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Hat unsere Liebe noch eine Chance?
Als Noelle Benedict die Hochzeitseinladung von Archie Remington in den Händen hält, kann sie ihren Augen kaum glauben. Sieben Jahre sind vergangen seit diesem einen unvergesslichen Sommer, seit sie und Archie plötzlich so viel mehr waren als die Kinder befreundeter Eltern, die sich zwangsläufig ein Badezimmer teilen mussten. Umso größer also der Schock, dass Archie heiratet und Noelle nichts davon wusste. Der einzigartigen Anziehung zwischen ihnen noch eine Chance zu geben, scheint damit unmöglich - doch dann kommt alles anders als gedacht, und Archie und Noelle müssen sich entscheiden, ob sie die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe wirklich überschreiten wollen ...
"Ich liebe Friends-to-Lovers- und Second-Chance-Romances und obwohl Archie und Noelle's Liebesgeschichte mir mehrmals mein Herz gebrochen hat, bin ich restlos begeistert!" SASHASAYS
Der neue Roman von Bestseller-Autorin Penelope Ward
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Seitenzahl: 457
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Penelope Ward bei LYX
Leseprobe
Impressum
PENELOPE WARD
Cross the Line
ICH KANN UNS NICHT VERGESSEN
Ins Deutsche übertragen von Katrin Mrugalla
Als Noelle Benedict die Hochzeitseinladung von Archie Remington in den Händen hält, kann sie ihren Augen kaum glauben. Sieben Jahre sind vergangen seit diesem einen unvergesslichen Sommer, seit sie und Archie plötzlich so viel mehr waren als die Kinder befreundeter Eltern, die sich zwangsläufig ein Badezimmer teilen mussten. Umso größer also der Schock, dass Archie heiratet und Noelle nichts davon wusste. Der einzigartigen Anziehung zwischen ihnen noch eine Chance zu geben, scheint damit unmöglich – doch dann kommt alles anders als gedacht, und Archie und Noelle müssen sich entscheiden, ob sie die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe wirklich überschreiten wollen …
Liebe Leser:innen,
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Euer LYX-Verlag
Gegenwart
Es ist schon witzig, dass man sich immer erinnert, wo man gerade war und was man getan hat, wenn einem im Leben etwas Entscheidendes passiert.
Ich würde mit Sicherheit niemals vergessen, dass ich im Kunstraum im Kindergarten war, als ich hörte, dass mein Erzieher an jenem Morgen bei einem Autounfall auf dem Weg zur Arbeit ums Leben gekommen war. Ich würde mich immer daran erinnern, dass ich meine Periode zum ersten Mal bekommen hatte, als ich mit meinem Dad beim Bowlen war.
Heute konnte ich dieser Liste erneut etwas hinzufügen. Ich würde mich immer daran erinnern, wo ich war, als ich die Einladung zu Archie Remingtons Hochzeit erhielt: Ich war wegen einer Pediküre bei Wonder Nails und öffnete dort den Umschlag. Während ich gegen das unwillkürliche Lachen ankämpfte, weil mich der Luffaschwamm an den Fußsohlen kitzelte, musste ich gleichzeitig die Tränen zurückhalten.
Kichern.
Schniefen.
Kichern.
Schniefen.
Ich hatte meinen Poststapel mitgenommen, um ihn bei der Pediküre durchzusehen und die Zeit dort möglichst gut zu nutzen. In dem Stapel stieß ich irgendwann auf einen Umschlag, der ein dickes cremefarbenes Briefpapier enthielt, auf dem stand:
Bitte beehren Sie uns mit Ihrer Anwesenheit,
wenn wir unsere Leben in Liebe verbinden.
Mariah und Archie
Samstag, 12. Oktober, 17 Uhr
St. Catherine’s Church
Sonoma, Kalifornien
Anschließend Cocktails und Empfang in Lindall Estates
In den letzten sieben Jahren war Archie mein bester Freund gewesen. Ich hatte von der Beziehung mit Mariah gewusst. Ich hatte sie sogar mal kennengelernt, als ich geschäftlich nach Kalifornien geflogen war und ihn bei der Gelegenheit besucht hatte. Aber er hätte doch wirklich den Anstand haben können, mir zu erzählen, dass er sich verlobt hatte, bevor er mir diese Einladung schickte?
