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Vor der Franco-Diktatur nach Südfrankreich geflohen, kämpft die junge Joëlle um den Weinguterben Victor, der sie umwirbt, verführt - und schließlich eine reiche Erbin heiratet. Sie verliert ihr ungeborenes Kind und rächt sich grausam an seiner Familie. In England erkämpft sie sich nach entbehrungsreichen Jahren Wohlstand und Ansehen. Bei einem Heimatbesuch in Südfrankreich trifft sie auf ihre alte Hassliebe. Ein verheerendes Hochwasser verhindert jedoch jegliches Entkommen …
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Seitenzahl: 278
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Elli Sand
Crème Brûlée
Roman
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
Personen und Handlung dieses Romans sind fiktiv.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind Zufall – bis auf ein paar Ausnahmen.
Die historischen Tatsachen sind hiervon unberührt,
denn die Franco-Diktatur und den Tschetschenienkrieg gab es
tatsächlich, die Schlacht um Plogoff auch.
Und mein geliebtes Languedoc und Südafrika sind immer noch
ein kleines Stück vom Paradies.
Elli Sand
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Konstiantyn – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4432-6
»Adieu«, sagte der Fuchs. »Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
»Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.
»Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.«
»Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe …«, sagte der kleine Prinz, um es sich zu merken.
Und er warf sich ins Gras und weinte.
(aus:›Der kleine Prinz‹, von Antoine de Saint-Exupéry)
Das Leben hat es bislang nicht besonders gut mit unserer Familie gemeint.
Für meine Herkunft kann ich nichts. Der Großvater 1939 von Franco in Prats de Molló interniert, der Onkel im Lager von Sant Cebrià zu Tode gekommen. 80.000 Personen waren in den Lagern zusammengepfercht. Dass später auch mein Vater und meine älteren Brüder so tragisch verstorben sind, das war Schicksal. Aber mein eigenes Schicksal will ich selbst bestimmen, ich will und werde es besser haben.
Ich werde alles hinter mir lassen.
Die Franco-Diktatur.
Die Flucht über die Pyrenäen.
Die entbehrungsreichen Jahre.
Die ärmlichen Verhältnisse meiner Familie.
Ich werde alles vergessen.
Meine große Liebe.
Mein ungeborenes Kind.
Victor, den Sinn meines Lebens.
2014
André wartete an der Theke.
Er ließ seinen Blick im Bistro umherwandern. Es stimmte, was Claire neulich gesagt hatte: hier, im »Chez Bruno« war die Zeit stehen geblieben. Seit einem Vierteljahrhundert dieselben dunklen Holzstühle mit den speckigen runden Rückenlehnen, die an den Kanten von Jahr zu Jahr heller wurden, der alte Spielautomat neben der Tür, den kaum noch jemand benutzte, derselbe mosaikähnliche Fliesenboden mit dem braun-bunten Muster, wie es in der Region üblich war und der im Laufe der Jahre zahlreiche Risse bekommen hatte, die kleinen wackeligen Marmortische mit dem schwarzen Eisengestell, bei denen die meisten Tischplatten einen Sprung hatten. Nur der Kalender der örtlichen Feuerwehr war, wie jedes Jahr, ausgetauscht worden und auch das Poster der Rugbymannschaft war neu. Ebenso das eingerahmte Foto des alten Besitzers, der vor einem Monat erschossen in den Weinbergen aufgefunden worden war.
»Noch einen, André?«, fragte Bruno, der Wirt, als Claire ihren getunten 2CV direkt vor der Eingangstür parkte und sich beim Eintreten die Regentropfen von der Jacke klopfte.
»Bonjour copinette«, begrüßte André seine alte Freundin und drückte ihr zwei herzhafte Küsschen auf die Wangen. »Wie siehst du denn aus?«
»Wie immer«, schmunzelte sie, und es stimmte. Abgesehen davon, dass sie in den letzten beiden Jahre etwas pummeliger geworden war und sich in ihre dunklen Locken ein paar Silberfäden eingeschlichen hatten. Die Trauer in ihren Augen war verschwunden und manchmal konnte sie wieder herzhaft lachen, so wie früher, bevor sie von Markus betrogen und verlassen worden war.
»Puh, über Béziers geht gerade ein gewaltiger Platzregen nieder. Meine Scheibenwischer haben es kaum mehr geschafft. Bestellst du mir bitte einen Muscat?«, bat sie und verschwand in Richtung Toilette.
Bruno schenkte André einen Schluck Pastis nach, le ›petit jaune‹, wie der Anisschnaps bei den Einheimischen im Süden hieß, und füllte für Claire einen Muscat in eines der typischen, bauchigen kleinen Weingläser.
»Hast du gehört«, sagte er zu André, »in Cuxac füllen sie vorsichtshalber schon Sandsäcke. Wenn es weiter so regnet, steigt die Aude, und wenn der Wind weiter das Wasser vom Meer in die Mündung zurückdrückt, sagt die Météo ein Hochwasser mit noch nicht absehbaren Folgen voraus. Dann haben wir die gleiche Sauerei wieder wie schon mal. Quelle merde!«
Claire kam mit hochgesteckten Haaren zurück. »Komm, wir setzen uns ans Fenster«, schlug sie vor.
