Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht - Sarah J. Maas - E-Book
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Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht E-Book

Sarah J. Maas

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Beschreibung

Der Auftakt zur neuen Reihe von Bestsellerautorin Sarah J. Maas! Magie, Musik – und tödliche Gefahren: Die junge Bryce Quinlan, Halb-Fae und Halb-Mensch, genießt jedes Vergnügen, das Crescent Citys Nächte zu bieten haben. Doch dann wird ihre beste Freundin Danika von einem Dämon brutal ermordet – und für Bryce bricht die ganze Welt zusammen. Als der Dämon zwei Jahre später erneut zuschlägt, wird Bryce gegen ihren Willen in die Ermittlungen hineingezogen und muss mit Hunt Athalar zusammenarbeiten. Einem Engel, der als gewissenloser Auftragsmörder berüchtigt ist, – und mit dem sich Bryce auf ein Spiel mit dem Feuer einlässt. Während die beiden der Spur des Dämons tief in die Unterwelt der Stadt folgen, entdecken sie eine bösartige Macht, die ganz Crescent City in Schutt und Asche legen könnte … Kennen Sie bereits die weiteren Serien von Sarah J. Maas bei dtv? »Das Reich der sieben Höfe« »Throne of Glass«

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Seitenzahl: 1291

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Über das Buch

MAGIE, MUSIK – UND TÖDLICHE GEFAHREN

 

Zwei Jahre ist es her, seit Bryce ihre beste Freundin verloren hat. Zwei Jahre, in denen sie vergeblich versucht hat, Danikas Tod zu überwinden und ihre Rachegedanken zu unterdrücken.

Doch nun hat der Mörder erneut zugeschlagen – und Bryce soll zusammen mit dem Engel Hunt Athalar versuchen, ihn aufzuspüren. Hunt, der als gewissenloser Auftragsmörder berüchtigt ist, und Bryce könnten nicht unterschiedlicher sein – und doch lässt sich nicht leugnen, dass sie sich zueinander hingezogen fühlen. Bryce ist klar: Sich auf ihn einzulassen, gleicht einem Spiel mit dem Feuer.

Und während die beiden der Spur des Dämons tief in die Unterwelt der Stadt folgen, entdecken sie eine bösartige Macht, die ganz Crescent City in Schutt und Asche legen könnte.

 

Von Sarah J. Maas sind bei dtv außerdem lieferbar:

Crescent City 2 – Wenn ein Stern erstrahlt

Crescent City 3 – Wenn die Schatten sich erheben

Throne of Glass 1 – Die Erwählte

Throne of Glass 2 – Kriegerin im Schatten

Throne of Glass 3 – Erbin des Feuers

Throne of Glass 4 – Königin der Finsternis

Throne of Glass 5 – Die Sturmbezwingerin

Throne of Glass 6 – Der verwundete Krieger

Throne of Glass 7 – Herrscherin über Asche und Zorn

Throne of Glass – Celaenas Geschichte. Novella 1 – 5

Das große Throne of Glass -Fanbuch

Das Reich der sieben Höfe 1 – Dornen und Rosen

Das Reich der sieben Höfe 2 – Flammen und Finsternis

Das Reich der sieben Höfe 3 – Sterne und Schwerter

Das Reich der sieben Höfe 4 – Frost und Mondlicht

Das Reich der sieben Höfe 5 – Silbernes Feuer

Das große Reich der sieben Höfe –Fanbuch

Catwoman – Diebin von Gotham City

Sarah J. Maas

CRESCENT CITY

WENN DAS DUNKEL ERWACHT

Band 1

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch vonFranca Fritz und Heinrich Koop

 

 

 

 

Für Taran –

der hellste Stern an meinem Himmel

DIE VIER HÄUSER VON MIDGARD

Gemäß Erlass des Reichssenats der Ewigen Stadt

im Jahr 33 W. E.

HAUS DER ERDE UND AHNEN

Gestaltwandler, Menschen, Hexen, herkömmliche Tiere und viele andere, die Cthonas Ruf folgen, sowie einige, die von Luna auserwählt sind

HAUS DES HIMMELS UND ATEMS

Malakhim (Engel), Fae, Elementarwesen, Kobolde und alle, die von Solas gesegnet sind, sowie einige, die von Luna bevorzugt werden

HAUS DER VIELEN WASSER

Flussgeister, Meerwesen, Wasserbestien, Nymphen, Kelpies, Nixen und andere, über die Ogenas wacht

HAUS DER FLAMMEN UND SCHATTEN

Daemonaki, Sensenmänner, Geisterwesen, Vampire, Draki, Drachen, Totenbeschwörer und viele bösartige und namenlose Wesen, die nicht einmal Urd selbst sehen kann

[1]

TEIL I DIE SENKE

1

Ein Wolf lungerte vor der Galerietür.

Was bedeutete, dass heute Donnerstag sein musste. Was bedeutete, dass Bryce echt verdammt müde sein musste, wenn sie sich bei der Frage nach dem Wochentag schon auf Danikas Kommen und Gehen verließ.

Die schwere Metalltür von Griffins Altertümer & Antiquitäten dröhnte unter dem Hieb der Wolfsfaust, deren metallic-violett lackierte Fingernägel dringend eine Maniküre brauchten, wie Bryce wusste. Eine Sekunde später blaffte eine weibliche Stimme, durch den Stahl gedämpft: »Mach endlich auf, B. Hier draußen ist es schweineheiß!«

Bryce, die an ihrem Schreibtisch in dem dezenten Ausstellungsraum der Galerie saß, rief grinsend das Video der Überwachungskamera an der Eingangstür auf und schob sich eine weinrote Haarsträhne hinter ihr spitz zulaufendes Ohr. »Warum bist du von oben bis unten mit Dreck bespritzt?«, fragte sie in die Gegensprechanlage. »Du siehst aus, als hättest du im Müll gestöbert.«

»Was zum Teufel heißt ›gestöbert‹?« Danika hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Ungeduldig wischte sie mit schmutzigen Fingern darüber und verteilte die schwarzen Dreckspritzer dabei noch.

»Das wüsstest du, wenn du mal ein Buch in die Hand nehmen würdest, Danika.« Froh über die Unterbrechung eines endlos langen Vormittags mit langweiligen Recherchen stand Bryce lächelnd von ihrem Stuhl auf. Da die Galerie keine Fenster hatte, musste sie sich ganz auf die Videoüberwachungsanlage verlassen, um herauszufinden, wer jenseits der dicken Außenmauern stand. Selbst mit ihrem scharfen Gehör der Halb-Fae konnte sie kaum etwas von dem wahrnehmen, was sich auf der anderen Seite der schweren Tür abspielte – abgesehen vom gelegentlichen Hämmern einer Faust. Hinter dem schlichten Äußeren des Sandsteingebäudes verbargen sich neueste Überwachungstechnik und erstklassige Magie und sorgten dafür, dass die Galerie reibungslos funktionierte und die zahlreichen Bücher im Kellerarchiv vor Schaden bewahrt wurden.

Als hätte allein der Gedanke an das Geschoss unter Bryce’ High Heels sie heraufbeschworen, ertönte im nächsten Moment eine dünne Stimme hinter der fünfzehn Zentimeter dicken Archivtür links neben Bryce: »Ist das Danika?«

»Ja, Lehabah.« Bryce legte eine Hand auf den Griff der Eingangstür. Die Beschwörungszauber summten unter ihrer Handfläche und schlängelten sich wie Rauch über ihre goldbraune, von Sommersprossen übersäte Haut. Sie biss die Zähne zusammen und ertrug das Prickeln, an das sie sich auch nach einem Jahr in der Galerie noch immer nicht gewöhnt hatte.

Auf der anderen Seite der trügerisch schlichten Metalltür des Archivs warnte Lehabah: »Jesiba gefällt ihre Anwesenheit hier nicht.«

»Dir gefällt ihre Anwesenheit nicht«, berichtigte Bryce und musterte die Archivtür mit zusammengekniffenen Augen. Sie wusste genau, dass die winzige Feuerkoboldin wie bei jedem unangemeldeten Besuch lauschend auf der anderen Seite schwebte. »Geh wieder an die Arbeit.«

Lehabah antwortete nicht; sie driftete vermutlich schon wieder ins Archiv hinunter, um die Bücher dort zu bewachen. Bryce verdrehte die Augen, riss die Eingangstür auf und bekam eine volle Ladung heiße Luft ins Gesicht, die so trocken war, dass sie sämtliches Leben aus ihr zu saugen drohte. Und dabei hatte der Sommer gerade erst angefangen.

Danika sah nicht nur so aus, als hätte sie im Müll gestöbert – sie roch auch so.

Aus ihrem langen silberblonden Zopf mit den amethyst-, saphir- und rosenfarbenen Strähnchen hatten sich ein paar Locken gelöst. Darauf schimmerte eine dunkle Substanz, die nach Metall und Ammoniak stank.

»Hat ja verdammt lange gedauert«, murrte sie und stolzierte in die Galerie, wobei das Schwert auf ihrem Rücken bei jedem Schritt wippte. Ihr Zopf hatte sich in seinem abgewetzten Ledergriff verhakt, und als sie vor dem Schreibtisch stehen blieb, erlaubte Bryce es sich, die Haare vorsichtig zu befreien.

Sie hatte die Aufgabe kaum erledigt, als Danika auch schon mit schlanken Fingern die Riemen der Schwerthalterung löste, die quer über ihre alte Motorradjacke lief. »Ich muss das für ein paar Stunden hier deponieren«, verkündete sie, nahm das Schwert vom Rücken und marschierte auf den Wandschrank zu, der sich am anderen Ende des Ausstellungsraums hinter einem Holzpaneel befand.

Bryce lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte die Arme über ihrem hautengen schwarzen Stretchkleid. »Schon deine Sporttasche stinkt gottserbärmlich. Und wenn Jesiba am Nachmittag zurückkommt und dein Zeug dann noch immer hier rumliegt, wird sie den ganzen Plunder ein weiteres Mal in den Müllcontainer werfen.«

Und das war noch die mildeste Form der Hölle, die Jesiba Roga entfesseln konnte, wenn man sie provozierte.

