Das Reich der sieben Höfe – Frost und Mondlicht - Sarah J. Maas - E-Book

Das Reich der sieben Höfe – Frost und Mondlicht E-Book

Sarah J. Maas

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Beschreibung

Endlich der 4. Band der Fantasy.Saga von Sarah J. Maas Der schreckliche Kampf gegen Hybern ist nicht spurlos an Feyre, Rhys und ihren Gefährten vorbeigegangen. Trotzdem geben sie alles dafür, den Hof der Nacht wiederaufzubauen und den unsicheren Frieden im Reich zu erhalten. Die bevorstehende Wintersonnenwende bietet die perfekte Gelegenheit, endlich abzuschalten und gemeinsam zu feiern. Doch auch die festliche Atmosphäre kann die Schatten der Vergangenheit nicht zurückhalten – denn Feyres Freunde tragen tiefe Wunden in sich und ihren Verbündeten aus dem Krieg ist noch lange nicht zu trauen.   Kennen Sie bereits die weiteren Serien von Sarah J. Maas bei dtv? »Throne of Glass« »Crescent City«

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Sarah J. Maas

Frost und Mondlicht

Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Brauner

Für die Leserinnen, die zu den Sternen schauen und sich etwas wünschen

1

Feyre

Seit einer Stunde wehte der erste Schnee des Winters durch Velaris.

Die Erde war in der vergangenen Woche endlich gefroren, und als ich mein Frühstück aus Toast und Bacon hinuntergeschlungen hatte, begleitet von einer starken Tasse Tee, war das Kopfsteinpflaster fein weiß gepudert.

Ich hatte keine Ahnung, wo Rhys war. Als ich aufwachte, hatte er schon nicht mehr im Bett gelegen und seine Seite der Matratze war kalt gewesen. Es hatte mich jedenfalls nicht überrascht, da wir beide in letzter Zeit oft bis zur Erschöpfung arbeiteten.

Während ich im Stadthaus an dem langen Esstisch aus Kirschholz saß, blickte ich stirnrunzelnd in den Schnee hinaus.

Früher hatte mir vor dem ersten Schnee gegraut und ich hatte mich vor langen, grausamen Wintern gefürchtet.

Andererseits war es ein langer, grausamer Winter gewesen, der mich an jenem Tag vor fast zwei Jahren so tief in die Wälder getrieben hatte. In einem langen, grausamen Winter hatte ich vor lauter Verzweiflung einen Wolf getötet, der mich schließlich hierhergeführt hatte – in dieses Leben, zu diesem … Glück.

Der Schnee fiel in dichten Flocken auf das welke Gras in dem kleinen Vorgarten und legte sich wie Zuckerguss über die Zacken und Wellen des Ziergitters.

Tief in mir rührte sich mit jeder wirbelnden Flocke eine leuchtende, frische Macht. Ich war zwar die High Lady des Hofs der Nacht, doch ich genoss auch die Gaben aller anderen Höfe. Offenbar war der Winter jetzt bereit zu spielen.

Als ich endlich wach genug war, um klar zu denken, senkte ich den mentalen Schutzschild aus schwarzem Adamant und sandte einen Gedanken über die Seelenverbindung, die zwischen mir und Rhys bestand. Wo bist du so früh schon hingeflogen?

Meine Frage versickerte in der Schwärze – ein sicheres Zeichen dafür, dass Rhys nicht in der Nähe von Velaris war, wahrscheinlich nicht einmal innerhalb der Grenzen des Nachthofs. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, denn er hatte in den letzten Monaten mehrfach unsere Bündnispartner aus dem Krieg aufgesucht, um die Beziehungen zu stärken, den Handel in Gang zu bringen und ihre Absichten für die Zeit nach der Mauer im Auge zu behalten. Sooft meine eigene Arbeit es zuließ, half ich ihm dabei.

Ich nahm meinen Teller, trank den allerletzten Schluck Tee und tappte in die Küche. Das Spiel mit Schnee und Eis konnte warten.

Nuala traf schon Vorbereitungen für das Mittagessen, ihre Zwillingsschwester Cerridwen war nirgends zu sehen. Als sie mir das Geschirr abnehmen wollte, winkte ich ab. »Das spüle ich schnell selbst«, sagte ich zur Begrüßung.

Das Nebelwesen, das bis zu den Ellbogen in einer Fleischpastete steckte, lächelte mich dankbar an und ließ mich gewähren. Nuala war eher wortkarg, doch beide Zwillinge waren alles andere als schüchtern, schon gar nicht, wenn sie für Rhys oder Azriel arbeiteten – mit anderen Worten, spionierten.

»Es schneit immer noch«, kommentierte ich, was offensichtlich war, und schaute aus dem Küchenfenster in den Garten, während ich den Teller, die Gabel und die Tasse spülte. Elain hatte den Garten bereits winterfest gemacht und die empfindlichsten Sträucher und Beete mit Jute abgedeckt. »Ich frage mich, ob es je wieder aufhört.«

Nuala breitete das Gitterwerk aus Teig über die Pastete und glättete mit ihren schattenhaften Fingern flink und geschickt die Ränder. »Es wäre schön, wenn zur Wintersonnenwende alles weiß wäre«, sagte sie mit einer trällernden und zugleich gedämpften Stimme, voller Wispern und Schatten. »In manchen Jahren ist es recht mild.«

Richtig, in einer Woche fand die Sonnenwendfeier statt. High Lady zu sein war immer noch so neu für mich, dass ich von meiner offiziellen Rolle nur eine vage Vorstellung hatte. Vielleicht würde eine Hohepriesterin eine unheimliche Zeremonie leiten, so wie Ianthe vor einem Jahr.

Vor einem Jahr. Bei den Göttern, es war schon fast ein Jahr her, seit Rhys darauf gepocht hatte, dass die Abmachung eingehalten wurde. Er hatte es eilig gehabt, mich vom Gift des Frühlingshofs zu befreien und aus meiner verzweifelten Lage zu retten. Wäre er nur eine Minute später gekommen – die Große Mutter wusste, was dann geschehen wäre. Was wäre aus mir geworden?

Der wirbelnde Schnee sprenkelte den Garten, wo er in den braunen Jutefasern hängen blieb, die auf den Büschen lagen.

Mein Seelengefährte – der so hart und selbstlos geschuftet hatte, ohne jegliche Hoffnung darauf, dass ich je ihm gehören würde.

Für diese Liebe hatten wir beide gekämpft und geblutet. Rhys war sogar für sie gestorben.

