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Ein höllisch gefährlicher Laborunfall – mit Alien-Lockdown und Grusel-Grinse-Garantie! Nur wer echte Freunde und gute Ideen hat, wird diesen fiesen Hausarrest überstehen … Lance und seine Clique haben Camp Crater Lake überlebt, wenn auch knapp. Immerhin waren Wespen-Aliens hinter ihnen her! Doch zu Hause wartet schon der nächste Horror: Nach einer Explosion im Uni-Labor ist ein mysteriöses Testobjekt entkommen und die Stadt im Lockdown. Lance wird sofort misstrauisch, schließlich hat er Erfahrung mit fiesen Kreaturen – aber auch darin, die Welt zu retten, zusammen mit Chets, Katja, Mak und Ade. Nur leider herrscht Funkstille zwischen den Freunden, seit Lance die neue Schule besucht. Und das ist fast schlimmer als das stechende Etwas, das draußen lauert. Fast ... Die Wespen-Aliens sind zurück! »Eine köstliche Mischung aus gruseliger Action und glaubwürdigem Humor.« Fiona Noble, The Bookseller
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JENNIFER KILLICK: CRATER LAKE – DER HORROR GEHT WEITER
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Lance und seine Clique haben Camp Crater Lake überlebt, wenn auch knapp. Immerhin waren Wespen-Aliens hinter ihnen her! Doch zu Hause in Straybridge wartet schon der nächste Horror: Nach einer Explosion im Uni-Labor ist ein mysteriöses Testobjekt entkommen und die Stadt im Lockdown. Lance wird sofort misstrauisch, schließlich hat er Erfahrung mit fiesen Kreaturen – aber auch darin, die Welt zu retten, zusammen mit Chets, Katja, Mak und Ade. Nur leider herrscht Funkstille zwischen den Freunden, seit Lance die neue Schule besucht. Und das ist fast schlimmer als das stechende Etwas, das draußen lauert. Fast ...
»Stranger Things für Kinder, im Killick-Stil.« The Reader Teacher
WOHIN SOLL ES GEHEN?
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Für die alten und neuen Freundinnen und Freunde,
die ich zum Glück in meinem Leben habe:
Lorraine Gregory
Eloise Williams
Bruce, Cian and Rhys
1.
Battle Royale
»Stirb, Versager! Stirb!« Chets’ Stimme schreit in meinem Headset, während er mit der Anmut eines springenden Panthers einen 360 No Scope durchzieht.
»Ist das jetzt dein dreizehnter tödlicher Treffer, Chets? Was ist passiert? Bandito90 hat sich ja in einen echten Wilden verwandelt!«
»Meine Zeit als Alien-Wespe hat mich verändert, Lance. So was machst du doch nicht durch, ohne daran zu wachsen. Ich glaube, das hat irgendwelche schlafenden Fähigkeiten geweckt, die ich mir früher niemals zugetraut hätte.«
»Gaming war das absolut Einzige, wo ich besser war als du.« Ich stöhne, während ich einen Treffer einkassiere. »Hast du ein Medkit?«
»Schon unterwegs, StarshottA51«, sagt Chets. Es tut so gut, seine Stimme zu hören. »Und du bist bei ganz schön vielen Sachen umwerfend.«
Typisch Chets, versucht, nett zu sein, obwohl wir beide wissen, dass das nicht stimmt. »Genau, ich bin umwerfend, wenn es darum geht, bei Tests miese Ergebnisse zu holen, nachsitzen zu müssen und meiner Mum Stress zu machen.«
»Ist sie heute im Krankenhaus?«
»Nein, heute nicht.« Ich baue hektisch vor mich hin, damit ich Höhe gewinnen und einen Trottel namens RabidMilson2006 killen kann, der mich offenbar unbedingt aus dem Spiel schießen will. »Sie ist zu Hause. Es scheint ihr besser zu gehen.«
»Das ist super, Lance«, sagt Chets, während Bandito9000 mühelos RabidMilson2006 erledigt und mich wie einen Anfänger dastehen lässt.
»Danke, Kumpel«, sage ich. »Seit unserem Crater-Lake-Schulausflug-Slash-Überlebenskampf im letzten Sommer war sie so krank, dass ich vergessen hatte, wie es ist, eine normale Mum im Haus zu haben. Sie lächelt und singt wieder. Das ist schön.«
»Das Ganze war nicht deine Schuld, weißt du«, sagt Chets.
»Kommt mir aber so vor.«
Mums Krankheit kann durch Stress getriggert werden, und es ist wirklich so, dass sie wegen der Ereignisse in Camp Crater Lake vor Sorge fast den Verstand verloren hätte. Ihr könnt ihr da keine Vorwürfe machen. Sie hatte gedacht, sie schickt mich mit der sechsten Klasse ins Schullandheim, wo mir nichts Schlimmeres passieren könnte als eine verpatzte Landung mit der Seilrutsche oder ein Sturz aus einem Kanu. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Freizeitzentrum als Hauptquartier für eine Alien-Machtübernahme diente.
Nun sind nur noch wir beide und zwei weitere Duos im Spiel.
»Wir haben doch nicht darum gebeten, dass uns so etwas passiert, und ohne dich wären wir jetzt alle fiese Käferwesen.« Er unterbricht sich, und ich könnte schwören, dass ich höre, wie ihm ein Schauder über den Rücken läuft, im selben Moment wie mir. »So wie Digger. Wie schläfst du jetzt? Geht’s besser?«
Ich bin noch nie problemlos eingeschlafen, und seit Crater Lake ist alles noch schlimmer. Der Krater enthielt nämlich die Überreste eines Meteoriten, der eine Unmenge von unsichtbaren Sporen in die Luft abgab. Wer am Crater Lake eingeschlafen ist, dessen Körper konnten die Sporen als Wirt benutzen, und dadurch wurde die Person dann zu einem Alien-Sklaven. Wenn Schlafen bedeutet, dass euer Leben, wie ihr es kennt, vorbei ist, dann wird der Schlaf zum Feind. Und das ist keine Angst, die ihr im Anschluss einfach so ablegt. Das CPAP-Sauerstoffgerät, das ich jede Nacht benutze, hilft gegen meine Schlafapnoe, aber die Albträume nimmt es nicht weg.
