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Können Bryce und Hunt ihre Welt – und ihre Liebe – retten, selbst wenn Welten sie voneinander trennen? Die Queen of Fantasy ist zurück! Bryce Quinlan hätte nie gedacht, einmal eine andere Welt als Midgard zu sehen, aber jetzt, wo es passiert ist, will sie nur noch zurück. Alles, was sie liebt, ist in Midgard: ihre Familie, ihre Freunde, ihr Gefährte. Als Gestrandete in einer fremden neuen Welt wird sie all ihre Cleverness benötigen, um wieder nach Hause zu kommen. Und das ist kein leichtes Unterfangen – denn woher soll sie wissen, wem sie vertrauen kann? Hunt Athalar steckte in seinem Leben schon in zahlreichen ausweglosen Situationen, aber diese könnte die auswegloseste von allen sein. Nach ein paar kurzen Monaten, in denen er alle seine Träume wahr zu werden schienen, befindet er sich wieder in den Kerkern der Asteri, seiner Freiheit beraubt und ohne einen Hinweis darauf, was mit Bryce geschehen ist. Er will ihr unbedingt helfen, aber bis er sich aus den Fängen der Asteri befreien kann, sind ihm buchstäblich die Hände gebunden. Eine atemberaubende Fortsetzung der Crescent City-Reihe von Bestsellerautorin Sarah J. Maas, in der die Welt von Bryce und Hunt am Rande des Abgrunds steht – und das Schicksal aller in ihren Händen liegt. Alle Bände der ›Crescent City‹-Reihe: Band 1: Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht Band 2: Crescent City – Wenn ein Stern erstrahlt Band 3: Crescent City – Wenn die Schatten sich erheben Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar. Von Sarah J. Maas außerdem erschienen bei dtv: Die ›Das Reich der sieben Höfe‹-Reihe und die ›Throne of Glass‹-Reihe
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Seitenzahl: 1371
Können Bryce und Hunt ihre Welt und einander retten, selbst wenn Welten sie voneinander trennen?
Bryce Quinlan hätte nie gedacht, einmal eine andere Welt als Midgard zu sehen, aber jetzt, wo es passiert ist, will sie nur noch zurück. Alles, was sie liebt, ist in Midgard: ihre Familie, ihre Freunde, ihr Gefährte. Als Gestrandete in einer fremden neuen Welt wird sie all ihre Cleverness benötigen, um wieder nach Hause zu kommen. Und das ist kein leichtes Unterfangen – denn woher soll sie wissen, wem sie vertrauen kann?
Hunt Athalar steckte in seinem Leben schon in zahlreichen ausweglosen Situationen, aber diese könnte die auswegloseste von allen sein. Nach ein paar kurzen Monaten, in denen alle seine Träume wahr zu werden schienen, befindet er sich wieder in den Kerkern der Asteri, seiner Freiheit beraubt und ohne einen Hinweis darauf, was mit Bryce geschehen ist. Er will ihr unbedingt helfen, aber bis er sich aus den Fängen der Asteri befreien kann, sind ihm buchstäblich die Hände gebunden.
Eine atemberaubende Fortsetzung der Crescent City-Reihe von Bestsellerautorin Sarah J. Maas, in der die Welt von Bryce und Hunt am Rande des Abgrunds steht – und das Schicksal aller in ihren Händen liegt.
Von Sarah J. Maas sind bei dtv außerdem lieferbar:
Throne of Glass – Celaenas Geschichte
Throne of Glass – Die Erwählte
Throne of Glass – Kriegerin im Schatten
Throne of Glass – Erbin des Feuers
Throne of Glass – Königin der Finsternis
Throne of Glass – Die Sturmbezwingerin
Throne of Glass – Der verwundete Krieger
Throne of Glass – Herrscherin über Asche und Zorn
Das große Throne of Glass-Fanbuch
Das Reich der sieben Höfe – Dornen und Rosen
Das Reich der sieben Höfe – Flammen und Finsternis
Das Reich der sieben Höfe – Sterne und Schwerter
Das Reich der sieben Höfe – Frost und Mondlicht
Das Reich der sieben Höfe – Silbernes Feuer
Das große Reich der sieben Höfe-Fanbuch
Catwoman – Diebin von Gotham City
Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht
Crescent City – Wenn ein Stern erstrahlt
Sarah J. Maas
Wenn die Schatten sich erhebenBand 3
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Franca Fritz und Heinrich Koop
Für Sloane,
die mit ihrem Lächeln ganze Universen erhellt
DIEVIERHÄUSERVONMIDGARD
Gemäß Erlass des Reichssenats der Ewigen Stadt
im Jahr 33 W.E.
HAUSDERERDEUNDAHNEN
Gestaltwandler, Menschen, Hexen, herkömmliche Tiere
und viele andere, die Cthonas Ruf folgen, sowie einige,
die von Luna auserwählt sind
HAUSDESHIMMELSUNDATEMS
Malakhim (Engel), Fae, Elementarwesen, Kobolde[1]
und alle, die von Solas gesegnet sind, sowie einige,
die von Luna bevorzugt werden
HAUSDERVIELENWASSER
Flussgeister, Meerwesen, Wasserbestien, Nymphen, Kelpies,
Nixen und andere, über die Ogenas wacht
HAUSDERFLAMMENUNDSCHATTEN
Daemonaki, Sensenmänner, Geisterwesen, Vampire, Draki,
Drachen, Totenbeschwörer und viele bösartige und namenlose Wesen,
die nicht einmal Urd selbst sehen kann
Die Hindin kniete vor ihren unsterblichen Gebietern und überlegte, wie es sich wohl anfühlen würde ihnen die Kehlen herauszureißen.
Um ihren eigenen Hals lag ein silberner Reif, kühl und schwer, der sich auf ihrer Haut nie erwärmte. Als wollten die durch ihre Hand Getöteten, die er symbolisierte, dass auch sie den eisigen Griff des Todes ertrug.
Ein silberner Pfeil auf einer Schreckenswolf-Uniform: Das war die Trophäe für jeden Rebellen, der von Midgards Antlitz getilgt wurde. Lidia hatte so viele erworben, dass ihre graue Reichsuniform sie nicht alle aufnehmen konnte. So viele, dass man sie zu diesem Halsreif geschmolzen hatte.
Aber sah irgendjemand in diesem Saal den Halsreif als das, was er wirklich war?
Ein Halsband. Mit einer goldenen Leine, die direkt zu den Monstern vor ihr führte.
Und hegten diese Monster je den Verdacht, dass ihr treues Haustier, das zu ihren Füßen saß, über den Geschmack und die Konsistenz ihres Bluts auf der eigenen Zunge, an den Zähnen nachdachte?
Und doch würde sie hier nun knien, bis man ihr erlaubte sich zu erheben. So, wie diese Welt knien würde, bis die sechs Asteri auf ihrem Thron sie vollständig ausgesogen hatten und ihren Kadaver in der Leere des Raums verrotten ließen.
Die Bediensteten des Ewigen Palasts hatten das Blut vom glänzenden Kristallboden unter den Knien der Hindin entfernt. Kein kupferner Geruch lag in der sterilen Luft, keine verirrten Tropfen befleckten die Säulen, die den Raum flankierten. Als hätten die Ereignisse zwei Tage zuvor nie stattgefunden.
Aber Lidia Cervos durfte nicht zulassen, dass ihr Geist sich jetzt mit diesen Ereignissen beschäftigte. Nicht, solange sie von ihren Feinden umgeben war. Nicht, solange Pollux neben ihr kniete und eine seiner glänzenden Schwingen auf ihrer Wade ruhte. Wäre die Geste von einem anderen Mann gekommen, hätte man sie als Zeichen des Trostes, der Solidarität deuten können.
Aber nicht bei Pollux, dem Hammer – in seinem Fall war sie nichts anderes als eine Geste des Besitzanspruchs.
Lidia zwang einen toten, kalten Blick in ihre Augen. Zwang auch ihr Herz zu Eiseskälte und konzentrierte sich auf die beiden Fae-Könige, die ihre Argumente vortrugen.
»Mein verstorbener Sohn hat aus eigenem Antrieb gehandelt«, erklärte Morven, König der Avallen-Fae, mit ernstem, aschfahlem Gesicht. Der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann war ganz in Schwarz gekleidet, doch ihn umgab nicht ein Hauch von Trauer. »Hätte ich von Cormacs Verrat gewusst, hätte ich ihn selbst ausgeliefert.«
Lidia ließ ihren Blick über die Gruppe von Parasiten schweifen, die auf ihren Kristallthronen saßen.
Rigelus, wie immer in den Körper eines Fae-Teenagers gehüllt, stützte sein zartes Kinn auf eine Faust. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass du nichts von den Aktivitäten deines Sohnes wusstest – vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr du ihn an der Kandare hattest.«
Schatten huschten über Morvens breite Schultern und wanden sich über seine Rüstung mit den ledernen Panzerplättchen. »Er war ein aufsässiger Junge. Ich dachte, ich hätte es längst aus ihm herausgeprügelt.«
»Da hast du falsch gedacht«, spottete Hesperus, der Abendstern, der die Gestalt einer blonden Nymphe angenommen hatte. Ihre langen, schlanken Finger tippten auf die schimmernde Armlehne ihres Throns. »Wir müssen davon ausgehen, dass sein Verrat auf einen Verfall in deinem Königshaus zurückzuführen ist. Ein Verfall, der jetzt bestraft werden muss.«
Zum ersten Mal in den Jahrzehnten, die die Hindin Morven nun schon kannte, hielt der König den Mund. Ihm war am Tag zuvor keine andere Wahl geblieben, als der Aufforderung der Asteri nachzukommen. Aber er schätzte es eindeutig nicht, daran erinnert zu werden, dass seine Autonomie nur eine Illusion war, selbst auf der nebligen Insel Avallen.