Ich sah den Augenblick noch vor mir, Tag und Nacht in meinen Träumen. Wie sein Gesicht ausgesehen, seine Brust sich nicht mehr gehoben hatte und das Band unserer Verbindung zerfetzt war. Ich fühlte sie noch, diese Leere in meinem Herzen, wo dieses Band gewesen war, wo er gewesen war. Sogar jetzt, da es durch unsere Verbindung strömte wie ein Fluss aus sternenbesäter Nacht, hallte das Echo seines Verschwindens nach und riss mich aus dem Schlaf, aus einem Gespräch, der Betrachtung eines Gemäldes oder einer Mahlzeit.

Rhys wusste genau, warum ich mich in manchen Nächten an ihn klammerte, wieso ich hin und wieder im strahlenden Sonnenschein seine Hand nahm. Er wusste es, weil ich wiederum erkannte, wieso sein Blick manchmal in die Ferne ging oder er uns blinzelnd ansah, als könnte er es nicht glauben. Manchmal rieb er sogar seine Brust, wie um einen Schmerz zu vertreiben.

Die Arbeit hatte uns geholfen, uns beiden, indem sie uns beschäftigt hielt und unsere Konzentration beanspruchte. Ab und zu graute mir gar vor den stillen Tagen des Müßiggangs, wenn mich all diese Erinnerungen schließlich doch heimsuchten. Dann gab es nur mich und meine Gedanken und das Bild von Rhys, wie er tot auf dem felsigen Untergrund lag, während der König von Hybern meinem Vater das Genick brach und die Illyrianer mit Feuerstößen vom Himmel geholt wurden und als Asche herunterfielen.

Eines Tages würde ich mir diese Erinnerungen möglicherweise nicht einmal mehr mit Arbeit vom Leib halten können.

Zum Glück gab es in der nahen Zukunft noch genug zu tun. Allein der Wiederaufbau von Velaris nach den Angriffen aus Hybern stellte eine gewaltige Aufgabe dar. Doch auch vieles andere wollte in Angriff genommen werden, sowohl in Velaris als auch in den illyrianischen Bergen, in der Höhlenstadt und überall am großen Hof der Nacht. Von den anderen Höfen in Prythian und der neuen Welt, die sich dahinter entwickelte, ganz zu schweigen.

Doch im Moment ging es um die Sonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Ich wandte mich vom Fenster wieder Nuala zu, die sich immer noch um die Perfektion ihrer Pastete bemühte. »Aber hier ist das schon auch ein besonderer Feiertag, oder?«, fragte ich sie. »Nicht nur am Hof des Morgens und des Tages.« Sowie am Frühlingshof.

»Oh ja«, antwortete Nuala und beugte sich tief über die Arbeitsplatte, um ihr Werk zu begutachten. Die geschickte Spionin, die bei Azriel höchstpersönlich in die Lehre gegangen war, war zugleich eine Meisterköchin. »Er liegt uns sehr am Herzen. Wir machen es uns gemütlich, warm und richtig nett, mit Geschenken, Musik und leckerem Essen, zeitweise auch unter den Sternen.« Das klang nach dem wahren Gegenteil der wilden ausschweifenden Party, der ich im vergangenen Jahr tagelang ausgesetzt gewesen war. Andererseits gab es Geschenke.

Ich musste für alle Geschenke kaufen. Nein, ich musste nicht, ich wollte.

Denn all meine Freunde, die nun meine Familie waren, hatten ebenfalls gekämpft und geblutet und wären beinahe dabei gestorben.

Ich schob das Bild beiseite, das sich mir aufdrängte: wie Nesta sich über den schwer verletzten Cassian beugte, bereit, mit ihm gegen den König von Hybern in den Tod zu gehen. Hinter ihnen lag die Leiche meines Vaters.

Ich ließ den Kopf kreisen. Eine Feier würde uns guttun, zumal wir in letzter Zeit nur noch selten mehr als eine Stunde miteinander verbrachten.

»Es ist auch eine Zeit, in der wir zur Ruhe kommen«, fuhr Nuala fort. »Und über die Dunkelheit nachdenken – wie sehr sie das Licht zum Leuchten bringt.«

»Gibt es eine bestimmte Zeremonie?«

Das Nebelwesen zuckte mit den Achseln. »Schon, aber da geht keiner hin. Das ist eher was für die Leute, die der Wiedergeburt des Lichts Ehre erweisen wollen, indem sie üblicherweise die ganze Nacht in vollkommener Dunkelheit verbringen.« Sie deutete ein Grinsen an. »Für meine Schwester und mich ist es nicht wirklich etwas Neues. Für den High Lord auch nicht.«

Ich versuchte zu verbergen, wie froh ich war, dass ich nicht stundenlang in einem Tempel festsitzen musste, und nickte.

Nachdem ich das saubere Geschirr zum Trocknen auf dem kleinen Holzgestell abgelegt hatte, wünschte ich Nuala viel Erfolg für ihr Mittagessen und ging nach oben, um mich anzukleiden. Cerridwen hatte mir bereits etwas herausgelegt, doch von Nualas Zwillingsschwester fehlte weiterhin jede Spur, während ich den schweren grauschwarzen Pullover, die enge schwarze Leggings und flauschig gefütterte Stiefel anzog und mir einen lockeren Zopf flocht.

Vor einem Jahr war ich mit feinen Gewändern und Juwelen überhäuft worden, um vor einem aufgeputzten Hof zu paradieren, der mich wie eine preisgekrönte Zuchtstute beglotzte.

Und hier … Lächelnd betrachtete ich den silbernen Saphirring an meiner linken Hand, den ich der Weberin persönlich abgerungen hatte.

Das Lächeln verging mir.

Auch sie sah ich vor meinem geistigen Auge – Stryga, wie sie mit dem Blut ihrer Beute bespritzt vor dem König von Hybern stand, der ihren Kopf in beide Hände nahm und ihr das Genick brach. Dann hatte er sie seinen wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen.

Ich ballte die Hand zur Faust, atmete durch die Nase ein und durch den offenen Mund wieder aus, bis mir nicht mehr schwindlig war und das Gefühl verschwand, die Wände würden mich bedrängen.

Bis ich wieder die Ansammlung persönlicher Gegenstände in Rhys’ Zimmer betrachten konnte – in unserem Zimmer. Für ein Schlafzimmer war es wirklich nicht klein, doch in letzter Zeit war es mir immer voller vorgekommen. Auf dem Rosenholzschreibtisch an der einen Wand stapelten sich Papiere und Bücher zu unseren Aufgabenbereichen, während mein Schmuck und meine Kleidung sowohl hier als auch in meinem alten Zimmer aufbewahrt wurden. Und dann gab es ja auch noch die Waffen.

