal die exercitia populärer sind als die Liturgie. Manche Formen von Liturgie sind selbst unter engagierten Katholiken kaum bekannt.

Dazu ein Beispiel: Katholische Priester (Kapitel 6) sind verpflichtet, die Tagzeitenliturgie (Kapitel 8–9) zu feiern: möglichst gemeinschaftlich mit anderen Menschen, notfalls aber für sich allein. Für die Tagzeitenliturgie gibt es ein kirchlich verantwortetes Buch – mittlerweile auch in digitaler Form! –, in dem Ablauf und Inhalt festgelegt sind. Wie alle liturgischen Bücher hat auch das Buch für die Tagzeitenliturgie eine vom Papst herausgegebene lateinischsprachige Fassung, denn Latein ist auch heute noch die offizielle Liturgiesprache der katholischen Kirche. Aus der lateinischen Fassung entstehen dann Fassungen in vielen weiteren Sprachen, wobei nicht immer Wort-für-Wort-Übersetzungen erstellt, sondern auch manche größeren Anpassungen an die regionalen Gegebenheiten vorgenommen werden. Selbstverständlich fallen auch diese Varianten unter den Begriff der Liturgie, auch wenn sie auf die jeweiligen Sprachgemeinschaften beschränkt sind, während die lateinische Fassung immer für die gesamte Weltkirche gültig ist.

Anders die Fronleichnamsprozession (Kapitel 12). Sie entstand im 13. Jahrhundert und ist vielerorts auch heute noch von hoher Bedeutung für das soziale Zusammenleben, das Selbstverständnis und die religiöse Prägung katholischer Gemeinden. Trotzdem ist die Fronleichnamsprozession keine weltkirchlich normierte Liturgie. Sie ist ein exercitium, das gemäß örtlichen Gewohnheiten gestaltet und immer wieder verändert wird. Eine Katholikin, die auf ihrem Wohnzimmersessel die Tagzeitenliturgie hält, feiert also Liturgie im Sinne des Konzils – auch wenn der Rest der Welt davon nichts mitbekommt. Tausende von Katholiken, die zu Fronleichnam mit ihrem Bischof und mit Musikkapellen über aufwändig geschmückte Straßen ziehen, vollziehen hingegen nichts anderes als „frommes Brauchtum“!

Liturgie und Brauchtum in diesem Buch

Beschäftigt man sich wissenschaftlich mit Liturgie, wird man auch das Brauchtum in den Blick nehmen; der Begriff Liturgiewissenschaft ist also weit gefasst. Dennoch ist sich die Liturgiewissenschaft der theologischen Gewichtung bewusst, die das Konzil vorgenommen hat. So ergibt sich auch der Aufbau dieses Buches, der an Sacrosanctum Concilium angelehnt ist:

Am ausführlichsten wird die Eucharistiefeier behandelt (Kapitel 3–5), sie ist die theologisch und historisch wichtigste Liturgie.

Ebenfalls breiten Raum erhält die Feier der Tagzeiten (Kapitel 8–9). Sie bildet zusammen mit der Eucharistiefeier das Grundgerüst der Liturgie. Sie ist aber besonders erklärungsbedürftig, da sie trotz ihres hohen theologischen Stellenwertes vielen Katholiken unbekannt ist.

Im Überblick kommen die Sakramente (Kapitel 11) zur Sprache – wobei auch zu klären sein wird, was eigentlich ein Sakrament ist –, daran schließen sich kursorisch alle anderen Rituale der katholischen Kirche an (Kapitel 12), von denen einige noch zur Liturgie gezählt werden, andere in die Kategorie der pia exercitia fallen.

Eingeschoben sind Exkurse zu den handelnden Personen (Kapitel 6), zum Ort der Liturgie und zu den liturgischen Gewändern (Kapitel 7) sowie zu Festtagen und Festzeiten (Kapitel 10).

Vorangestellt ist ein kurzer geschichtlicher Überblick (Kapitel 2).

Allgemeine Theorien über Liturgie?

Zur Liturgie – ganz gleich ob man den Begriff eng oder weit fasst – gehört also eine Fülle einzelner Rituale. Jedes davon hat seine eigene Identität und seinen eigenen Wert. Daher ist die Analyse und das Verständnis jedes Rituals als einzelnem wichtiger als die Bildung von Theorien und Meinungen über die Liturgie als ganze.