Ein klein wenig genoss sie es – den Mann zu sehen, der auf Gipfeltreffen und Bällen herumstolziert war und nun jedes seiner Worte abwägen musste. Im Wissen, dass es sein letztes sein könnte.
»Ich wusste nichts von den Aktivitäten meines Sohnes oder wie feige sein Herz war. Das schwöre ich bei Lunas goldenem Bogen«, knurrte Morven und seine Stimme war klar und deutlich, als er mit beeindruckender Wut hinzufügte: »Ich verurteile alles, was Cormac war und wofür er stand. Er wird weder mit einem Grab noch mit einem Begräbnis geehrt werden. Es wird kein Schiff geben, das seinen Leichnam in die Sommerländer überführt. Ich werde dafür sorgen, dass sein Name aus allen Aufzeichnungen meines Hauses getilgt wird.«
Einen Herzschlag lang erlaubte sich Lidia einen Funken Mitleid mit dem Ophion-Agenten, den sie gekannt hatte. Mit dem Fae-Prinzen von Avallen, der alles gegeben hatte, um die Kreaturen vor ihr zu vernichten.
So, wie sie alles gegeben hatte. Noch immer alles geben würde.
Polaris, der Nordstern – in Gestalt eines weiblichen Engels mit weißen Schwingen und dunkler Haut –, spottete: »Es wird deshalb kein Schiff zur Überführung von Cormacs Leichnam in die Sommerländer geben, weil er sich selbst geopfert hat. Und dabei versucht hat uns mitzunehmen.« Polaris stieß ein leises, hasserfülltes Lachen aus, das wie Krallen über Lidias Haut fuhr. »Als ob eine armselige Flamme dazu in der Lage wäre.«
Morven schwieg. Er hatte alles in seiner Macht Stehende angeboten – ohne auf die Knie zu fallen und zu flehen. Dazu konnte es durchaus noch kommen, aber im Moment stand der Fae-König von Avallen mit hocherhobenem Kopf da.
Die Legende besagte, dass selbst die Asteri die Nebel um Avallen herum nicht durchdringen konnten. Aber Lidia hatte noch nie gehört, dass dies jemals auf die Probe gestellt worden war. Vielleicht war Morven auch deshalb hergekommen – um zu verhindern, dass die Asteri auf den Gedanken kommen könnten, den Wahrheitsgehalt der Legende zu überprüfen.
Falls die Asteri tatsächlich irgendwie von der uralten Macht, die Avallen umgab, abgewehrt wurden, wäre das ein Geheimnis, für dessen Bewahrung man eine Erniedrigung in Kauf nehmen sollte.
Rigelus lehnte sich entspannt zurück. Lidia hatte gesehen, wie der Sprecher der Asteri mit der gleichen Lässigkeit ganze Familien hinrichten ließ. »Und du, Einar? Was hast du zu deinem Sohn zu sagen?«
»Verräterischer Dreckskerl«, fluchte Pollux, der neben Lidia kniete. Seine Schwinge ruhte noch immer auf ihrem Bein, als ob es ihm gehörte. Als ob sie ihm gehörte.
Der Herbstkönig ignorierte den Hammer. Ignorierte alle außer Rigelus, als er tonlos antwortete: »Ruhn war von Geburt an wild. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn zu bändigen. Aber ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass er durch die Machenschaften seiner Schwester in diese Angelegenheit verstrickt wurde.«
Lidia hielt ihre Finger locker, auch wenn sie sie am liebsten zu Fäusten geballt hätte. Zwang ihr Herz zu einem trägen, regelmäßigen Puls, den kein Wanen-Gehör als ungewöhnlich empfinden würde.
»Du willst also das eine Kind verschonen, indem du das andere verdammst?«, fragte Rigelus und verzog die Lippen zu einem milden Lächeln. »Was für ein Vater bist du denn, Einar?«
»Weder Bryce Quinlan noch Ruhn Danaan haben das Recht, sich weiterhin meine Kinder zu nennen.«
Rigelus legte den Kopf schräg; sein kurzes, dunkles Haar schimmerte im Licht des Kristallraums. »Ich dachte, sie hätte den Namen Bryce Danaan für sich beansprucht. Hast du ihr den königlichen Status aberkannt?«
Ein Muskel zuckte in der Wange des Herbstkönigs. »Ich muss mir noch eine angemessene Strafe für sie überlegen.«
Pollux’ Schwingen rauschten, doch der Engel hielt den Kopf gesenkt und knurrte den Herbstkönig an: »Wenn ich dein Miststück von Tochter in die Finger kriege, wirst du froh sein, dass du sie verleugnet hast. Das, was sie der Harpyie angetan hat, werde ich ihr zehnfach heimzahlen.«
»Dazu musst du sie erst einmal finden«, erwiderte der Herbstkönig kühl. Lidia vermutete, dass Einar Danaan einer der wenigen Fae auf Midgard war, die einen so mächtigen Engel wie den Malleus offen verspotten konnten. Die bernsteinfarbenen Augen des Fae-Königs, die denen seiner Tochter so ähnlich waren, blickten zu den Asteri hoch. »Haben die Mystiker schon herausgefunden, wo sie sich aufhält?«
»Willst du nicht wissen, wo dein Sohn ist?«, fragte Octartis, der Südstern, mit einem gezierten Lächeln.
»Ich weiß, wo Ruhn ist«, konterte der Herbstkönig ungerührt. »Er hat es verdient dort zu sein.« Er drehte sich halb zu der Stelle um, wo Lidia kniete, und musterte sie kalt. »Ich hoffe, du presst jede noch so kleine Information aus ihm heraus.«
Lidia erwiderte seinen Blick mit einer Miene wie Stein, wie Eis – wie der Tod.
Die Augen des Herbstkönigs wanderten über den silbernen Halsreif an ihrer Kehle; ein leicht anerkennender Zug umspielte seinen Mund. Doch dann wandte er sich erneut an Rigelus, mit einer Autorität, die Lidia nur bewundern konnte: »Wo ist Bryce?«
Rigelus seufzte, gelangweilt und verärgert – eine tödliche Kombination. »Sie hat sich entschieden Midgard zu verlassen.«
»Ein Fehler, den wir bald korrigieren werden«, fügte Polaris hinzu.
Rigelus warf dem rangniederen Asteri einen warnenden Blick zu.
»Bryce ist nicht mehr in dieser Welt?«, fragte der Herbstkönig mit tonloser Stimme.
Morven musterte den anderen Fae-König misstrauisch. Soweit bekannt war, gab es nur einen Ort, zu dem man von Midgard aus Zugang hatte – eine gewaltige Mauer umgab den Northern Rift in Nena, um zu verhindern, dass seine Bewohner in diese Welt gelangten. Wenn Bryce nicht mehr in Midgard war, musste sie in der Hölle sein.
Es war Lidia nie in den Sinn gekommen, dass die Mauer um den Rift die Midgardianer auch am Verlassen des Planeten hindern würde.
Tja, die meisten Midgardianer.
»Diese Information muss unter uns bleiben«, verkündete Rigelus mit angespannter Stimme. Und der scharfe Ton ließ keinen Zweifel an der Bedeutung seiner Worte: unter Androhung der Todesstrafe.
Lidia war dabei gewesen, als die anderen Asteri wissen wollten, wie es passiert war: wie Bryce Quinlan in ihrem eigenen Palast ein Tor zu einer anderen Welt geöffnet hatte und dem Sprecher der Asteri durch die Finger geschlüpft war. Ihre Fassungslosigkeit und Wut waren ein schwacher Trost angesichts all der Ereignisse, die Lidia noch immer durch den Kopf gingen.
Eine silberne Glocke läutete hinter den Thronen der Asteri und erinnerte höflich daran, dass in Kürze eine weitere Sitzung anberaumt war.
»Diese Unterredung ist noch nicht beendet«, warnte Rigelus die beiden Fae-Könige und wies mit seinem dünnen Finger auf die Doppeltüren, die zum dahinter liegenden Korridor führten. »Wenn ihr auch nur ein Wort über das verliert, was ihr heute gehört habt, werdet ihr feststellen, dass es auf diesem Planeten keinen einzigen Ort gibt, an dem ihr vor unserem Zorn sicher seid.«
Die Fae-Könige verneigten sich und verließen den Saal ohne ein weiteres Wort.
Das Gewicht der Blicke der Asteri senkte sich auf Lidia und versengte ihre Seele. Doch sie ertrug es, so wie sie auch alle anderen Gräuel in ihrem Leben ertragen hatte.
»Erhebe dich, Lidia«, sagte Rigelus in einem Tonfall, der fast an Zuneigung grenzte. Dann wandte er sich an Pollux: »Steh auf, mein Hammer.« Lidia schluckte die Galle hinunter, die wie Säure brannte, und kam auf die Beine, dicht gefolgt von Pollux. Seine weiße Schwinge streifte ihre Wange; wie immer bildete die Sanftheit seines Gefieders einen krassen Widerspruch zur Verderbtheit seiner Seele.
Die Glocke läutete erneut, doch Rigelus machte ein Handzeichen in Richtung des Dieners, der im Schatten der nahen Säulen stand. Die nächste Sitzung konnte noch einen Moment warten.
»Wie laufen die Verhöre?« Rigelus lehnte sich auf seinem Thron zurück, als hätte er nach dem Wetter gefragt.
»Wir befinden uns noch in der Anfangsphase«, antwortete Lidia; ihr Mund schien irgendwie von ihrem Körper losgelöst zu sein. »Es wird eine Weile dauern, Athalars und Danaans Willen zu brechen.«
»Und was ist mit dem Höllenhund?«, fragte Hesperus, wobei die dunklen Augen der Nymphe bösartig funkelten.