»Warum sollte ich dich denn nicht zu Hause besuchen, um etwas zu besprechen?«, wollte André wissen.
Claire senkte die Stimme: »Weil sie wieder da ist.«
»Sie?«
»Na, Joëlle!«
André sah sie etwas verständnislos an. »Was hat sie denn gegen mich?«
»Gar nichts, mon vieux. Es geht um deinen Vater.«
»Aber mit dieser alten Geschichte habe ich doch nichts zu tun! Also, wenn ich dich jetzt nur noch im Bistro treffen darf, bloß um Joëlle nicht bei dir zu begegnen, das finde ich schon sehr seltsam.« André klang irritiert.
»Ach was, du Kindskopf! Es gibt da ein paar Dinge, die du jetzt wissen musst. Aber solange Joëlle bei mir zu Hause ist, riskiere ich, dass sie mithört, und das will ich vermeiden. Aus dem gleichen Grund wollte ich auch nicht zu dir kommen, damit Victor nichts mitkriegt. Ich fürchte, die Vergangenheit holt ihn wieder ein!«
»Du machst es aber spannend, copinette. Seit wann ist Joëlle denn eigentlich hier?«
»Seit letzter Woche und sie wird hierbleiben.«
»Oh«, entfuhr es André. »Das kann ja heiter werden!«
»Hör zu, wir müssen uns etwas überlegen. Joëlle möchte auf gar keinen Fall, dass Victor erfährt, wer in all den Jahren sein Hauptabnehmer in England war. Schließlich machte das einen beachtlichen Teil eures Exportumsatzes aus.«
»Ach, da sehe ich keine Gefahr.« André winkte ab. »Schließlich ist Joëlle nie unter ihrem richtigen Namen auf den Geschäftspapieren aufgetaucht und Vater hat bis heute keinen blassen Schimmer, wem die Importfirma tatsächlich gehört.«
»Gehört hatte, mon cher. Hatte. Joëlle hat die Firma kürzlich verkauft.
»Ja, du hast am Telefon so etwas angedeutet, aber jetzt rede mal Klartext.«
»Sie will wieder hier in ihrer alten Heimat leben, das ist alles. Sie hat die Firma und das Restaurant in London verkauft und wohnt jetzt so lange bei mir, bis sie ein passendes Haus für sich gefunden hat. Am liebsten irgendwo zwischen Béziers und Narbonne, vielleicht im La Clape, wo sie Platz für ihre Pferde hat.«
»Hat sie die Viecher von England mitgebracht?«
»Noch nicht, erst muss sie mal ein entsprechendes Anwesen finden. Und bitte sag nie mehr Viecher, und schon gar nicht, wenn Joëlle dabei ist. Es sind Araber, edle Zuchtstuten und Hengste, die ein Vermögen wert sind.«
»Und wie soll es jetzt weitergehen?« André nahm einen Schluck Pastis und fuhr sich durch die hellbraunen, zerzausten Locken, die er ebenso wie seine drahtige Gestalt und seine wasserblauen Augen, die in der Gegend so selten waren, von seinem Vater geerbt hatte. »Es wird nicht zu vermeiden sein, dass sie ihm irgendwann mal wieder vor die Füße läuft.«
»Du meinst, vor einen Fuß.«
»Über so was macht man keine Witze! Dass sie sich irgendwo begegnen werden, lässt sich auch gar nicht verhindern, andererseits sind die beiden erwachsene Leute und für sich selber verantwortlich. Aber ich will auch nicht, dass ich bei unseren Festen künftig Victor nicht mehr einladen kann, nur weil Joëlle ihm aus dem Weg gehen will, und für Joëlle gibt es keinen Grund, sich von den Familienfesten fernzuhalten, weil Victor dabei sein wird. Es ist eine verzwickte Geschichte, selbst nach so langer Zeit.« André ergriff Claires Hand. »Hör mal, wir sind Freunde, solange ich denken kann. Wir haben zusammen gearbeitet, zusammen gefeiert und in unseren ganz schlimmen Zeiten zusammen getrauert und geweint. Ich werde nicht zulassen, dass sich daran irgendetwas ändert, nur weil Joëlle jetzt wieder aufgetaucht ist. Und deswegen werden wir uns etwas einfallen lassen, d’accord copinette? Lass mich nachdenken und komm am Sonntag auf die Domaine, da ist Victor weg, um mit dem Partnerschaftskomitee die ganze Logistik für die Festivitäten in Heilbronn vorzubereiten. Es sind immerhin 1.200 Kilometer, die zwischen Béziers und Heilbronn liegen.«
DU!
Mein Liebstes!
DU müsstest morgens an meiner Seite den Sonnenaufgang über unserem Zypressenhain erleben.
In Deinen Locken müssten sich die frühen Sonnenstrahlen verfangen und Deine Augen müssten im Morgendämmern glitzern, in Deinem wundervollen Körper könnte ich mich auch im tageshellen Licht ohne jegliche Scham verlieren.
Doch ich bin gebunden und habe es nicht besser verdient. Es ist wie ein ständiger Stachel im Fleisch.
Es fühlt sich an wie Wundbrand.
Du bist tausend Kilometer entfernt von mir und es kommt mir vor, als wärst Du auf einem anderen Stern.
Unerreichbar.