Für die Lektüre dieses Buches dürfte es trotzdem hilfreich sein, bestimmte Grundüberlegungen von vornherein mitzunehmen. Damit soll nicht den vielen einzelnen Ritualen eine übergreifende Theorie übergestülpt werden, sondern es soll eine „Lesebrille“ angeboten werden, die sich in der Liturgiewissenschaft bewährt hat. In diesem Sinne daher jetzt noch einige allgemeine Vorbemerkungen.

Theologische Aspekte der Liturgie: Welt, Geschichte, Kirche

Liturgie geht davon aus, dass für die menschliche Existenz vieles von entscheidender Bedeutung ist, das man nicht sehen, messen oder berechnen kann. Liturgie hat Bezug zur Transzendenz („über die Welt hinaus“), wobei diese Transzendenz im Christentum Gott heißt. Mit Gott sind bestimmte Vorstellungen und Überzeugungen verbunden, und Gott wird in der Liturgie namentlich angesprochen.

Liturgie deutet die Existenz des Menschen, indem sie Erfahrungen, Hoffnungen, Überzeugungen, Werte usw. offenlegt, die nicht an der Welt ablesbar sind. Liturgie ist in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit Musik, Literatur, Film oder Malerei.

Liturgie verweist immer über das hier und jetzt hinaus. Sie verweist rückwärts in die Geschichte auf Erfahrungen, Erzählungen und Existenzdeutungen, nimmt diese Überlieferungen auf, bringt sie in die Gegenwart ein und trägt sie weiter (nichts anderes bedeutet das Wort Tradition). Liturgie verweist auch vorwärts in die Geschichte, indem sie Zukunftshoffnungen zum Ausdruck bringt und den Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, schon hier und jetzt von dieser Zukunftshoffnung geprägt zu werden. In der Liturgie fallen somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins.

Dabei geht es nicht um irgendwelche beliebigen Erfahrungen und Hoffnungen, sondern konkret um christliche Erfahrungen und Hoffnungen, die nicht ohne die jüdische Herkunft des Christentums verständlich sind. Es stehen also nicht individuelle Erfahrungen und Hoffnungen im Mittelpunkt, sondern gemeinschaftliche. Die Gemeinschaft, die sich über diese Erfahrungen und Hoffnungen definiert, ist die Kirche. Liturgie ist demnach der Ort, an dem die Kirche ihre eigene Identität erhält und vertieft, und zwar als eine Gemeinschaft, die immer über die konkret versammelte Personengruppe hinausweist: in die ganze Welt, aber auch in die Vergangenheit und in die Zukunft.

In der Liturgie steht das Wir der Kirche im Vordergrund: Daher sollen nicht einzelne Personen der Liturgie ihren Stempel aufdrücken, sondern es sollen umgekehrt die einzelnen Menschen in eine große Gemeinschaft hineingenommen werden.

Liturgie ist Versammlung der Kirche. Es gibt zwar Liturgien, die von Einzelpersonen abseits jeder Öffentlichkeit gefeiert werden. Das ist aber immer nur eine abgeleitete Form, die dem, worum es eigentlich geht, nur begrenzt gerecht werden kann, nämlich dem gemeinschaftlichen, kirchlichen Glauben.

Theologische Aspekte der Liturgie: Ritual, Rollenspiel, Kultur

In der Liturgie geht es darum, etwas, das man nicht sehen, messen oder berechnen kann, dennoch zugänglich und erfahrbar zu machen. Daher bedient sich die Liturgie symbolischer Handlungen: Sie ist Ritual (beziehungsweise eine Verbindung vieler kleiner Rituale).

Die liturgischen Symbole sind der menschlichen Erfahrungswelt entnommen, ansonsten könnte der Mensch das Symbol gar nicht erfassen. Die Symbole werden aber in der Liturgie verdichtet (vereinfacht), verfremdet oder übersteigert. Zum Beispiel wird in der Eucharistiefeier (Kapitel 3–5) Brot gegessen, aber nicht etwa belegtes, getoastetes oder gewürztes Brot, sondern ungesäuertes pures Weizenbrot (Verdichtung des Symbols). Am Aschermittwoch (Kapitel 10) wird den Menschen Asche auf das Haupt gestreut: Eine aus dem Alltag bekannte Materie wird auf eine nicht-alltägliche Weise verwendet (Verfremdung des Symbols). Die Taufe (Kapitel 11) wird mit Wasser vorgenommen, aber nicht mit irgendwelchem Wasser, sondern mit gesegnetem Wasser, das speziell für die Taufe hergerichtet wurde (Übersteigerung des Symbols).