»Du weißt schon, wie immer«, sage ich, weil ich kein Mitleid will. Wir alle haben mit grauenhaften Erinnerungen an unseren Aufenthalt im Camp Crater Lake zu kämpfen.
Wir schalten ein weiteres Team aus.
»Du wirst immer ein Held sein, Lance«, sagt Chets. »Egal, was passiert, du wirst immer der sein, der uns gerettet hat.«
So gern ich auch alles Lob einheimsen würde – der Respekt, der mir erwiesen wurde, nachdem ich die Alien-Horden besiegt und sie daran gehindert hatte, die Welt zu übernehmen, war der Höhepunkt meines bisherigen Lebens, und ich werde garantiert niemals wieder solchen Ruhm genießen –, aber der Sieg am Crater Lake war eine Teamleistung. Alle hatten Mut und alle hatten ihre besonderen Fähigkeiten. Chets mit seiner Intelligenz und seinem technischen Genie; Kat mit ihrer Güte und ihrer irrsinnigen Kletterbegabung; Mak mit seinen Überlebenskenntnissen aus der Prepperszene und seinen Bärenkräften; und Ade mit ihrem Mega-Gehirn und ihrem Supertempo.
»Wir haben uns alle gegenseitig gerettet, Chets. Du, Katja, Mak, Ade und ich.« Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm. »Die kommen wohl nicht mehr dazu, oder?«
»Vielleicht doch«, sagt Chets. »Die verspäten sich bestimmt nur.«
»VenomAde spielt jetzt bei einer anderen Fraktion.«
»Treibt sich Adrianne noch immer mit dieser neuen Gruppe rum? Mit den Rabauken?«
Ich lächele. Nur Chets benutzt ein Wort wie Rabauken. »Yep. Sie hat sich so total verändert.«
»Und sie und Katja haben sich noch immer nicht vertragen?«
Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm. Keine Spur von xKittyGrimeX. Keine Nachricht von Kat auf meinem Telefon. »Die reden seit Monaten nicht miteinander. Und als ich versucht habe, mit Kat darüber zu sprechen, wurde sie nur wütend, und jetzt redet sie auch nicht mehr mit mir.«
»Fehlt sie dir?«, fragt Chets.
So sehr, wie den Eisbären die weggeschmolzenen Eisberge fehlen.
»Nö. Na ja, ein bisschen vielleicht, ab und zu.«
»Ich hatte immer gedacht, ihr zwei würdet mal …«
Ich täusche einen Hustenanfall vor, um zu verbergen, wie weh das tut. Ich weiß, dass er helfen möchte, aber ich will das jetzt wirklich nicht hören. Mein Bildschirm färbt sich rot. »Du wurdest eliminiert von UglyPugly1985.« – »Tut mir leid, Bandito«, sage ich. »Ich bring es heute einfach nicht.«
»Macht nichts, Lance. Ist doch nur ein Spiel.« Das sagt er, aber ich kann die Frustration in seiner Stimme hören. In letzter Zeit geht es ihm immer mehr ums Gewinnen, und Chets hasst es, irgendwo schlecht abzuschneiden. Nicht, dass er hier schlecht abgeschnitten hätte – ich hab ihn mit meiner Lahmarschigkeit einfach total runtergezogen.
»Mit MakKarnage wärst du besser dran gewesen«, sage ich. »Aber ich glaube, Mak können wir endgültig abschreiben.«
»Das weiß man nie. Niemand kann solche Dinge vorhersagen, vor allem nicht die von uns, die in Herzensangelegenheiten keine Erfahrung haben.«
Trotz allem pruste ich los.
»Er hat sich das Ohr piercen lassen«, sage ich. »Ich weiß ja nicht, ob es da noch einen Weg zurück gibt.«
»Hat er so einen goldenen Ohrring, wie ein Pirat?«
»Einen riesigen Diamanten. Der funkelt im Licht, damit kannst du Mak vom anderen Ende des Gangs rüberglitzern sehen.«
»Das klingt irgendwie nett. Festlich.«
»Ich würde dir gern zustimmen, Chets, aber er sieht aus wie die Billigversion von Ronaldo. Und na ja, irgendwie passt es einfach nicht zu Mak.«
Chets trinkt einen schlürfenden Schluck. »Ich vermute, die werden wirklich nicht mehr dazukommen. Ich fand es immer so schön, wenn wir jede Woche alle zusammen gespielt haben.«
»Ich auch.« Lange Zeit war das wirklich das Einzige, worauf ich mich gefreut habe. Wir hatten uns versprochen, damit weiterzumachen: Jede Woche, egal, wie. »Vermutlich ändert sich alles irgendwie, auch wenn wir das nicht wollen.«
»Wahr gesprochen«, seufzt Chets, und das bringt mich zum Lächeln.
»Da Mak, Kat und Ade also nicht kommen«, sage ich, so vorsichtig ich kann, auch wenn ich weiß, dass es wohl keinen Unterschied machen wird, es vorsichtig zu sagen. »Wäre es dir dann recht, wenn ich meinen anderen Freund einlade, FreshTrim?«
Eine, zwei Sekunden der Stille.
»Chets?«
»Welchen Freund meinst du?«, fragt er. Er weiß, welchen Freund ich meine.
»FreshTrim101, meinen Freund aus der Schule: Karim. Ich hab dir schon von ihm erzählt, weißt du noch? Er ist im Sommer nach Straybridge gezogen, weil seine Eltern bei dem SMART-Town-Projekt mitarbeiten. Er kannte niemanden, als er in der Latham High angefangen hat.«
»Ich kann mich vage erinnern, dass du einen … neuen Bekannten erwähnt hast.«
Er redet, als ob ihm etwas Spitzes im Hintern steckte. Er wird immer so, wenn ich versuche, ihn mit Karim bekannt zu machen.