Ich hoffe, es geht Dir gut, dort, wo Du jetzt bist.
Es goss in Strömen, als André Claires 2CV in seine Hofeinfahrt einbiegen sah. Nicht einmal seine Hunde wollten bei diesem Wetter raus, das nun schon über eine Woche andauerte. Claire trug Gummistiefel und hatte ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Pudel, als sie im Flur stand.
»Mach mir bitte einen Kaffee und gib ein Schlückchen Chupito hinein, mir ist eiskalt.«
Sie kam selten unangemeldet, es musste wohl etwas Außergewöhnliches sein, was sie so früh auf die Domaine trieb. Und dass sie einen Chupito verlangte, jenen hochprozentigen Kräuterschnaps, den seine spanischen Arbeiter selbst ansetzten, war noch außergewöhnlicher.
Er griff nach dem dunkelblauen, karierten Handtuch, das an der Flurgarderobe hing, und reichte es ihr.
»Danke. Die Deiche entlang der Aude sind durchweicht, das heißt, es wird wahrscheinlich Hochwasser geben«, sagte Claire.
Es hatte schon einmal ein verheerendes Hochwasser gegeben, 1999. Damals war die gesamte Ebene im Großraum Béziers-Narbonne überschwemmt worden, bis zu zwei Meter hoch standen viele Häuser im Wasser. Auch sein Weingut, die Domaine D’Ausselles, hatte es damals, wie die meisten anderen in der Region, schwer getroffen. Der Weinkeller und das Erdgeschoss standen unter Wasser. Die neuen Barriquefässer, in denen sich die kurz zuvor eingebrachte Ernte befand, wurden von den Wassermassen hochgehoben und kippten um. Eine einzige rote Brühe bedeckte fast einen Meter hoch den Boden des Kellers. Victor und André hatten große Hoffnungen in diesen Jahrgang gesetzt und in einer Nacht war alles vernichtet, bis auf das, was sich in den sicheren Stahltanks befand.
»Joëlle redet schon seit Tagen um den heißen Brei herum«, fuhr Claire fort und tupfte sich die Regentropfen vom Gesicht. »Sie hat ihr Gestüt letzten Monat verkauft und möchte ihre Araber nun so schnell wie möglich von England hierherbringen. Ihre zwei Lieblingspferde hat sie schon vorübergehend bei mir stehen. Ich habe aber auf Dauer keinen Platz dafür und es ist schwierig, auf die Schnelle eine Koppel zu finden. Meinst du, dein Vater wäre einverstanden, wenn wir die Pferde bei euch unterbringen, bis der Vertrag für das Gehöft in Octon geregelt ist? Du weißt, die Erben sind sich noch nicht einig.«
»Eh bien, copinette, möglich wäre es, aber wir müssten das mit Vater ganz vorsichtig einfädeln, damit keine alten Wunden aufgerissen werden.«
»Ihr Männer seid so was von borniert, da wird eher eine alte Liebe wieder wach!« Claire schüttelte verständnislos den Kopf.
André zuckte hilflos mit den Schultern: »Du kennst doch Victor.«
»Ja, das ist ja das Gute. Deshalb weiß ich auch, wie man am ehesten an ihn rankommt, mon vieux. Dein Vater weiß doch gar nicht, dass Joëlle wieder im Lande ist. Und du wirst es ihm auch bitte noch nicht sagen.«
Victor kam mit sorgenvollem Gesicht über den Hof gehumpelt. Seine lehmverschmierte Arbeitshose war bis zu den Oberschenkeln durchweicht, dicke Dreckbollen klebten an seinen dunkelgrünen Gummistiefeln.
»Nom de chien!«, fluchte er, als er seine zerschlissene, durchnässte Schirmmütze neben die Haustür warf. Von seinen zotteligen, grauen Haaren tropfte das Wasser. »Wo ist denn das Handtuch?«
Claire kam aus der Küche und reichte es ihm. »Pardon, ich habe es gerade selbst verwendet.« Sie schob ihm den kleinen Hocker hin, der neben der Flurgarderobe stand. »Bonjour, Victor«, strahlte sie ihn an und gab ihm zwei Küsschen links und rechts auf die Wangen. »Puh, es piekst, wenn du so schlecht rasiert bist.« Sie strich ihm sacht übers Kinn. »Komm, setz dich, ich zieh dir die Stiefel aus.«
Victor warf ihr einen unwirschen Blick zu. »Das kann ich schon noch selbst.« Ächzend setzte er sich und streifte die Gummistiefel von den Füßen.
Claire hielt sich theatralisch die Nase zu und blickte auf die beiden großen Löcher, durch die seine Zehennägel schauten. »Ich bring dir demnächst vom Markt ein paar neue Socken mit, mein Guter.«
»Red keinen Unsinn, Claire. Wir haben wichtigere Sorgen! Wenn das Wasser weiter so steigt, werden wir hier bald die gleiche Scheiße wieder haben! In Coursan und Cuxac haben sie schon Sandsäcke gestapelt, hab ich im Radio gehört. Und der Regen soll noch zunehmen!«
Claire lächelte ihn an. »Kommt doch heute Abend zum Essen zu mir, dann können wir einen Notfallplan besprechen, falls ihr hier wirklich ganz nasse Füße kriegt. Ein paar freie Betten hätte ich ja.«
»So schnell werden wir das hoffentlich nicht brauchen. Noch halten die Deiche. Aber zum Essen kommen wir heute Abend gerne, nicht wahr, Vater?«, fragte André.