Wir hatten uns im Laufe der Jahre viele offenherzige E-Mails geschickt. Er hatte nie gezögert, mir alles anzuvertrauen, was sich in seinem Leben ereignete. Wieso also hatte er mir diese wichtige Nachricht vorenthalten und es mich herausfinden lassen, als wäre ich quasi eine Fremde? Es ergab keinen Sinn.
Während die Frau meine Pediküre beendete, grübelte ich weiter darüber nach und zappelte auf meinem Sitz herum.
Kaum waren meine Zehen fertig, verließ ich mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, den Salon und wählte sofort Archies Nummer. Ich war so durcheinander, als ich auf dem belebten New Yorker Bürgersteig stand, dass ich mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte, die Papier-Flipflops abzustreifen, die man mir gegeben hatte.
Archie ging beim zweiten Klingeln dran, und seine tiefe Stimme kratzte über meine sowieso schon angespannten Nerven.
»Noelle?« Er schwieg einen Moment. »Ist alles in Ordnung?«
Vermutlich fragte er, weil man die Male, wo wir tatsächlich telefoniert hatten, an einer Hand abzählen konnte, auch wenn wir uns über die Jahre hinweg immer nahegestanden hatten. Unser bevorzugter Kommunikationsweg war jedoch per E-Mail gewesen.
»Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du heiratest?« Meine Stimme brach.
»Was? Woher zum Teufel weißt du das?«
»Du wolltest nicht, dass ich das weiß? Wovon redest du? Du hast mir eine Einladung geschickt!«
Einen Moment lang war es still in der Leitung. »Mist. Ich habe lediglich eine Liste mit Namen und Adressen weitergegeben. Ich hatte keine Ahnung, dass sie schon so bald etwas verschicken würden. Ich wollte es dir nächste Woche erzählen.«
Archie und ich hatten geplant, uns auf Whaite’s Island, Maine, zu treffen, wo unsere Familien gemeinsam ein Sommerhaus besaßen. Da die Hälfte, die Archies Familie gehörte, inzwischen auf seinen Namen lief, wollten er und ich uns mit einem Makler treffen und gemeinsam überlegen, ob wir es zum Verkauf anbieten sollten. Ich würde in Vertretung meiner Eltern hinfahren, die nach Florida gezogen waren. Es war gerade eine gute Zeit für Hausverkäufe, deshalb erschien uns der Zeitpunkt günstig, sich davon zu trennen. Mehrere Jahre lang hatten wir das Haus saisonweise vermietet.
»Es tut mir so leid, Noelle. Mariahs Mutter muss übereifrig gewesen sein. Ich schwöre dir, ich hätte niemals gewollt, dass du es auf diesem Weg rausfindet. Bitte glaub mir.«
Schwärme von Menschen eilten an mir vorbei, während ich wie betäubt dastand. Ich glaubte Archie, dass er die Wahrheit sagte, aber trotz seiner Erklärung war ich plötzlich traurig.
Als die Stille in der Leitung allmählich merkwürdig wurde, sagte Archie: »Ich koche nächste Woche deine Lieblingsnudeln mit Wodkasoße für dich, um es wiedergutzumachen.«
»Ja …«, murmelte ich. »Okay.« Meine Brust schmerzte.
Nicht wegen der blöden Nudeln. Mein bester Freund heiratete, und das war kompliziert.
Die Sache mit Archie? Er war jetzt mein bester Freund, aber es hatte eine Zeit gegeben … da wäre beinahe mehr aus uns geworden. In jenem Sommer hatte ich die wichtigste Lektion meines Lebens gelernt: Wenn du möchtest, dass dir dein bester Freund das Herz bricht, dann ist es eine gute Methode, wenn du vergisst, wo man die Grenze zieht.