Die vierhundert Jahre alte Magierin, die als Hexe zur Welt gekommen und abtrünnig geworden war, hatte sich mit dem Haus der Flammen und Schatten verbündet und war nur dem Unterkönig persönlich Rechenschaft schuldig. Das Haus der Flammen und Schatten passte gut zu ihr, schon allein deshalb, weil sie über ein Arsenal an Beschwörungsformeln verfügte, das es mit jedem Hexenmeister oder Totenbeschwörer dieses dunkelsten Hauses aufnehmen konnte. Es ging das Gerücht, dass Jesiba jeden, der sie genug reizte, in ein Tier verwandelte. Und Bryce hatte sich nie getraut nachzufragen, ob die Wesen in den zahlreichen Aquarien und Terrarien im Archiv als Tiere auf die Welt gekommen waren.

Also bemühte Bryce sich, Jesiba nicht zu reizen. Nicht dass man sich auch nur eine Minute in Sicherheit wähnen durfte, wenn es um die Wanen ging. Selbst die schwächsten Wanen – eine Gruppe, die jedes Lebewesen auf Midgard umfasste, abgesehen von Menschen und herkömmlichen Tieren – stellten eine tödliche Gefahr dar.

»Ich hol’s später wieder ab«, versprach Danika und drückte auf das verborgene Paneel, damit es aufsprang. Bryce hatte sie bereits dreimal ermahnt, dass der Wandschrank des Ausstellungsraums nicht ihr persönlicher Spind war. Und jedes Mal hatte Danika dagegengehalten, dass die Galerie in Old Square wesentlich zentraler lag als das Lager der Wölfe in Moonwood. Und damit war der Fall für sie erledigt.

Das Paneel sprang auf, und Danika wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Und du sagst, dass meine Sporttasche gottserbärmlich stinkt?« Mit ihrem schwarzen Stiefel schob sie die Tasche mit Bryce’ Tanzklamotten beiseite, die zwischen Wischmopp und Putzeimer eingekeilt war. »Wann hast du dieses Zeug denn das letzte Mal gewaschen?«

Bryce verzog die Nase, als ihr der Gestank alter Schuhe und verschwitzter Kleidung entgegenschlug. Ach ja, richtig: Nach einer Tanzstunde in ihrer Mittagspause vor zwei Tagen hatte sie ganz vergessen, das Trikot und die Strumpfhose mit nach Hause zu nehmen. Hauptsächlich deshalb, weil Danika ihr ein Video von einem Häufchen Spaßkraut auf der Küchentheke geschickt hatte, untermalt von laut dröhnender Musik aus dem Gettoblaster beim Fenster und der Aufforderung, ihren Hintern so schnell wie möglich nach Hause zu bewegen. Was Bryce sofort tat. An dem Abend hatten sie derart viel geraucht, dass Bryce noch am nächsten Morgen, als sie zur Arbeit erschienen war, total zugedröhnt gewesen sein musste.

Anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie das Tippen einer zweizeiligen E-Mail zehn Minuten gekostet hatte – Buchstabe für Buchstabe.

»Vergiss die Klamotten«, sagte Bryce jetzt. »Ich hab noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«

Danika räumte im Wandschrank herum, um Platz für ihren eigenen Kram zu schaffen. »Ich hab’s dir doch schon gesagt: Tut mir leid, dass ich deine restlichen Nudeln gegessen hab. Ich kauf dir heute Abend wieder welche.«

»Darum geht’s nicht, Dumpfbacke. Obwohl, schönen Dank noch mal! Die Nudeln hatte ich eigentlich für heute als Mittagessen geplant.«

Danika lachte leise in sich hinein.

»Ich meine das Tattoo – es tut höllisch weh«, beschwerte sich Bryce. »Ich kann mich nicht mal auf meinem Bürostuhl zurücklehnen.«

»Der Tätowierer hat dich gewarnt, dass es ein paar Tage wund sein würde«, erwiderte Danika in gelangweiltem Singsang.

»Ich war so bedröhnt, dass ich auf der Einverständniserklärung meinen Namen falsch geschrieben habe. Ich würde mal behaupten, dass ich nicht wirklich in der Verfassung war, um zu verstehen, was ›ein paar Tage wund‹ bedeutet.« Bei Danika, die sich das gleiche Tattoo hatte verpassen lassen wie Bryce – eine Inschrift auf dem Rücken –, war die Haut bereits vollständig verheilt. Das war einer der Vorteile des Daseins vollblütiger Wanen: eine schnelle Genesungszeit im Vergleich zu den Menschen – oder zu denen, die wie Bryce Halb-Mensch waren.

Danika schob ihr Schwert in das Chaos des Wandschranks. »Ich helf dir heute Abend, deinen Rücken zu kühlen – Ehrenwort. Lass mich nur schnell unter die Dusche springen, dann bin ich auch gleich wieder weg.«

Es kam häufiger vor, dass ihre Freundin in der Galerie vorbeischaute, vor allem donnerstags, wenn ihre Morgenpatrouille nur wenige Häuserblocks entfernt endete. Aber bisher hatte sie das voll ausgestattete Bad im Keller­archiv noch nie benutzt. Bryce deutete auf den Dreck und die schmierige Substanz auf ihrer Kleidung. »Was ist das für ein Zeug?«

Danika zog eine finstere Miene. »Ich musste einen Streit zwischen einem Satyr und einem Nachtstalker schlichten.« Sie fletschte die weißen Zähne, als ihr Blick auf die schwarze, angetrocknete Substanz auf ihren Händen fiel. »Dreimal darfst du raten, wer mich von oben bis unten vollgekotzt hat.«

Bryce schnaubte und zeigte auf die Archivtür. »Dusch nach Herzenslust. In der untersten Schreibtischschublade sind frische Klamotten.«

Danikas schmutzige Finger schlossen sich um die Klinke der Archivtür. Sie riss so ruckartig daran, dass ein älteres Tattoo an ihrem Hals – ein gehörnter, grinsender Wolf, das Sigillum des Teufelsrudels – sich merklich verzog.

Allerdings nicht vor Anstrengung, wie Bryce erkannte, als sie den steifen Rücken ihrer Freundin sah. Sie warf einen Blick in Richtung Wandschrank, den Danika nicht geschlossen hatte. Ihr Schwert, das nicht nur in dieser Stadt, sondern auch weit über deren Grenzen hinaus eine Legende war, lehnte am Wischmopp, die antike Lederscheide halb hinter einem Kanister voll Benzin versteckt, das den Generator draußen im Hinterhof antrieb.

Bryce hatte sich immer gefragt, warum Jesiba sich überhaupt mit einem altmodischen Generator abgab – bis zu dem Moment, als in der gesamten Stadt der Strom ausfiel. Als in der letzten Woche das Erstlicht versagt hatte, konnte nur der Generator noch dafür sorgen, dass die mechanischen Schlösser während der anschließenden Plünderungen geschlossen blieben. Dabei waren auch zahlreiche Kriminelle vom Meat Market nach Old Square gezogen und hatten die Galerietür mit Zaubersprüchen bombardiert, um deren Schutzzauber aufzuheben.

Aber … Danika, die ihr Schwert hier deponierte. Danika, die eine Dusche brauchte. Und einen ganz steifen Rücken hatte …

»Hast du heute ein Meeting mit den Stadtoberen?«, fragte Bryce.

Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft Danika in den fünf Jahren seit ihrem ersten gemeinsamen Studienjahr an der Crescent City University zu einem Meeting mit den sieben Personen gerufen worden war, die sie für wichtig genug hielt, um sich zu duschen und frische Klamotten anzuziehen. Selbst wenn sie ihrem Großvater, dem Primus der Valbara-Wölfe, und ihrer Mutter Sabine Bericht erstattete, trug Danika immer ihre Lederjacke und dazu Jeans und irgendein Band-T-Shirt, das gerade nicht schmutzig war.

Diese Respektlosigkeit ärgerte Sabine natürlich maßlos, aber im Grunde brachte einfach alles an Danika (und Bryce) die Alpha des Mondsichelrudels und Leiterin der Gestaltwandler-Einheiten in den städtischen Auxiliartruppen auf die Palme.

Dabei spielte es keine Rolle, dass Sabine die designierte Prima der Valbara-Wölfe war und seit Jahrhunderten die offizielle Erbin ihres betagten Vaters. Oder dass Danika die Nummer zwei in der Erbfolge stellte. Nicht, wenn seit Jahren getuschelt wurde, dass Danika zur designierten Prima ernannt werden und damit ihre Mutter ausstechen sollte. Nicht, wenn der alte Wolf seiner Enkelin das Familienerbstück überreicht hatte, das er zuvor jahrhundertelang Sabine im Falle seines Todes versprochen hatte. Das Schwert hatte an Danikas achtzehntem Geburtstag laut nach ihr gerufen, wie Wolfsgeheul in einer mondhellen Nacht – das hatte der alte Primus zu­mindest als Erklärung für seine unerwartete Entscheidung vorgebracht.

Diese Demütigung hatte Sabine nicht vergessen. Zumal Danika das Schwert fast überall mit sich herumtrug – und besonders gern in Gegenwart ihrer Mutter.

Jetzt blieb Danika im Türbogen stehen, vor den mit grünem Teppich­boden ausgekleideten Stufen, die ins Kellerarchiv führten – dorthin, wo sich der eigentliche Schatz der Galerie befand, den Lehabah Tag und Nacht bewachte. Und der wahre Grund dafür, warum Danika, die an der CCU Geschichte studiert hatte, so gern vorbeischaute: um einen Blick auf die uralten Kunstwerke und Bücher zu werfen, auch wenn Bryce sie ständig damit aufzog.