»Abwarten. Vielleicht werden bis dahin schon die ersten Straßen gesperrt sein.« Victors Miene ließ deutlich seine Zweifel erkennen. »Aber wenn die route départementale offen bleibt, kommen wir natürlich. So einen Seeteufel, wie du ihn neulich gemacht hast …«, er küsste seine verkrusteten Fingerspitzen, »dafür würde ich sogar zu dir rudern.«
Claire lachte. »Den kriege ich jetzt nirgendwo mehr her, die Markthalle hat zu. Aber ich hätte noch ein Gigot d’agneau in der Tiefkühltruhe, das brauche ich nur rauszuholen.«
Victors tiefe Falten um den Mund wanderten nach oben. »Eine Lammschulter!«, schmatzte er. »Dann bringe ich von meinem Prinzenwein mit.«
»Ich sag der Köchin Bescheid, dass sie sich anstrengen soll. Du darfst aber nur gebadet und mit frischen Socken ins Wohnzimmer, und – wenn du dich vorher ordentlich rasierst«, scherzte Claire und ging in Richtung Haustür.
1977
Victor umschmeichelte sie schon eine ganze Weile. Dass er beim Schneiden der Reben meistens neben ihr arbeitete, war kein Zufall, dessen war sich Joëlle sicher. Er scherzte mit ihr, neckte sie bei jeder Gelegenheit, flüsterte ihr kleine Komplimente und Zärtlichkeiten ins Ohr. An manchen Tagen konnte sie es gar nicht erwarten, in den Weinbergen zu arbeiten.
»Träum nicht, Joëlle!«, schalt der Vorarbeiter sie, wenn sie ihm durch das Laub hindurch zusah, wie er in kurzen Hosen und mit nacktem, schweißglänzendem Oberkörper auf der anderen Seite eines Rebstockes die überschüssigen Triebe abschnitt und sich die hellbraunen Locken, die in der Sonne leuchteten, aus der Stirn pustete. Sie konnte die Augen nicht von ihm lassen und häufig warf er ihr durch eine freigeschnittene Lücke eine Kusshand zu.
»Lass dich nicht mit dem Sohn des Patrons ein!«, schärfte ihre Mutter ihr ein, als sie die beiden beobachtet hatte, »in diesen Kreisen haben wir nichts verloren.«
»Aber das sind doch völlig veraltete Ansichten«, widersprach Joëlle.
»Er wird sich an die Tradition halten und sich eine Winzertochter aussuchen, wenn es so weit ist. Bis dahin stößt er sich die Hörner ab, wenn du verstehst, was ich meine. Dazu bist du zu schade, mein Kind.«
»Und wenn er es ernst meint? Wenn ich ihm wirklich gefalle? Wenn er auf die Tradition pfeift, Maman?«
»Verschenk dich nicht vor der Hochzeit an einen! Du verlierst deinen Wert und deine Würde als Frau, hast du gehört?«
»Maman! Wir leben doch nicht mehr im vorigen Jahrhundert!«
»Komm mir bloß nicht mit einem Bastard nach Hause, das sag ich dir! Es war schwer genug für mich, dich und Titou durchzubringen. Eine solche Schande würde ich nicht überleben. Du hast auch Verantwortung für mich und deinen kleinen Bruder. Also lass dich nicht mit ihm ein!«
Joëlle sah ihre Mutter an und schwieg. Der kleine Titou, ihr Brüderchen, bedeutete ihr alles. Sein Taufnahme war eigentlich Lluís, wie der verstorbene Onkel Lluís Martinez, der nach dem Präsidenten der Generalität Lluís Companys benannt worden war. Er wurde von der deutschen Polizei gefangen genommen und an die Behörden Francos ausgeliefert. Diese hatten ihn in einem Schauprozess ohne jegliche Rechtsgrundlage zum Tode verurteilt und am 15. Oktober 1940 im Kastell von Montjuïc in Barcelona hingerichtet. Über dieses dunkle Kapitel wurde in der Familie nicht geredet, zu tief saß der Schmerz.
Aber was, so fragte sie sich, wusste ihre Mutter denn von der Liebe? Als sie in ihrem Alter war, ging es ums Überleben der Familie, für Gefühle war kein Platz. Das Wort ›Liebe‹ hatte sie zu Hause nie gehört. Aber Victor hatte von Liebe gesprochen, nur ein paar wenige Worte, dass er sich in sie verliebt habe, dass sie ihm besser gefalle als alle anderen, er hatte ihre Hände geküsst zwischen den Reben, hatte ihr übers Haar gestrichen, ihr zugeflüstert, dass er sie haben wolle, bis die laute Stimme des Vorarbeiters sie auseinandertrieb.
Er machte ihr seit vielen Monaten Komplimente, wenn sie sich im Hof über den Weg liefen und hatte sie in manchem unbeobachteten Augenblick leidenschaftlich in den Weinbergen geküsst. »Eigentlich darf ich das gar nicht«, hatte er anfangs geflüstert, »aber in dich muss man sich verlieben.«
Sie würde Geduld haben müssen, viel Geduld, bis seine
Eltern André und Suzette sich aufs Altenteil zurückziehen würden.