Dolche und Schwerter, Köcher und Bogen. Ich kratzte mich am Kopf beim Anblick des schweren, gefährlich wirkenden Streitkolbens, den Rhys irgendwie neben dem Schreibtisch abgelegt hatte, ohne dass ich es gemerkt hatte.

Ich wollte gar nicht wissen, wo er herkam, obwohl ich ziemlich sicher war, dass Cassian dahintersteckte.

Selbstverständlich könnten wir alles in der Ablage zwischen den Welten unterbringen, aber … Stirnrunzelnd betrachtete ich mein eigenes illyrianisches Schwert, das an dem mächtigen Schrank lehnte.

Falls wir eingeschneit würden, wäre es vielleicht ganz sinnvoll, den Tag zum Aufräumen zu nutzen und die Dinge ordentlich zu verstauen – vor allem den Streitkolben.

Allerdings stellte Ordnung im Moment eine echte Herausforderung dar, seit Elain nahe der Eingangshalle ihr Zimmer bezogen hatte. Nesta hatte sich auf der anderen Seite der Stadt eine eigene Wohnung besorgt, über die ich lieber nicht so genau nachdenken wollte. Immerhin hatte Lucien sich am Tag nach seiner Rückkehr vom Schlachtfeld und vom Frühlingshof in einem eleganten Apartment unten am Fluss niedergelassen.

Ich hatte mich nicht erkundigt, wie dieser Besuch bei Tamlin verlaufen war.

Lucien hatte seinerseits auch keine Erklärung für das blaue Auge und die geplatzte Lippe abgegeben, sondern Rhys und mich nur gefragt, ob wir ihm eine Wohnung in Velaris empfehlen könnten. Er wollte uns im Stadthaus nicht länger zur Last fallen, aber auch nicht so weit abseits im Haus der Winde leben.

Elain hatte er nicht erwähnt, auch nicht die Nähe zu ihr. Sie hatte ihn weder gebeten zu gehen noch zu bleiben, und auch zu seinen Gesichtsverletzungen hatte sie nichts gesagt.

Doch Lucien war geblieben und hatte sich eine Beschäftigung gesucht, die ihn oft tage- oder gar wochenlang von Velaris fernhielt.

Aber selbst wenn Lucien und Nesta eigene Wohnungen gefunden hatten, war es im Stadthaus zurzeit recht eng, und dieser Zustand verschärfte sich noch, wenn Mor, Cassian und Azriel auch hier übernachteten. Das Haus der Winde dagegen war zu groß, zu förmlich und zu weit von der Innenstadt entfernt. Ganz nett für ein, zwei Nächte, aber dieses Haus gefiel mir weit besser.

Hier fühlte ich mich zu Hause, und im Grunde war es das auch – mein erstes richtiges Zuhause. Es würde sicher Spaß machen, hier gemeinsam mit allen die Sonnenwende zu feiern, und wenn es noch so eng würde.

Ich warf einen genervten Blick auf die zahlreichen Dokumente, mit denen ich mich befassen müsste: Briefe, die mich von anderen Höfen erreichten, von Priesterinnen auf Stellungssuche oder aus Königreichen der Menschen und Fae. Nachdem ich es seit Wochen vor mir herschob, hatte ich mir den heutigen Vormittag dafür freigeschaufelt.

High Lady des Hofs der Nacht, Verteidigerin des Regenbogens und des … Schreibtisches.

Mit einem Schnauben warf ich meinen Zopf über die Schulter. Vielleicht sollte ich mir zur Sonnenwendfeier selbst die Dienste einer persönlichen Sekretärin schenken. Es wäre schön, wenn jemand die Post lesen, beantworten und nach Wichtigkeit sortieren könnte. Dann würde ein wenig mehr Zeit für mich, für Rhys herausspringen.

Ich nahm mir vor, den Haushaltsplan des Hofes zu überprüfen, dem Rhys nie genug Aufmerksamkeit schenkte, um zu sehen, ob ich irgendwo Geld dafür abknapsen konnte. Wir hätten beide etwas davon.

Obwohl ich wusste, dass unsere Kassen gut gefüllt waren und wir uns eine Sekretärin locker leisten konnten, ohne unser Vermögen erheblich zu schmälern, machte mir die Arbeit eigentlich gar nicht so viel aus. Im Gegenteil, ich tat sie gern. Dieses Land und sein Volk lagen mir ebenso am Herzen wie mein Seelengefährte. Bis gestern hatte ich beinahe jede wache Stunde damit verbracht, den Menschen zu helfen, bis man mir höflich und dankbar nahegelegt hatte, nach Hause zu gehen und den Feiertag zu genießen.

Nach dem Krieg hatten die Einwohner von Velaris sich der Herausforderung gestellt, ihre Stadt wiederaufzubauen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ehe ich auch nur eine Idee hatte, wie man ihnen beistehen könnte, waren zu diesem Zweck zahlreiche Vereine aus dem Boden geschossen. Infolgedessen hatte ich mich einer Handvoll angeschlossen und es übernommen, Behausungen für jene zu finden, deren Häuser zerstört waren, Familien zu besuchen, die der Krieg besonders hart getroffen hatte, sowie Menschen ohne Heim und Habe mit neuen Mänteln und Vorräten für den Winter auszustatten.

All das war lebenswichtig; gut und befriedigend, und doch gab es noch mehr. Ich hätte noch mehr tun können, ich persönlich. Doch ich wusste noch nicht genau, was.

Offenbar war ich nicht die Einzige, der es eine Herzensangelegenheit war, jenen zu helfen, die so viel verloren hatten. Im Zuge des Feiertags waren zahlreiche neue Freiwillige angekommen, die sich in der Stadthalle in der Nähe des Palastes von Faden und Kristall drängten, in dem so viele Vereine ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Ihr habt entscheidende Hilfe geleistet, Lady, hatte gestern eine ältere Vertreterin einer Wohltätigkeitsorganisation gesagt. Ihr wart fast jeden Tag hier und habt hart geschuftet. Nehmt die nächste Woche frei, das habt Ihr verdient. Feiert mit Eurem Gefährten.

Ich wollte widersprechen und darauf bestehen, weitere Wintermäntel auszugeben, mehr Brennholz zu verteilen, doch die Fae hatte nur auf die gut gefüllte Stadthalle gewiesen, die vor freiwilligen Helfern geradezu aus den Nähten platzte. Wir haben mehr Helfer, als wir beschäftigen können.

Und als ich dann immer noch Widerworte gab, hatte sie mich aus der Eingangstür geschoben und sie hinter mir geschlossen.