»Ich bin noch dabei, ihn zu beurteilen.« Lidia reckte das Kinn vor und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Aber ich gehe fest davon aus, dass ich von allen das bekommen werde, was wir brauchen, Eure Hoheit.«
»Wie immer«, sagte Rigelus und ließ seinen Blick zu ihrem silbernen Halsreif schweifen. »Du darfst dich jetzt entfernen, um dein Werk zu vollenden, Hindin.«
Lidia verbeugte sich ab der Taille mit militärischer Präzision. Pollux folgte ihrem Beispiel, die Schwingen elegant gefaltet. Das Porträt eines perfekten Soldaten – der, zu dem man ihn gezüchtet hatte.
Erst als sie den langen Korridor hinter dem Thronsaal erreicht hatten, meldete sich der Hammer zu Wort. »Glaubst du, die kleine Schlampe ist wirklich in die Hölle verschwunden?« Pollux wies mit dem Kopf nach hinten, auf das matte, reglose Kristalltor am anderen Ende des Korridors.
Die Büsten im Gang – sämtliche Asteri in ihren unterschiedlichen Gestalten im Laufe der Jahrhunderte – waren inzwischen ersetzt und die Fenster, die Athalar mit seinem Blitz zertrümmert hatte, repariert.
Genau wie im Thronsaal fand sich auch hier kein einziger Hinweis auf die vergangenen Ereignisse. Und jenseits der Kristallwände dieses Palasts war nicht das kleinste Gerücht in den Nachrichten aufgetaucht.
Der einzige Beweis: die beiden Mitglieder der Asterischen Garde, die jetzt auf beiden Seiten des Tors standen. Ihre weiß-goldenen Uniformen leuchteten im Sonnenlicht und die Spitzen der Speere in ihren behandschuhten Händen erinnerten an gefallene Sterne. Da die Visiere ihrer goldenen Helme heruntergeklappt waren, konnte Lidia die Gesichter darunter nicht erkennen. Aber das spielte vermutlich keine Rolle. Sie besaßen keinerlei Individualität, hatten nicht den Hauch von Leben in sich. Diese elitären, hochgeborenen Engel waren zu Gehorsam und Pflichterfüllung gezüchtet worden. So, wie man ihnen diese leuchtend weißen Schwingen angezüchtet hatte. Genau wie dem Engel neben ihr.
Lidia ging gemessenen Schrittes zu den Aufzügen. »Ich werde definitiv keine Zeit damit verschwenden, das herauszufinden. Bryce Quinlan wird zweifellos eines Tages zurückkehren, ganz gleich, wo sie gelandet ist.«
Auf der anderen Seite der Fenster flimmerten die sieben Hügel der Ewigen Stadt im Sonnenlicht, fast alle mit Gebäuden überzogen, deren Terrakottadächer rötlich schimmerten. Ein kahler Berg – eigentlich eher ein Hügel – lag zwischen mehreren fast identischen Gipfeln direkt nördlich der Stadtgrenze. Der metallische Glanz auf seiner Kuppe funkelte wie ein Leuchtfeuer.
Handelte es sich um eine absichtliche Verhöhnung Athalars, dass der Hermon – der Berg, auf dem er und die Erzengelin Shahar die zum Scheitern verurteilte erste und letzte Schlacht ihrer Rebellion ausgetragen hatten – heute Dutzende der neuen Hybridroboteranzüge der Asteri beherbergte? Athalar konnte sie unten im Verlies zwar nicht sehen, aber wie Lidia Rigelus kannte, hatte der Standort der neuen Maschinen definitiv Symbolcharakter.
Am Morgen zuvor hatte sie den Bericht darüber gelesen, was die Asteri in den letzten Wochen ausgeheckt hatten – trotz Ophions Bemühungen, das Ganze zu verhindern. Trotz ihrer Versuche, es zu verhindern. Aber die schriftlichen Details waren nichts im Vergleich zum Auftauchen der Anzüge bei Sonnenuntergang gewesen. Die Stadt war in heller Aufregung, als die Militärtransporter den Hügel erreichten und einen Roboteranzug nach dem anderen ausluden, und mehrere Nachrichtenteams waren losgerast, um über die hochmoderne Technologie zu berichten.
Beim Anblick der Anzüge hatte sich ihr der Magen umgedreht – genau wie jetzt auch, als sie die in der Sonne glitzernden Stahlhüllen betrachtete.
Ein weiterer Beweis für das Versagen von Ophion. Sie hatten den Roboteranzug auf Ydra zerstört, das Labor vor Tagen dem Erdboden gleichgemacht – doch es war bereits zu spät gewesen. Rigelus hatte diese Metallarmee im Geheimen erschaffen und sie auf dem kahlen Gipfel des Hermon stationiert. Als Verbesserung gegenüber den Hybridanzügen brauchten diese nicht mal Piloten, um sie zu bedienen – obwohl sie noch immer die Möglichkeit boten im Notfall einen einzelnen Wanen-Soldaten aufzunehmen. Als wären die Hybridroboter eine sorgfältig kalkulierte Ablenkung für Ophion gewesen, während Rigelus seine Technologie heimlich perfektioniert hatte. Magie und Technik verschmolzen nun mit tödlicher Effizienz, bei minimalen Kosten für das Militär. Aber diese Anzüge bedeuteten den Tod für alle verbliebenen Rebellen – und damit das Ende für den Rest der Rebellion.
Sie hätte Rigelus’ Taschenspielertrick durchschauen müssen – aber das hatte sie nicht. Und nun würde dieses Gräuel auf die Welt losgelassen werden.
Die Aufzugtüren öffneten sich und Lidia und Pollux betraten schweigend die Kabine. Lidia drückte den Knopf für das unterste Untergeschoss – na ja, das zweitunterste. Die Aufzüge fuhren nicht in die Katakomben hinunter, die nur über eine gewundene Kristalltreppe erreicht werden konnten. Und wo eintausend Mystiker schlummerten.
Von denen jeder einzelne auf eine einzige Aufgabe konzentriert war: Finde Bryce Quinlan.
Das warf die Frage auf: Wenn alle wussten, dass der Northern Rift und andere Tore sich nur zur Hölle öffneten, warum gaben sich die Asteri dann solche Mühe und setzten derartige Ressourcen frei für die Suche nach Bryce? Bryce war in der Hölle gelandet – deshalb bestand doch eigentlich kein Grund, die Mystiker mit der Suche nach ihrem Aufenthaltsort zu beauftragen?
Es sei denn, Bryce Quinlan war an einem anderen Ort als der Hölle gelandet. Vielleicht in einer anderen Welt. Und wenn das der Fall war …
Wie lange würde es dauern? Wie viele Welten existierten jenseits von Midgard? Und wie groß waren die Chancen, dass Bryce in einer von ihnen überlebte – oder jemals nach Midgard zurückkehrte?
Die Aufzugtüren öffneten sich erneut und gaben jetzt den Blick auf das Halbdunkel des klammen Verlieses frei. Pollux stolzierte durch den steinernen Gang, die Schwingen eng angelegt. Als wollte er nicht, dass auch nur ein Fleckchen Schmutz von diesem Ort ihr makelloses weißes Gefieder besudelte. »Lässt du sie deshalb am Leben? Als Köder für diese Schlampe?«
»Ja.« Lidia folgte den Schreien, vorbei an den flackernden Erstlicht-Wandleuchtern. »Quinlan und Athalar sind Seelengefährten. Wegen dieses Bundes wird sie in unsere Welt zurückkehren. Und dann wird sie geradewegs zu ihm marschieren.«
»Und was ist mit dem Bruder?«
»Ruhn und Bryce sind Sterngeborene«, antwortete Lidia und wuchtete die Eisentür zu dem großen Verhörraum auf. Metall knirschte auf Stein, das Quietschen ein unheimliches Echo der Schmerzensschreie um sie herum. »Sie wird ihn befreien wollen – als ihren Bruder und ihren Verbündeten.«
Entschlossen schritt sie die Stufen in das Herz des Raums hinunter, wo drei Männer an gorsischen Fesseln hingen. Eine Blutlache hatte sich unter ihnen gebildet und sickerte durch das Gitter unter ihren nackten Füßen.
Lidia schaltete jeden Teil von sich ab, der fühlte, der atmete.
Athalar und Baxian baumelten bewusstlos von der Decke, ihre Brustkörbe ein Gitterwerk aus Narben und Verbrennungen. Und ihre Rücken …
Ein stetiges Tröpfeln ertönte im ansonsten stillen Raum wie ein undichter Wasserhahn. Blut sickerte noch immer aus den Stümpfen, wo vorher ihre Schwingen gewesen waren. Die gorsischen Fesseln hatten ihre Heilung auf ein fast menschliches Niveau verlangsamt – was die Männer zwar vor dem endgültigen Tod bewahrte, aber dafür sorgte, dass sie jeden einzelnen, qualvollen Moment durchlitten.
Lidia konnte die dritte Gestalt, die zwischen ihnen hing, nicht ansehen. Konnte in seiner Nähe nicht einmal Luft holen.
Leder raschelte über Stein und Lidia tauchte tief in ihr Inneres, als Pollux’ Peitsche knallte. Sie traf auf Athalars wunden, blutigen Rücken und der Umbra Mortis zuckte zusammen und schwankte an seinen Ketten.
»Aufwachen«, höhnte der Hammer. »Was für ein wundervoller Tag!«
Athalars geschwollene Augen öffneten sich blinzelnd. Hass loderte in ihren dunklen Tiefen.
Der erneut aufgetragene Heiligenschein auf seiner Stirn schimmerte dunkler als die Schatten des Verlieses. Sein ramponierter Mund verzog sich zu einem wilden Lächeln und enthüllte blutverschmierte Zähne. »Guten Morgen, Sonnenscheinchen.«
Ein leises, gebrochenes Lachen erklang rechts von Athalar. Und obwohl Lidia wusste, dass es töricht war, schaute sie hinüber.
Ruhn Danaan, Kronprinz der Valbara-Fae, starrte sie an.