Aber eines Tages, vielleicht im nächsten oder übernächsten Jahr, würde sie an der Seite von Victor in die Herrschaftszimmer des Gutes Einzug halten. So hatte sie es sich ausgemalt, als sie neulich eine kurze Weile unbeobachtet nebeneinander im Weinberg arbeiteten und er immer wieder zärtlich ihren Nacken küsste.
Und sie würde nicht warten bis zur Hochzeit, sie würde ihm vorher nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren Körper schenken.
Victor
»Du bist der Kronprinz«, hatte der alte D’Ausselles immer zu seinem Sohn gesagt, »du wirst die Ehre der Familie und die Tradition aufrechterhalten.«
Sein Vater führte das Weingut in der zweiten Generation und hatte es zu Wohlstand und Ansehen gebracht, als er Suzette, die Tochter eines reichen Winzers aus Gruissan geheiratet hatte.
›Liebe vergeht, Boden besteht‹, war der Leitspruch in der damaligen Zeit. Land musste zu Land. Die Väter suchten die Schwiegertöchter aus, die Söhne fügten sich.
»Weißt du, mon petit« hatte sein Großvater einmal zu seinem Enkelsohn André gesagt, »deine Großmutter war nicht schön, aber reich und tüchtig und gut im Haus. Und fürs Herz, da gibt es immer eine andere, so ist das Leben.«
»Weißt du, ma petite«, hatte seine Großmutter einmal zu seiner rassigen Schwester gesagt, die äußerlich so gar keine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder hatte, »dein Großvater war mir von den Eltern zum Mann bestimmt worden. Er war keiner, den ich lieben konnte, aber er war reich und ein tüchtiger Winzer. Und fürs Herz, da gibt es immer einen anderen, da schaut der liebe Gott weg. So ist das Leben.«
Nein, der alte André D’Ausselles war wahrlich keiner, den eine Frau wie Suzette hätte lieben können. Knorrig wie ein alter Olivenbaum war er ihr schon in jungen Jahren vorgekommen, als ihr Vater ihn als ihren Bräutigam auserkoren hatte. Knorrig war er sein Leben lang geblieben. Er war einer, der keinen Widerspruch duldete, der alte D’Ausselles, ein Patron, geachtet und gefürchtet von seinen Arbeitern. Sein Wort war Gesetz auf der Domaine.
»Der wird erst sein Regiment abgeben, wenn er in die Grube fährt, da kann der Junge lange warten, bis er das Sagen auf der Domaine hat«, hatte sein Vorarbeiter einmal zu Mariella gesagt, die den Haushalt für ihre Herrschaft führte.
»Ja«, antwortete Mariella, »wie die Patronne es ihr ganzes Leben mit ihm ausgehalten hat, ist mir ein Rätsel. Allein schon dafür wird sie bestimmt in den Himmel kommen.«
In den Salons von Gruissan munkelte man, dass Suzette einen ›petit copain‹ habe, in Narbonne war es ein offenes Geheimnis, dass der alte D’Ausselles eine maîtresse hatte. Aber beide waren ihr Leben lang zusammengeblieben. Man hatte sich eben arrangiert.
Victor war ihr beider Stolz. Ein Hansdampf-in-allen-Gassen war ihr Sohn, schon als junger Bursche ein gut aussehender, liebenswerter Draufgänger, dem die Mädchen in Scharen nachliefen. Und eben der Kronprinz.
»Eines muss dir klar sein«, sagte der alte D’Ausselles eines Abends zu seinem Sohn, »Bastarde gibt es bei den D’Ausselles nicht und geheiratet wird standesgemäß. Ich weiß, dass sich dir jede Menge Möglichkeiten bieten und ich habe auch nichts dagegen, wenn du dir die Hörner gründlich abstößt, aber aufpassen musst du halt.« Mit diesen Worten legte er ihm ein paar Päckchen Präservative hin. »Verstanden?«
Victor wurde rot.
»Verstanden, hab ich dich gefragt, oder soll ich dir eine Zeichnung machen?«
»Ja, Vater.«
»Und noch etwas: Standesgemäß heißt, dass ich bei deiner Wahl ein Wort mitreden werde.«
»Aber Vater, davon kann doch wohl noch keine Rede sein, ich habe nicht die geringste Absicht, mich jetzt schon zu binden, geschweige denn zu heiraten.«
»Du schleichst schon seit vorletztem Sommer immer wieder um die kleine Martinez herum, ich hab das sehr wohl bemerkt, mein Sohn, aber damit wird jetzt Schluss sein.«
»Vater…!«, hob Victor an und holte tief Luft.