»Ihr würdet euch bestimmt gut verstehen, Chets – er ist total in Ordnung. Und witzig.«
»Ich bin sicher, er ist ein Ausbund an Heiterkeit«, sagt Chets. »Aber ich glaube, es sendet das falsche Signal aus, wenn wir ihn in unsere Gruppe aufnehmen, nur für den Fall, dass sich die anderen doch noch blicken lassen. Die sollen doch nicht denken, dass wir sie ersetzt haben.«
»Nein, sollen sie nicht«, sage ich. »Aber einen neuen Freund zu haben bedeutet doch nicht, dass irgendwer ersetzt worden ist. Das ist einfach ein neuer Freund.«
»He!«, sagt Chets. »Mir ist gerade noch was eingefallen, was du unheimlich gut kannst. Du gewinnst immer beim Chicken-Wings-Roulette, weil du als Einziger die besonders scharf gewürzten wegstecken kannst, ohne loszuheulen.«
»Na ja, das macht mich schon irgendwie zur Legende«, sage ich und weiß, es hat keinen Zweck, es noch weiter zu versuchen. Ich will nach den anderen nicht auch noch Chets verlieren. »Noch mal Duos?«
»Klar doch, StarshottA51. Los geht’s.«
Als wir uns bereit machen, per Fallschirm in ein weiteres Spiel reinzuspringen, lässt ein Tippen an meiner Schulter mich fast aus der Haut fahren.
»Himmel, Mum!«
»Ich hab eine Ewigkeit nach dir gerufen. Ich wünschte, du würdest das nicht so laut stellen – das ist bestimmt nicht gut für dein Gehör.« Sie ignoriert mein Augenrollen. »Nach dieser Runde kommst du runter und schmückst mit mir den Weihnachtsbaum. Der ist schon viel zu lange traurig und kahl.«
»Wer ist traurig und kahl?«, fragt Chets in meinem Ohr.
»Der Weihnachtsbaum«, sage ich. »Weil Bäume offenbar auch Gefühle haben.«
»Hallo, Chets«, brüllt Mum mir ins Ohr und winkt aus irgendeinem unerfindlichen Grund.
»Der kann dich nicht sehen, Mum«, sage ich.
»Hallo, Mrs Sparshott«, brüllt Chets zurück.
»Soll ich Mum das Headset geben, damit ihr zwei eine Runde plaudern könnt?«, frage ich – und rufe eilig: »War nur ein Witz, Mum!«, als sie die Hand danach ausstreckt. »Ich bin in zehn Minuten unten. Okay?«
»Wenn nicht, dann komm ich wieder hoch.« Mum lacht und verlässt endlich mein Zimmer.
»Warum habt ihr euren Baum noch nicht geschmückt?«, fragt Chets.
»Der wurde vor einer Woche geliefert, und da fühlte Mum sich nicht richtig wohl«, sage ich. »Aber offenbar geht es ihr jetzt gut genug, um ein paar Kugeln aufzuhängen und mit ihrem Versuch, mit meinen Kumpels zu reden, mein Leben zu ruinieren.« Mir ist das alles ein bisschen peinlich, aber es ist so schön, dass sie wieder Witze macht, dass ich mich richtig darauf freue, mit ihr den Baum vollzuhängen.
»Alles klar. Absprungbereit in drei, zwei, eins …«
Und dann erschallt im ganzen Haus ein Knall, so laut, dass ich ihn durch das Spiel hindurch deutlich höre. So laut, dass die Wände beben. Die zusätzlichen Sauerstoffpatronen für mein CPAP klirren und klappern einige Sekunden lang in ihrer Ecke, dann wird es still.
»Hast du das gehört?«, fragt Chets, als ich aus meinem Spielsessel aufspringe, was nicht einfach ist, denn der ist wirklich ganz schön niedrig, und mir fehlt es ein wenig an Körperspannung. Ich renne ans Fenster und vergesse, dass ich durch das Kabel meines Headsets an der Spielkonsole festhänge. Das Kabel reißt mich zurück und mein Headset knallt auf den Teppich, im gleichen Moment, in dem meine Mum abermals ins Zimmer gestürzt kommt.
Vor meinem Fenster ist der Winterhimmel von ganz blassem Graublau, ruhig und klar, ohne auch nur einen Vogel, der meinen Blick stört. Ich kann quer durch Straybridge blicken, über das Einkaufszentrum und die Kirche in der Stadtmitte hinweg und bis zur anderen Seite der Stadt, wo sich eine schwarze Rauchsäule in die Luft bohrt.
Ich stülpe mir hastig das Headset wieder über, während meine Mum mit offenem Mund aus dem Fenster starrt. »Siehst du das, Chets?«
»Wenn du die apokalyptische toxische Wolke meinst, dann ja, die sehe ich.«
»Ich schalte mal die Nachrichten ein«, sagt Mum und rennt nach unten. »Du bleibst hier.«
Ich schnappe mir mein Telefon und fange an, durch die sozialen Medien zu scrollen. Innerhalb von dreißig Sekunden sehe ich dasselbe Wort wieder und wieder. Explosion.
»Was ist da passiert?«, fragt Chets atemlos, vermutlich sieht er sich dieselben Feeds an wie ich.
Ich starre auf den Rauch, der am Himmel über meiner Stadt wogt und brodelt – einer Stadt, wo wirklich niemals irgendetwas Interessantes passiert, und ich spüre, wie eine prickelnde Furcht sich in meiner Brust breitmacht.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Aber um es mit den Worten jedes großen Star Wars-Helden zu sagen: Ich habe ein echt ungutes Gefühl bei dem Ganzen.«
2.
Alte Feindin
Schon nach einer Minute weicht die geschockte Stille dem Lärm von Sirenen. Ich sehe von meinem Fenster aus zu, wie in der Ferne blaue Lichter auf den Rauch zujagen, und ich versuche herauszubekommen, wohin genau sie unterwegs sind. Es muss so ungefähr zwei Kilometer entfernt sein, was bedeutet, dass es eine große Explosion gewesen ist, da Chets und ich sie in unseren Häusern hören konnten.