Dort, wo Pollux ihm seine Piercings herausgerissen hatte, war seine Lippe geschwollen und seine Augenbraue blutverkrustet. Auf seinem tätowierten Oberkörper und an den Armen über seinem Kopf vermischten sich Blut, Schmutz und Blutergüsse.
Aber in den auffallend blauen Augen des Prinzen stand unverhohlene Abscheu.
Für sie.
Pollux ließ seine Peitsche erneut auf Athalars Rücken herabfahren und kümmerte sich nicht um Fragen. Nein, das hier war nur eine Art Aufwärmen. Das Verhör würde später folgen.
Baxian hing noch immer bewusstlos da. Pollux hatte ihn letzte Nacht zu einem blutigen Brei geschlagen, nachdem er ihm und Athalar die Schwingen mit einer stumpfen Säge abgetrennt hatte. Seitdem hatte sich der Höllenhund nicht einmal gerührt.
Night! Lidia unternahm einen Versuch und sandte ihre Stimme in die modrige Luft zwischen sich und dem Fae-Prinzen. Jenseits ihrer Träume hatten sie noch nie telepathisch kommuniziert, aber seit seiner Inhaftierung hier hatte sie es wieder und wieder versucht. Doch es kam keine Antwort. Nur Schweigen.
Genau wie seit dem Moment, als Ruhn erfahren hatte, wer sie war. Was sie war.
Sie wusste, dass er kommunizieren konnte, auch wenn die gorsischen Steine seine Magie behinderten und seine Heilung verlangsamten. Wusste, dass er auf diese Weise mit seiner Schwester gesprochen hatte, bevor Bryce geflohen war.
Night.
Ruhn fletschte die Lippen zu einem stummen Knurren, Blut rann an seinem Kinn herab.
Pollux’ Handy klingelte – ein schrilles, seltsames Geräusch in diesem uralten Schrein des Schmerzes. Er hielt inne und im Raum breitete sich schreckliche Stille aus. »Mordoc«, sagte der Hammer, die Peitsche noch immer in der Hand, und drehte sich von Athalars schwingendem, brutal zugerichtetem Körper weg. »Berichte.«
Lidia machte sich nicht die Mühe, gegen die Tatsache zu protestieren, dass ihr Erster Offizier dem Hammer Bericht erstattete. Pollux hatte den Tod der Harpyie persönlich genommen – er hatte Mordoc und die Schreckenswölfe beauftragt einen Hinweis darauf zu finden, wohin Bryce Quinlan verschwunden sein könnte.
Dass er noch immer glaubte, Bryce wäre für den Tod der Harpyie verantwortlich, war nur dem Umstand geschuldet, dass Athalar und Ruhn nicht verraten hatten, dass Lidia die Harpyie getötet hatte. Sie wussten, wer die Hindin war, und einzig die Tatsache, dass sie für die Rebellion lebenswichtig war, hielt sie davon ab, ihre Geheimnisse preiszugeben.
Während Pollux sich abwandte, ließ Lidia einen Moment ihre Maske fallen. Ließ Ruhn ihr wahres Gesicht sehen. Das Gesicht, das seine Seele geküsst und dann ihre eigene mit ihm geteilt und mit ihm verschmolzen hatte.
Ruhn, flehte sie in seinen Gedanken. Ruhn.
Doch der Fae-Prinz reagierte nicht. Der Hass in seinen Augen brannte unvermindert. Also setzte Lidia erneut die Maske der Hindin auf.
Und als Pollux sein Handy einsteckte und seine Peitsche neu ausrichtete, befahl die Hindin dem Hammer mit der leisen, leblosen Stimme, die schon so lange ihr Schutzschild war: »Hol stattdessen den Stacheldraht.«
Bryce Quinlan saß in einer Höhlenkammer, die so weit unter dem Berg lag, dass das Tageslicht für die Wesen, die hier hausten, ein Mythos sein musste.
Für einen Ort, der offensichtlich nicht die Hölle war, besaß ihre Umgebung verdammt große Ähnlichkeit damit: schwarzes Gestein, ein unterirdischer Palast und ein noch tiefer unter der Erdoberfläche gelegener Verhörraum … Die Dunkelheit schien den drei Personen, die ihr gegenüberstanden, im Blut zu liegen: eine zierliche Frau in grauer Seide und zwei Männer mit Schwingen, in schwarzer Rüstung mit ledernen Panzerplättchen, von denen einer – der gut aussehende, mächtige Mann in der Mitte des Trios – buchstäblich von Schatten und Sternen umspielt wurde.
Rhysand, so hatte er sich genannt. Der, der so große Ähnlichkeit mit Ruhn besaß.
Das konnte kein Zufall sein. Bryce war durch das Tor gesprungen, um die Hölle zu erreichen – um endlich auf Aidas’ und Apollions wiederholte Angebote einzugehen, ihre Armeen nach Midgard zu schicken und den Kreislauf der galaktischen Eroberung zu beenden. Aber stattdessen war sie hier gelandet.
Bryce warf einen Blick auf den Krieger neben Ruhns Beinahe-Zwilling. Den Mann, der sie gefunden hatte. Der mit dem schwarzen Dolch, auf den das Sternenschwert reagiert hatte.
Aus seinen haselnussbraunen Augen sprach nichts als kalte, raubtierhafte Wachsamkeit.
»Jemand sollte den Anfang machen«, sagte die kleine Frau – diejenige, die so schockiert gewirkt hatte, als sie Bryce in der Alten Sprache der Fae hatte sprechen hören, als sie das Schwert gesehen hatte. Der flackernde Schein einer Lichtquelle, die dem Erstlicht ähnelte, vergoldete die seidigen Strähnen ihrer kinnlangen Haare und ließ den Schatten ihrer schlanken Kieferpartie deutlich hervortreten. Ihre Augen – ein bemerkenswerter silberner Farbton – schweiften über Bryce, wirkten aber weiterhin vollkommen unbeeindruckt. »Du hast gesagt, dein Name sei Bryce Quinlan. Und dass du aus einer anderen Welt kommst – aus Midgard.«
Rhysand murmelte dem Mann neben ihm etwas zu. Vielleicht übersetzte er.
Die Frau fuhr fort: »Wenn man dir glauben darf, wie bist du dann hierhergekommen? Warum bist du hierhergekommen?«
Bryce betrachtete die ansonsten leere Zelle. Kein Tisch mit glitzernden Folterinstrumenten, keine Aushöhlungen im massiven Gestein, abgesehen von der Tür und dem Gitter in der Mitte des Bodens, nur wenige Meter entfernt. Ein Gitter, aus dem ein zischendes Geräusch drang – zumindest hätte sie das schwören können.
»Was ist das hier für eine Welt?«, krächzte Bryce. Nachdem Ruhns Doppelgänger sich in diesem schönen, einladenden Foyer vorgestellt hatte, hatte er blitzschnell ihre Hand ergriffen. Und die Stärke seines Griffs, die Berührung seiner Schwielen auf ihrer Haut waren das einzig Solide gewesen, während Wind und Dunkelheit um sie herum getobt hatten und die Welt verschwunden war – und im nächsten Moment war sie von massivem Felsgestein und dämmrigem Licht umgeben gewesen. Der Mann hatte sie in einen Palast unter einem Berg gebracht und dann die enge Treppe hinunter in dieses Verlies geführt. Hier hatte er auf den einzigen Stuhl in der Mitte des Raums gezeigt – ein stummer Befehl.
Also hatte Bryce darauf Platz genommen und auf die Handschellen gewartet oder Fesseln oder was auch immer sie in dieser Welt benutzten. Aber nichts dergleichen war passiert.
»Warum sprichst du die Alte Sprache?«, konterte die kleine Frau jetzt.
Bryce reckte der Frau das Kinn entgegen. »Warum sprichst du sie?«
Ein mattes Lächeln umspielte die rot geschminkten Lippen der Frau. Kein beruhigender Anblick. »Warum bist du mit Blut bedeckt, das nicht dein eigenes ist?«
Punktstand: Eins zu null für die Frau.
Bryce wusste, dass ihre blutgetränkte Kleidung, die jetzt steif und dunkel an ihr herabhing, und ihre blutverkrusteten Hände nicht für sie sprachen. Es handelte sich um das Blut der Harpyie und Spuren von Lidias Blut. Blut, das Bryce im Rahmen einer sorgfältig geplanten Aktion bedeckt hatte, um ihr Überleben zu sichern, um ihre Geheimnisse zu bewahren, während Hunt und Ruhn …
Sofort ging ihr Atem schneller. Sie hatte sie zurückgelassen. Ihren Gefährten und ihren Bruder. Sie hatte sie Rigelus überlassen.
Die Wände und die Decke schienen immer näher zu rücken und ihr die Luft aus den Lungen zu pressen.
Rhysand hob seine breite, von Sternen umrankte Hand. »Wir werden dir nichts tun.«
Bryce erkannte den Rest seines Satzes in den dichten Schatten um ihn herum: Sofern du nicht versuchst uns etwas anzutun.
Sie schloss die Augen und kämpfte gegen den stoßweisen Atem an und das erdrückende Gewicht des Gesteins über ihr und um sie herum.
Vor weniger als einer Stunde war sie vor Rigelus’ Macht geflohen, war explodierenden Marmorbüsten und zerberstenden Fenstern ausgewichen und Hunts Blitz hatte sich durch ihre Brust in das Tor gebohrt und ein Portal geöffnet. Sie war auf die Hölle zugesprungen …
… und jetzt war sie hier. Ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten und drückte fest zu.
Dann holte sie langsam und gequält Luft. Und noch einmal. Schließlich öffnete sie die Augen und fragte erneut, mit fester und klarer Stimme: »Was ist das hier für eine Welt?«
Ihre drei Vernehmungsexperten schwiegen.