»Keine Widerrede!«, hielt der Alte dagegen. »Du wirst die Finger von einer Tagelöhnerin lassen und dir eine aus unseren Kreisen suchen, das muss klar sein. Es gibt in der Gegend nicht so viele Mädchen im heiratsfähigen Alter, bei denen die Bedingungen stimmen, aber es gibt viele Anwärter auf sie, und den letzten beißen ja bekanntlich die Hunde. Also solltest du nicht mehr allzu lange warten, sonst bekommst du, was andere nicht haben wollten. Die Hörner kann man sich übrigens auch noch abstoßen, wenn man schon versprochen ist, aber danach ist Schluss damit. Also halte dich jetzt noch ran. Wir werden nächsten Monat eine Soirée geben und die Kandidatinnen mit ihren Eltern alle einladen.«
Bereits in der Woche danach war ein geschäftiges Gewusele auf dem Weingut zu bemerken. Sämtliche Bedienstete mussten mit anpacken, um alles auf Hochglanz zu bringen. Die Fassade wurde abgespritzt, die Fensterläden erhielten frische Farbe, das schwere Eisentor und der Zaun wurden entrostet und neu gestrichen, das Tafelsilber geputzt, ein Ochse und ein Schwein wurden angeliefert und vom Dorfmetzger geschlachtet.
»Vater, es ist doch keine Hochzeit!«
»Victor, die D’Ausselles haben ihren Gästen schon immer das Beste aus Küche und Keller vorgesetzt. Nicht die künftige Braut muss Appetit bekommen, sondern ihre Eltern.«
Die D’Ausselles sparten an nichts bei dieser Soirée. Es waren eigens zwei Köche aus Montpellier engagiert worden, die das Regiment in der Küche übernahmen, während Joëlle und ihre Mutter, die sonst alleine für die D’Ausselles kochte, ihnen bei den groben Küchenarbeiten zur Hand gehen mussten. Joëlle hatte zusätzlich die Aufgabe, den drei Kellnern zu helfen, Tische abzuräumen und zwischendurch für Sauberkeit zu sorgen.
Immer wieder fing sie einen Blick von Victor auf, wenn sie an seinem Tisch vorbeikam, an dem seine Schwester und fünf ausgewählte reiche Winzertöchter saßen.
Unter dem Kuppelzelt spielte ein kleines Orchester auf. Victor betanzte die Mädchen reihum, die sein Vater als mögliche Bräute ausgesucht hatte und seine jüngeren Cousins, die eigens zu diesem Zweck mit eingeladen worden waren, mussten ebenfalls tapfer das Tanzbein schwingen. Victors Eltern waren perfekte Gastgeber und auch die Eltern der eingeladenen Kandidatinnen zeigten sich von ihren charmantesten Seiten. Man nutzte den Abend, um Geschäfte anzubahnen und sich über die Entwicklungen und Trends auf den Weinmärkten auszutauschen, denn man kam selten in so einem exquisiten Rahmen wie an diesem Abend zusammen. Die D’Ausselles kredenzten ihre besten Weine, zum Nachtisch gab es reichlich von dem schweren raren Süßwein, der wie ein Schatz gehütet und sonst nur zu Feiertagen serviert wurde. Jeder wusste um die Bedeutung dieser Soirée.
»Huch!«, zuckte Joëlle zusammen, als sie außen hinter dem Weinkeller entlangging, um zwei weitere Kartons Wein zu holen. Victor stand an der Ecke im Halbdunkel und pinkelte in hohem Bogen an die Wand. Joëlle drehte sich rasch um. »Jetzt habe ich mich aber furchtbar erschreckt!«
»Schon vorbei, meine Schöne!«, lachte Victor und knöpfte seinen Hosenlatz zu. »Du tust ja gerade so, als wüsstest du nicht, was ein Mann zwischen den Beinen hat!«
»Entschuldige bitte, ich will nur Wein holen.«
»Warte, ich helfe dir Joëlle!« Victor ging hinter ihr in den Weinkeller, packte zwei Kartons auf den großen Eichentisch, der an der Wand stand, und fasste Joëlle um die Hüfte. »Diese Pissnelken, die mein Vater eingeladen hat, damit ich mir eine aussuche, die können mir alle gestohlen bleiben«, hauchte er ihr seinen weingeschwängerten Atem ins Ohr. »Du, meine Schöne, du bist die, die ich liebe, dich will ich haben.«
Sie wehrte sich nicht gegen seine leidenschaftlichen Küsse, auch nicht, als er sie über den Tisch beugte und ihr den Rock hochschob.
Zehn Minuten später brachte Victor dem Kellner zwei Weinkartons, während sich Joëlle am Brunnen neben dem Weinkeller im Schutz der Dunkelheit ihre blutigen Oberschenkel abwusch.
»He, Kleine, du bist wohl müde«, scherzte einer der Kellner, als sie später die Dessertteller abräumte, »du läufst ja wie eine alte Frau und zittrige Hände hast du auch! Dabei müsstest du doch ans Zupacken gewöhnt sein. Zwei bis drei Stunden müssen wir noch durchhalten.«
Victor tanzte derweil ausgelassen mit der drallen Emilie und zog sie nach den ersten Walzertakten unauffällig von der Ecke der Tanzfläche durch die Oleanderbüsche auf den schmalen Weg, der in den Park führte, wo der Sommerpavillon stand. Sie kamen nach einer halben Stunde zurück und Emilie hatte hochrote Wangen, die jedoch kaum einer der Gäste bemerkte, denn alle hatten bereits reichlich den Ausselles-Weinen zugesprochen.