Der Umgang mit liturgischen Symbolen wird in der katholischen Kirche immer wieder heiß diskutiert. Auf der einen Seite wird gefordert, Symbole sollten möglichst eng an die alltägliche Erfahrungswelt des Menschen anschließen. Demnach müsste die liturgische Symbolik auch kontinuierlich an geänderte Erfahrungswelten der Menschen angepasst werden. Auf der anderen Seite wird gefordert, Symbole sollten bewusst aus dem Alltag herausführen. Demnach müsste der Mensch bereit sein, sich auf das Symbol einzulassen, anstatt dass sich das Symbol dem Menschen anpasst.

Auch die Menschen werden in der Liturgie selber zu Symbolen: Nicht alle tun das gleiche, sondern einzelne Personen übernehmen bestimmte Rollen und treten so in eine besondere Beziehung zu den anderen Anwesenden (Kapitel 6). Man kann Liturgie daher als Rollenspiel bezeichnen. Problematisch wurde die Rollenaufteilung in der Liturgiegeschichte vor allem dann, wenn daraus die Unterscheidung zwischen Bühne und Zuschauerraum wurde, so als würden nur einige wenige die Liturgie durchführen, während andere sie dabei beobachten. Demgegenüber ist festzuhalten, dass schon das Sich-Versammeln eine liturgische Rolle ist, die im Ritual auch erlebt werden kann (Kapitel 4).

Liturgie ist geschichtlich entstanden, entwickelt und verändert worden. Die Liturgie von heute ist das Ergebnis eines tausende Jahre währenden Prozesses, der auch in Zukunft weitergeht. Dazu gehören langsame, sogar manchmal unbewusste Entwicklungsschritte genauso wie kurzfristig beschlossene und dann konkret umgesetzte Reformen.

Liturgie ist geordnet. An Liturgie teilzunehmen bedeutet, sich in eine Ordnung hineinzubegeben und diese mitzutragen. Das muss keineswegs heißen, dass jede kleinste rituelle Handlung exakt vorgeschrieben ist: Ordnung kann manchmal auch durch eine Führungspersönlichkeit entstehen, die Entscheidungen trifft, an die sich alle anderen spontan und freiwillig halten. – Wie bereits gesagt, sind die Liturgien in der katholischen Kirche in liturgischen Büchern geordnet, die der Papst herausgibt bzw. deren Herausgabe er zustimmen muss. Es wird innerkirchlich durchaus kritisiert, dass die letzte Entscheidung allein beim Papst liegt; möglicherweise werden sich diese Verfahrensregeln in Zukunft ändern. Vor allem aber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wie detailgenau man sich überhaupt an liturgische Bücher halten muss. Die Bücher selbst bieten ohnehin an vielen Stellen Anpassungsoptionen, Elemente zur freien Auswahl und Ähnliches. Für diesen Crashkurs werden die Liturgien anhand der offiziellen liturgischen Bücher erläutert. Hin und wieder sollen aber auch verbreitete Abweichungen oder theologische Kritikpunkte zur Sprache kommen.

Zu guter Letzt: Liturgie ist die zentrale kulturelle Ressource der Kirche. Christentum existiert nicht nur als ein Überzeugungssystem, sondern auch als eine Lebensweise, die sich in der Liturgie kulturell verdichtet. Wesentliche Elemente vor allem der westeuropäischen Kulturgeschichte sind auf die christliche Liturgie bezogen: Musik, Architektur, Schrift, Sprache, sogar Mathematik und Physik stehen in ihrer Entwicklungsgeschichte in enger Beziehung zur Liturgie.

Theozentrische Liturgie

Hinter all dem steht das Grundverständnis der Liturgie als theozentrisch: Im Mittelpunkt steht die Begegnung des Menschen mit Gott (griechisch theos), die im Ritual ermöglicht wird, die aber nie erzwungen werden kann, so wie auch Gott selbst dem menschlichen Willen entzogen ist. Da die Liturgie Ort der Gottesbegegnung ist, geht sie der Kirche als Glaubensgemeinschaft letztlich voraus: Sie ist die Grundlage dessen, was Kirchesein bedeutet. Das II. Vatikanische Konzil ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Liturgie der Reform bedarf, um ihr Potenzial auch in der Gegenwart entfalten zu können, und hat daher eine Liturgiereform entworfen. Es wäre aber ein Missverständnis, die Liturgie nun anthropozentrisch zu verstehen (griechisch anthropos, Mensch), dass also nicht mehr Gott, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.