Schließlich hatte ich es begriffen. Genauso war es mir dann bei jeder anderen Organisation ergangen, die ich gestern noch aufgesucht hatte. Geht nach Hause und genießt den Feiertag.

Und das hatte ich dann auch getan, also zumindest, was den ersten Teil anging. Das mit dem Genießen dagegen war nicht so leicht.

Endlich flackerte Rhys’ Antwort auf meine vorherige Frage, wo er denn war, über unsere Verbindung – getragen von einem Grollen seiner dunklen funkelnden Macht. Ich bin in Devlons Lager.

Und es hat so lange gedauert, bis du antworten konntest? Gut, die illyrianischen Berge waren weit weg, aber normalerweise hätte ich innerhalb von Minuten etwas von ihm gehört.

Ein sinnlich schnaubendes Lachen. Cassian hat so geschimpft, dass er kaum Luft holen konnte.

Mein armes illyrianisches Baby. Wir quälen dich wirklich, nicht wahr?

Rhys’ Amüsement plätscherte auf mich zu und liebkoste mein Innerstes mit nachtverschleierten Händen. Doch es verging und verschwand so rasch, wie es gekommen war. Cassian hat sich Devlon vorgenommen. Ich melde mich später wieder. Mit einem liebevollen Streicheln meiner Sinne war er fort.

Bald würde er mir ausführlich Bericht erstatten, doch im Moment nützte mir das nichts.

Ich lächelte über den Schnee, der vor den Fenstern einen Walzer aufführte.

2

Rhysand

Es war knapp neun Uhr morgens und Cassian war bereits total genervt.

Die wässrige Sonne versuchte vergeblich, die Wolken über den illyrianischen Bergen zu durchdringen, während der Wind über den grauen Gipfeln brauste. Das betriebsame Heerlager lag bereits unter einer zentimeterhohen Schneeschicht, was dann wohl bald auch Velaris blühen dürfte.

Es hatte schon geschneit, als ich in der Morgendämmerung aufgebrochen war – vielleicht würde alles weiß sein, wenn ich zurückkehrte. Während unserer kurzen Unterhaltung über die Seelenverbindung hatte ich eben keine Chance gehabt, Feyre zu fragen, aber es wäre schön, wenn sie mit mir spazieren gehen würde. Dann könnte ich ihr die Stadt des Sternenlichts im Glitzern frisch gefallenen Schnees zeigen.

Allerdings erschienen meine Seelengefährtin und die Stadt Welten entfernt von dem hektischen Treiben im Windhaven-Lager, das sich an einen breiten, hohen Bergpass schmiegte. Nicht einmal der steife Wind, der um die Gipfel toste und den Namen des Lagers Lügen strafte, indem er Derwische aus Schnee aufscheuchte, hielt die Illyrianer davon ab, ihrer alltäglichen Routine nachzugehen.

Für die Krieger, die nicht auf Patrouille waren, bedeutete dies, auf verschiedenen Übungsplätzen zu trainieren, die kreisförmig auf einem Felsplateau angeordnet waren, das über einen steilen Abgrund in die schmale Talsohle darunter abfiel. Die Männer, die es nicht so weit gebracht hatten, gingen einem Gewerbe nach und arbeiteten entweder als Händler, Schmied oder Schuster. Die Frauen dagegen mussten einfach nur schuften.

Allerdings sahen sie es nicht so, keine von ihnen, obwohl die immer gleichen Arbeiten von ihnen verlangt wurden: Kochen, Putzen, Kinderaufzucht, Nähen, Waschen. Auch darin lag eine gewisse Ehre, und man konnte diesen Aufgaben mit Stolz und dem Gefühl, etwas Gutes zu tun, nachgehen. Andererseits hatten die Frauen gar keine andere Wahl, zumal sie entweder von einer der sechs Lagermütter oder von einem Mann, der die Kontrolle über ihr Leben ausübte, streng bestraft wurden, sobald sie ihre Pflicht einmal nicht erfüllten.

Seit ich dieses Heerlager kannte, war es im Volk meiner Mutter so zugegangen. In dem Krieg, der erst wenige Monate zurücklag, war die Mauer in Schutt und Asche gelegt und die Welt neu erschaffen worden, doch manche Dinge änderten sich nie. Hier schon gar nicht, wo sich Veränderungen langsamer durchsetzten, als die Gletscher zwischen diesen Bergen schmolzen. Diese Traditionen hatten eine jahrtausendealte Geschichte und wurden nur selten hinterfragt.

Bis wir kamen. Bis jetzt.

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit von dem geschäftigen Lager zurück zu einem der mit weißer Kalkmarkierung abgegrenzten Übungsplätze, auf dem Cassian Devlon angriffslustig gegenüberstand. Dabei setzte ich eine neutrale Miene auf.

»Die Mädchen sind mit den Vorbereitungen für die Wintersonnenwende ausgelastet«, sagte der Lagervorsteher und verschränkte die Arme über der breiten Brust. »Die Ehefrauen benötigen alle Hilfe, die sie kriegen können, wenn alles rechtzeitig fertig werden soll. Trainieren können sie nächste Woche.«

Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft dieses Gespräch in den Jahrzehnten schon geführt worden war, seit Cassian Devlon in diesem Punkt keine Ruhe ließ.

Der Wind peitschte durch Cassians dunkles Haar, doch seine Miene war hart wie Granit, als er zu dem Krieger, der uns einst voller Widerwillen ausgebildet hatte, sagte: »Die Mädchen können ihren Müttern helfen, nachdem sie ihr tägliches Training absolviert haben. Wir begrenzen es auf zwei Stunden, dann bleibt ihnen ja wohl genügend Zeit, bei den Vorbereitungen behilflich zu sein.«

Devlon richtete den Blick aus seinen hellbraunen Augen auf mich, der ich mich ein wenig abseitshielt. »Ist das ein Befehl?«

Ich hielt seinem Blick stand und musste mich trotz meiner Krone und meiner Macht zusammenreißen, mich nicht in das zitternde Kind zurückzuverwandeln, das Devlon vor fünfhundert Jahren zum Kampftraining in den Ring geworfen hatte. »Wenn Cassian sagt, dass es ein Befehl ist, dann ist es einer.«

Irgendwann war ich in den Jahren, in denen wir diese immer gleiche Schlacht gegen Devlon und die Illyrianer kämpften, auf die Idee gekommen, mich einfach in ihren Geist zu schleichen, in die Köpfe aller Beteiligten, und sie zu zwingen, bereitwillig mitzumachen. Allerdings gab es gewisse Grenzen, die ich nicht überschreiten konnte, nicht überschreiten wollte. Abgesehen davon, dass Cassian mir das nie verzeihen würde.