Danika drehte sich um, mit halb geschlossenen Lidern über den karamellbraunen Augen. »Philip Briggs kommt heute frei.«

Bryce starrte sie an. »Was?«

»Sie lassen ihn wegen irgendeines beschissenen Formfehlers laufen. Irgendwer hat mit den Akten Mist gebaut. Bei dem Meeting erfahren wir Genaue­res.« Sie wirkte angespannt. Der Schein des Erstlichts in den Wandleuchtern spiegelte sich in ihren schmutzigen Haaren. »Das Ganze ist eine Riesensauerei.«

Bryce krampfte sich der Magen zusammen. Die Rebellion der Menschen beschränkte sich bisher auf die nördlichen Regionen von Pangera, das weitflächige Territorium jenseits des Haldren-Ozeans. Philip Briggs hatte allerdings sein Bestes getan, um die Aufstände auch auf Valbara auszudehnen. »Aber du und das Rudel … ihr habt ihn doch mitten in seinem Rebellen­Bombenlabor hochgenommen.«

Danika tippte unruhig mit dem Fuß auf den grünen Teppichboden. »Bürokratischer Schwachsinn.«

»Er wollte einen ganzen Nachtclub in die Luft jagen! Du hast seine Pläne für das Attentat auf den White Raven doch gefunden.« Der White Raven zählte zu den beliebtesten Nachtclubs der Stadt, und eine Bombe hätte katastrophale Folgen gehabt. Bei Briggs’ vorherigen Bombenattentaten hatte es sich um kleinere, aber nicht weniger gefährliche Aktionen gehandelt – alle dazu gedacht, zwischen den Menschen und den Wanen einen Krieg zu entfesseln, der den Kämpfen in Pangeras kühleren Regionen in nichts nachstand. Briggs machte aus seinen Zielen keinen Hehl: ein globaler Konflikt, der auf beiden Seiten Millionen das Leben kosten würde. Leben, die ihm offenbar entbehrlich schienen, solange damit die Chance verbunden war, dass die Menschen das Joch ihrer Unterdrücker abwerfen konnten: die mit magischen Kräften ausgestatteten, langlebigen Wanen und über ihnen die Asteri, die den Planeten Midgard von der Ewigen Stadt in Pangera aus regierten.

Doch Danika und das Teufelsrudel hatten Briggs’ Pläne durchkreuzt. Sie hatten Briggs und seine wichtigsten Anhänger, allesamt Mitglieder der Keres-Rebellen, verhaftet und viele Unschuldige vor deren Fanatismus bewahrt.

Als eine der ranghöchsten Gestaltwandler-Einheiten der Auxiliartruppen von Crescent City patrouillierte das Teufelsrudel in Old Square und sorgte unter anderem dafür, dass betrunkene, grapschende Touristen sich nicht in betrunkene, tote Touristen verwandelten, wenn sie sich der falschen Person genähert hatten. Und dafür, dass die Bars, Cafés, Clubs und Läden vor allen zwielichtigen Typen bewahrt wurden, die die Stadt gerade un­sicher machten. Und dafür, dass Leute wie Briggs im Knast landeten.

Die 33. Reichslegion behauptete zwar von sich, die gleiche Aufgabe zu erledigen wie das Teufelsrudel. Aber die Engel, die die sagenumwobenen Reihen der persönlichen Armee des Gouverneurs füllten, zogen, wenn es hart auf hart kam, nur eine finstere Miene und drohten mit Tod und Teufel.

»Glaub mir«, sagte Danika und stapfte die Stufen hinunter, »ich werde den anderen in diesem Meeting klipp und klar verklickern, dass Briggs’ Freilassung vollkommen inakzeptabel ist.«

Davon war Bryce überzeugt. Selbst wenn Danika Micah Domitus direkt ins Gesicht fauchen musste, würde sie an ihrer Meinung keinen Zweifel lassen. Nicht viele trauten sich, den Erzengel von Crescent City gegen sich aufzubringen, aber Danika würde nicht zögern. Und da alle sieben Oberen der Stadt bei diesem Meeting anwesend sein würden, bestand die Gefahr durchaus. Denn sobald sich diese in einem Raum befanden, flogen gern einmal die Fetzen. Die sechs rangniederen Oberhäupter von Crescent City – dem früheren Lunathion – hatten nicht viel füreinander übrig. Jedes Oberhaupt herrschte über einen bestimmten Stadtbezirk: der Primus der Wölfe in Moonwood, der Herbstkönig der Fae in Five Roses, der Unter­könig in Bone Quarter, die Viperkönigin in Meat Market, das Orakel in Old Square und die Flusskönigin, die sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigte, repräsentierte das Haus der vielen Wasser und den Blue Court in den Tiefen des türkisfarbenen Istros. Ihre Hoheit ließ sich nur gelegentlich herab, ihren Hof zu verlassen.

Die Menschen in Asphodel Meadows hatten kein Oberhaupt. Keinen Sitz am Tisch. Aus diesem Grund hatte Philip Briggs auch mehr als nur ein paar Sympathisanten um sich versammeln können.

Aber Micah, das Oberhaupt des Central Business District, herrschte über sie alle. Und außerdem war er auch noch der Erzengel von Valbara. Der Herrscher des gesamten Territoriums und nur den sechs Asteri in der Ewigen Stadt – Hauptstadt und eigentliches Zentrum von Pangera – gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Und des gesamten Planeten Midgard. Wenn irgendjemand dafür sorgen konnte, dass Briggs im Knast blieb, dann er.

Danika hatte inzwischen den Fuß der Treppe erreicht, der so weit unten lag, dass sie durch die Deckenneigung nicht mehr zu sehen war. Bryce blieb am Türbogen stehen und hörte, wie Danika rief: »Hey, Syrinx.«

Das leise Freudenkläffen der dreißig Pfund schweren Chimäre drang die Stufen hinauf. Jesiba hatte dieses niedere Geschöpf zwei Monate zuvor zu Bryce’ Freude angeschafft. Er ist kein Haustier, hatte Jesiba gewarnt, sondern eine teure, äußerst seltene Kreatur, die ich nur zu einem einzigen Zweck gekauft habe: Er soll Lehabah dabei helfen, die Bücher zu bewachen. Also lenke ihn nicht davon ab, seine Pflicht zu erfüllen.

Bryce hatte es bisher versäumt, Jesiba mitzuteilen, dass Syrinx sich mehr für Fressen, Schlafen und Streicheleinheiten interessierte als dafür, auf die kostbaren Bücher aufzupassen. Obwohl ihre Chefin das natürlich jederzeit feststellen würde, wenn sie sich mal die Mühe machte, die Aufzeichnungen der zahlreichen Überwachungskameras in der Bibliothek zu überprüfen.

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen, Lehabah?«, fragte Danika, mit deutlichem Spott in der Stimme.

»Ich hab keine Leber«, knurrte die Feuerkoboldin. »Die würde nur gegrillt, wenn man wie ich aus Flammen besteht, Danika.«

Danika kicherte hämisch. Doch bevor Bryce sich entschließen konnte, hinunterzugehen und den Streit zwischen der Feuerkoboldin und der Wölfin zu schlichten, klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Sie konnte sich bereits ausrechnen, wer am anderen Ende der Leitung war.

Bryce hastete zum Telefon, wobei die Absätze ihrer High Heels im weichen Teppich versanken, und nahm den Hörer gerade noch rechtzeitig ab, bevor der Anrufbeantworter ansprang (was ihr eine fünfminütige Standpauke ersparte): »Hi, Jesiba.«

Eine wunderschöne, wohlklingende weibliche Stimme drang an ihr Ohr: »Teil Danika Fendyr bitte Folgendes mit: Wenn sie weiterhin den Wandschrank als ihren persönlichen Spind missbraucht, werde ich sie in eine Eidechse verwandeln.«

2

Als Danika endlich wieder im Ausstellungsraum der Galerie erschien, hatte Bryce bereits einiges über sich ergehen lassen müssen: eine Standpauke von Jesiba wegen angeblicher Unfähigkeit, eine E-Mail von einer pingeligen Kundin mit der Anweisung, schnellstmöglich die Expertise für die soeben gekaufte antike Urne zu beschaffen (damit sie bei einer Cocktailparty am Montag vor ihren ebenso pingeligen Freunden damit angeben konnte), und zwei Nachrichten von Mitgliedern aus Danikas Rudel, die wissen wollten, ob ihre Alpha-Wölfin kurz davor war, jemanden wegen Briggs’ Freilassung umzubringen.

Nathalie, Danikas Zweite Offizierin, hatte es auf den Punkt gebracht: Ist sie wegen Briggs schon ausgeflippt?

Connor Holstrom, Danikas Erster Offizier, war etwas vorsichtiger mit dem, was er in den Äther schickte; schließlich bestand immer die Möglichkeit, dass jemand mithörte. Hast du mit Danika geredet?, mehr hatte er nicht geschrieben.

Bryce war gerade dabei, Connor zu antworten – Ja. Ich hab alles im Griff –, als eine graue Wölfin von der Größe eines Ponys die Archivtür mit einer Pfote hinter sich zudrückte und dabei mit ihren Klauen ein klickendes Geräusch auf dem Metall verursachte.

»Waren meine Klamotten so schlimm?«, fragte Bryce und stand auf. Nur Danikas karamellbraune Augen linderten ihre Furcht einflößende Ausstrahlung – eine Mischung aus Grausamkeit und Eleganz, die die Wölfin bei jedem Schritt in Richtung Schreibtisch verströmte.