Auch wenn dieses Buch nicht umhinkommt, die Liturgie immer wieder recht kleinschrittig zu beschreiben, will es dennoch dem weit verbreiteten anthropozentrischen Missverständnis keinen Vorschub leisten. Wo der christliche Glaube auf ein System von Überzeugungen reduziert wird, das dann im nächsten Schritt die Liturgie hervorbringt, wird die Liturgie bereits verfehlt, denn sie ist dann bestenfalls ein schönes, aber letztlich zufälliges und überflüssiges Anhängsel des Glaubens. Der Sinn der Liturgie lässt sich nur erfassen, wenn sie als Ort der Gottesbegegnung, als je neu in die Gegenwart einbrechende Offenbarung verstanden wird, aus der erst im zweiten Schritt der Versuch einer Formulierung von Glaubensaussagen erfolgen kann.

Kapitel 2

Zur Liturgiegeschichte

Liturgie hat geschichtliche Entwicklungen durchlaufen, mit aller Kontinuität und allen Brüchen, die zu solch einem Prozess gehören. Der nun folgende Überblick soll die römisch-katholische Liturgie im Zusammenhang der gesamten christlichen Entwicklung verorten und einige Besonderheiten aufzeigen.

Die Darstellung muss den historischen Befund natürlich stark vereinfachen. Insbesondere ignoriert sie innerchristliche Konflikte der ersten Jahrhunderte. Die Auseinandersetzungen führten zu kirchlichen Lehrentscheidungen und zum Ausschluss (oder zur freiwilligen Verselbstständigung) einzelner Personen oder größerer Gruppen aus der kirchlichen Gemeinschaft. Der Blick ist im Folgenden nur auf jene Gruppen gerichtet, in deren Traditionslinie die heutige Christenheit steht, nicht aber auf jene, die historisch untergegangen sind oder heute nur noch in sehr geringer Anzahl existieren. Was also im Folgenden als simpler Überblick über die ersten Jahrhunderte erscheint, war in Wirklichkeit eine Phase heftiger theologischer, philosophischer und (kirchen-)politischer Diskussionen.

Christentum im Römischen Reich

Das Christentum entstand vor knapp 2000 Jahren in Israel am östlichen Rand des Römischen Reiches, welches sich rund um das Mittelmeer erstreckte. Römisches Reich und christliche Gläubige standen einander lange Zeit kritisch gegenüber, vor allem weil sich Christen aus Glaubensgründen bestimmten Reichsgesetzen bzw. Anordnungen einzelner Herrscher verweigerten. Dies führte zwar nicht kontinuierlich, aber doch in bedrohlicher Regelmäßigkeit zu gewalttätigen Maßnahmen gegen die Christen.

Aus dieser Zeit stammt auch die älteste Schicht christlicher Heiligenverehrung (Kapitel 10): Christen, die für ihren Glauben den Tod auf sich genommen hatten (Martyrium), wurden für die Kirche zu leuchtenden Vorbildern. Man feierte in verschiedenen Formen ihre Todestage und war davon überzeugt, dass diese Menschen unmittelbar ins ewige Leben bei Gott eingegangen sind und nun mit der „irdischen Kirche“ weiter in unsichtbarer Verbindung stehen.

Trotz aller Verfolgungswellen existierte das Christentum schon früh flächendeckend im Römischen Reich, wenn auch nur als Minderheit. Vor allem in den Städten des dicht besiedelten östlichen Reichsteils waren christliche Gemeinden präsent: in der heutigen Türkei, in Syrien und Ägypten. Die kirchliche Struktur entsprach den gesellschaftlichen Gegebenheiten: Wo große Städte waren, waren auch die größten christlichen Gemeinden mit den einflussreichsten Vordenkern.

Im Laufe des 4. Jahrhunderts wurde das Christentum erst staatlich geduldet, dann gefördert, bis schließlich die Kaiser selbst das Christentum annahmen und beanspruchten, ihr Reich nach christlichen Grundsätzen zu regieren. Mit diesem Prozess, der mit Kaiser Konstantin (306–337) begann und mit Kaiser Theodosius (379–394) abschloss, wurde das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches mit dem Kaiser als politischem Arm und militärischem Schutzpatron der Kirche.