»Eine Stunde«, knurrte Devlon mit dampfendem Atem.

»Zwei Stunden«, konterte Cassian und ließ kurz seine Flügel aufblitzen, während er die harte Linie verfolgte, auf die wir uns heute Morgen verständigt hatten.

Es musste wirklich schlimm stehen, wenn mein Bruder mich bat mitzukommen. Richtig schlimm. Möglicherweise musste ich jemanden hierhin abkommandieren, um die Befehle durchzusetzen, bis die Illyrianer begriffen, was Konsequenzen waren.

Doch der Krieg hatte uns allen böse mitgespielt. Da wir vollauf mit dem Wiederaufbau beschäftigt waren, mit den Menschen, die von ihren Herrschaftsgebieten Kontakt mit uns aufnehmen wollten, sowie anderen Königreichen der Fae, die sich angesichts einer Welt ohne Mauern fragten, mit welchen Gräueltaten sie wohl davonkommen könnten … Wir hatten einfach nicht genug Ressourcen, um jemanden hier hochzuschicken. Noch nicht. Vielleicht im Sommer, wenn das Klima sich an anderer Stelle mäßigte.

Devlons Kumpane lümmelten sich auf dem nächstgelegenen Übungsplatz und taxierten Cassian und mich, wie sie es schon unser Leben lang getan hatten. Wir hatten in dem Blutritual vor vielen Jahrhunderten genug von ihnen abgeschlachtet, dass sie sich zurückhielten, aber andererseits hatte es die Illyrianer in diesem Sommer besonders hart getroffen, als sie für uns gekämpft und geblutet hatten. Sie hatten die meisten Opfer zu beklagen, nachdem Hybern und der Kessel sie mit voller Wucht aufs Korn genommen hatten.

Es sprach für ihre erstaunlichen Fähigkeiten und für Cassians Führungsqualitäten, dass überhaupt einige Krieger überlebt hatten, doch seit die Illyrianer hier oben isoliert und untätig waren, entwickelte sich ihr Verlust in etwas Hässliches und Gefährliches.

Keiner von uns hatte vergessen, dass einige Kriegerbanden sich Amaranthas Herrschaft mit Freuden unterworfen hatten. Gleichzeitig hatten auch die Illyrianer nicht vergessen, dass wir in den ersten Monaten nach dem Ende der Tyrannei Jagd auf diese Verbrecher gemacht und sie unbarmherzig ausgemerzt hatten.

Ja, hier musste jemand stationiert werden – später.

Devlon gab nicht nach. »Die Jungs haben eine schöne Sonnenwende verdient, nach allem, was sie durchgemacht haben.«

Der Mistkerl wusste, welche Waffen er zum Einsatz bringen musste, sowohl körperlich als auch verbal.

»Zwei Stunden auf dem Übungsplatz, und das jeden Morgen«, sagte Cassian in dem Tonfall, der sogar mir den Mund verbot, wenn ich nicht gleich mit ihm in den Ring steigen wollte. Er hielt Devlons Blick stand. »Die Jungs können auch beim Dekorieren helfen, putzen und kochen. Sie haben zwei Hände.«

»Einige schon«, erwiderte Devlon. »Andere sind ohne zurückgekehrt.«

Ich fühlte, mehr als ich es sah, wie tief er Cassian damit traf.

Das war der Preis dafür, dass er meine Armee anführte: Jede Verletzung, jeden Todesfall und jede Narbe – er nahm sie auf seine persönliche Kappe. Und wenn er unter diesen Kriegern weilte und die Stümpfe der amputierten Glieder beziehungsweise die brutalen Wunden sah, die noch verheilten oder es nie tun würden …

»Das Training soll neunzig Minuten dauern«, sagte ich, die dunkle Macht beschwichtigend, die allmählich in meinen Adern brodelte und einen Weg in die Welt suchte, und steckte die Hände in die Taschen. In weiser Voraussicht setzte Cassian eine empörte Miene auf und breitete seine Flügel weit aus. Devlon wollte auch noch etwas sagen, doch ich schnitt ihm das Wort ab, bevor er noch eine Dummheit beging. »Anderthalb Stunden am Morgen vor der Hausarbeit. Und die Männer helfen, wo sie können.« Ich warf einen Blick auf die wetterfesten Zelte und Häuschen aus Stein und Holz, die hinter uns über den breiten Bergpass und die baumbestandenen Hänge verteilt waren. »Vergesst nicht, Devlon, dass auch viele Frauen und Mädchen Verluste erlitten haben. Vielleicht mussten sie keine Hand opfern, aber doch Ehemänner, Söhne und Brüder, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind. Alle sollen bei den Vorbereitungen für den Feiertag mithelfen und alle sollen trainieren.«

Ich wies Cassian mit einer ruckartigen Kinnbewegung an, mir zu dem kleinen Haus auf der anderen Seite des Lagers zu folgen, das wir mittlerweile als halbwegs beständige Operationsbasis nutzten. Es gab keine Stelle hier, an der ich Feyre nicht geliebt hatte – dank der ersten wilden Tage unseres Zusammenseins war der Küchentisch mein besonderer Favorit. Damals konnte ich es kaum ertragen, in ihrer Nähe zu sein, ohne mich gleich in ihr zu versenken.

Wie lang schien das her zu sein, wie fern, als wäre all das in einem anderen Leben geschehen.

Ich brauchte dringend Urlaub oder zumindest diesen Feiertag.

Unter unseren Stiefeln knirschten Schnee und Eis, als wir auf das schmale zweigeschossige Haus an der Baumgrenze zugingen.

Ich brauchte keine Freizeit, um mich auszuruhen oder irgendwohin zu reisen; ein paar Stunden im Bett mit meiner Gefährtin würden mir schon reichen, damit ich mehr als drei, vier Stunden Schlaf bekam und mich in ihr versenken konnte. Im Augenblick schien es nur das eine oder das andere zu geben, und das war wirklich eine Zumutung – abgesehen davon, dass ich mich deswegen zu den albernsten Aktionen hinreißen ließ.

Letzte Woche hatte ich so unfassbar viel zu tun gehabt und mich so sehr danach gesehnt, sie zu spüren und zu schmecken, dass ich sie im Flug vom Haus der Winde zum Stadthaus genommen hatte. Hoch über Velaris, wo uns alle hätten sehen können, wenn ich nicht einen Verschleierungszauber über uns geworfen hätte. Es hatte mich einige komplizierte Manöver gekostet, und ich hatte seit Monaten geplant, diesen Moment genüsslich zu inszenieren, doch als wir allein und aneinandergepresst in den Lüften waren, hatte ein Blick in ihre blaugrauen Augen gereicht, und schon hatte ich ihre Hose aufgeknöpft.