»Keine Sorge, ich habe sie an.« Lange, scharfe Fangzähne blitzten bei diesen Worten auf. Danika spitzte ihre flauschigen Ohren und betrachtete den zugeklappten Laptop und die Handtasche, die Bryce auf den Schreibtisch gestellt hatte. »Kommst du mit?«

»Ich muss für Jesiba noch ein paar Nachforschungen anstellen.« Bryce steckte den Bund mit den Schlüsseln ein, die die Türen zu den verschiedenen Bereichen ihres Lebens öffneten. »Sie liegt mir wieder mit Lunas Horn in den Ohren – als hätte ich nicht schon letzte Woche ununterbrochen danach gesucht.«

Danika schaute zu einer der sichtbaren Kameras im Ausstellungsraum der Galerie, die direkt hinter der kopflosen Statue eines jahrtausendealten tanzenden Fauns angebracht war. Ihr buschiger Schwanz zuckte kurz. »Wa­rum will sie es überhaupt haben?«

Bryce zuckte die Schultern. »Ich hatte nicht den Mumm, sie danach zu fragen.«

Danika stolzierte zur Eingangstür, da­rauf bedacht, dass ihre Krallen den hohen Teppichflor nicht beschädigten. »Ich bezweifle, dass sie es dem Tempel aus lauter Herzensgüte zurückgeben will.«

»Ich habe das Gefühl, dass Jesiba die Rückgabe für ihre eigenen Zwecke nutzen will«, sagte Bryce. Gemeinsam traten sie hinaus auf die ruhige, von der Mittagssonne aufgeheizte Straße, einen Häuserblock vom Istros entfernt. Danika bildete eine massive Wand aus Fell und Muskeln zwischen Bryce und dem Bordstein.

Der Diebstahl des Heiligen Horns während des Stromausfalls hatte die Schlagzeilen beherrscht: Plünderer waren im Schutz der Dunkelheit in den Luna-Tempel eingebrochen und hatten die antike Fae-Reliquie aus dem Schoß der gewaltigen Statue der thronenden Göttin gestohlen.

Der Erzengel Micah persönlich hatte eine ansehnliche Belohnung für Hinweise geboten, die zur Wiederbeschaffung des Horns führten, und versichert, den frevlerischen Dreckskerl von einem Dieb seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Was auf eine öffentliche Kreuzigung hinauslaufen würde.

Bryce achtete immer sorgfältig da­rauf, einen weiten Bogen um den Platz im Central Business District zu machen, auf dem diese Exekutionen meist stattfanden: Je nach Wind und Hitze trieb an manchen Tagen der Gestank von Blut und verwesendem Fleisch über mehrere Häuserblocks hinweg.

Jetzt lief sie neben Danika her, während die große Wölfin die Straße sondierte und ihre Nase jedes Anzeichen einer potenziellen Gefahr erschnüffelte. Als Halb-Fae hatte auch Bryce einen viel feineren Geruchssinn als gewöhnliche Menschen. In ihrer Kindheit hatte es ihre Eltern immer wieder verblüfft, wenn sie die Gerüche der Bewohner von Nidaros beschrieb. Denn den Menschen der kleinen Berggemeinde fehlte diese Gabe zur Interpretation der Welt. Aber ihre Fähigkeiten waren nichts im Vergleich mit denen von Danika.

Als ihre Freundin jetzt den Geruch der Straße aufnahm, wedelte sie einmal mit dem Schwanz – jedoch nicht vor Freude.

»Bleib cool, Danika«, beruhigte Bryce sie. »Du schilderst den Oberen den Fall, und dann finden sie schon eine Lösung.«

Danika legte die Ohren an. »Das Ganze ist eine Riesensauerei, B. Von vorn bis hinten.«

Bryce runzelte die Stirn. »Meinst du allen Ernstes, die Oberen wollen einen Rebellen wie Briggs auf freiem Fuß sehen? Sie werden irgendeinen Formfehler finden und ihn postwendend wieder einlochen.« Und weil Danika sie noch immer nicht anschaute, fügte sie hinzu: »Die 33. wird ihn auf Schritt und Tritt verfolgen. Wenn Briggs auch nur einmal falsch zuckt, wird er erleben, was für Schmerzen die Engel uns allen zufügen können. Der Gouverneur könnte ihm sogar den Umbra Mortis auf den Hals hetzen.« Micahs persönlicher Auftragskiller, mit der seltenen Gabe von Blitzen in den Adern, konnte fast jede Bedrohung ausschalten.

Danika knurrte und bleckte die Zähne. »Mit Briggs werde ich allein fertig.«

»Das weiß ich. Das wissen alle, Danika.«

Danika sondierte weiter die Straße. Ihr Blick wanderte kurz über ein Plakat an einer Mauer, auf dem die sechs thronenden Asteri zu sehen waren – und ein leerer Thron zum Angedenken an ihre verstorbene Schwester. Dann seufzte sie.

Sie würde immer Erwartungen zu erfüllen und Lasten zu tragen haben, um die Bryce sich nicht zu kümmern brauchte. Und für dieses Privileg war Bryce wahnsinnig dankbar. Wenn sie Mist baute, regte sich Jesiba ein paar Minuten lang auf, und damit war der Fall erledigt. Wenn Danika etwas vermasselte, wurde es sofort in den Nachrichten und im Netz breitge­treten.

Dafür sorgte Sabine.

Bryce und Sabine hatten einander von dem Moment an gehasst, als die Alpha-Wölfin sich an Danikas erstem Tag an der CCU darüber lustig gemacht hatte, dass die Mitbewohnerin ihres einzigen Kindes ein Mischwesen war. Und Bryce hatte Danika von dem Moment an geliebt, als ihre neue Zimmergenossin ihr zur Begrüßung die Hand entgegengestreckt und gesagt hatte, Sabine sei nur deshalb angepisst, weil sie auf einen muskelbepackten Vampir gehofft hatte, den sie anschmachten konnte.

Danika ließ nur selten zu, dass die Meinung anderer – vor allem die von Sabine – ihrem Stolz und ihrer Freude etwas anhaben konnte. Aber an harten Tagen wie diesem …

»Glaubst du, Briggs wird hinter dir oder dem Rudel her sein?«, fragte Bryce mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Danika hatte Briggs nicht allein zur Strecke gebracht –er hatte mit ihnen allen ein Hühnchen zu rupfen.

Danika verzog die Schnauze und knurrte leise: »Keine Ahnung.«

Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Im Kampf Mann gegen Mann hatte Briggs nicht die geringste Chance gegen Danika. Aber eine seiner Bomben würde alles verändern. Hätte Danika den Sprung in die Unsterblichkeit bereits absolviert, würde sie wahrscheinlich überleben. Aber da sie diesen Schritt als Einzige des Teufelsrudels noch nicht hinter sich gebracht hatte … Bryce bekam einen trockenen Mund.

»Sei vorsichtig«, bat sie leise.

»Mach ich«, versprach Danika, in deren warmen Augen noch immer dunkle Schatten lagen. Doch dann schüttelte sie den Kopf, als würde sie Wasser abschütteln – eine typische Hundebewegung. Bryce hatte oft darüber gestaunt, dass Danika ihre Angst ablegen oder zumindest verdrängen und einfach weitermachen konnte. Auch jetzt wechselte sie prompt das Thema. »Dein Bruder wird heute bei dem Treffen dabei sein.«

Halbbruder. Aber Bryce machte sich nicht die Mühe, das richtigzustellen. Halbbruder und echter Fae, aber ein Riesenarschloch. »Und?«

»Ich dachte nur, ich warn dich besser, dass ich ihn treffen werde.« Mit einem etwas sanfteren Ausdruck im Wolfsgesicht fügte sie hinzu: »Er wird sicher fragen, wie’s dir geht.«

»Sag Ruhn, dass ich mit irgendwelchem wichtigen Zeug beschäftigt bin und dass er zur Hölle fahren soll.«

Danika lachte schnaufend. »Wo genau willst du mit der Suche nach dem Horn anfangen?«

»Im Tempel«, antwortete Bryce seufzend. »Ehrlich gesagt hab ich nicht den geringsten Anhaltspunkt, obwohl ich mich seit Tagen mit nichts anderem beschäftige. Keine Verdächtigen, kein Getuschel auf dem Meat Market über mögliche Hehlerware und nicht mal ein Motiv. Das Horn ist so berühmt, dass der oder die Diebe es sicher unter Verschluss halten.« Mit gerunzelter Stirn blickte sie zum klaren Himmel hinauf. »Ich frage mich langsam, ob der Stromausfall vielleicht damit zusammenhängt – ob jemand der Stadt den Saft abgedreht hat, um das Horn im anschließenden Chaos zu stehlen. Ich kenne hier etwa zwanzig Leute, die clever genug wären, und die Hälfte von ihnen verfügt über die Ressourcen, das Ganze auch durchzuziehen.«

Danikas Schwanz zuckte. »Wenn sie dazu in der Lage sind, würde ich dir raten, dich von ihnen fernzuhalten. Erzähl Jesiba irgendetwas. Lass sie in dem Glauben, dass du danach suchst, und rede dann nicht mehr davon. Entweder taucht das Horn von allein wieder auf oder sie widmet sich ihrer nächsten bescheuerten Aufgabe.«

»Ich will nur … Es wäre einfach gut, das Horn zu finden. Für meine Karriere.« Wie zum Teufel die auch immer aussehen mochte. Ein Jahr in der Galerie hatte nur eins in ihr ausgelöst: Abscheu vor den obszön hohen Geldbeträgen, die reiche Leute für alten Krempel verprassten.

Danikas Augen flackerten. »Ja, ich weiß.«

Bryce zog einen winzigen goldenen Anhänger – ein Knoten aus drei ineinander verschlungenen Ringen – die zarte Kette an ihrem Hals entlang.

Während Danika mit Krallen, einem Schwert und Waffen bewehrt auf Patrouille ging, bestand Bryce’ »Rüstung« nur aus diesem archesischen Amulett, das kaum größer war als ein Daumennagel und das Jesiba ihr an ihrem ersten Arbeitstag geschenkt hatte.

Ein Schutzanzug in Gestalt einer Halskette, hatte Danika gestaunt, als Bryce damit angegeben hatte, wie gut das Amulett den Einfluss verschiedener magischer Objekte abwehren konnte. Archesische Amulette waren nicht gerade billig, aber Bryce gab sich nicht der Illusion hin, dass das Geschenk ihrer Chefin etwas anderem diente als ihren eigenen Interessen. Es wäre ein versicherungstechnischer Albtraum, wenn Bryce keins hätte.

Danika deutete mit einem Nicken auf die Halskette. »Nimm die ja nicht ab. Vor allem dann nicht, wenn du Nachforschungen über solchen Mist wie das Horn anstellst.« Die mächtigen Kräfte des Horns mochten zwar schon lange erloschen sein, aber wenn jemand mit großer Macht es gestohlen hatte, würde Bryce jeden magischen Schutz brauchen können.