Vergangenheit
Es gab nichts Herrlicheres als diesen ersten Hauch salziger Luft. Ich war schon zweimal im Sommer auf Whaite’s Island, aber meine Begeisterung bei der Ankunft war die gleiche wie beim allerersten Mal. Es war einfach immer wieder wunderschön. Wenn man die meiste Zeit des Jahres die giftigen Schwaden der Stadt einatmete, konnte man die sprichwörtliche frische Luft umso mehr wertschätzen.
Ich stieg aus dem Auto meiner Eltern und schaute zu unserem neuen Sommerhaus hoch. Zwar hatte ich Fotos gesehen, aber jetzt stand ich zum ersten Mal tatsächlich davor. Es war ein für diese Gegend typisches Haus im Schindelstil in Strandnähe mit einer breiten, geräumigen Veranda und Unmengen großer Fenster. Der Rasen war wunderbar gepflegt, und rund um das Grundstück standen überall blühende Büsche.
»Es ist noch großartiger, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagte meine Mutter.
Wenn uns dieses Haus doch nur ganz allein gehören würde. Mein Dad hatte es je zur Hälfte mit seinem Freund und Mentor, Archer Remington, gekauft. Beide waren sie Rechtsanwälte für Strafrecht, und Archer war eine Zeit lang in New York der Vorgesetzte meines Dads gewesen. Als Mr Remington wegging, um den Standort ihrer Kanzlei an der Westküste zu übernehmen, waren die beiden freundschaftlich verbunden geblieben. Archer und seine Frau Nora hatten einen Sohn, Archie, der ein paar Jahre älter war als ich und sein letztes Collegejahr begann, um danach weiter Jura zu studieren. Wenn wir uns früher im Laufe der Jahre hier getroffen hatten, hatten wir uns immer etwas gemietet. Dies war das erste Mal, dass meine Familie, die Benedicts, unter demselben Dach wie die Remingtons wohnen würde.
»Ich kann gar nicht glauben, dass die Hälfte dieses Hauses uns gehört«, murmelte ich, während ich den Blick auf den Ozean richtete, der jenseits der Straße in der Ferne zu sehen war.
Meine Großmutter war krank gewesen, deshalb waren wir in den letzten paar Jahren nicht gereist, und es war eine Weile her, dass ich die Remingtons zuletzt gesehen hatte. Sie dagegen waren jeden Sommer hierhergekommen, seit ihr Sohn klein war. Archie hatte jede Menge Freunde auf der Insel, während ich für mich geblieben war oder mich während der zwei Male, die wir bisher hier gewesen waren, an meine Familie gehalten hatte. Ich wollte, dass es diesen Sommer anders wurde, und hatte vor, mich zu mehr Sozialkontakten zu zwingen, auch wenn es mich umbringen würde. Es würde eine gute Übung für meinen Start am College der Boston University im Herbst sein. In Anbetracht der Tatsache, dass uns dieses Haus nun zur Hälfte gehörte, schien es durchaus in meinem Interesse zu sein, hier ein paar Freunde zu finden, zumal es nicht wenige Leute gab, die das ganze Jahr über auf Whaite’s Island wohnten.
Mein Herz hämmerte, als wir auf die Eingangstür zugingen. Mir war etwas beklommen zumute, weil ich Archie sehen würde. Ich war immer ungewollt ein bisschen in ihn verliebt gewesen, obwohl er und ich nie so richtig Kontakt miteinander gehabt hatten. Tatsächlich mochte ich ihn eigentlich gar nicht so gerne, und er hatte nie einen Versuch unternommen, mich kennenzulernen. Aber jetzt, unter demselben Dach, würde wir uns kaum aus dem Weg gehen können.
Der SUV der Remingtons parkte draußen, also waren sie bereits da. Mein Dad öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den Archer ihm geschickt hatte, und ich hörte Schritte. Dann kam uns eine lächelnde Nora Remington entgegen.