Also heftete Bryce den Blick auf die Frau, das kleinste, aber keineswegs harmloseste Mitglied der Gruppe. »Du hast gesagt, die Alte Sprache wurde hier seit fünfzehntausend Jahren nicht mehr gesprochen. Warum?«
Die Tatsache, dass sie Fae waren und die Sprache überhaupt kannten, ließ auf eine Verbindung zwischen dieser Welt und Midgard schließen – eine Verbindung, die ihr langsam mit schrecklicher Klarheit dämmerte.
»Wie bist du in den Besitz des verschollenen Schwerts Gwydion gekommen?«, lautete die kühle Gegenfrage der Frau.
»Was …? Du meinst das Sternenschwert?« Eine weitere Verbindung zwischen ihren Welten.
Ein weiteres Mal starrten die anderen sie schweigend an. Ein undurchdringlicher Wall aus Menschen, die daran gewöhnt waren, Antworten zu bekommen, ganz gleich auf welche Weise.
Bryce hatte keine Waffen, nichts außer der Magie in ihren Adern, dem archesischen Amulett um ihren Hals und dem tätowierten Horn auf ihrem Rücken. Aber um es zu benutzen, brauchte sie Energie, musste aufgetankt werden wie eine blöde, beschissene Batterie …
Reden war also ihre beste Waffe. Gut, dass sie laut Hunt ein wahres Genie war, wenn es darum ging, den Leuten jeden Scheiß zu verkaufen.
»Das Schwert ist ein Familienerbstück«, erklärte Bryce. »Es befindet sich in meiner Welt, seit es von meinen Vorfahren dorthin gebracht wurde … vor fünfzehntausend Jahren.« Die letzten Worte betonte sie mit einem gezielten Blick auf die Frau. Sollte sie doch zwei und zwei zusammenzählen, so wie Bryce.
Aber der gut aussehende Mann – Rhysand – fragte mit einer Stimme, so dunkel wie Mitternacht: »Wie hast du unsere Welt gefunden?«
Eindeutig kein Mann, mit dem man sich anlegen sollte. Das galt zwar auch für die anderen beiden, aber dieser hier … Die Autorität strahlte förmlich von ihm ab. Als ob er das Zentrum dieses Ortes wäre. Also eine Art König.
»Ich habe sie nicht gefunden.« Bryce erwiderte seinen sternenfunkelnden Blick, obwohl ein urtümlicher Teil von ihr angesichts der reinen, unverhüllten Macht in seinem Blick schauderte. »Das hab ich doch schon gesagt: Ich wollte in die Hölle reisen. Stattdessen bin ich hier gelandet.«
»Wie?«
Die Wesen weit unter dem Gitter zischten lauter, als spürten sie seinen Zorn. Als verlangten sie nach Blut.
Bryce schluckte. Wenn diese Fae von dem Horn, ihrer Macht, den Toren erfuhren … Was würde sie davon abhalten, sie so zu nutzen, wie Rigelus es geplant hatte? Oder sie als eine Bedrohung zu betrachten, die beseitigt werden musste?
Genie, das den Leuten jeden Scheiß verkaufen kann. Sie würde das hinkriegen.
»In meiner Welt gibt es Tore, die in andere Welten führen. Vor fünfzehntausend Jahren brachten sie ihre Benutzer hauptsächlich in die Hölle. Na ja, der Northern Rift führt direkt in die Hölle, aber …« Sollten sie doch denken, dass sie schwafelte. Dass sie eine Närrin war. Das Partygirl, als das die meisten Leute in Midgard sie abgestempelt hatten – für das Micah sie gehalten hatte, bis sie seine verdammte Asche aufgesaugt hatte. »Dieses Tor hat mich ohne Rückfahrkarte hierhergeschickt.«
Gab es in dieser Welt überhaupt Fahrkarten? Irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel?
»Ein Gefährte von mir ist davon ausgegangen, dass er mich mit seiner Kraft in die Hölle schicken kann«, berichtete sie in die Stille hinein. »Aber ich glaube …« Rasch ging sie in Gedanken all das durch, was Rigelus ihr in den letzten Momenten gesagt hatte: dass das Leuchten des Sterns auf ihrer Brust irgendwie ein Signal war – wie ein Leuchtfeuer für die ursprüngliche Welt der Sterngeborenen.
Verzweifelt auf der Suche nach einem Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, deutete sie mit dem Kopf auf den Dolch des Kriegers. »In meiner Welt gibt es eine Prophezeiung über mein Schwert und ein verschollenes Messer. Wenn sie wieder zusammenkommen, werden auch die Fae von Midgard wiedervereint sein.«
In der Tat: ein Genie beim Verkaufen von Scheiß.
»Vielleicht bin ich ja deshalb hier. Vielleicht hat das Schwert den Dolch gespürt und … mich zu ihm gebracht.«
Stille. Dann lachte der schweigsame Krieger mit den haselnussbraunen Augen leise.
Wie konnte es sein, dass er sie verstand, obwohl Rhysand nicht übersetzt hatte? Es sei denn, er war in der Lage, einfach ihre Körpersprache zu interpretieren, ihren Tonfall, ihren Duft …
Der Krieger sprach mit einer tiefen Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Rhysand blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und übersetzte dann für Bryce, im gleichen bedrohlichen Ton: »Du lügst.«
Bryce blinzelte, ein Porträt der Unschuld und der Empörung. »In welcher Hinsicht?«
»Sag du es uns.« Dunkelheit sammelte sich in den Schatten von Rhysands Schwingen. Kein gutes Zeichen.
Sie war in einer anderen Welt, mit Fremden, die eindeutig mächtig waren und nicht zögern würden sie zu töten. Jedes Wort, das über ihre Lippen kam, war für ihre Sicherheit und ihr Überleben von entscheidender Bedeutung.
»Ich musste gerade vorhin mit ansehen, wie mein Gefährte und mein Bruder von einer Gruppe intergalaktischer Parasiten gefangen genommen wurden«, knurrte sie. »Mich interessiert nur eines: Ich will einen Weg finden, wie ich ihnen helfen kann.«
Rhysand schaute zu dem Krieger, der nickte, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von Bryce abzuwenden.
»Tja«, wandte Rhysand sich an Bryce und verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. »Zumindest das entspricht der Wahrheit.«
Doch die zierliche Frau wirkte unbeeindruckt. Ihre Gesichtszüge hatten sich bei Bryce’ Ausbruch sogar noch verhärtet. »Erklär uns, was du damit meinst.«
Diese Leute waren Fae. Und nichts deutete darauf hin, dass sie besser waren als die Dreckskerle, die Bryce fast ihr ganzes Leben lang schon kannte. Und obwohl sie ihrer eigenen Welt ein paar Jahrhunderte hinterherzuhinken schienen, wirkten sie irgendwie sogar noch mächtiger als die Midgard-Fae – was nur noch mehr Arroganz und Anspruchsdenken bedeuten konnte.
Sie musste unbedingt in die Hölle reisen. Oder zumindest zurück nach Midgard. Aber wenn sie zu viel sagte …
Die Frau bemerkte ihr Zögern. »Sieh doch einfach in ihre Gedanken, Rhys.«
Bryce erstarrte. Gütige Götter! Er konnte in ihren Kopf eindringen, alles sehen, was er wollte …
Rhysand warf der Frau einen Blick zu. Doch sie starrte mit einer Intensität zurück, die ihre kleine Statur Lügen strafte. Wenn Rhysand das Kommando hatte, dann erwartete er von seinen Untergebenen jedenfalls offensichtlich nicht, dass sie zu allem Ja und Amen sagten.
Bryce schaute rasch zur Tür. Sie würde sie nicht rechtzeitig erreichen, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie nicht verriegelt war. Eine Flucht würde sie nicht retten. Konnte das archesische Amulett sie schützen? Es hatte Ruhn nicht am Gedankenlesen gehindert, aber …
Ich schnüffle nicht in Bereichen herum, in die man mich nicht freiwillig einlädt.
Bryce zuckte auf dem Stuhl zurück und warf ihn fast um, als sie die ruhige Männerstimme in ihrem Kopf hörte. Rhysands Stimme.
Doch sie antwortete und dankte Luna innerlich dafür, dass ihre eigene Stimme kühl und gefasst klang: Eine der Ethikregeln der Telepathie?
Sie spürte, wie er innehielt – fast so, als würde ihre Antwort ihn belustigen. Diese Art der Kommunikation scheint dir nicht neu zu sein.
Ja. Mehr würde sie nicht über Ruhn sagen.
Darf ich in deine Erinnerungen schauen? Um mich zu überzeugen?
Nein, das darfst du nicht.
Rhysand blinzelte. Dann verkündete er laut: »Also werden wir uns auf dein Wort verlassen müssen.«
Die zierliche Frau starrte ihn an. »Aber …«
Rhysand schnippte mit den Fingern, woraufhin drei Stühle hinter ihnen auftauchten. Anmutig ließ er sich auf einem davon nieder und schlug einen Knöchel über das andere Knie. Der Inbegriff von Fae-Schönheit und Arroganz. Er blickte zu seinen Begleitern hoch. »Azriel.« Lässig zeigte er auf den Mann. Dann auf die Frau. »Amren.«
Dann wandte er sich an Bryce und sagte neutral: »Bryce … Quinlan.«
Bryce nickte langsam.
Rhysand betrachtete seine manikürten, sauberen Nägel. »Also dein Schwert … es existiert in deiner Welt seit fünfzehntausend Jahren?«
»Mitgebracht von einem meiner Vorfahren.« Bryce überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Von Königin Theia. Oder von Prinz Pelias, je nachdem, welche Propaganda gerade verbreitet wird.«
Amren versteifte sich leicht. Rhysand warf ihr einen Blick zu und registrierte die Bewegung.
»Du … kennst sie?«, wandte Bryce sich in eindringlichem Ton an die Frau.