»Ja, ja«, wiegelte sie ab, obwohl sie wusste, dass Danika recht hatte. Sie hatte die Kette noch nie abgenommen. Sollte Jesiba sie jemals vor die Tür setzen, musste sie einen Weg finden, das Amulett zu behalten. Das hatte Danika ihr schon mehrfach eingeschärft, unfähig, den Beschützerinstinkt der Alpha-Wölfin abzulegen – den Instinkt, um jeden Preis zu beschützen. Das war einer der Gründe, warum Bryce sie liebte … und warum sich in diesem Moment ein Gefühl von Zuneigung und Dankbarkeit in ihrer Brust ausbreitete.

Das Handy in ihrer Tasche brummte, und Bryce fischte es heraus. Danika schaute neugierig auf das Display. Als sie sah, wer der Anrufer war, wedelte sie mit dem Schwanz und stellte die Ohren auf.

»Kein Wort über Briggs«, warnte Bryce und nahm den Anruf an. »Hi, Mom.«

»Hallo, Süße.« Ember Quinlans klare Stimme drang an Bryce’ Ohr und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, auch wenn dreihundert Meilen zwischen ihnen lagen. »Ich wollte sichergehen, dass es auch wirklich bei unserem Besuch nächstes Wochenende bleibt.«

»Hi, Mommy!«, bellte Danika in Richtung Handy.

Ember lachte. Für Danika war sie immer Mom gewesen, schon seit ihrer allerersten Begegnung. Und Ember, die außer Bryce keine Kinder hatte, war mehr als glücklich gewesen, mit Danika eine zweite, ebenso eigenwillige und rebellische Tochter zu bekommen. »Ist Danika bei dir?«

Bryce verdrehte die Augen und hielt ihrer Freundin das Handy ent­gegen.

Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich Danika. Ihr massiver Wolfskörper schrumpfte auf eine geschmeidige Frauengestalt zusammen, und im nächsten Moment klemmte sie sich Bryce’ Handy zwischen Ohr und Schulter, während sie die weiße Seidenbluse, die Bryce ihr geliehen hatte, in ihre fleckige Jeans stopfte. Es war ihr gelungen, die Hose und die Lederjacke größtenteils von dem Nachtstalker-Siff zu säubern, aber das T-Shirt war offenbar nicht mehr zu retten gewesen. »Bryce und ich machen einen Spaziergang«, erklärte Danika.

Dank ihres guten Gehörs konnte Bryce ihre Mutter deutlich verstehen, als sie fragte: »Wo?«

Ember Quinlan machte Überfürsorglichkeit zu einem Wettkampfsport.

Bryce’ Umzug nach Lunathion war ein echter Willenskampf gewesen. Ember hatte erst nachgegeben, als sie erfahren hatte, wer in Bryce’ erstem Studienjahr ihre Mitbewohnerin war – und dann Danika sofort einen Vortrag darüber gehalten, worauf sie zu achten habe, damit Bryce nichts passiere. Gnädigerweise hatte Randall, Bryce’ Stiefvater, seine Frau nach einer halben Stunde unterbrochen.

Bryce weiß sich zu wehren, hatte Randall ihrer Mutter versichert. Dafür haben wir gesorgt. Und sie wird ihr Training fortsetzen, solange sie hier ist, nicht wahr?

Das hatte Bryce definitiv getan. Noch vor wenigen Tagen war sie auf dem Schießstand gewesen, um die Bewegungsabläufe durchzugehen, die Randall – ihr wahrer Vater, wenn es nach ihr ging – ihr seit der Kindheit bei­gebracht hatte: Waffe aufnehmen, Ziel anvisieren, Atmung kontrollieren.

In der Regel hielt sie Waffen für brutale Mordinstrumente und war dankbar, dass ihr Gebrauch von der Republik streng reguliert wurde. Aber weil ihr zur Verteidigung nichts weiter zur Verfügung stand als ihre eigene Schnelligkeit und ein paar gut einstudierte Kampftricks, hatte sie einge­sehen, dass der Besitz einer Waffe für einen Menschen definitiv über Leben und Tod entscheiden konnte.

»Wir sind gerade auf dem Weg zu einem der Imbisse in Old Square, wo wir Lamm-Köfte essen wollen«, flunkerte Danika.

Bevor Ember ihr Verhör fortsetzen konnte, fügte Danika schnell hinzu: »Hey, B. muss vergessen haben, dir zu sagen, dass wir nächstes Wochenende nach Kalaxos fahren. Ithan hat dort ein Sonnenballspiel, und wir wollen ihn anfeuern.«

Eine Halbwahrheit. Das Spiel fand natürlich statt, aber es hatte überhaupt nicht zur Diskussion gestanden, dorthin zu fahren, um Connors jüngeren Bruder spielen zu sehen – auch wenn er einer der Stars der Univer­sitätsmannschaft war. Das Teufelsrudel würde zwar am Nachmittag zur CCU-Arena fahren, um Ithan zu unterstützen, aber Bryce und Danika hatten seit dem zweiten Studienjahr, als Danika noch mit einem der Verteidiger ins Bett gegangen war, kein Auswärtsspiel mehr besucht.

»Wie schade«, sagte Ember. Bryce konnte das Stirnrunzeln im Ton ihrer Mutter regelrecht hören. »Wir hatten uns so da­rauf gefreut.«

Beim brennenden Solas, diese Frau verstand es wirklich meisterhaft, anderen Schuldgefühle zu machen. Bryce zuckte zusammen und schnappte sich das Handy wieder. »Wir auch, aber lass es uns einfach auf nächsten Monat verschieben.«

»Das ist noch so lange hin …«

»Mist, mir kommt hier auf dem Gehweg gerade ein Kunde entgegen«, log Bryce. »Ich muss auflegen.«

»Bryce Adelaide Quinlan …«

»Tschüss, Mom.«

»Tschüss, Mom!«, wiederholte Danika schnell, als Bryce die Verbindung beendete.

Bryce stieß einen Seufzer gen Himmel aus und ignorierte dabei die Engel, die vorbeiflatterten und ihre Schatten auf die sonnendurchfluteten Straßen warfen. »Nachricht in drei, zwei …«

Ihr Handy brummte.

Ember hatte eine Nachricht geschrieben: Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du uns aus dem Weg gehst, Bryce. Dein Vater wird sehr ver­letzt sein.

Danika stieß einen Pfiff aus. »Wow, sie ist wirklich gut.«

Bryce stöhnte. »Ich lasse die beiden nicht hierherkommen, solange Briggs frei herumläuft.«

Das Lächeln verschwand aus Danikas Gesicht. »Ich weiß. Wir halten sie so lange aus der Stadt fern, bis die Sache erledigt ist.« Cthona sei Dank für Danika – sie hatte immer einen Plan, für jede Situation.

Bryce schob das Handy in die Tasche, ohne auf die Nachricht ihrer Mutter zu antworten.

***

Als sie das Tor im Herzen von Old Square erreichten, dessen Quarzbogen so klar schimmerte wie ein zugefrorener See, brachen sich die Strahlen der Mittagssonne gerade an der oberen Kante und warfen kleine Regenbogen auf die angrenzenden Gebäude. Zur Sommersonnenwende, wenn die Sonne in einer geraden Linie mit dem Tor stand, füllte sich der gesamte Platz davor mit so vielen Regenbogen, dass man meinte, sich im Inneren eines Diamanten zu befinden. Jetzt wimmelte es auf dem Platz nur so von Touristen, und viele standen in einer langen Schlange an, um sich vor dem sechs Meter hohen Wahrzeichen fotografieren zu lassen.

Das Old Square Gate war eins von insgesamt sieben Stadttoren, alle aus gewaltigen Quarzblöcken aus den Lakonischen Bergen im Norden gehauen, und wurde auch Heart Gate genannt, weil es genau im Herzen von Lunathion stand. Die anderen sechs Tore waren alle im gleichen Abstand zu ihm angeordnet und öffneten sich jeweils zu einer der Straßen, die aus der ummauerten Stadt hinausführten.

»Die Regierung sollte für die Einheimischen einen eigenen Weg über den Platz einrichten«, murrte Bryce, während sie sich an Touristen und Straßenhändlern vorbeischoben.

»Und Touristen Bußgelder fürs Schlendern aufbrummen«, erwiderte Danika murmelnd, schenkte aber einem jungen Menschenpärchen ein wölfisch breites Grinsen, das sie offenbar erkannt hatte, sie jetzt bewundernd anstarrte und Fotos von ihr knipste.

»Ich frage mich, was sie wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass du von oben bis unten mit Nachtstalker-Siff beschmiert bist«, flüsterte Bryce.

Danika knuffte sie mit dem Ellbogen in die Seite. »Du Arschgeige.« Sie winkte den Touristen freundlich zu und ging weiter.

Auf der anderen Seite des Heart Gate, inmitten einer kleinen Armee von Händlern, die Streetfood und Touristenkitsch verkauften, hatte sich eine zweite Schlange gebildet, die zu der goldenen Scheibe auf der Südseite des Tors führte. »Wir müssen da durch, um weiterzukommen«, stellte Bryce fest und musterte die Touristen finster, die in der heißen Mittagssonne he­rumstanden.

Aber Danika blieb stehen, das markante Gesicht dem Tor mit der Bronze­plakette zugewandt. »Komm, wir wünschen uns was.«

»Ich hab keine Lust, hier anzustehen.« Meist schrien sie ihre Wünsche spätnachts einfach in den Äther hinaus, wenn sie schwer angeschlagen vom White Raven nach Hause wankten und der Platz leer war. Bryce checkte auf ihrem Handy die Uhrzeit. »Musst du nicht zum Comitium?« Die Festung des Gouverneurs mit ihren fünf Türmen war zu Fuß mindestens eine Viertelstunde entfernt.

»Ich hab noch Zeit«, versicherte Danika, nahm Bryce bei der Hand und zog sie durch die Menge zu der Schlange, die sich vor der wahren Touris­tenattraktion des Tors gebildet hatte.