Im nächsten Augenblick war ich in ihr und wäre beinahe wie ein illyrianischer Welpe an den Dächern zerschellt. Feyre hatte nur gelacht.

Als ich ihr raues Lachen hörte, kam ich sofort.

Das war nicht unbedingt eine Glanzleistung gewesen, doch ich zweifelte nicht daran, dass ich noch tiefer sinken würde, bevor uns die Wintersonnenwende einen Tag Pause verschaffte.

Ich erstickte meine wachsende Lust, bis sie nur noch vage im Hinterkopf rumorte, und sprach Cassian erst wieder an, als wir an der hölzernen Eingangstür angelangt waren.

»Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte, wenn ich schon mal hier bin?«, fragte ich, trat gegen den Türrahmen, um meine Stiefel vom Schnee zu befreien, und ging ins Haus. Der Küchentisch stand mitten Raum. Ich verbannte das Bild der darüber hingegossenen Feyre.

Cassian atmete tief aus und schloss die Tür, bevor er seine Flügel einzog und sich dagegenlehnte. »Unmut macht sich breit. Wenn sich die vielen Clans zur Sonnenwende treffen, besteht die Gefahr, dass die Zwistigkeiten zunehmen.«

Nachdem ich mit einem Schnipsen meiner Macht ein Feuer im Kamin hatte auflodern lassen, erwärmte sich der Raum im Erdgeschoss rasch. Obwohl es eher ein Flüstern meiner Magie war, erleichterte es die beinahe beständige Anspannung, mein Wesen, meine Macht unter Kontrolle zu halten, ein wenig. Ich machte es mir an dem vermaledeiten Tisch gemütlich und verschränkte die Arme. »Mit diesem Mist sind wir schon ein paarmal fertiggeworden. Das wird diesmal nicht anders laufen.«

Als Cassian den Kopf schüttelte, glänzte sein schulterlanges dunkles Haar in dem dünnen Licht, das durch die vorderen Fenster fiel. »Es ist nicht wie sonst, als sie etwas gegen dich, mich und Az hatten, weil wir sind, wie und wer wir sind. Diesmal hat es etwas damit zu tun, dass wir sie in die Schlacht geschickt haben. Ich habe den Befehl gegeben, Rhys. Und jetzt sind es nicht nur die Idioten unter den Kriegern, die uns gram sind, sondern auch die Frauen. Sie glauben, wir hätten sie nach Süden geschickt, als Rache dafür, wie wir als Kinder behandelt wurden. Sie sind wirklich davon überzeugt, dass wir einige Männer an die vorderste Front geschickt haben, um es ihnen heimzuzahlen.«

Das war nicht gut, das war überhaupt nicht gut. »Dann müssen wir sehr vorsichtig darauf reagieren. Finde heraus, wer das Gift versprüht, und bereite der Sache ein Ende – aber auf friedliche Weise«, stellte ich klar, als er die Augenbrauen hochzog. »Mit Mord kommen wir hier nicht weiter.«

Cassian kratzte sich am Kinn. »Stimmt.« Mit der Jagd auf die gewissenlosen Kriegerbanden, die jeden, der ihnen über den Weg lief, in Angst und Schrecken versetzt hatten, war das wirklich nicht zu vergleichen.

Er ließ den Blick durch das trübe beleuchtete Haus schweifen und blieb am Kamin hängen, wo meine Mutter während unserer Ausbildung so oft für uns gekocht hatte. Ein alter, vertrauter Kummer schnürte mir die Brust zu. Dieses Haus war randvoll mit Erinnerungen. »Viele von ihnen kommen zur Sonnenwendfeier her«, fuhr Cassian fort. »Ich könnte hierbleiben und sie im Auge behalten und Geschenke an die Kinder und einige Ehefrauen verteilen. Dinge, die sie dringend brauchen und aus Stolz nicht erbitten.«

Die Idee war nicht schlecht. Aber – »Das kann warten. Ich will, dass du zur Sonnenwende nach Hause kommst.«

»Es würde mir nichts ausmachen –«

»Du sollst nach Hause kommen. Ich brauche dich in Velaris«, fügte ich hinzu, als er den Mund öffnete, um irgendeinen illyrianischen Ergebenheitsmist zu produzieren, an den er immer noch glaubte, obwohl sie ihn sein Leben lang wie Abschaum behandelt hatten. »Wir wollen feiern, und zwar alle miteinander.«

Und wenn ich es ihnen als High Lord befehlen musste.

Cassian legte den Kopf schief. »Was hast du eigentlich?«

»Nichts.«

So wie die Dinge standen, konnte ich mich kaum beklagen. Es war nicht wirklich ein dringendes Problem, regelmäßig mit meiner Gefährtin ins Bett zu gehen. Außerdem ging das nur uns etwas an.

»Liegen die Nerven ein bisschen blank, Rhys?«

Selbstverständlich hatte er mich längst durchschaut.

Seufzend runzelte ich die Stirn und blickte zu der rußverschmierten Decke. In diesem Haus hatten wir schon die ein oder andere Sonnenwende gefeiert. Meine Mutter hatte Azriel und Cassian auch immer etwas geschenkt. Letzterer hatte bei der ersten Feier dieser Art hier zum allerersten Mal ein Geschenk erhalten, Sonnenwende hin oder her. Ich sah immer noch vor mir, wie Cassian seine Tränen verbergen wollte, als er seine Geschenke öffnete, so wie meine Mutter, als sie ihm dabei zusah. »Ich wünschte, wir wären schon eine Woche weiter.«

»Bist du sicher, dass deine Macht das nicht bewirken kann?«

Ich warf ihm einen strengen Blick zu, doch er grinste nur frech zurück.

Ich habe nie aufgehört, dankbar zu sein für meine Freunde, meine Familie, die meine Macht zur Kenntnis nahmen und nicht davor zurückschreckten oder den Geruch der Angst annahmen. Klar, ich konnte ihnen einen gehörigen Schreck einjagen, aber so gingen wir alle miteinander um. Cassian hatte mir mehr Furcht eingejagt, als ich zugeben würde, sogar noch vor einigen Monaten.

Und das gleich zweimal – zweimal innerhalb weniger Wochen.

In meiner Erinnerung sah ich noch immer, wie Azriel ihn vom Schlachtfeld schleppte, als das Blut von seinen Beinen auf die Erde troff, aus dieser klaffenden Wunde in seiner Mitte.