Amren musterte Bryce – von ihren blutbespritzten neonpinken Schuhen bis zu ihrem hohen Pferdeschwanz. Die Blutschmieren auf Bryce’ Gesicht, jetzt erhärtet und klebrig. »Diese Namen hat hier seit sehr, sehr langer Zeit niemand mehr ausgesprochen.«
Seit fünfzehntausend Jahren – darauf hätte Bryce gewettet.
»Aber du hast von ihnen gehört?« Bryce’ Herz klopfte wie wild.
»Sie haben einst … hier gewohnt«, antwortete Amren vorsichtig.
Das war der letzte Beweis, den Bryce brauchte, um zu erkennen, um welchen Planeten es sich hier handelte. Etwas beruhigte sich tief in ihrem Inneren, ein loser Faden, der endlich straff gezogen wurde. »Das ist es also. Von hier stammen wir – die Midgard-Fae. Meine Vorfahren verließen diese Welt und gingen nach Midgard … und wir vergaßen, woher wir kamen.«
Erneute Stille. Azriel sprach in seiner eigenen Sprache und Rhysand übersetzte. Vielleicht hatte Rhysand in den letzten Minuten für Azriel telepathisch übersetzt.
»Er sagt, wir kennen keine derartigen Geschichten über die Migration unseres Volks in eine andere Welt.«
Doch Amren brachte einen kleinen, erstickten Laut hervor.
Rhysand drehte sich langsam um, leicht ungläubig. »Oder doch?«, fragte er ruhig.
Amren zupfte an einer unsichtbaren Fluse auf ihrer Seidenbluse. »Es ist nicht ganz eindeutig …« Sie schüttelte den Kopf. »Es gab Gerüchte. Dass eine große Anzahl von Menschen verschwunden sei, als ob sie nie da gewesen wären. Einige behaupteten, sie wären in eine andere Welt gegangen, andere sagten, sie seien in ferne Länder gezogen, wieder andere meinten, sie seien vom Kessel auserwählt und irgendwohin verschleppt worden.«
»Sie müssen nach Midgard gegangen sein«, sagte Bryce. »Angeführt von Theia und Pelias …«
Amren hob die Hand. »Wir können uns deine Mythen später anhören, Mädchen. Mich interessiert viel mehr …«, ihre Augen taxierten sie scharf und Bryce ertrug den prüfenden Blick nur mit Mühe, »warum du hierhergekommen bist, obwohl du eigentlich woanders hinwolltest.«
»Das wüsste ich auch gern«, erwiderte Bryce, vielleicht etwas kühner, als genau genommen klug war. »Glaubt mir, mir wäre nichts lieber, als sofort von hier zu verschwinden.«
»Um in die … Hölle zu reisen«, sagte Rhysand neutral. »Um diesen Prinz Aidas zu finden.«
Diese Leute waren weder ihre Freunde noch ihre Verbündeten. Dieser Ort mochte die Heimatwelt der Fae sein, aber wer zum Teufel wusste schon, was sie wollten oder anstrebten? Rhysand und Azriel sahen zwar gut aus, aber Urd wusste, dass die Fae von Midgard ihre Schönheit seit Jahrtausenden einsetzten, um ihren Willen zu bekommen.
Rhysand brauchte ihre Gedanken nicht zu lesen – nein, er schien das alles in ihrem Gesicht zu sehen. Er nahm das Bein vom Knie und stellte beide Füße breitbeinig auf den Steinboden. »Erlaube mir dir die Situation zu erläutern, Bryce Quinlan.«
Sie zwang sich seinen sternenfunkelnden Blick zu erwidern. Sie hatte es mit den Asteri, den Erzengeln und den Fae-Königen aufgenommen und war ungeschoren davongekommen. Sie würde es auch mit ihm aufnehmen.
Rhysands Mundwinkel zuckte. »Wir werden dich nicht foltern und ich werde auch nicht in deinen Kopf spähen. Wenn du dich entscheidest zu schweigen, ist das deine Entscheidung. Genau, wie es meine Entscheidung sein wird dich hier unten in dieser Zelle festzuhalten, bis du dich anders entscheidest.«
Unwillkürlich sondierte Bryce den Raum, wobei sich ihre Aufmerksamkeit auf das Gitter und das Zischen konzentrierte, das von dort heraufdrang. »Ich werde sie meinen Freunden als Urlaubsort empfehlen.«
Die Sterne erloschen in Rhysands Augen. »Müssen wir damit rechnen, dass noch andere aus deiner Welt hier eintreffen?«
Bryce gab die wahrhaftigste Antwort, zu der sie fähig war: »Nein. Soweit ich weiß, suchen sie seit fünfzehntausend Jahren nach diesem Ort, aber ich bin die Einzige, die es je hierher zurückgeschafft hat.«
»Wer sind sie?«
»Die Asteri. Das hab ich doch schon gesagt – intergalaktische Parasiten.«
»Was soll das bedeuten?«
»Sie sind …« Bryce hielt inne. Wer konnte schon sagen, ob diese Leute sie nicht direkt an Rigelus ausliefern würden? Sich vor ihm verbeugten? Theia entstammte dieser Welt und hatte gegen die Asteri gekämpft, aber Pelias hatte ihnen jede Lüge abgekauft und freudig zu ihren unsterblichen Füßen gekniet.
Ihr Schweigen verriet genug. Amren schnaubte. »Spar dir die Mühe, Rhysand.«
Rhysand legte den Kopf auf die Seite wie ein Raubtier, das seine Beute studierte. Bryce hielt seinem Blick stand, das Kinn hocherhoben. Ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen.
Erneut schnippte er mit den Fingern und das Blut und der Schmutz auf ihr verschwanden. Ihre Haut klebte zwar noch immer, war aber wieder sauber. Bryce blickte blinzelnd an sich herab und dann zu ihm hoch.
Ein grausames kleines Lächeln umspielte seinen Mund. »Um dir einen Anreiz zu geben.«
Amren und Azriel musterten sie weiter mit steinerner Miene. Und warteten.
Sie wäre dumm, wenn sie glauben würde, dass Rhysands Anreiz etwas Gutes über ihn aussagte, überlegte Bryce. Aber sie konnte bei diesem Spiel mitspielen.
Also erwiderte sie: »Die Asteri sind uralt. Zehntausende von Jahren alt.« Bei der Erinnerung an den Raum unter dem Palast der Asteri – an die Aufzeichnungen über Eroberungen, die Jahrtausende zurückreichten, komplett mit eigenem Datierungssystem – schauderte sie leicht.
Ihre Entführer reagierten nicht, blinzelten nicht mal. Gut zu wissen – ein wahnsinnig hohes Alter war für sie nicht völlig unvorstellbar.
»Sie trafen vor fünfzehntausend Jahren in meiner Welt ein. Keiner weiß, woher sie kamen.«
»Was meinst du mit eintreffen?«, fragte Rhysand.
»Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, wie sie nach Midgard kamen. Die Geschichte, die sie erzählten, lief darauf hinaus, dass sie … Befreier waren. Aufklärer. Angeblich war Midgard kaum mehr als ein öder, von nicht magischen Menschen und Tieren bewohnter Planet gewesen. Die Asteri wählten ihn als Ort, um ein perfektes Reich zu errichten, und schon bald strömten Kreaturen und Wesen aus anderen Welten durch einen riesigen Riss zwischen den Welten, dem sogenannten Northern Rift, nach Midgard. Dieser Riss öffnet sich jetzt nur noch zur Hölle, aber früher führte er … überallhin.«
»Ein Riss. Wie kann das sein?«, fragte Amren drängend.
»Da bin ich überfragt«, sagte Bryce. »Niemand hat je herausgefunden, wie das überhaupt möglich ist – warum an diesem Ort in Midgard und an keinem anderen.«
Rhysand musterte sie. »Was geschah, nachdem diese Wesen in deiner Welt angekommen waren?«
Bryce sog an ihrer Lippe, bevor sie erwiderte: »In der offiziellen Version dieser Geschichte hat eine andere Welt – die Hölle – versucht in Midgard einzufallen. Sie wollte das junge Reich zerstören … und jeden, der darin lebt. Doch die Asteri vereinigten all diese neuen Völker unter einem Banner und drängten die Hölle in ihr eigenes Reich zurück. Danach wurde der Northern Rift verändert, sodass nur noch der direkte Transport in die Hölle möglich war, und blieb weitgehend verschlossen. Um ihn herum wurde eine gewaltige Mauer errichtet, um zu verhindern, dass irgendwelche Nachzügler aus der Hölle durch die Risse gelangen, und die Asteri errichteten ein glanzvolles Reich, das für die Ewigkeit bestimmt war. Zumindest sollen wir das alle glauben.«
Die Gesichter vor ihr wirkten weiterhin teilnahmslos. Schließlich fragte Rhysand leise: »Und wie lautet die inoffizielle Geschichte?«
Bryce schluckte und der Raum in den Archiven blitzte in ihrer Erinnerung auf. »Die Asteri sind uralte, unsterbliche Wesen, die sich von der Macht anderer ernähren. Sie ernten die Magie eines Volks, einer Welt und verzehren sie dann. Wir nennen es ›Erstlicht‹. Es nährt unsere ganze Welt, aber vor allem die Asteri. Wir müssen es abgeben, wenn wir die Unsterblichkeit erreichen – na ja, wenn wir so dicht an der Unsterblichkeit dran sind, wie wir eben können. Wir erhalten unsere voll entwickelte Kraft durch ein Ritual, das man ›den Sprung‹ nennt. Dabei wird ein Teil unserer Kraft abgeschöpft und an die Erstlicht-Lager für die Asteri abgegeben. Wie eine Art Steuer auf unsere Magie.«
Sie wollte lieber gar nicht erst erwähnen, was nach dem Tod geschah: wie die Kraft, die in ihren Seelen verweilte, schließlich auch geerntet wurde, vom Unterkönig in das Dead Gate gezwungen und in Zweitlicht verwandelt, um die Asteri noch mehr zu stärken mit der Energie, die eben übrig blieb, nachdem der Unterkönig sich seinen Anteil genommen hatte.