»Lance, ich muss auflegen«, sagt Chets. »Meine Mum setzt gerade zur Kernschmelze an.«
»Ja, kein Problem, Kumpel«, sage ich und meine Gedanken überschlagen sich noch immer, während ich mir zusammenzureimen versuche, was da passiert sein könnte. »Ich hoffe, mit ihr ist alles in Ordnung. Ich schreib dir nachher.«
»Gib Bescheid, wenn du irgendwas rausfindest«, sagt Chets. »Bis dann.«
Ich reiße mir das Headset vom Kopf und scrolle wieder durch mein Handy.
»Lance! Komm runter!«, ruft Mum von unten. »Die bringen was in den Nachrichten.«
Ich laufe nach unten ins Fernsehzimmer, wo Mum mit der Fernbedienung in der Hand auf dem Sofa sitzt.
»Wir unterbrechen unsere Sendung aus aktuellem Anlass«, sagt der Nachrichtensprecher. »Aus Straybridge wird von einer heftigen Explosion berichtet. Die Ursache ist noch unbekannt, und wir haben keinerlei Informationen über Tote oder Verletzte. Polizei und Feuerwehr sind vor Ort im Einsatz, und wir hoffen, Ihnen bald weitere Details liefern zu können.«
»Was ist da los, Lance?«, flüstert Mum, und ich kann sehen, dass sie Angst hat. Das ist gar nicht gut für sie.
»Ich weiß nicht, Mum«, sage ich. »Aber es ist vielleicht nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Sie klopft neben sich auf das Sofa, und ich hocke mich auf die Kante.
»Es wird vermutet, dass sich die Explosion auf dem Universitätsgelände von Straybridge ereignet hat.«
»Oh Gott. Ich hoffe, Nadia ist nichts passiert!« Mum greift mit zitternden Händen nach ihrem Telefon und hebt es hoch, um die Gesichts-ID zu aktivieren. »Blödes Ding«, schimpft sie, als die ID sie dreimal nicht erkennt, weil sie nicht still halten kann.
»Hier«, sage ich, nehme ihr das Telefon ab und halte es vor ihr Gesicht, um es zu entsperren. »Und bestimmt ist alles in Ordnung mit Nadia. Heute ist Samstag, da ist sie sicher mit Karim zu Hause.«
Mum scrollt sich durch die Liste ihrer Anrufe und hält sich dann das Telefon ans Ohr. »Verdammt, da ist besetzt.«
»Ich ruf Karim an.« Mum steht jetzt kurz vor einer ausgewachsenen Panik. Seit sie Nadia im Juni im Krankenhaus kennengelernt hat, sind die beiden richtig gute Freundinnen geworden. Und darüber bin ich froh, weil unsere Mums Karim und mich miteinander bekannt gemacht haben, noch bevor wir beide an der Latham anfingen. Ich wollte Karim zuerst gar nicht kennenlernen, weil es so komisch war, dass unsere Mütter sich das überlegt hatten, wie eine Art arrangierter Freundschaft. Und ich hatte doch schon meine Clique und wollte keine weiteren Kumpels. Aber Karim und ich haben uns von Anfang an verstanden. Wir haben eine Menge Gemeinsamkeiten und lachen viel. Und, wie sich herausgestellt hat, meine Clique hat nach Schuljahresbeginn nicht lange überlebt.
»Sparshott, du Gangster!« Karims Stimme brüllt mir ins Ohr. »Kannst du fassen, was da abläuft?«
»Ist alles in Ordnung mit deiner Mutter?«, frage ich, da Mum mir heftig aufs Knie haut und ihr Gesicht nah vor meines hält.
»Klar, wir waren alle zu Hause, als es passiert ist«, sagt Karim. »Mum ist jetzt gerade hingefahren, um rauszufinden, was da los ist.«
»Alles in Ordnung bei ihr, Mum«, sage ich. »Sie ist gerade hingefahren, um rauszufinden, was da los ist.«
»Ach, Gott sei Dank.« Mum seufzt. »Sag Karim, seine Mutter soll mich anrufen, sowie sie kann.«
»Hast du das gehört, K?«
»Yep. Wird gemacht.«
Ich nicke meiner Mum zu und lasse mich dann wieder aufs Sofa sinken, während sie einen Tee machen geht. »Also, was weißt du?«
»Nicht viel eigentlich. Nur, dass es im Labor irgendeinen Unfall gab, der eine Explosion ausgelöst hat. Mum ist durchgedreht, hat sich ihr Telefon geschnappt und ist losgefahren.«
»Und das war wirklich ein Unfall?«, frage ich. »Da hat nicht irgendwer ganz bewusst das Labor in die Luft gejagt?«
»Mum geht offenbar von einem Unfall aus, aber wir wissen nichts mit Sicherheit. Sie hat sich vor allem Sorgen gemacht wegen der Experimente, die in den Laboren durchgeführt wurden.«
»Was sind denn das für Experimente?«, frage ich. Ich habe mich nie besonders dafür interessiert, was dort vor sich geht, aber plötzlich kommt mir der Gedanke, dass ich das hätte tun müssen.
»Die haben da unterschiedliche Abteilungen«, sagt Karim. »Sie kümmert sich natürlich vor allem um diese XGen-Sache, deshalb weiß sie nicht so viel darüber, was in den anderen Bereichen passiert. Warum? Woran denkst du?«
»Weiß nicht so recht«, sage ich. »Ich glaube, ich frage mich, ob es in den Laboren irgendwas Gefährliches gegeben hat.«
»Du meinst also, die Stadt wird jetzt von fiesen Kaninchen mit rosa Augen überrannt, die Zombie-Bakterien unter den Leuten verbreiten? Du hast in zu vielen Extremsituationen gesteckt, mein Freund – du schaltest gerade voll auf Katastrophenfilmmodus.«
»Ja, wahrscheinlich.« Ich werde leiser, damit Mum mich nicht hören kann. »Ich weiß nur, dass es da draußen im Universum Dinge gibt, die gefährlich sind. Ich will nicht noch mal überrumpelt werden.« Karim hat alles über Crater Lake gehört, deshalb weiß er, worauf ich anspiele.