Und dann sah ich ihn auch noch, wie Feyre ihn gesehen hatte, nachdem sie mir erlaubt hatte, in ihre Gedanken einzudringen, um mir zu enthüllen, was genau sich zwischen ihrer Schwester und dem König von Hybern abgespielt hatte. Da hatte Cassian zerschunden und zerschlagen auf dem Boden gelegen und Nesta angefleht zu fliehen.

Er hatte selbst nicht über das gesprochen, was in diesen Augenblicken passiert war. Genauso wenig über Nesta.

Cassian und die Schwester meiner Gefährtin sprachen kein Wort mehr miteinander.

Nesta hatte sich in die selbst gewählte Einsamkeit einer heruntergekommenen Wohnung am anderen Ufer des Sidra zurückgezogen und weigerte sich, bis auf einige kurze Treffen im Monat mit Feyre, überhaupt etwas mit uns zu tun zu haben.

Das musste ich auch noch irgendwie regeln.

Ich sah, wie es an Feyre zehrte. Noch immer musste ich sie trösten, wenn sie völlig außer sich aus Albträumen über diesen Tag in Hybern erwachte, an dem ihre Schwestern gegen ihren Willen erschaffen worden waren. In anderen Albträumen erlebte sie von Neuem, wie Cassian dem Tode nah war und Nesta sich über ihn geworfen hatte, um ihn vor dem tödlichen Schlag zu schützen, während Elain – Elain – Azriels Dolch genommen und den König von Hybern getötet hatte.

Ich rieb meine Augenbrauen mit Daumen und Zeigefinger. »Die Zeiten sind hart«, sagte ich. »Wir haben alle viel zu tun und versuchen, die Dinge zusammenzuhalten.« Az, Cassian und ich hatten unseren üblichen fünftägigen Jagdausflug erneut verschoben, den wir für den Herbst in der Hütte geplant hatten. Auf nächstes Jahr – schon wieder. »Komm zur Sonnenwendfeier nach Hause. Dann machen wir einen Plan für den Frühling.«

»Hört sich richtig festlich an.«

Das gehörte sich auch so an meinem Hof der Träume.

Dennoch zwang ich mich zu einer letzten Frage: »Zählt Devlon auch zu den Möchtegernrebellen?«

Ich betete, es möge nicht so sein. Ich konnte den Lord und seine rückständigen Ansichten nicht ausstehen, aber als wir damals seiner Aufsicht unterstellt waren, war er gerecht mit Cassian, Azriel und mir umgegangen. Damals hatte er uns die gleichen Rechte zugestanden wie den vollblütigen illyrianischen Kriegern, und so behandelte er auch immer noch alle unehelichen Rekruten unter seinem Kommando. Wegen seiner absurden Vorstellungen, was die Frauen anging, würde ich ihn am liebsten erwürgen oder vernebeln. Doch nur die Große Mutter wusste, wem ich seine Stellung anbieten sollte, wenn ich Ersatz für ihn beschaffen müsste.

Cassian schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Devlon unterbindet solches Gerede sofort. Doch dadurch müssen sie noch heimlicher vorgehen, was wiederum die Suche nach denen erschwert, die aufrührerische Parolen verbreiten.«

Ich nickte und stand auf. Mir stand eine Besprechung in Cesere mit den beiden Priesterinnen bevor, die vor einem Jahr das Massaker in Hybern überlebt hatten. Es ging darum, wie Pilger zu behandeln waren, die von außerhalb unseres Herrschaftsgebietes kommen wollten. Wenn ich zu spät kam, wäre das meiner Argumentation, die Angelegenheit auf den Frühling zu verschieben, nicht gerade zuträglich. »Behalte die Dinge in den nächsten Tagen im Auge und komm dann nach Hause, und zwar bitte zwei Tage vor der Sonnenwende. Und bleib auch noch den Tag danach.«

Er reagierte mit einem angedeuteten frechen Grinsen. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass unsere Sonnenwendtradition noch gilt? Obwohl du jetzt so ein erwachsener Mann mit Gefährtin bist?«

Ich zwinkerte ihm zu. »Es wäre zu schrecklich, wenn ihr illyrianischen Babys ohne mich auskommen müsstet.«

Cassian gluckste. Es gab tatsächlich einige Traditionen rund um die Sonnenwende, von denen wir auch nach Jahrhunderten nie genug bekamen. Ich war schon fast an der Tür, als Cassian sagte: »Ist …« Er musste schlucken.

Ich ersparte ihm die Mühe, verbergen zu müssen, worum es ihm ging. »Die beiden Schwestern werden zu Hause sein, ob sie wollen oder nicht.«

»Nesta wird allen die Stimmung verderben, wenn sie eigentlich keine Lust hat, dort zu sein.«

»Sie wird kommen«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Und sie wird niemandem die Stimmung verderben. Das ist sie Feyre schuldig.«

Cassians Blick zuckte. »Wie geht es ihr?«

Ich sagte es ihm direkt ins Gesicht. »Nesta ist Nesta. Sie macht, was sie will, auch wenn es ihre Schwester umbringt. Ich habe ihr einen Job nach dem anderen angeboten, aber sie hat sie alle ausgeschlagen.« Ich schnalzte mit der Zunge. »Vielleicht kannst du sie ja über die Feiertage zur Vernunft bringen.«

Auf Cassians Händen leuchteten seine Trichtersteine auf. »Das würde wahrscheinlich böse enden.«

Wohl wahr. »Dann sprich einfach nicht mit ihr. Ist mir egal – Hauptsache, Feyre bekommt nichts mit. Es ist auch ihr Tag.«

Weil wir die Sonnenwende feierten, und ihren Geburtstag. Sie wurde einundzwanzig.

Es gab mir einen Stich, wie niedrig diese Zahl war.

Meine schöne, starke, wilde Gefährtin, die an mich gebunden war.