Amrens eleganter Bob geriet in Bewegung, als sie den Kopf schräg legte und Bryce musterte. »Eine Steuer auf eure Magie, die von uralten Wesen erhoben wird und ihnen als Nahrung und Stärkung der eigenen Macht dient.« Azriels Blick wanderte zu ihr, während Rhysand vermutlich noch immer telepathisch übersetzte. Doch Amren murmelte vor sich hin, als hätten die Worte eine Erinnerung ausgelöst: »Ein Zehnt.«
Rhysand zog die Augenbrauen hoch, bedeutete Bryce jedoch mit seiner breiten, eleganten Hand fortzufahren. »Was noch?«
Sie schluckte erneut. »Midgard ist nur die jüngste in einer langen Reihe von Welten, die von den Asteri erobert wurden. Sie haben ein ganzes Archiv über verschiedene Planeten, die sie entweder erobert haben oder zu erobern versuchten. Ich habe es kurz vor meiner Ankunft hier mit eigenen Augen gesehen. Und soweit ich weiß, gab es nur drei Planeten, die in der Lage waren sie zu vertreiben – sich zu wehren und sie zu besiegen. Die Hölle, dann ein Planet namens Iphraxia und … eine Welt, die von den Fae bewohnt war. Den ursprünglichen Sterngeborenen.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Dolch an Azriels Seite, der in der Gegenwart des Sternenschwerts in dunklem Licht flackerte. »Ihr kennt mein Schwert unter einem anderen Namen, aber ihr wisst, was es ist.«
Amren war die Einzige, die nickte.
»Ich glaube, es liegt daran, dass es aus dieser Welt stammt«, fuhr Bryce fort. »Mein Schwert scheint irgendwie mit diesem Dolch verbunden zu sein. Es wurde hier geschmiedet, wurde Teil eurer Geschichte und war dann verschollen … richtig? Ihr habt es seit fünfzehntausend Jahren nicht mehr gesehen und diese Sprache fast ebenso lange nicht mehr gesprochen – was sich perfekt mit dem Zeitpunkt der Ankunft der Sterngeborenen in Midgard deckt.«
Die Sterngeborenen – Theia, ihre Königin, und Pelias, der Verräterprinz, der ihre Macht an sich gerissen hatte. Theia hatte zwei Töchter mit nach Midgard gebracht: Helena, die gezwungen worden war Pelias zu heiraten, und eine andere, deren Name im Dunkel der Geschichte verloren gegangen war. Ein Großteil der Wahrheit über Theia war ebenfalls verloren gegangen, entweder durch den Lauf der Zeit oder durch die Propaganda der Asteri. Aidas, der Prinz der Kluft, hatte sie geliebt – das wusste Bryce. Theia hatte an der Seite der Hölle gegen die Asteri gekämpft, um Midgard zu befreien. Letztendlich war sie von Pelias getötet worden und man hatte ihren Namen fast vollständig aus dem Gedächtnis der Midgardianer getilgt. Bryce trug Theias Licht in sich – das hatte Aidas bestätigt. Aber darüber hinaus hatten selbst die Asteri-Archive keine Informationen über die längst verstorbene Königin geliefert.
»Du glaubst also …«, setzte Amren mit glitzernden Silberaugen an, »dass unsere Welt dieser dritte Planet ist, der sich diesen … Asteri widersetzt hat.«
Jetzt nickte Bryce und deutete auf die Zelle und das Reich darüber. »Soweit ich weiß, waren die Asteri lange vor ihrer Ankunft in meiner Welt hier. Sie eroberten und beherrschten diese Welt. Aber schließlich gelang es den Fae sie zu stürzen – sie zu besiegen.« Sie holte tief Luft und musterte jedes der Gesichter. »Wie?« Ihre Stimme klang heiser, verzweifelt. »Wie habt ihr das gemacht?«
Doch Rhysand schaute mit einem misstrauischen Ausdruck in den Augen zu Amren. Sie musste eine Art Hofhistorikerin oder Gelehrte sein, wenn er sie ständig zu Dingen aus der Vergangenheit befragte. »In unserer Geschichte existiert kein derartiges Ereignis.«
»Tja, aber die Asteri erinnern sich an eure Welt«, warf Bryce ein. »Sie hegen noch immer einen Groll. Rigelus, ihr Anführer, hat mir gesagt, es sei seine persönliche Mission, diesen Ort zu finden und euch alle dafür zu bestrafen, dass ihr sie rausgeworfen habt. Im Grunde seid ihr Staatsfeind Nummer eins.«
»Doch, in unserer Geschichte gibt es ein derartiges Ereignis, Rhysand«, sagte Amren mit ernster Miene. »Aber die Asteri waren nicht unter diesem Namen bekannt. Hier nannte man sie die Daglan.«
Bryce hätte schwören können, dass Rhysands goldenes Gesicht leicht blass wurde.
Azriel verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl und seine Schwingen raschelten.
»Die Daglan wurden allesamt getötet«, entgegnete Rhysand mit fester Stimme.
Amren erschauderte, woraufhin sich noch größere Sorge auf Rhysands Miene spiegelte.
»Offenbar nicht alle«, sagte sie.
Eindringlich wandte Bryce sich an Amren: »Hast du irgendwelche Aufzeichnungen darüber, wie sie besiegt wurden?« Ein Funke Hoffnung glühte in ihrer Brust.
»Nichts außer alten Liedern über blutige Schlachten und große Verluste.«
»Aber die Geschichte … klingt sie für dich wahr?«, fragte Bryce. »Unsterbliche, bösartige Eroberer herrschten einst über diese Welt und ihr habt euch zusammengetan und sie gestürzt?«
Das Schweigen der drei reichte ihr als Bestätigung.
Doch Rhysand schüttelte den Kopf, als könnte er es noch immer nicht ganz glauben. »Und du denkst …« Er sah Bryce direkt an, wieder mit diesem raubtierhaften, hoch konzentrierten Ausdruck in den Augen. Gütige Götter, er war wirklich furchterregend. »Du glaubst, die Daglan – diese Asteri – wollen hierher zurückkehren, um sich zu rächen. Nach mindestens fünfzehntausend Jahren.« Aus jedem seiner Worte sprach Zweifel.
»Das sind für Rigelus etwa fünf Minuten«, konterte Bryce. »Er hat unendlich viel Zeit … und Ressourcen.«
»Was für Ressourcen?« Kalte, scharfe Worte – ein Anführer, der versuchte die Bedrohung für sein Volk einzuschätzen.
Wo sollte sie anfangen, um Waffen, Brimstone-Raketen, Roboteranzüge und Omega-U-Boote zu beschreiben oder sogar die Macht der Asteri? Wie sollte man den rücksichtslosen, schnellen Schrecken einer Kugel vermitteln? Und vielleicht war es leichtsinnig, aber … Sie streckte Rhysand die Hand entgegen. »Ich werde es dir zeigen.«
Amren und Azriel warfen ihm scharfe Blicke zu. Als könnte das eine Falle sein.
»Warte«, sagte Rhysand und verschwand im Nichts.
Bryce starrte die anderen verblüfft an. »Ihr … ihr könnt teleportieren?«
»Wir nennen es ›den Wind teilen‹«, erklärte Amren gedehnt. Bryce hätte schwören können, dass Azriel grinste. Aber Amren fragte: »Kannst du das auch?«
»Nein«, log Bryce. Falls Azriel ihre Lüge wahrgenommen hatte, sprach er sie dieses Mal nicht darauf an. »Bei uns gibt es nur zwei Fae, die dazu in der Lage sind.«
Jetzt starrte Amren sie verwundert an. »Zwei – auf eurem ganzen Planeten?«
»Ich nehme an, ihr habt noch mehr?«
Azriel, dem Rhysand als Übersetzer fehlte, sah schweigend zu. Bryce hätte schwören können, dass ihn Schatten umhüllten, Schatten wie die von Ruhn, aber … wilder. So wie die von Cormac früher.
Amren nickte leicht. »Ja, zwar nur die Mächtigsten, aber viele besitzen diese Fähigkeit.«
Wie aufs Stichwort tauchte Rhysand wieder auf, eine kleine, silberne Kugel in der Hand.
»Der Veritas?«, fragte Amren und Azriel zog eine Augenbraue hoch. Aber Rhysand ignorierte sie und streckte seine andere Hand aus, in der eine kleine, silberne Bohne lag.
Bryce nahm sie und betrachtete die Kugel, die er auf den Boden legte. »Was ist das?«
Rhysand deutete mit dem Kinn auf die Kugel. »Wenn du sie in die Hand nimmst und an das denkst, was du uns zeigen willst, werden die Erinnerungen darin festgehalten, damit wir sie sehen können.«
Kein Problem. Wie eine Kamera für ihren Verstand. Vorsichtig näherte sie sich der Kugel und hob sie auf. Das Metall war glatt und kalt. Leichter als erwartet. Offenbar hohl.
»Also dann«, sagte sie und schloss die Augen. Sie stellte sich die Waffen vor, die Kriege, die Schlachtfelder, die sie im Fernsehen gesehen hatte, die Roboteranzüge, die Gewehre, deren Gebrauch sie gelernt hatte, die Lektionen mit Randall, die Kraft, mit der Rigelus sie durch den Korridor gejagt hatte …
An diesem Punkt schaltete sie ihre Erinnerungen ab – bevor sie in das Tor gesprungen war, bevor sie Hunt und Ruhn zurückgelassen hatte. Sie wollte das nicht noch mal miterleben. Um den drei Fae nicht zu zeigen, wozu sie in der Lage war. Um das Horn oder ihre Teleportationsfähigkeiten nicht zu enthüllen.