»Mann, so was wird hier sicher nicht passieren. Das Einzige, wofür Straybridge bekannt ist, ist dieser SMART-Town-Kram – erneuerbare Energie und superschnelles Internet. Wenn ich eine Alien-Nation wäre, die die Menschheit vernichten will, dann wäre das hier der letzte Ort, wo ich damit anfangen würde. Außerdem, sind diese Sporendinger nicht aus einem Meteorloch oder so was gekrochen?«
»Stimmt.« Ich lache. »Die sind aus einem Meteorloch gekrochen.«
»Na, ich hab hier in der Gegend noch keine Meteorlöcher gesehen, du vielleicht?«
»Nein. Hab ich nicht … aber vielleicht war da ja irgendwas in den Laboren. Ich will nur für alles bereit sein.«
»Lance Sparshott, du warst schon bereit, als du auf die Welt gekommen bist. Du bist der bereiteste Mensch, den ich kenne. Ich nenne dich heimlich immer ›Mister Bereit‹.«
»Na gut, ich hab schon verstanden«, sage ich. »Wir reden nachher weiter, ja?«
»Ich ruf dich an, wenn ich von Mum gehört habe«, sagt Karim. »Sei bereit.«
»Allzeit bereit.«
»Weiß ich doch.«
Ich lache und lege gerade auf, als Mum zurück ins Zimmer kommt. Sie sieht viel weniger verstört aus als vorhin. »Wollen wir jetzt den Weihnachtsbaum schmücken?«
»Klar«, sage ich. Nichts versetzt euch so schön in eine festliche Stimmung wie eine Explosion. »Soll ich die Kartons vom Dachboden holen?«
»Nicht nötig.« Sie strahlt. »Hab ich schon erledigt.«
»Mum«, sage ich. »Das war keine gute Idee – was, wenn du umgekippt wärst?«
»Aber ich fühle mich gar nicht so schwach. Im Gegenteil, ich könnte nicht sagen, wann ich mich zuletzt so wohl gefühlt habe. Ich bin nicht müde, ich kann normal essen und ich habe keine Schmerzen. Außerdem bin ich sicher, dass meine Haare jetzt wieder mehr glänzen. Findest du, dass sie mehr glänzen?«
Ich sehe Mums lange dunkle Haare an, und ehrlich, ich habe keine Ahnung. Wer überlegt denn, wie sehr die Haare seiner Mum glänzen? Niemand, so ist das nämlich.
»Ja, ich glaub schon. Wirklich.«
Mum zieht die Kartons mit dem Baumschmuck ins Zimmer und fängt an, auszupacken. Sie entwirrt die Kabel der Lichterketten und legt jede Menge Knallfolie zur Seite. Der Fernseher zeigt noch immer die Nachrichten, aber jetzt gibt es vor allem ödes Gerede über den SMART-Town-Kram.
»Bei einem Wettbewerb darum, wer die allererste SMART-Town des Landes werden soll, hat Straybridge den Sieg davongetragen. Das Ganze ist Teil eines neuen Projekts, das in den Bereichen von Wissenschaft und Technologie mit hohen finanziellen Investitionen unterstützt wird. Für die Stadt bringt das unter anderem Solarzellenanlagen auf allen Dächern und die Möglichkeit, als erster Ort im Land die bahnbrechenden Möglichkeiten von XGens neuer Telefon- und Computertechnik zu erproben.«
Bla, bla, bla.
»Ist der nicht wunderschön?« Mum lächelt den Baum an, als wäre er ihr Lieblingskind.
»Der ist sehr baumhaft«, sage ich und schaue an ihm hoch. »Und groß.«
»Das ist einer von den ganz besonderen aus Verges Gartencenter«, erzählt sie weiter, ohne auf mein mangelndes Interesse zu achten. »Du weißt doch, dass sie die Bäume mit den Wurzeln ausgraben, damit sie noch leben und nach Weihnachten wieder eingepflanzt werden können. Ist das nicht unglaublich?«
»Ein lebender Baum? Klar. Der totale Wahnsinn.«
»Sie produzieren also weiterhin Sauerstoff. Das hat zu den Dingen gehört, die uns geholfen haben, die SMART-Town-Förderung zu gewinnen.«
»Die Tannenzapfen haben eine komische Form«, sage ich und strecke die Hand aus, um mir einen genauer anzusehen. Der ist dicker und runder als ein normaler Tannenzapfen, und diese Blätter-Slash-Schuppen-Dinger sind größer. Er sieht ein bisschen aus wie eine Rosenknospe aus Holz.
»Die sind etwas Besonderes, oder? Die werden sich in einigen Tagen öffnen – angeblich ist ihr Duft himmlisch. Hast du den Stecker für diese Lichterkette schon gefunden?«
»Yep.« Ich gebe ihr das Teil. Mum hat ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, wo welches Dekostück hinsoll, deshalb reiche ich ihr die Sachen einfach an, während sie sie nach und nach am Baum anbringt. Offenbar gibt es für alles genau die richtige Stelle.
»Soeben erreichen uns neue Nachrichten von der Polizei in Straybridge. Derzeit ist der Zugang zur Stadt grundsätzlich gesperrt, auch für die Presse. Alle, die sich nicht ohnehin in der Stadt aufhalten, werden gebeten, wegzubleiben.«
Wir schauen beide zum Fernseher und sehen, wie die Polizei Straßensperren aufbaut und Autos wenden lässt.
»Warum machen sie das denn?«, fragt Mum, und ihre Hand erstarrt auf halbem Weg in dem Versuch, einen Kristallschmetterling an einen hohen Zweig zu hängen.
»Vielleicht halten sie das Ganze nicht für einen Unfall und wollen die Person fangen, die das verursacht hat.«
»Dann würden sie niemanden aus der Stadt rauslassen, aber reinkommen dürfte man noch. Das kommt mir seltsam vor.«
»Das ist bestimmt in Ordnung, Mum. Die sind sicher nur vorsichtig. Bald werden wir mehr wissen.«
Sie nickt und macht sich wieder ans Baumschmücken, aber ich kann sehen, dass sie besorgt ist. Der Nachrichtensprecher interviewt jetzt »Fachleute«; alle stellen Theorien darüber auf, was genau passiert sein könnte, und das ist nicht besonders hilfreich. Und natürlich will ich Mum beruhigen, aber innerlich bin ich total durcheinander und schweißnass, und ich versuche, das nicht zu zeigen. Ich will ja nicht behaupten, ich sei ein Gefahrenexperte, obwohl das sicher ein total cooler Job wäre, aber ich spüre es in meinen Knochen, dass hier etwas aufs Schlimmste nicht stimmt. Ich bin ja immer schon von Ärger verfolgt worden.