»Ich weiß, was dieser Blick bedeutet, du Mistkerl«, sagte Cassian mit rauer Stimme. »Und zwar großen Quatsch. Sie liebt dich – auf eine Art, wie ich es noch nie gesehen habe.«

»Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass es ihre freie Entscheidung war«, bekannte ich und blickte auf das Schneefeld vor dem Haus, hinter dem die Übungsplätze und Behausungen lagen. »Dass sie mich erwählt hat. Ganz anders als meine Eltern, die man einfach zusammengesteckt hat.«

Cassian setzte eine ungewohnt feierliche Miene auf und schwieg einen Moment. »Ab und zu bin ich richtig eifersüchtig«, sagte er dann. »Nicht, dass ich dir dein Glück nicht gönne, aber was ihr beide da habt, Rhys …« Als er sich durchs Haar fuhr, glitzerte sein roter Trichterstein im Tageslicht, das durchs Fenster fiel. »Es ist wie in den alten Sagen oder in den Lügen, die sie uns erzählen, wenn wir klein sind. Über die Herrlichkeit und das Wunder der Seelenverbindung. Ich dachte, das wäre alles Unsinn, bis ihr daherkamt.«

»Sie wird einundzwanzig. Einundzwanzig, Cassian.«

»Na und? Deine Mutter war achtzehn und dein Vater neunhundert.«

»Und todunglücklich.«

»Feyre ist nicht wie deine Mutter. Und du bist nicht wie dein Vater.« Er musterte mich. »Wo kommt das plötzlich alles her? Steht es … nicht gut mit euch beiden?«

Eher im Gegenteil. »Mich überkommt da immer so ein Gefühl«, sagte ich, und als ich einen Schritt machte, knarrten die alten Holzdielen unter meinen Stiefeln, während meine Macht als lebendiges, sich windendes Wesen durch meine Adern jagte. »Als wäre es nur ein Scherz, eine Art kosmischer Trick, weil in Wirklichkeit niemand – niemand – so unverschämt glücklich sein kann, ohne dafür zu bezahlen.«

»Ihr habt schon dafür bezahlt, Rhys. Beide habt ihr teuer bezahlt.«

»Es ist nur …« Ich machte eine wegwerfende Geste, unfähig, den Satz zu beenden.

Cassian sah mich eindringlich an.

Dann kam er auf mich zu und nahm mich so fest in den Arm, dass ich kaum noch Luft bekam. »Du hast es geschafft. Wir haben es geschafft. Ihr habt beide so viel erlitten, dass es niemand übel nehmen würde, wenn ihr wie Miryam und Drakon im Sonnenuntergang davontanzen und euch um nichts mehr kümmern würdet. Aber das tut ihr ja – ihr arbeitet hart, damit der Friede bestehen bleibt. Friede, Rhys, es herrscht Frieden, und er ist echt. Das solltest du genießen – genießt einander. Du hast die Schuld bezahlt, bevor es überhaupt eine war.«

Ich hatte einen Kloß im Hals und packte ihn so hart an den Flügeln, dass sich die Schuppen seiner Lederkluft an meine Hände drückten. »Und was ist mit dir?«, fragte ich, als ich mich wieder von ihm löste. »Bist du glücklich?«

Schatten verdunkelten seine hellbraunen Augen. »Ich bin auf dem Weg.«

Eine halbherzige Antwort.

Darum musste ich mich auch kümmern. Vielleicht mussten ein paar Fäden gezogen oder verwoben werden.

Cassian wies mit dem Kinn zur Tür. »Jetzt hau ab, Mann. Wir sehen uns in drei Tagen.«

Ich nickte und öffnete endlich die Tür, doch auf der Schwelle zögerte ich. »Danke, Bruder.«

Cassian grinste schief und breit, selbst wenn die Schatten flackernd in seinen Augen verharrten. »Es ist mir eine Ehre, Mylord.«

3

Cassian

Cassian war sich nicht sicher, ob er wirklich mit Devlon und seinen Kriegern arbeiten konnte, ohne sie zu erwürgen. Zumindest nicht in der nächsten guten Stunde.

Und da er damit wenig dazu beitragen würde, die Unzufriedenheit zu ersticken, wartete Cassian, bis Rhys in Schnee und Sturm den Wind geteilt hatte, ehe er selbst verschwand.

Allerdings teilte er nicht den Wind, obwohl das in der Schlacht eine höllische Waffe gewesen wäre. Er hatte Rhys dabei zugesehen, wie er mit dieser Technik vernichtende Ergebnisse erzielt hatte. Az auch – auf die sonderbare Art und Weise, mit der Az sich durch die Welt bewegte, ohne aus technischer Sicht den Wind zu teilen.

Cassian hatte ihn nie gefragt und Azriel hatte es ihm selbstverständlich nicht von sich aus erklärt.

Gegen seine eigene Fortbewegungsmethode war jedoch nicht das Geringste einzuwenden, denn er flog, und das hatte ihm in der Schlacht bisher gute Dienste geleistet.

Nachdem Cassian aus der Haustür der uralten Holzhütte getreten war, damit Devlon und die anderen Mistkerle ihn von ihren Übungsplätzen gut sehen konnten, bot er ihnen eine echte Show aus Dehnübungen. Er begann mit seinen straffen Armen, mit denen er am liebsten immer noch auf ein paar illyrianische Fressen einprügeln würde. Dann waren die Flügel dran, die länger und breiter waren als ihre, was sie ihm schon immer – und wahrscheinlich mehr als alles andere – übel genommen hatten. Er streckte sie aus, bis die Dehnung seiner starken Muskeln und Sehnen angenehm brannte und seine Flügel lange Schatten auf den Schnee warfen.

Schließlich schoss er unter wütendem Flügelschlag senkrecht in den grauen Himmel.

Der Wind heulte und es war so kalt, dass seine Augen tränten, gleichzeitig aber belebend und befreiend. Cassian schwang sich höher hinauf und hielt links auf die Berggipfel hinter dem Pass mit dem Lager zu. Zur Warnung eine Schleife über Devlon und seine Trainingsplätze zu fliegen, hielt er für überflüssig.

Indem er sie gar nicht beachtete und ihnen unmissverständlich klarmachte, dass sie zu unwichtig waren, um eine Gefahr darzustellen, konnte er sie viel besser ärgern. Das hatte Rhys ihm beigebracht – vor langer Zeit.

Während er den Aufwind nutzte, um über die nächsten Bergspitzen und weiter in das endlose schneebedeckte Labyrinth seiner Heimat zu schnellen, atmete Cassian tief ein. Seine Lederkluft und die Handschuhe, die er zum Fliegen trug, hielten ihn warm, doch seine Flügel waren dem eisigen Wind ausgesetzt und die Kälte war scharf wie ein Messer.

Er hätte sich mithilfe seiner Trichtersteine dagegen schützen können, etwas, das er früher auch schon gemacht hatte. Doch an diesem Morgen bevorzugte er die bittere Kälte.

Angesichts dessen, was er vorhatte und wohin er flog, galt das erst recht.

Er hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden, indem er dem Wind in den Bergen gelauscht und den Duft der kiefernbestandenen Gipfel und der kargen Steinplateaus eingeatmet hätte.