Etwa einen Meter über dem Boden ragte eine Art Bedienfeld aus der Quarzmauer: eine massive Goldscheibe, bestückt mit sieben verschiedenen Edelsteinen für die jeweiligen Stadtbezirke und den dazugehörigen Symbolen.

Smaragd und eine Rose für den Bezirk Five Roses. Opal und ein Flügelpaar für den Central Business District. Rubin und ein Herz für Old Square. Saphir und eine Eiche für Moonwood. Amethyst und eine menschliche Hand für Asphodel Meadows. Tigerauge und eine Schlange für Meat Market. Und Onyx – so schwarz, dass er alles Licht schluckte – mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen für Bone Quarter.

Unter dem Reigen von Edelsteinen und eingemeißelten Symbolen befand sich eine leicht gewölbte kleine Metallscheibe, die von zahllosen Händen, Klauen, Flügeln und anderen Gliedmaßen abgewetzt war.

Auf einer Plakette daneben stand: Berühren auf eigene Gefahr. Benutzung zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang verboten. Zuwiderhandlungen werden streng geahndet.

Die Leute in der Warteschlange schienen sich wegen der Gefahren jedoch keine Gedanken zu machen.

Ein paar feixende Teenager – Gestaltwandler, dem Geruch nach irgendwelche Großkatzen – standen direkt davor und forderten sich schubsend und höhnend gegenseitig auf, die Scheibe zu berühren.

»Erbärmlich«, sagte Danika und ging entschlossen an Schlange und Absperrseil vorbei, bis ganz nach vorn zu einer gelangweilt wirkenden Stadtwache, einer jungen Fae. Dort fischte sie ein Abzeichen aus ihrer Lederjacke und hielt es der Wache unter die Nase, die sofort Haltung annahm, als sie begriff, wer sich da vorgedrängt hatte. Die Fae schaute nicht einmal auf die goldene Plakette mit dem bogenförmigen Halbmond und dem darin gespannten Pfeil, bevor sie zurücktrat.

»Offizieller Auxiliartruppen-Einsatz«, verkündete Danika mit verstörend ungerührter Miene. »Dauert nur eine Minute.«

Bryce unterdrückte ein Lachen, denn sie war sich nur allzu bewusst, dass unzählige Augenpaare der Wartenden auf ihren Rücken gerichtet waren.

»Wenn ihr euch nicht traut, dann verschwindet«, wies Danika die Teenager an.

Die Jungen wirbelten herum und wurden bei ihrem Anblick kreidebleich.

Danika lächelte und zeigte dabei fast all ihre Zähne – kein erfreuliches Bild.

»Heilige Scheiße«, flüsterte einer der Jungen.

Bryce verbarg erneut ein Lächeln. Die Ehrfurcht nutzte sich nie ab. Was vor allem daran lag, dass Danika sie verdient hatte. Sie verdiente sich die Ehrfurcht, die in den Gesichtern von Fremden aufleuchtete, sobald sie ihr weißblondes Haar und das Tattoo an ihrem Hals sahen. Sie verdiente sie sich jeden verdammten Tag. Und dazu die Angst der zwielichtigen Gestalten der Stadt, die es sich alle zweimal überlegten, ob sie sich mit ihr und dem Teufelsrudel anlegen wollten.

Abgesehen von Philip Briggs. Bryce schickte ein stummes Gebet zur weisen Meeresgöttin Ogenas, der Mann möge sich von Danika fernhalten, falls er jemals auf freien Fuß kam.

Die Teenager traten zur Seite, und es dauerte nur ein paar Millisekunden, bevor sie auch Bryce bemerkten. Die Ehrfurcht in ihren Gesichtern wich unverhohlenem Interesse.

Bryce schnaubte. Träumt weiter.

»Mein … mein Geschichtslehrer sagt, dass die Tore ursprünglich Kommunikationsmittel waren«, stammelte einer der Jungen und verlagerte seine Aufmerksamkeit von Bryce wieder auf Danika.

»Ich wette, mit dem brillanten Halbwissen kriegst du alle Mädels rum«, sagte Danika unbeeindruckt und desinteressiert, ohne sich zu der Gruppe umzudrehen.

Die Botschaft war angekommen, die Teenager schlichen zurück in die Warteschlange. Bryce grinste süffisant, während sie neben ihre Freundin trat und die Edelsteine und Symbole betrachtete.

Aber der Teenager hatte recht: Die sieben Stadttore folgten dem Verlauf einer Leylinie, die durch Lunathion führte, und hatten vor Jahrhunderten den Wachen zur Kommunikation gedient. Man musste nur eine Hand auf die goldene Scheibe legen und sprechen, und schon wurde die Stimme zu den anderen Toren übertragen und der Edelstein für den Bezirk, aus dem sie kam, leuchtete auf.

Dafür war natürlich ein Quäntchen Magie erforderlich. Die Scheibe sog wie ein Vampir einen Tropfen aus den Adern der Person, die sie berührte: Ein kurzes Kribbeln, und dem Betreffenden wurde für immer ein wenig Kraft geraubt.

Bryce schaute zu der Bronzeplakette über ihrem Kopf hinauf. Die Quarztore dienten außerdem als Gedenkstätten, obwohl sie nicht wusste, an welchen Krieg oder Konflikt sie erinnerten. Doch alle trugen die gleiche Plakette: Möge die Macht stets mit denen sein, die ihr Leben für die Stadt geben.

Die Inschrift konnte als Widerspruch zur Herrschaft der Asteri aufgefasst werden, und Bryce wunderte sich immer wieder, dass diese die Tore noch nicht abgerissen hatten. Nach der Erfindung des Telefons hatten die Tore eine neue Verwendung gefunden, als Kinder und Touristen sie für sich entdeckten. Diese postierten Freunde an anderen Stadttoren und flüsterten sich schmutzige Wörter zu oder bestaunten diese seltsame, altertümliche Kommunikationsmethode. Kein Wunder, dass an den Wochenenden betrunkene, grölende Arschlöcher – eine Kategorie, zu der sich auch Bryce und Danika definitiv zählten – zu einer so nervigen Plage wurden, dass die Stadt eingeschränkte Betriebszeiten für die Kommunikation über die Tore eingeführt hatte.

Und dann kam noch der dumme Aberglaube dazu, dass das Tor Wünsche erfüllen konnte. Und dass jeder, der einen Tropfen seiner Kraft gab, damit den fünf Gottheiten ein Opfer darbrachte.

Bryce wusste natürlich, dass das Schwachsinn war. Aber wenn es Danika von Briggs’ Entlassung ablenkte, sollte es ihr recht sein.

»Was wünschst du dir denn?«, fragte Bryce, als Danika die Scheibe mit den dunklen Edelsteinen anstarrte.

Im nächsten Moment leuchtete der Smaragd für den Bezirk Five Roses auf, und die kreischende Stimme einer jungen Frau ertönte: »Titten!«

Die Leute um sie herum lachten – ein Geräusch, das Bryce an das Plätschern von Wasser über Steine erinnerte – und auch sie lachte leise in sich hinein.

Doch Danikas Gesichtsausdruck blieb ernst. »Ich habe so viele Wünsche«, sagte sie. Bevor Bryce nachfragen konnte, fuhr sie fort: »Aber ich glaube, ich wünsche mir, dass Ithan heute Abend sein Sonnenballspiel gewinnt.«

Bei diesen Worten legte sie ihre Handfläche auf die Scheibe. Bryce sah zu, wie ihre Freundin kurz erschauerte, leise lachte und dann zurücktrat. Ihre karamellbraunen Augen funkelten. »Du bist dran.«

»Du weißt, dass ich kaum irgendeine Magie besitze. Aber okay«, stimmte Bryce zu, weil sie sich nicht gern ausstechen ließ, nicht einmal von einer Alpha-Wölfin. Seit ihrer ersten Begegnung im Studentenwohnheim hatten sie immer alles gemeinsam gemacht. Nur sie beide, und so würde es immer bleiben.

Danika und sie hatten sogar vor, den Sprung in die Unsterblichkeit gemeinsam zu machen – mit dem gleichen Atemzug und geankert vom Teufelsrudel zu erstarren.

Genau genommen handelte es sich nicht um echte Unsterblichkeit: Die Wanen alterten und starben, entweder eines natürlichen Todes oder durch andere Ursachen. Aber der Alterungsprozess wurde durch den Sprung so verlangsamt, dass es Jahrhunderte dauern konnte, bis sich die erste Falte zeigte – je nachdem, welcher Spezies man angehörte. Fae konnten bis zu tausend Jahre alt werden, Gestaltwandler und Hexenwesen in der Regel bis zu fünf Jahrhunderte, und Engel erreichten meist ein Alter irgendwo da­zwischen. Menschen machten keinen Sprung in die Unsterblichkeit, da sie keine Magie besaßen. Verglichen mit der kurzen Lebenserwartung und den langsamen Heilungskräften der Menschen waren die Wanen quasi unsterblich. Der Nachwuchs mancher Spezies erreichte erst mit achtzig das Erwachsenenalter. Und die meisten von ihnen waren sehr, sehr schwer zu töten.

Bryce hatte nur selten darüber nachgedacht, wo sie selbst in diesem Spektrum einzuordnen war – ob ihr Status als Halb-Fae ihr hundert oder tausend Jahre Leben bescheren würde. Aber eigentlich spielte es keine Rolle, solange Danika die ganze Zeit bei ihr war. Angefangen mit dem Sprung. Sie würden den tödlichen Sprung in ihre ausgereifte Kraft gemeinsam absolvieren, dem begegnen, was auch immer auf dem Grund ihrer Seele lag, und dann wieder hinauf ins Leben schnellen, bevor der Sauerstoffmangel Hirntote aus ihnen machte. Oder einfach nur Tote.

Während Bryce jedoch gerade mal so viel Kraft erlangen würde, dass sie damit coole Partytricks vorführen konnte, erwartete Danika ein derart großer Machtzuwachs, dass sie danach weit über Sabine rangieren würde und vermutlich auf gleicher Stufe wie die adligen Fae – wenn nicht sogar höher als der Herbstkönig.