»Ihr habt es geschafft!« Sie strahlte. »Noelle! Oh, mein Gott, schau dich nur an. Du bist so erwachsen geworden.«
Nora hatte mich zuletzt gesehen, als ich etwa fünfzehn war. Jetzt war ich achtzehneinhalb, also hatte ich mich seitdem mit Sicherheit sehr verändert.
»Ich bin bereit für eine Hausbesichtigung«, sagte meine Mutter Amy, bevor ich mir eine Antwort überlegen konnte.
Archer Remington kam die Treppe herunter und klopfte meinem Vater auf die Schulter. »Wie war die Fahrt, Mark?«
»Unproblematisch«, erwiderte Dad, während er sich im Raum umsah.
»Wo ist Archie?«, fragte Mom.
»Er musste noch ein paar Sachen an der Uni erledigen, deshalb kommt er direkt von dort«, erwiderte Nora. »Er wird morgen hier sein.«
Ich war unglaublich erleichtert. Mir blieb also der Rest des Tages, um mich in Ruhe an meine neue Umgebung zu gewöhnen.
Mr Remington richtete den Blick auf mich. »Wann ist Noelle so erwachsen geworden?«
Ich zuckte mit den Schultern, lächelte schüchtern und schaute auf meine Füße hinunter.
Mein Dad schlug ihn auf den Arm. »Du hast hoffentlich ein Bier für mich kalt gestellt, alter Mann.«
»Beim Tennisplatz wartet bereits eine Kühlbox.«
»Oh … wir verlieren keine Zeit, nicht wahr?« Mein Dad lachte. Während er Archie durch die Hintertür folgte, hörte ich ihn sagen: »Du bist doch sicher darauf gefasst, dass ich dich fertigmachen werde?«
Archer und Nora Remington waren circa zehn Jahre älter als meine Eltern. Nora war fast vierzig, als sie Archie bekam, also musste sie jetzt über sechzig sein. Mein Dad hatte gerade sein Jurastudium beendet, als Archer sein Mentor wurde. Inzwischen war mein Dad selbst ein erfolgreicher Prozessanwalt. Sowohl Archer als auch Dad würden diesen Sommer von der Insel aus arbeiten, mit gelegentlichen Fahrten ins Büro, falls sie sich mit Mandanten treffen mussten.
»Komm, ich zeige dir dein Zimmer, Noelle.« Nora lächelte.
»Ja, gern.«
Während meine Mutter Richtung Küche ging, folgte ich Nora die breite Treppe hinauf.
Sie öffnete die Tür zu meinem Zimmer. »Ich glaube, du hast den besten Ausblick im Haus.«
Das Fenster im ersten Stock bot tatsächlich einen grandiosen Blick auf das Meer jenseits der Straße. Ich konnte in der Ferne die Wellen rauschen hören und sogar einen Leuchtturm sehen. Irgendetwas sagte mir, dass ich hier schlafen würde wie ein Baby.
»Ich lasse dich erst mal in Ruhe auspacken«, sagte Nora. »Danach kannst du runterkommen und etwas essen. Du musst hungrig sein.«
Ich nickte. »Danke.«
Mein Schlafzimmer hatte ein angrenzendes Badezimmer und einen großen Schrank. Das weiße Bettzeug sah frisch gewaschen aus, und das Zimmer war mit maritimen Motiven dekoriert. An der Wand hing ein verwitterter hölzerner Anker, außerdem stand in der Ecke ein Sessel mit dicken dunkelblauen und weißen Streifen.
Sobald ich das meiste ausgepackt hatte, ging ich nach unten zu den Remingtons und meinen Eltern. Nora hatte eine Platte mit geräuchertem Lachs, Oliven und mehreren Sorten Kräckern und Käse vorbereitet.
Während die Eltern nach unserer kleinen Mahlzeit am Tisch sitzen blieben, beschloss ich, einen Spaziergang zu machen und die Gegend zu erkunden. Ich hatte mir vorgenommen, während meines Aufenthalts hier zu joggen, deshalb wollte ich mir noch vor dem nächsten Morgen eine geeignete Strecke suchen.
Ich ging ein Stück, blieb dann aber vor einer netten Boutique weiter unten in der Straße stehen. Eine Glocke ertönte, als ich eintrat.