Bryce öffnete die Augen. Die Kugel lag ruhig und dunkel in ihrer Hand. Sie legte sie zurück auf den Boden und rollte sie zu Rhysand hinüber.
Er ließ die Kugel auf einem unsichtbaren Wind in seine Hand schweben, berührte dann die Kuppe – und all das, was in ihrem Kopf gewesen war, spielte sich jetzt vor ihr ab.
Bryce empfand es als viel schlimmer, das Ganze noch einmal als eine Art Erinnerungsmontage zu sehen: die Gewalt, die Brutalität, die Leichtigkeit, mit der die Asteri und ihre Schergen töteten, ihre Willkür.
Doch ihre Empfindungen beim Anblick der Bilder waren nichts im Vergleich zu der Überraschung und dem Entsetzen auf den Gesichtern ihrer Fänger.
»Waffen«, sagte Bryce und zeigte auf das Gewehr, das Randall in ihrer Erinnerung abgefeuert hatte – ein Volltreffer auf ein Ziel in einer Entfernung von einer halben Meile. »Brimstone-Raketen.« Sie deutete auf das aufwallende goldene Licht der Zerstörung, als die Gebäude von Lunathion um sie herum zerbarsten. »Omega-U-Boote.« Die SPQM Faustus jagte durch die dunklen Tiefen der Meere. »Asteri.« Rigelus’ weiß glühende Macht sprengte Stein und Glas und die Welt.
Rhysand fasste sich offenbar wieder und setzte eine kühle Maske auf. »Du lebst in einer solchen Welt.«
Eigentlich keine Frage. Aber Bryce nickte. »Ja.«
»Und sie wollen all das … hierherbringen.«
»Ja.«
Rhysand starrte vor sich hin. Dachte angestrengt nach. Azriel blickte weiterhin auf die Stelle, wo die Kugel die völlige Zerstörung ihrer Welt gezeigt hatte. Angsterfüllt – und gleichzeitig berechnend. Sie hatte diesen Blick schon einmal auf Hunts Gesicht gesehen: der Verstand eines Kriegers im Einsatz.
Amren drehte sich zu Rhys um und erwiderte seinen Blick. Auch diesen Blick kannte Bryce. Ein stummes Gespräch zwischen ihnen. So wie Bryce und Ruhn oft miteinander kommuniziert hatten.
Bei diesem Anblick … bei der Erinnerung daran spürte sie einen Stich im Herzen. Der sie allerdings beruhigte. Ihre Aufmerksamkeit fokussierte.
Die Asteri waren hier gewesen – unter einem anderen Namen, aber sie waren definitiv hier gewesen. Die Vorfahren dieser Fae hatten sie besiegt. Und Urd hatte sie hierhergeschickt – hierher, nicht in die Hölle. Hierher, wo sie sofort auf einen Dolch gestoßen war, der das Sternenschwert zum Singen brachte. Als wäre er ein Magnet gewesen, der sie in diese Welt, an dieses Flussufer gezogen hatte. Könnte es sich wirklich um das Messer aus der Prophezeiung handeln?
Sie hatte geglaubt, dass die Zerstörung der Asteri so einfach sein würde wie die Vernichtung des Erstlichtkerns, doch Urd hatte sie hierhergeschickt. In die ursprüngliche Welt der Midgard-Fae. Ihr blieb keine andere Wahl, als Urds Urteil zu vertrauen. Und zu beten, dass Ruhn, Hunt und all ihre Liebsten in Midgard durchhalten konnten, bis sie einen Weg nach Hause fand.
Aber wenn es ihr nicht gelang …
Bryce betrachtete die silberne Bohne, die glatt und schimmernd in ihrer Hand lag. Ohne Bryce anzusehen, erklärte Amren: »Wenn du sie schluckst, wird sie dir unsere Muttersprache übersetzen und es dir ermöglichen sie ebenfalls zu sprechen.«
»Fantastisch«, murmelte Bryce.
Sie musste einen Weg nach Hause finden. Wenn das bedeutete, dass sie sich erst einmal in dieser Welt zurechtfinden musste … Sprachkenntnisse wären nützlich, vor allem, wenn man bedachte, wie viel Scheiß sie diesen Leuten hier noch verkaufen musste. Und natürlich traute sie ihnen keine Sekunde über den Weg – aber angesichts der Fragen, mit denen sie sie bombardierten, bezweifelte sie sehr, dass die drei sie vergiften würden. Oder sich so viel Mühe machen würden, wenn eine aufgeschlitzte Kehle doch viel einfacher zum gewünschten Ergebnis führte.
Kein beruhigender Gedanke, aber Bryce schob sich die silberne Bohne trotzdem in den Mund, speichelte sie ein und schluckte. Das Metall lag kühl auf ihrer Zunge, glitt dann in ihren Hals und sie hätte schwören können, dass sie spürte, wie die glatte Oberfläche in ihren Magen rutschte.
Ein Blitz durchtrennte ihr Gehirn. Sie wurde in zwei Teile zerrissen. Ihr Körper konnte das sengende Licht nicht länger ertragen …
Dann schlug die Dunkelheit über ihr zusammen. Ruhig und erholsam und ewig.
Nein – das war der Raum um sie herum. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden und … leuchtete. Hell genug, um Rhysands und Amrens schockierte Gesichter zu beleuchten.
Azriel ragte bereits über ihr auf, den tödlichen Dolch gezückt, der in einem seltsamen schwarzen Licht schimmerte.
Als er die Dunkelheit bemerkte, die von der Klinge ausging, blinzelte er verwundert. Das deutlichste Anzeichen einer Gefühlsregung, das Bryce bisher bei ihm gesehen hatte.
»Steck den Dolch weg, du Narr«, sagte Amren. »Er singt für sie und dadurch, dass du ihn in ihre Nähe bringst …«
Sofort verschwand die Klinge aus Azriels Hand, weggezaubert von einem Schatten.
Angespannte Stille breitete sich im Raum aus.
Bryce stand langsam auf – so wie Randall und ihre Mutter es ihr beigebracht hatten, so wie sie sich vor Wanen und anderen Raubtieren bewegen sollte.
Und während sie sich erhob, entdeckte sie es in ihrem Gehirn: das Wissen um eine Sprache, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Sie lag ihr auf der Zunge, bereit gesprochen zu werden, so instinktiv wie ihre eigene. Sie schimmerte auf ihrer Haut, brannte auf ihrer Wirbelsäule, ihren Schulterblättern … Moment mal.
Oh nein. Nein, nein, nein.
Bryce wagte es nicht, die Hand nach der Horn-Tätowierung auszustrecken, die Aufmerksamkeit auf die Buchstaben zu lenken, die die Worte Liebe macht alles möglich bildeten. Sie konnte spüren, wie sie reagierten: auf das, was auch immer in diesem Zauber gewesen war … dieser Zauber, der sie zum Glühen gebracht hatte. Und sie konnte nur beten, dass das Ganze nicht sichtbar war.
Doch ihre Gebete waren vergebens.
Amren wandte sich an Rhysand und sagte in dieser neuen, seltsamen Sprache – ihrer Sprache: »Die leuchtenden Buchstaben, die auf ihrem Rücken tätowiert sind … das sind dieselben wie im Buch des Atems.«
Sie mussten die Worte durch ihr T-Shirt hindurch gesehen haben, als sie auf dem Boden gelegen hatte. Mit jedem Atemzug wurde das Prickeln schwächer, als würde das Glühen nachlassen. Aber der Schaden war bereits angerichtet.
Die Fae taxierten sie erneut.
Drei extrem gefährliche Killer, die eine Bedrohung einzuschätzen versuchten.
Dann forderte Azriel mit leiser, tödlicher Stimme: »Erklär uns diese Worte. Oder du stirbst.«
Tharions Blut tropfte in das Porzellanwaschbecken des stillen, feuchten Bads. Aus der Ferne dröhnte das Gebrüll der Menge durch die rissigen grünen Kacheln. Langsam atmete er durch die Nase ein. Durch den Mund aus. Ein heftiger Schmerz schoss durch seine lädierten Rippen.
Bleib stehen.
Seine Hände umklammerten die abgeplatzten Kanten des Waschbeckens. Erneut atmete er ein, konzentrierte sich auf die Worte und zwang seine Knie, nicht einzuknicken. Bleib stehen, verdammt noch mal. Er hatte heute Nacht ordentlich einstecken müssen.
Der Minotaurus, dem er im Ring der Viperkönigin gegenübergestanden hatte, war doppelt so schwer wie er gewesen und mindestens einen Meter größer. Jetzt hatte er ein Loch in der Schulter, aus dem Blut in den Abfluss floss – dank der Hörner, denen er nicht schnell genug hatte ausweichen können. Und mehrere gebrochene Rippen dank der Schläge von Fäusten, die so groß wie sein Kopf waren.
Tharion holte ein weiteres Mal tief Luft, zuckte zusammen und griff nach dem kleinen Erste-Hilfe-Set, das auf dem Rand des Waschbeckens lag. Mit zitternden Fingern holte er die Phiole mit dem Trank heraus, der die Schmerzen lindern und die Heilung beschleunigen würde, die sein Wanen-Körper bereits vollzog.
Er warf den Korken in den Mülleimer neben dem Waschbecken, zu den blutigen Baumwollverbänden und feuchten Tüchern, mit denen er sein Gesicht gereinigt hatte. Die Tatsache, dass er in der Lage war sein Gesicht zu sehen, den Mann darunter, war ihm irgendwie wichtiger gewesen, als den Schmerz zu bekämpfen … das Loch in seiner Schulter.
Das Spiegelbild war nicht freundlich. Die violetten Schatten unter seinen Augen passten zu den Blutergüssen an seinem Kiefer, den Schnitten auf seiner Lippe und seiner geschwollenen Nase. Alles Verletzungen, die schnell verblassen und heilen würden. Aber die Leere in seinen Augen … Es war sein Gesicht und doch das eines Fremden.