Bisher war es noch nie vorgekommen, dass ein Gestaltwandler so viel Kraft besaß, aber sämtliche Tests in der Kindheit hatten es bestätigt: Sobald Danika den Sprung machte, würde sie eine Alpha-Wölfin werden, wie es seit uralten Zeiten keine mehr gegeben hatte.

Danika wäre dann nicht nur die Prima aller Wölfe von Crescent City; sie hatte das Potenzial, Alpha aller Wölfe auf dem ganzen beschissenen Pla­neten zu werden.

Allerdings schien Danika das am Arsch vorbeizugehen. Für ihre Zukunftspläne spielte es jedenfalls keine Rolle.

Siebenundzwanzig war das ideale Alter für den Sprung – das hatten sie beide nach Jahren gnadenloser Beurteilung verschiedener Unsterblicher beschlossen, deren Lebensspannen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende umfassten. Kurz bevor sich irgendwelche dauerhaften Falten oder grauen Haare zeigten. Wenn jemand sie da­rauf ansprach, antworteten sie lediglich: Welchen Sinn hat es, eine unsterbliche Teufelsbraut mit Hängetitten zu sein?

Eitle Arschlöcher, hatte Fury gezischt, als sie diese Erklärung zum ersten Mal gehört hatte.

Fury hatte den Sprung mit einundzwanzig gemacht, sich diesen Zeitpunkt aber nicht selbst ausgesucht. Es war einfach passiert … oder ihr auf­gezwungen worden – das wusste Bryce nicht so genau. Furys Studium an der CCU war nur die Fassade einer anderen Mission gewesen; die meiste Zeit verbrachte sie damit, für unanständig hohe Summen in Pangera richtig krumme Dinger zu drehen. Sie legte Wert da­rauf, keine Details herauszu­rücken.

Auftragskillerin, behauptete Danika. Selbst die süße Juniper – eine Fauna und das vierte Kleeblatt in ihrem kleinen Freundeskreis – war der Meinung, Fury sei wahrscheinlich eine Söldnerin. Ob sie gelegentlich von den Asteri und ihrem Marionetten-Senat eingesetzt wurde, stand ebenfalls zur Debatte. Aber eigentlich kümmerte es keinen von ihnen – nicht, solange Fury ihnen jedes Mal Rückendeckung gab, wenn sie welche brauchten. Und sogar dann, wenn sie keine brauchten.

Bryce hielt eine Hand über die goldene Scheibe. Danikas Blick ruhte wie ein kühles Gewicht auf ihr.

»Komm schon, B., sei keine Memme.«

Bryce seufzte und legte die Hand auf die Scheibe. »Ich wünsche mir, dass Danika zur Maniküre geht. Ihre Nägel sehen echt scheiße aus.«

Ein Blitz durchzuckte sie, ein leichter Sog rund um ihren Bauchnabel. Und dann brach Danika in Gelächter aus und stupste sie leicht. »Du Arschgeige.«

Bryce schlang einen Arm um Danikas Schulter. »Das hattest du dir verdient.«

Danika nickte der weiblichen Wache dankend zu, die angesichts der Aufmerksamkeit strahlte, und ignorierte die gaffenden Touristen, die noch immer Fotos schossen. Sie und Bryce sprachen erst wieder, als sie das nördliche Ende des Platzes erreicht hatten – wo Danika zum engelbevölkerten Himmel und den Türmen des Central Business District abbiegen würde, in Richtung des weitläufigen Comitium-Komplexes, und Bryce zum drei Häuserblocks entfernt gelegenen Luna-Tempel.

Danika deutete mit dem Kinn auf die Straßen hinter Bryce. »Wir sehen uns zu Hause, okay?«

»Sei vorsichtig.« Bryce atmete tief durch und versuchte, ihr Unbehagen abzuschütteln.

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, erwiderte Danika, aber in ihren Augen leuchtete pure Zuneigung und Dankbarkeit, die Bryce tief in ihrem Inneren berührte – Dankbarkeit einfach nur dafür, dass es jemandem wichtig war, ob sie lebte oder starb.

Sabine war ein Miststück. Hatte nie eine Andeutung gemacht, wer Danikas Vater sein könnte – und deshalb hatte Danika niemanden, nur ihren Großvater, der aber schon zu alt war und zu zurückgezogen lebte, um ihr die Grausamkeiten ihrer Mutter zu ersparen.

Bryce deutete in Richtung Central Business District. »Viel Glück. Und bring nicht zu viele Leute auf die Palme.«

»Das kann ich nicht versprechen«, erwiderte Danika mit einem Grinsen, das jedoch nicht ihre Augen erreichte.

3

Das Teufelsrudel war bereits in Bryce’ Wohnung, als sie von der Arbeit nach Hause kam.

Das schallende Gelächter, das ihr noch vor Erreichen des zweiten Treppenabsatzes entgegendröhnte, hatte sich nicht ignorieren lassen, genauso wenig wie das belustigte, hundeartige Jaulen. Beides begleitete sie auf dem Weg in das oberste Stockwerk des Mietshauses, während sie leise vor sich hin murrte, dass damit ihr Plan für einen ruhigen Abend vor der Glotze definitiv hinüber war.

Leise stieß sie eine Reihe von Flüchen aus, die ihre Mutter stolz gemacht hätten, und schloss die blau lackierte Eisentür zu ihrer Wohnung auf. Und wappnete sich gegen die Flut wölfischer Großspurigkeit, Arroganz, allgemeiner Neugier und Einmischung in ihr Leben – und damit war nur Danika gemeint.

Danikas Rudel war schon weiter und zelebrierte all diese Eigenschaften quasi als Kunstform. Hauptsächlich deshalb, weil die Rudelmitglieder Bryce als eine der Ihren ansahen, auch wenn sie nicht deren Sigillum als Tattoo am Hals trug.

Manchmal hatte sie schon jetzt Mitleid mit demjenigen, der irgendwann mal Danikas Zukünftiger sein würde. Der arme Kerl würde gar nicht kapieren, worauf er sich da einließ. Es sei denn, er gehörte ebenfalls den Wölfen an – obwohl Danika ungefähr so viel Interesse an einem Wolf als Bettgenosse hatte wie Bryce.

Nämlich null Komma nichts. Nada.

Bryce musste die Tür mit der Schulter aufdrücken, denn die verzogenen Kanten klemmten mit schöner Regelmäßigkeit am Rahmen – vor allem wegen der Balgereien der Höllenhunde, die auf Bryce’ durchgesessenen Sofas und Sesseln herumlungerten. Bryce seufzte, als sechs Augenpaare sich auf sie richteten, begleitet von breitem Grinsen.

»Wie war das Spiel?«, fragte sie in die Runde und warf die Schlüssel in die schiefe Keramikschale, die Danika mehr schlecht als recht während eines Töpferkurses am College zusammengepfuscht hatte. Von ihrer Freundin hatte sie im Laufe des Tages nur eine lapidare Info über das Meeting erhalten: Ich erzähl dir alles heute Abend.

Aber wenn Danika es zum Sonnenballspiel geschafft hatte, konnte das Meeting so schlecht ja nicht gelaufen sein. Sie hatte ihr sogar ein Foto vom gesamten Rudel am Spielfeldrand geschickt, auf dem Ithan als kleine Gestalt mit Helm im Hintergrund zu erkennen war.

Später hatte der Starspieler selbst ihr noch eine Nachricht gesandt: Nächstes Mal bist du gefälligst dabei, Quinlan.

Sie hatte zurückgetextet: Hat der kleine Welpe mich vermisst?

Das weißt du verdammt genau, hatte Ithan geantwortet.

»Wir haben gewonnen«, dröhnte Connor jetzt, der auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Sofa fläzte, das graue knittrige T-Shirt mit dem CCU-Sonnenballemblem so weit hochgeschoben, dass Muskeln und goldbraune Haut zum Vorschein kamen.

»Ithan hat das entscheidende Tor gemacht«, fügte Bronson hinzu, noch immer im silber-blauen Trikot mit HOLSTROM auf dem Rücken.

Das Teufelsrudel hatte Connors kleinen Bruder Ithan als inoffizielles Mitglied in seine Reihen aufgenommen. Außerdem war er Bryce’ zweitliebster Wolf, direkt nach Danika. Ihr Chatverlauf bestand aus einem end­losen Strom spöttischer, neckender Bemerkungen, durchsetzt mit Fotos und gutmütigem Gemecker über Connors Großspurigkeit.

»Schon wieder?«, fragte Bryce und kickte ihre perlweißen High Heels mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen von den Füßen. »Kann Ithan den anderen nicht wenigstens etwas Ruhm gönnen?« Normalerweise hätte Ithan jetzt direkt neben seinem Bruder auf dem Sofa gesessen und Bryce dadurch gezwungen, sich zwischen die beiden zu quetschen, während sie irgendeine Sendung schauten. Aber an Spielabenden zog er es in der Regel vor, mit seinen Mannschaftskameraden zu feiern.

Ein feines Lächeln umspielte Connors Mundwinkel, während Bryce den Blick des Ersten Offiziers länger erwiderte, als viele Leute für klug halten würden. Seine fünf Rudelkumpel – von denen zwei noch in Wolfsgestalt waren und mit den buschigen Schwänzen wedelten – hielten sich schlauerweise bedeckt.

Es war allgemein bekannt, dass Connor der Alpha des Teufelsrudels wäre, wenn es Danika nicht gegeben hätte. Aber das nahm Connor ihr nicht übel. Er hegte keinen Ehrgeiz in dieser Richtung. Ganz im Gegensatz zu Sabine.

Bryce schob ihre Reservesporttasche mit Tanzklamotten an der Garderobe beiseite, um Platz für ihre Handtasche zu schaffen, und wandte sich dann wieder an die Wölfe: »Was guckt ihr denn später?« Obwohl sie un­abhängig vom Programm bereits beschlossen hatte, sich mit einem Liebes­roman in ihr Zimmer zurückzuziehen. Und die Tür fest zu verschließen.