Während ich mir anschaute, was es an Strandkleidung gab, kam ein Mädchen etwa in meinem Alter auf mich zu.
»Kann ich dir helfen?«, fragte sie.
»Ach, nein, danke.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich schaue mich nur um.«
»Bist du eine Touristin?«, fragte sie.
»Meine Familie hat hier gerade ein Haus gekauft, also bin ich vermutlich keine richtige Touristin mehr. Allerdings werde ich nur im Sommer hier sein.«
»Wo ist euer Haus?«
»Im Shady Oak Drive.«
»Nett.« Sie schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Und deine Familie sind du und deine Eltern oder … du und dein Mann?«
»Kein Mann.« Ich lachte. »Ich bin erst achtzehn.«
»Dachte ich mir schon, dass du etwa in meinem Alter bist. Ich bin neunzehn.«
Ich nickte. »Ich bin mit meinen Eltern hier. Wir haben das Haus gemeinsam mit Freunden von uns gekauft. Kennst du die Remingtons?«
Sie riss die Augen auf. »Oh ja. Meine Schwester war einen Sommer lang mit Archie zusammen.«
»Oh, wow. Okay.«
»Ja. Er hat ihr das Herz gebrochen. Bevor er aufs College gegangen ist, hat er die Sache beendet. Jetzt hasst sie ihn.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Tut mir leid.« Ich runzelte die Stirn. »Ich meine, ich kenne Archie nicht sehr gut. Aber das ist wirklich übel.«
Sie legte den Kopf schief. »Du kennst ihn nicht, aber du wohnst mit ihm zusammen?«
»Er ist noch nicht mal hier. Unsere Eltern sind befreundet, aber während der letzten Sommer, die ich hier verbracht habe, hat er immer so getan, als würde ich gar nicht existieren. Deshalb habe ich kaum mit ihm gesprochen.«
»Aha, verstehe.« Sie nickte. »Jedenfalls, tut mir leid. Ich hätte mich richtig vorstellen sollen. Ich bin Cici. Ich wohne das ganze Jahr hier, und dies ist das Geschäft meiner Mutter.«
Ich richtete den Blick auf eine Schaufensterpuppe mit einem Frotteestrandkleid. »Ich heiße Noelle. Euer Geschäft ist wirklich toll. Ich laufe heute nur ein bisschen durch die Gegend.«
»Falls dir langweilig wird und du chillen möchtest, ein paar von meinen Freunden und ich treffen uns fast jeden Abend bei der Muschelbar am Strand. Meistens gibt es Livemusik und ein Lagerfeuer. Da treffen sich so ziemlich alle, um abzuhängen.«
»Das wäre super. Ich kenne hier niemanden.«
»Nun, jetzt schon.« Sie zwinkerte mir zu. »Gib mir dein Handy. Ich speichere dir meine Nummer ein.«
»Cool.« Ich reichte es ihr.
»Schick mir deine Daten, dann melde ich mich morgen bei dir«, sagte sie, als sie mir das Handy zurückgab.
»Klingt gut.«
Voller Elan verließ ich das Geschäft. Ich hatte mir geschworen, dass ich diesen Sommer Leute kennenlernen würde, und das war mir innerhalb der ersten beiden Stunden gelungen. Ich brauchte nur eine Person, die sich hier auskannte, und wie es schien, hatte ich sie gefunden.
Am nächsten Morgen begann ich den Tag mit einem Lauf bei Sonnenaufgang. Ich verließ das Haus gegen fünf, als noch alle schliefen. Es war, als hätte ich die gesamte Insel für mich allein, und es war einfach traumhaft, vor dem Hintergrund des wunderschönen Atlantischen Ozeans zu joggen.
Als ich zum Haus zurückkam, saßen meine Eltern mit den Remingtons am Küchentisch. Ich setzte mich zu ihnen, um zu frühstücken, und hörte zu, während sie Pläne machten, später am Tag ein Boot zu mieten. Da ich zur Seekrankheit neigte, wäre für mich Kotzen garantiert, deshalb verzichtete ich dankend.