Offiziell verbringen wir den Tag mit Baumschmücken, Essen und Gesprächen über den üblichen öden Kram, dass Mum die Heizung immer zu hoch aufdreht, zum Beispiel, oder dass sich die Katze zurzeit echt komisch benimmt, aber in Wirklichkeit warten wir einfach nur. Wir lassen den Fernseher laufen, aber da die Presse keinen Zutritt zu Straybridge bekommt, gibt es kaum Updates. Sie zeigen immer wieder dieselben Handyaufnahmen von der Uni gleich nach der Explosion. Es ist heftig, den Rauch und Trümmerstücke in der Luft und auf dem Boden aus nächster Nähe zu sehen. Wir können Schreie hören. Es gibt aber keine Bilder von Blut oder so, auch nicht von irgendwelchen Verletzten. Und ihr könnt wetten, wenn da Verletzte rumliefen, würde jemand die filmen und in den sozialen Medien posten. Also hoffe ich, dass wirklich alle unversehrt sind.
Erst am späten Nachmittag gibt es endlich Neuigkeiten. Wir haben gerade die Deckenlampe aus- und die Beleuchtung am Baum eingeschaltet.
»Wir unterbrechen den Nachmittagsfilm mit neuesten Entwicklungen aus der Stadt Straybridge«, teilt der Nachrichtensprecher mit. »Wie Sie vielleicht wissen, gab es dort heute Morgen eine Explosion, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach in der Universität ereignet hat. Wir haben soeben erfahren, dass der Bürgermeister von Straybridge, die lokale Polizeichefin und die Pressesprecherin des SMART-Town-Projekts sich in wenigen Momenten an die Öffentlichkeit wenden werden.«
»Klingt dramatisch«, sagt Mum, und wir setzen uns aufs Sofa, inmitten von leeren Kartons und unbenutztem Lametta. Mum hat ein bisschen Glitzer an der Nase kleben. Der Bildschirm zeigt nun den Bürgermeister auf einem hölzernen Podium mit dem Wappen der Stadt. Auf seiner einen Seite steht eine uniformierte Polizistin, auf der anderen Karims Mum. Sie sehen nervös aus.
»Guten Tag«, sagt der Bürgermeister. »Wir haben wichtige Informationen für die Öffentlichkeit, deshalb möchte ich sofort zur Sache kommen.« Er räuspert sich. »Heute Morgen kam es in der Forschungsabteilung der Universität zu einem Zwischenfall, der zu einer Explosion bedeutenden Ausmaßes führte. Glücklicherweise sind offenbar keine Verletzten oder Toten zu beklagen. Leider haben jedoch das sogenannte Tortenhaus und die darin untergebrachten Laboratorien schwerwiegende Schäden davongetragen.« Er schluckt. »Die Universität von Straybridge ist eine der führenden wissenschaftlichen Einrichtungen hierzulande – worauf wir ungeheuer stolz sind und was uns die ersten umfassenden Zuschüsse für die SMART-Town-Initiative eingebracht hat. In den Laboren findet zu jeder Zeit eine Vielzahl von Forschungsprojekten statt, und einige davon benötigen lebende Versuchsobjekte.« Er tritt auf seinem hölzernen Podium von einem Fuß auf den anderen, und ich sehe, wie Schweißtropfen über seine Stirn kullern. »Offenbar ist der Aufenthaltsort eines dieser Versuchsobjekte derzeit ungeklärt, und wir glauben, dass es aus dem beschädigten Gebäude in die Stadt entkommen ist.«
Mum schnappt nach Luft.
»Derzeit läuft eine Such- und Rückholoperation, um die betreffende Kreatur so schnell wie möglich sicherzustellen. Damit sie nicht noch weiter fliehen kann, haben wir eine vorübergehende Absperrung um Straybridge gezogen. Niemand darf die Stadt betreten oder verlassen, solange das Versuchsobjekt nicht sichergestellt ist. Mein wissenschaftlicher Berater teilt mit, dass das Versuchsobjekt nur nachts aktiv wird und sich im Tageslicht versteckt hält, weshalb die Bevölkerung von Straybridge sich tagsüber unbesorgt ihren üblichen Beschäftigungen widmen kann. Doch obwohl wir davon ausgehen, dass die Kreatur keine besondere Bedrohung darstellt, verhängen wir über das gesamte Stadtgebiet ab sofort eine Ausgangssperre. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen vor Sonnenuntergang zu Hause sein und zu ihrer eigenen Sicherheit bis zum nächsten Morgen dort verweilen. Die Polizei von Straybridge wird in den Straßen Streife gehen, um sicherzustellen, dass die Ausgangssperre eingehalten wird, und natürlich, um Ausschau nach dem Versuchsobjekt zu halten.«
Die Polizeichefin hebt das Kinn und deutet ein Nicken an. So viel Action hat sie wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt.
»Ich gebe das Wort jetzt weiter an Carol Barnes, die Polizeichefin unserer Stadt, die Sie genauer über die aktuellen Sicherheitsvorkehrungen informieren wird.«
Er tritt zur Seite und tauscht den Platz mit Carol.