Nathalie, die in irgendeinem Promi-Hochglanzmagazin blätterte, hob nicht mal den Kopf, als sie antwortete: »Irgend so eine neue Gerichts­serie über ein Rudel Löwen, das es mit einem bösartigen Fae-Konzern aufnimmt.«

»Klingt nach einem echten Knaller«, meinte Bryce. Bronson knurrte miss­billigend. Der riesige Wolf interessierte sich eher für Experimentalfilme und Dokumentarsendungen. Kein Wunder, dass die anderen ihm nie gestatteten, das Programm für den Rudelabend auszusuchen.

Connor fuhr mit einem schwieligen Finger über die Sofalehne. »Du bist spät dran.«

»Ich hab einen Job«, erwiderte Bryce. »Vielleicht solltest du dir auch einen suchen, anstatt auf meinem Sofa herumzulungern.«

Das war natürlich nicht ganz fair. Als Danikas Erster Offizier fungierte Connor als ihr Vollstrecker. Zum Schutz der Stadt hatte er getötet, gefoltert und verstümmelt und war dann gleich, noch vor Monduntergang, wieder losgezogen und hatte das Ganze wiederholt.

Aber er hatte sich nie darüber beschwert. Keiner der Wölfe klagte über seine Aufgabe.

Als Bryce ihre Freundin einmal gefragt hatte, wie sie die ganze Brutalität nur aushielt, hatte sie geantwortet: Welchen Sinn hat es, rumzumeckern, wenn man sich den Auxiliartruppen so oder so anschließen muss? Die zum Jäger geborenen Gestaltwandler waren noch vor ihrer Geburt zum Dienst in bestimmten Auxiliartruppen-Rudeln prädestiniert.

Bryce versuchte, das Tattoo mit dem gehörnten Wolf an Connors Hals nicht zu lange anzustarren – Beweis für sein vorherbestimmtes Dienstleben und für seine unerschütterliche Loyalität gegenüber Danika, dem Teufelsrudel und den Auxiliartruppen.

Connor musterte Bryce lediglich mit diesem feinen Lächeln, woraufhin sie innerlich mit den Zähnen knirschte. »Danika ist in der Küche. Und isst die Hälfte der Pizza, bevor wir anderen auch nur einen Bissen abbe­kommen.«

»Stimmt ja gar nicht!«, ertönte die gedämpfte Antwort aus der Küche.

Connors Lächeln wurde breiter.

Bei diesem Anblick und dem spöttischen Funkeln in seinen Augen ging Bryce’ Atem unwillkürlich schneller.

Die restlichen Rudelmitglieder konzentrierten sich pflichtbewusst auf den Fernseher und taten so, als würden sie die Abendnachrichten ver­folgen.

Bryce schluckte und fragte dann: »Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?« Übersetzung: War das Briggs-Meeting eine Katastrophe?

Connor wusste, was sie meinte. Er verstand sie immer hundertprozentig. Nachdenklich deutete er mit dem Kopf auf die Küche. »Das wirst du ja gleich erfahren.«

Übersetzung: Nicht gut gelaufen.

Bryce zuckte zusammen und es gelang ihr, den Blick von ihm loszureißen und in Richtung Küche zu stapfen, wobei sie Connors Blick bei jedem Schritt auf sich spürte.

Und möglicherweise schwang sie dabei auch die Hüften. Nur ein kleines bisschen.

Tatsächlich schob Danika sich gerade ein Stück Pizza zwischen die Zähne. Sie warf Bryce mit großen Augen einen warnenden Blick zu, damit diese bloß den Mund hielt. Bryce registrierte die unausgesprochene Bitte und nickte kaum merklich.

Das Kondenswasser einer halb leeren Bierflasche tropfte auf die weiße Küchentheke, an der Danika lehnte. Die ausgeliehene Seidenbluse klebte ihr durchgeschwitzt am Hals, und der Zopf hing ihr schlaff über die schlanke Schulter. Die farbenfrohen Strähnchen wirkten ungewöhnlich matt, und selbst ihre helle Haut, die sonst immer vor Gesundheit strahlte, schimmerte aschfahl.

Okay, die miese Küchenbeleuchtung – zwei mickrige, in die Decke eingelassene Erstlicht-Kugeln – ließ niemanden besonders vorteilhaft erscheinen, aber … Bier. Pizza. Das Rudel, das Abstand hielt. Und dieser müde, leere Ausdruck in den Augen ihrer Freundin. Ja, bei dem Meeting musste irgendetwas gewaltig schiefgelaufen sein.

Bryce öffnete den Kühlschrank, um sich auch ein Bier herauszuholen. Da die Rudelmitglieder unterschiedliche Geschmäcker hatten und ständig nach Lust und Laune hier auftauchten, war der Kühlschrank gerammelt voll mit Flaschen und Dosen und einem Krug … Met? Der musste Bronson gehören.

Entschlossen nahm Bryce eine von Nathalies Flaschen – ein milchig-trübes, hopfenlastiges Bier – und drehte den Verschluss auf. »Briggs?«

»Offiziell freigelassen. Micah, der Herbstkönig und das Orakel haben jeden erdenklichen Gesetzestext gewälzt, konnten aber keinen Weg um das Schlupfloch herum finden. Ruhn hat sogar Declan beauftragt, eine seiner Hightech-Suchen durchzuführen, aber vergebens. Sabine hat dem Mond­sichelrudel befohlen, Briggs heute Nacht zu überwachen, zusammen mit einigen Mitgliedern der 33.« Die verschiedenen Rudel hatten jeweils einen Abend in der Woche dienstfrei, und an diesem Abend war das Teufelsrudel dran. Daran führte kein Weg vorbei. Sonst würde Danika Briggs längst auf Schritt und Tritt verfolgen, das wusste Bryce genau.

»Dann seid ihr euch also alle einig, was ja schon mal nicht schlecht ist«, sagte sie.

»Ja, bis Briggs irgendwen oder irgendwas in die Luft jagt.« Angewidert schüttelte Danika den Kopf. »So ein verdammter Mist.«

Bryce musterte ihre Freundin aufmerksam: die Anspannung um ihre Mundwinkel, der Schweißfilm am Hals. »Was ist wirklich los?«

»Nichts.«

Die Antwort kam zu schnell, um glaubwürdig zu klingen. »Irgendwas nagt doch an dir. Diese miese Geschichte mit Briggs ist zwar nervig, aber normalerweise lässt du dich davon nicht unterkriegen.« Bryce kniff die Augen zusammen. »Was verschweigst du mir?«

Danikas Augen funkelten. »Nichts.« Sie nahm einen Schluck Bier.

Also blieb nur eine einzige andere Möglichkeit. »Ich geh mal davon aus, dass Sabine heute Nachmittag in Bestform war.«

Danika biss schweigend in ihre Pizza.

Bryce trank zwei Schluck Bier und beobachtete ihre Freundin, die mit ausdruckslosem Blick die petrolfarbenen Oberschränke mit den abgeplatzten Kanten anstarrte.

Danika kaute bedächtig und sagte dann mit vollem Mund: »Sabine hat mich nach dem Meeting abgefangen. Direkt im Flur vor Micahs Büro. Damit alle hören konnten, wie sie mir mitteilt, dass letzte Woche während des Stromausfalls zwei studentische Hilfskräfte der CCU in der Nähe des Luna­Tempels umgebracht worden sind. Meine Schicht. Mein Abschnitt. Mein Fehler.«

Bryce zuckte zusammen. »Und es hat eine Woche gedauert, bis ihr davon erfahren habt?«

»Offensichtlich.«

»Wer hat sie umgebracht?«

Die Studenten der Crescent City University tummelten sich jedes Wochenende in Old Square und verursachten ständig Ärger. Selbst als Ehe­malige der CCU beklagten Bryce und Danika oft, dass es keinen meter­hohen Elektrozaun um die Uni herum gab, der sämtliche Studenten in ihrer Ecke der Stadt einsperrte. Und sei es nur, um sie daran zu hindern, den Platz jede Woche von Freitagabend bis Sonntagmorgen vollzukotzen und zu bepinkeln.

Erneut nahm Danika einen Schluck Bier. »Keine Ahnung.« Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, und ihre karamellbraunen Augen verdüsterten sich. »Obwohl ihr Geruch sie als Menschen gekennzeichnet hat, hat die Feststellung ihrer Identität zwanzig Minuten gedauert. Die beiden waren zerfetzt und teilweise aufgefressen worden.«

Bryce versuchte, sich das lieber nicht vorzustellen. »Irgendein Motiv?«

Danika schluckte schwer. »Nein, nichts. Aber Sabine hat mir in Anwesenheit aller anderen genau erklärt, was sie davon hält, dass während meiner Schicht so ein öffentliches Gemetzel stattgefunden hat.«

»Und was hat der Primus dazu gesagt?«

»Nichts«, antwortete Danika. »Der alte Mann ist während der Sitzung eingeschlafen, und Sabine hat sich nicht die Mühe gemacht, ihn aufzu­wecken, bevor sie mich zur Schnecke gemacht hat.« Es würde wohl nicht mehr lange dauern, nur noch ein oder zwei Jahre, bis der derzeitige, fast vierhundert Jahre alte Primus der Wölfe die Überfahrt über den Istros antreten und in Bone Quarter seine letzte Ruhe finden würde. Es war ausgeschlossen, dass das schwarze Boot während dieses letzten Ritus kentern würde, weil seine Seele für unwürdig erachtet und deshalb dem Fluss übergeben wurde. Der Primus würde mit offenen Armen am nebelverhangenen Ufer zum Reich des Unterkönigs empfangen werden … und dann würde Sabines Herrschaft beginnen.

Mochten die Götter ihnen allen beistehen.

»Das Ganze ist nicht deine Schuld«, sagte Bryce und klappte den Deckel von zwei Pizzaschachteln auf, die vor ihr auf der Küchentheke lagen. Wurstscheiben, Peperoni und Fleischbällchen auf der ersten sowie Salami und irgendein Stinkekäse auf der anderen – eindeutig Bronsons Bestellung.