»Du musst noch ein zweites Mal mit Jacqueline tanzen«, flüsterte seine Mutter ihm zu. »Ich möchte nicht, dass du sie heute Abend vernachlässigst, klar? Und lass die Finger von Emilie.«
»Aber wozu denn?«
»Weil dein Vater es möchte. Eine Du Chenois würde besser hierherpassen. Also tanz mit Jacqueline.«
»Dir zuliebe, Mutter, nur dir zuliebe!«
Victor hatte bereits reichlich von dem schweren Wein genossen und fühlte sich für einen weiteren valse musette nicht mehr sicher genug auf den Beinen. Er bestellte bei den Musikern einen langsamen Walzer und zog Jacqueline auf die Tanzfläche.
»Bei dir holt ein Mann sich ja blaue Flecken«, scherzte er, als sie sich an ihn drückte.
»Dafür ist nichts künstlich hochgepolstert, alles echt«, erwiderte Jacqueline und reckte ihm ihre kurze Himmelfahrtsnase herausfordernd entgegen. »Wenn du Mut hast, kannst du dich ja überzeugen!«
Als Pedro später einen großen Bottich mit leeren Weinflaschen über den Parkplatz karrte, sah er die kleine Fourgonette, mit der Jacqueline und ihre Eltern gekommen waren, hin- und herschwanken.
Joëlle richtete es so ein, dass sie stets dort arbeitete, wo sie Victor jeden Tag begegnen konnte, entweder in den Weinbergen oder im Weinkeller. Spät am Abend schlich sie sich in die Scheune zu dem kleinen Lieferwagen, in den Victor ein paar Wolldecken gelegt und die er mit Stroh unterpolstert hatte, und wartete, bis er zu ihr kam.
Victor hatte ihr eingeschärft, dass ihr Verhältnis so lange geheim bleiben musste, bis er von seinem Vater das Weingut überschrieben bekommen habe. Sie wusste, dass sie ihre Liebe noch nicht offen zeigen durften. Sie würden sich vorerst weiterhin nach Einbruch der Dunkelheit heimlich in der Scheune im Lieferwagen treffen müssen, in dem Victor zwei Gläser und einen Wein versteckt hatte und in dem sie sich liebten. Jeden Abend. Sie blieb noch eine Weile liegen, wenn er sagte: »Ich muss jetzt zurück«, und hüllte sich noch ein paar Augenblicke in die Wolldecke, die nach seinem ledrig-herben Rasierwasser roch, bevor sie wieder zu ihrer Kammer in der stickigen Dienstbotenwohnung schlich.
»Wirst du es deinen Eltern bald sagen?« flüsterte sie ihm manchmal zu, wenn er in den Weinbergen mit dem Traktor die Tagelöhner von der Arbeit abholte.
»Ja, meine Schöne, aber jetzt noch nicht, wir müssen damit noch warten. Es ist im Augenblick nicht günstig dafür. Vater hat großen Ärger mit dem alten Esverny.«
»Was ist denn passiert?«, wollte Joëlle wissen.
»Das geht dich nichts an, das ist unsere Sache«, erwiderte Victor.
Als Joëlle beim Abendessen ihre Mutter nach dem Ärger mit den Esvernys fragte, erklärte ihr diese, dass Silvain Esverny sich weigerte, den Erdrutsch und den Schaden, den sein herabrutschendes Gelände beim Nachbargrundstück der D’Ausselles verursacht hatte, zu beseitigen.
Joëlle
Seit einer Woche arbeitete sie jetzt nicht mehr im Weinberg, sondern in der Küche. Sie biss die Zähne zusammen, damit niemand ihre Schwäche bemerkte, die sie hin und wieder überkam. Manchmal musste sie ganz schnell und unauffällig in der kleinen Toilette hinter der Küche verschwinden und sich übergeben. Das ist sicher die ungewohnt frühe Arbeitszeit und der penetrante Küchenduft, redete sie sich anfangs noch ein. Aber ihre Übelkeit ging nicht weg.
»Du hättest in den Weinbergen bleiben sollen«, schalt ihre Mutter, »sieh doch, wie blass du in der kurzen Zeit in der Küche geworden bist. Kein Wunder, dir fehlt die Sonne!« Sie band sich die ausgebleichte, aber sorgfältig gebügelte, hellgrüne Schürze um und steckte ihre silbrigen Haare zusammen, bevor sie ihre Dienstbotenwohnung verließ und über den Hof zum Herrenhaus ging.
Es war nicht die fehlende Sonne, dessen war sich Joëlle inzwischen sicher.
Erschrocken hatte sie festgestellt, dass ihre Monatsblutung ausgeblieben war. Nächste Woche habe ich einen Tag frei, ich muss zu einem Arzt, beschloss sie, aber nicht in Narbonne. Ich werde nach Béziers fahren, das ist diskreter.
»Hmm, Mademoiselle, als ledige junge Frau ein Kind zu erwarten, bringt große Probleme. Was würden sie denn machen, wenn der Erzeuger sich einer Heirat verweigert? Die Standesunterschiede, wissen Sie, die haben schon manches Mädchen ins Unglück gestürzt«, hatte der alte Arzt in der Rue Pasteur gesagt, den sie aufgesucht hatte, und ihr ein Glas mit einer bitteren Flüssigkeit gereicht. »Trinken Sie, das ist Baldrian. Ich darf Ihnen nicht helfen, das wissen Sie. Aber Sie finden nachher draußen hinter der Eingangstür an der Ecke unter der großen grünen Vase einen Zettel mit einer Telefonnummer. Rufen Sie dort an, wenn der Vater des Kindes nicht zu Ihnen steht, und fragen Sie nach einem Termin. Mehr darf ich nicht für Sie tun, sosehr ich ihre Lage verstehen kann. Sie brauchen mir nichts zu zahlen, das Geld werden sie woanders nötiger brauchen.«
Joëlle fand den Zettel und wusste, womit die Frau, deren Telefonnummer darauf stand, ihr Geld verdiente.