»Vielen Dank, Herr Bürgermeister«, sagt sie. »Zuallererst möchte ich die Worte des Bürgermeisters wiederholen, nämlich, dass wir nicht glauben, dass für die Öffentlichkeit irgendeine Gefahr besteht. Unser wissenschaftlicher Berater, der genauestens über das Verhalten des Versuchsobjekts informiert ist, hat uns versichert, dass diese Kreatur Menschen niemals verletzt, solange sie nicht angegriffen wird. Daher besteht kein Grund zur Panik, Sie sollten nur wachsam sein und uns informieren, wenn Ihnen irgendetwas auffällt, das uns bei der Suche nach dem Versuchsobjekt helfen könnte. Die Ausgangssperre ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, aber dennoch wichtig. Die Kirchenglocken von St. Antonius werden nachmittags zwanzig Minuten lang läuten, damit die Lokalbevölkerung sich nach Hause begeben kann. Die Glocken werden dann ein zweites Mal läuten, um klarzustellen, dass alle in Straybridge nun im Haus bleiben müssen. Wer bei Verstößen gegen die Ausgangssperre erwischt wird, muss mit einer Geldstrafe oder sogar mit Festnahme rechnen. Wichtiger noch, wer vorsätzlich gegen die Ausgangssperre verstößt, setzt Sicherheit und Unversehrtheit unserer Stadt aufs Spiel und behindert diejenigen, die sich für ihren Schutz einsetzen, bei der Arbeit. Um es ganz deutlich zu sagen: Wenn Sie die Kirchenglocken hören, müssen Sie sich nach Hause begeben. Dort müssen Sie dann bleiben, bis Sie am nächsten Morgen erneut die Glocken läuten hören. Wenn wir zusammenhalten, spricht alles dafür, dass wir das Versuchsobjekt in kurzer Zeit sichergestellt haben werden.«
Mein Telefon brummt, und ich sehe eine Mitteilung von Karim. »Sach ja, die Karnickels sind im Anmarsch!«
Ich antworte: »Und wenn du die Glocken der Verdammnis hörst, dann nimm besser die Beine in die Hand …«
»Oooh, ich glaube, Nadia wird gleich etwas sagen«, meint Mum. »Sieht sie nicht wunderbar aus? Und dabei hat sie doch sicher einen schrecklichen Tag hinter sich.«
Ich schreibe noch mal an Karim: »Meine Mum schwärmt für deine Mum.«
Er antwortet mit dem halb gekippten, Tränen lachenden Emoji.
»Danke«, sagt Karims Mum. »Ich heiße Nadia Amrani und bin die Pressesprecherin für XGens Straybridge-SMART-Town-Projekt. In Anbetracht des Ernstes der aktuellen Lage möchte ich Ihnen einige beruhigende Erklärungen zum derzeitigen Status des Projekts geben. Straybridge hat in den vergangenen sechs Monaten eine ungeheure Menge an Arbeit in das SMART-Town-Projekt investiert, und obwohl die Ursache der Explosion zur Stunde noch ungeklärt ist, bin ich sicher, dass kein Fehler oder Versagen der XGen-Technologie der Auslöser dafür war. Sicherheit war für XGen immer schon von entscheidender Bedeutung, das ist und bleibt so, und wir werden mit den zuständigen Abteilungen zusammenarbeiten, um die Ursachen des Zwischenfalls vollständig aufzuklären. Wir sehen keine dauerhaften nachteiligen Folgen für das Projekt, mit dem es nach dieser kurzen Verzögerung weitergehen wird. Wir werden natürlich während der kommenden Tage ein offenes Ohr für jedwede Besorgnisse haben und so viele Fragen wie möglich beantworten, aber für den Moment müssen wir uns auf unser wichtigstes Ziel konzentrieren, nämlich, das Versuchsobjekt und die Laboratorien zu sichern.« Sie schaut sich um. »Gibt es irgendwelche Fragen?« Sie nickt jemandem zu, den wir nicht sehen können. »Bitte sehr.«
Eine Stimme ruft quer durch den Raum, und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, denn diese Stimme klingt so vertraut. Aber das kann doch nicht sein. Sie kann es nicht sein.
»Wird der wissenschaftliche Berater zur Verfügung stehen, um Fragen über das entlaufende Versuchsobjekt zu beantworten?«, fragt die Frauenstimme. »Die Informationen, die Sie hier geliefert haben, sind zu vage, als dass die Menschen in Straybridge sich richtig vorbereiten und schützen könnten.«
»Der wissenschaftliche Berater steht nicht zur Verfügung«, sagt Karims Mum. »Sie werden mir sicher zustimmen, dass er seine Zeit lieber damit verbringen sollte, an einer Lösung des Problems zu arbeiten, statt Fragen danach zu beantworten. Aber lassen Sie mich noch einmal versichern, dass kein Grund zur Panik besteht. Das Versuchsobjekt wird sich tagsüber verstecken und damit für die Öffentlichkeit keinerlei Bedrohung darstellen. Solange wir uns alle an die Ausgangssperre halten, haben wir nichts zu befürchten, das ist mir versichert worden.«
»Ich bin sicher, die Öffentlichkeit würde das viel lieber von diesem Experten hören«, sagt die unsichtbare Fragerin. Und ich spitze die Ohren, denn ich muss unbedingt wissen, ob sie es ist. »Wird er also in absehbarer Zeit Fragen beantworten?«
Das muss ich Karims Mum zugestehen, sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Wie ich bereits gesagt habe, Vanya, ist der wissenschaftliche Berater beschäftigt mit der Sicherstellung des Versuchsobjekts und den Ermittlungen im Labor. Ich werde ihn über Ihre Besorgnis informieren, und wir werden uns an die Öffentlichkeit wenden, sowie wir über neue Informationen verfügen.«
Vanya. Ich glaube nicht, dass ich jemals ihren Vornamen gehört habe, aber ich muss doch jemanden fragen können, der ihn weiß. Die Vornamen von Lehrkräften und ihre außerschulischen Aktivitäten sind wie die Social-Media-Accounts eurer Eltern: Ihr schnüffelt nicht darin herum, denn was dort zu sehen ist, würde euch nicht gefallen. Aber ich muss den Namen wissen.
»Mum?«, frage ich. Sie starrt noch immer den Fernseher an, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, und hört zu, wie der Nachrichtensprecher so ungefähr jedes Wort wiederholt, das bei der Pressekonferenz gefallen ist.
»Ja, Herzchen?«, fragt sie und streichelt mein Knie, ohne sich vom Bildschirm loszureißen.