Nachdem sie aufgebrochen waren, beschlich mich Nervosität, weil ich wusste, dass Archie irgendwann heute eintreffen würde. Ich hatte keine Ahnung, wann genau er ankommen würde, und hatte nicht gefragt, weil ich nicht interessiert wirken wollte.
Statt mit meiner nervösen Energie im Haus rumzuhängen, schickte ich meiner neuen Freundin Cici eine SMS, um zu fragen, was sie so vorhatte. Sie schrieb zurück, sie müsse bis zwei im Geschäft arbeiten, aber danach sei sie frei.
Um drei Uhr fuhr ich mit dem Fahrrad zu Cicis Haus. Es war genauso schön wie das, welches uns jetzt zur Hälfte gehörte. Um das Haus herum standen wunderbare Hortensienbüsche, und zur vorderen Veranda führte eine breite Treppe hinauf.
Ich schrieb ihr, dass ich da war, und sie kam heraus.
»Hey! Du hast es also gefunden.« Cicis langes blondes Haar wehte in der Meeresbrise, als sie heraustrat, um mich zu begrüßen.
»Ja.« Ich stieg vom Fahrrad und stellte es ab. »Es ist wunderschön.«
»Ich habe gerade Limonade gemacht, um sie mit zum Pool rauszunehmen.« Sie winkte mich herein. »Komm und lern meine Freundinnen kennen.«
Cici führte mich durch das Haus hindurch zum Pool im Garten. Ihre Eltern schienen nicht zu Hause zu sein.
Sie stellte mich zwei Mädchen vor, die auf Liegestühlen in der Sonne lagen.
»Dies ist Lara. Und das ist Crystal.«
Ich hob die Hand. »Hallo.«
Während Crystal einfach kurz winkte, hielt Lara die Hand vor die Stirn, als Blendschutz gegen die Sonne. »Nett, dich kennenzulernen, Noelle.«
Genau in dem Moment kam ein weiteres Mädchen durch die Terrassentür gestürmt.
»Hey, hast du meine Michael-Kors-Schuhe gesehen?«, fragte sie Cici.
»Die sind in meinem Zimmer.«
Die große Blonde knirschte mit den Zähnen. »Hör auf, dir meine Sachen unter den Nagel zu reißen.« Sie rauschte wieder ab.
Cici richtete den Blick auf mich. »Und diese unhöfliche Zicke ist meine Schwester Amanda.«
»Verstehe.«
Ich nahm an, dass Amanda die Schwester war, die etwas mit Archie Remington gehabt hatte. Es überraschte mich nicht, dass sie schön und zickig war. Etwas Geringeres hätte ich nicht von ihm erwartet.
»Wohin gehst du im Herbst?«, fragte Cici.
»Boston University.«
»Oh, cool. Welches Fach?«
»Journalismus. Ich bin mir nicht sicher, was ich nach dem Abschluss damit machen will, aber ich werde es mal versuchen.«
Sie nickte. »Zumindest hast du eine ungefähre Vorstellung, was du willst. Ich kann mich nicht entscheiden und mache daher ein Studium Universale an der Uni in Maine.«
»Daran ist nichts verkehrt.«
Den Rest des Nachmittags blieb das Gespräch ziemlich locker. Wir schwammen im Pool und tranken Limonade – die Cici mit Wodka aufgepeppt hatte. Ich beschränkte mich auf zwei Gläser, weil ich mit dem Fahrrad nach Hause fahren musste.
Als ich am frühen Abend ins Haus zurückkehrte, waren die Eltern noch nicht zu Hause – vermutlich waren sie noch auf dem Boot. Das Haus wirkte ruhig, deshalb nahm ich an, dass Archie noch nicht eingetroffen und ich allein war.
Mr Remington hatte erwähnt, dass er sich um Meeresfrüchte zum Abendessen kümmern wollte, um die Ankunft seines Sohns zu feiern, deshalb beschloss ich, erst mal nichts zu essen, sondern zu duschen.