Sie fuhr, so schnell es mit dem alten Moped, das einst ihrem Vater gehört hatte, ging, nach Hause. Niemand hatte sie an diesem Nachmittag vermisst.
Oh nein, die Adresse dieser Frau würde sie nicht brauchen. Sie hatte Victor mehr zu bieten als irgendeine andere dieser hochnäsigen Winzertöchter mit ihrem verdammten Grund und Boden, die sie von ihren reichen Vätern bekommen würde. Sie, Joëlle, hatte einen Erben zu bieten, der ihre Liebe krönte, und das wog mehr als die Familientradition und als jegliche Mitgift. Wenn es ein Junge sein würde, sollte er den Namen seines Vaters erhalten, eine Tochter würde sie Victoria taufen.
Sie wusste, wo sie um diese Zeit Victor in den Weinbergen antreffen würde. Als sie das alte Moped direkt vor seinem Traktor zum Stehen brachte, bremste er überrascht und hart.
»Komm, steig ab, ich habe dir etwas zu sagen!«, rief Joëlle zu ihm hinauf.
»Ich habe keine Zeit!«, rief Victor ihr zu.
»Komm, steig ab! Es ist wichtig. Dich und mich betrifft es in erster Linie, und deine ganze Familie!«
»Also«, keuchte Victor, als er sie zwischen die Weinstöcke geschoben hatte, »was gibt es denn noch so Wichtiges?«
»Ich bekomme ein Kind von dir!« Joëlle fiel ihm um den Hals.
Victor wurde blass und schob sie mit einem Ruck von sich. »Sag das noch mal.«
»Du und ich, wir bekommen ein Kind.«
Victor holte mehrmals tief Luft. »Joëlle, fahr nach Hause. Ich muss nachdenken.« Damit ließ er sie stehen, stieg hastig auf seinen Traktor und legte krachend den Gang ein. Joëlle sah ihn in einer großen Staubwolke in Richtung Domaine fahren. Enttäuschung breitete sich in ihr aus.
Sie hatte inständig gehofft, dass diese Nachricht für Victor eine gute sein würde, eine, die ihm den Mut gab, sich seinem mächtigen Vater und seinen Entscheidungen entgegenzustellen.
Am nächsten Tag war Victor früh in den Weinbergen und kam abends spät zurück. Ganz offensichtlich mied er die Begegnung mit ihr.
Tags darauf wartete sie ab 5 Uhr morgens in der Scheune auf seinem Traktor auf ihn.
Er zuckte zusammen, als er mit Schwung hochklettern wollte und sein Sitz besetzt war. »Was zum Teufel machst du denn hier?«
»Victor, du hattest zwei Tage zum Nachdenken und um mit deinem Vater über uns zu reden. Ich weiß, dass du nach seinem Willen Jacqueline heiraten sollst. Aber vielleicht bist du Manns genug, um dich für mich, unsere Liebe und unser Kind zu entscheiden.«
»Gib mir ein paar Tage Zeit, Joëlle, bitte! Du kennst Vaters Jähzorn nicht.«
Nach weiteren drei Tagen wartete Joëlle wieder auf dem Fahrersitz des Traktors um 5 Uhr morgens auf Victor. Er kam nicht. Stattdessen kam Pedro angehinkt, einer seiner Landarbeiter.
»Es hat keinen Sinn, auf ihn zu warten, er muss nachher nach Béziers.«
Nach Béziers, dachte Joëlle, nach Béziers, wo diese Jacqueline, die schon zweimal in der letzten Woche auf der Domaine gewesen war und einmal sogar ihren Vater mitgebracht hatte, und ihre ganze Sippschaft wohnen.
»Sag Victor, wenn er in zehn Minuten nicht hier ist, komme ich ihn holen!«
»Guapa, schlag ihn dir aus dem Kopf. Du bist noch so jung, du findest einen anderen. Arme Leute wie wir haben bei diesen Reichen nichts verloren, die Familientradition verbietet es. Vergiss deine Herkunft nicht, wir sind Landarbeiter und können dankbar sein, dass wir hier in Lohn und Brot sind.«
»Dankbar! Ja? Dankbar? Dafür, dass der alte D’Ausselles Krüppel wie dich bis zum Umfallen schuften lässt?«
»Mein Vater gehörte damals zu den Republikanern. Hitler hat uns während der Besatzungszeit nach Mauthausen deportieren lassen. Ich habe überlebt, er nicht. Meine Schwester ist von Girona aus ins Flüchtlingslager nach Agde geflohen. Von dort haben sie sie nach Ravensbrück deportiert und umgebracht. Ich weiß, was es heißt, wenn man irgendwo wieder ein Stück Sicherheit, ein Bett und ordentliches Essen bekommt. Da ist man dankbar dafür!«