»Diese Frau, die die Fragen nach dem wissenschaftlichen Berater gestellt hat … ich glaube, Karims Mum hat sie Vanya genannt. Ihre Stimme kam mir bekannt vor.«
»Das kann ich mir denken – sie war deine Lehrerin auf der Montmorency. Sie hat gekündigt, nach … na ja, nach eurer Klassenreise, und arbeitet jetzt bei der Lokalzeitung. Ich bin ihr einmal über den Weg gelaufen, als sie im Krankenhaus für eine Story recherchiert hat.«
Mein Herz sinkt in meiner Brust, wie dann, wenn ihr etwas aufheben wollt, das viel schwerer ist, als es aussieht, und darum geht ihr wie ein Versager zu Boden und alle fangen an zu lachen. So kommt mir das vor – als ob das Universum auf meine Kosten Witze reißt und die Person, die ich am meisten hasse, zurück in mein Leben schleudert, wo das doch ohnehin schon von einem Wirbelsturm aus Explosionen und Kaninchen mit rosa Augen zerfetzt wird.
»Aber ihr Nachname will mir einfach nicht einfallen«, sagt Mum, die von meinem inneren Zorn nichts mitbekommt. »Ach, und dabei liegt er mir auf der Zunge.«
Ich beiße mir in die Lippe und schlucke. Mein Mund schmeckt wie Dreck, und den Namen laut zu sagen wird da nicht die geringste Hilfe sein. »Sie heißt Hoche.«
3.
Erstarrt
Wir gehen spät ins Bett, nachdem wir uns eine Million Mal davon überzeugt haben, dass Türen und Fenster verschlossen sind. Außerdem muss ich alte Kissenbezüge und Handtücher in alle möglichen Ritzen und Öffnungen im Haus stopfen, auch in den Luftabzug in den Badezimmern und den winzigen Spalt, wo die Seitentür nicht richtig im Rahmen sitzt. Mum will, dass ich den Kamin verbarrikadiere, die Stecker mit Klebeband in den Steckdosen festmache und die Toilettendeckel annagele, aber ich kann ihr dann doch klarmachen, dass das einen Schritt zu weit gehen würde. Die Katzentür ist verschlossen und kann nur geöffnet werden, wenn Betty dagegenstößt, denn sie hat einen elektronischen Schlüsselanhänger an ihrem Halsband. Wir haben eine wahnwitzige Diskussion darüber, ob das Versuchsobjekt sich die Mühe machen würde, Bettys Anhänger zu stehlen, nur um in unser Haus zu gelangen, und wir kommen zu dem Schluss, dass das unwahrscheinlich wäre.
Es ist Mitte Dezember, ihr könntet also denken, es wäre nicht so schlimm, in einem Haus eingeschlossen zu sein, in das Luft weder hinein- noch herauskann, aber Mum hat immer schon leichter gefroren als normale Menschen, und deshalb läuft in allen Zimmern die Zentralheizung auf Hochtouren. Denn obwohl es ihr sonst in jeder Hinsicht besser geht, hält diese Immer-Frieren-Kiste offenbar weiterhin vor. In meinem Zimmer ist es so heiß, dass ich mich in den Sommer am Crater Lake zurückversetzt fühle, wo die Gefahr, an Hitze und Dehydrierung zu sterben, genauso groß war wie die Gefahr, durch die Alien-Invasion zu sterben. Es war die heißeste Woche aller Zeiten, und da die Killerinsekten es kuschelig warm liebten, hatten sie die Klimaanlage ausgeschaltet und die Heizung voll aufgedreht.
Ich stehe am Fenster und luge durch die Spalten im Rollo. Die Straße draußen ist beängstigend ruhig – kein fernes Summen von Verkehr, kein gelegentliches Lied eines aus der Kneipe heimkehrenden Nachbarn. Ich habe noch nie so viel Stille erlebt, oder jedenfalls ist mir das noch nie aufgefallen. Ich kann nicht einmal Vögel hören. Ich halte Ausschau nach einer Bewegung – einer Hecke mit raschelnden Blättern oder einem Schatten, der hinter eine Gartenmauer schlüpft. Aber da ist nichts.
Plötzlich macht mein Telefon Ping, und ich fahre zusammen wie ein Idiot.
Es ist Chets: Mum zwingt uns, alle zusammen in einem Bett zu schlafen. Mein Leben ist einwandfrei das schlimmste.
Oh, Kumpel! Mir fehlen die Worte, schreibe ich.
Bete für mich. Morgen reden?
Klärchen. Nacht. Viel Spaß beim Kuscheln.
Oh Mann! Ich hasse mein Leben!
Trotz allem lache ich leise, als ich meinen CPAP anbringe. Meine Mum ist eine Meisterin im Stressmachen, aber sie ist doch nicht so schlimm wie die von Chets. Ich prüfe, ob alles im CPAP korrekt befestigt ist. Ich benutze das Ding schon fast mein ganzes Leben lang, der ganze Vorgang ist also absolute Routine. Ich glaube nicht, dass ich viel schlafen werde, aber wenn ich am Crater Lake eins gelernt habe, dann, dass wir mitnehmen müssen, was wir kriegen können und wann wir es kriegen können, und Schlaf gehört unbedingt dazu.
Ich setze die Maske auf, überzeuge mich, dass alles luftdicht schließt, dann schalte ich das Gerät ein und lege mich ins Bett – auf die Bettdecke, denn meine Mum ist wahnsinnig und ich werde hier getoastet. Der CPAP summt und ich schließe die Augen, während ich den Sauerstoff einatme, und ich gebe mir große Mühe, nicht an alles zu denken, was heute passiert ist: die Explosion, das entlaufene Versuchsobjekt und Hoches Stimme. Das gelingt mir natürlich nicht, weil ich voller Adrenalin stecke und fast schon bereit bin, mir eine Waffe zu schnappen und durch die Straßen zu laufen, auf der Suche nach Antworten. Manchmal ist es das Schwerste, nichts zu tun. Überraschenderweise nicke ich irgendwann dann aber doch ein.
Ende der Leseprobe