Das Römische Reich war nie von kultureller Einheitlichkeit geprägt. Besonders bedeutend war der Sprachunterschied zwischen Latein im Westen und Griechisch im Osten. Auch das Christentum prägte sich regional unterschiedlich aus. Es gab zwar umfangreiche Kontakte zwischen den Gemeinden und wechselseitige Beeinflussungen, aber es stand außer Frage, dass Christentum in der Stadt Rom anders gelebt wurde als in Spanien, in Ägypten, in Syrien oder in der von Konstantin zur zweiten Hauptstadt erhobenen und nach ihm benannten Stadt Konstantinopel (dem heutigen Istanbul, dessen früherer Name Byzanz/ Byzantion gelautet hatte).

Die christliche Reichskirche bildete auf diese Weise verschiedene kulturelle Zentren und organisatorisch vernetzte Regionen aus. Zunächst erlangten drei solcher Zentren allgemeine Anerkennung: Rom, Alexandrien und Antiochien. Im Jahr 451 erweiterte das Konzil von Chalkedon – wie damals üblich war das Konzil vom Kaiser zur Klärung reichsweiter Kirchenfragen einberufen worden – die Zahl auf fünf:

1.Rom (die alte Hauptstadt des Reiches),

2.Konstantinopel (das neue Rom als zweite Hauptstadt),

3.Alexandrien (das eng mit Rom vernetzte Zentrum in Ägypten),

4.Antiochien (das eng mit Konstantinopel vernetzte Zentrum in Syrien),

5.Jerusalem (politisch wenig bedeutend, aber als der Ort, an dem Jesus Christus gekreuzigt und auferstanden war, von hohem Symbolwert für die Kirche).

Patriarchate, Pentarchie und Ritus

Die Bischöfe (Kapitel 6) dieser fünf Zentralstädte übten eine Art Oberaufsicht über ihre Region und alle dort vertretenen Bischöfe aus. Sie erhielten den Ehrentitel Patriarch (griechisch Erzvater), die fünf Regionen hießen Patriarchate. Für den Patriarchen von Rom – übrigens auch für den von Alexandrien – wurde noch ein weiterer Ehrentitel gebräuchlich: Papst (lateinisch papa, lieber Vater). Jedes Patriarchat sollte seine Angelegenheiten selbstständig regeln, es sei denn, dass unbedingt die Reichsebene hätte konsultiert werden müssen. Mit einem modernen Begriff könnte man von „Einheit in (regionaler) Vielfalt“ sprechen, der Fachausdruck ist Pentarchie (griechisch Fünferprinzip).

Nun darf man sich auch ein Patriarchat nicht als völlig einheitliches Gebilde vorstellen, aber aus heutiger Perspektive können wir die Patriarchate als kulturelle Großräume erfassen. Der Fachausdruck für eine solche kulturelle Prägung lautet Ritus. Das Wort Ritus kann also nicht nur eine einzelne rituelle Handlung bezeichnen (der Ritus der Taufe, der Segensritus usw.), sondern auch eine regional entstandene und kulturell gewachsene Ausdrucksweise des Christentums. Zu einem Ritus in diesem Sinne gehört natürlich die Art und Weise, wie Liturgie gefeiert wird, aber beispielsweise auch der Festkalender (Kapitel 10), das kirchliche Recht und die Regeln für den Umgang mit internen Konflikten. Es gehören alltägliche Frömmigkeitspraktiken dazu, auch können die theologischen Akzentsetzungen unterschiedlich sein.

Wir können den fünf Patriarchaten somit fünf Riten zuordnen: römischer Ritus, byzantinischer Ritus (man verwendet für Konstantinopel immer das Adjektiv byzantinisch), alexandrinischer Ritus, antiochenischer Ritus, Jerusalemer Ritus. Auffällig ist, dass nur der römische Ritus die lateinische Sprache verwendet, die anderen vier Riten verwenden Griechisch (Antiochien und Jerusalem daneben auch Syrisch). Das Christentum des Patriarchats Rom bezeichnet man daher auch oft als lateinisch.

Die Entwicklung des römischen Ritus in Nord- und Westeuropa

Das lateinische Christentum breitet sich Richtung Norden und Nordwesten aus, bis nach Skandinavien und auf die britischen Inseln. Zunächst