Oben in meinem Zimmer löste ich das Oberteil meines Bikinis und ließ es zu Boden fallen, dann zog ich das Unterteil aus und ging zum Badezimmer.
Als ich die Tür öffnete, blieb ich wie erstarrt stehen bei seinem Anblick.
»Was zum Teufel …?«, knurrte er und fuhr sich mit der Hand durch sein dickes goldbraunes Haar.
Mir hämmerte das Herz in der Brust. Vor mir stand Archie, und sein ziemlich großer Schwanz baumelte frei in der Luft.
Entsetzt trat ich rückwärts aus dem Badezimmer und schloss die Tür wieder. Mein Herz hämmerte noch immer. Okay. Was für einen Unterschied ein paar Jahre doch machten. Das war nicht der Archie, den ich in Erinnerung hatte. Das da drin war ein richtig erwachsener Mann. Ein totaler Adonis. Gemeißelte Muskeln, Tattoo auf dem Arm – seit wann hat er das? – und ein großer Schwanz, soweit ich das in der Millisekunde, in der mein Blick darauf fiel, sehen konnte.
»Schon mal was von Anklopfen gehört?«, ertönte es schließlich hinter der Tür.
Ernsthaft? Sein Verhalten machte mich wütend. »Anklopfen? Das ist mein Badezimmer!«
»Dein Badezimmer? Warum hat es dann von meinem Zimmer aus auch einen Zugang?«
Ohhh … Ich hatte mir tatsächlich nicht die Mühe gemacht, die andere Tür zu öffnen. Ich hatte nur meinen Morgenmantel an den Haken dort gehängt.
»Ich dachte, die andere Tür wäre ein Schrank für Bettwäsche«, erwiderte ich nach einem kurzen Moment.
Ich zog mir ein T-Shirt über, setzte mich auf die Bettkante und wippte mit den Knien. Als der Schock allmählich nachließ, wurde mir plötzlich bewusst, dass Archie mich ebenfalls nackt gesehen hatte. Offenbar war auch ihm das inzwischen klar.
»Du siehst anders aus, als ich dich in Erinnerung hatte«, kam seine Stimme aus dem Badezimmer. »Ich kann nur nicht genau sagen, wieso.« Er schwieg einen Moment. »Ach ja, genau. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hattest du was an.«
»Arschloch.« Ich lachte. »Und dein …« Dein bestes Stück war stets gut verpackt. »… Haar war nicht so lang.«
»Du siehst ziemlich witzig aus, wenn du schockiert bist.« Nach einigen Sekunden Schweigen fügte er etwas sanfter hinzu: »Ich bin gleich fertig, dann kannst du reinkommen und dein Ding machen.«
»Okay«, antwortete ich und atmete durch.
Vermutlich würde mein »Ding« darin bestehen, unter der Dusche die vergangenen zwei Minuten wieder und wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen zu lassen – teils entsetzt, teils angetörnt von dem, was gerade passiert war.
Vergangenheit
Archie war der Letzte, der an jenem Abend zum Essen ins Esszimmer kam. Als er sich auf seinen Stuhl setzte, fiel ihm eine Strähne seiner langen Haare in die Augen. Ich saß auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs zwischen meinen Eltern.
Nora wandte sich an mich. »Habt ihr zwei euch heute schon begrüßt?«
Archie sah mit einem boshaften Lächeln zu mir hoch. »Aber natürlich. Wir haben uns schon gesehen.« Er senkte die Stimme. »Klar und deutlich.«
Ich räusperte mich und wünschte mir, der Boden würde sich auf magische Weise unter mir auftun, damit ich verschwinden konnte.
Meine Mom legte mir die Hand auf den Arm. »Alles okay, Schatz?«
»Ja, natürlich«, log ich. Vermutlich war ich so rot wie eine reife Tomate.
Sobald der Topf mit den gedämpften Schalentieren und die Maiskolben auf dem Tisch standen, konnte ich meine Aufmerksamkeit auf das Essen richten und den Blickkontakt mit Archie vermeiden.
Irgendwann wandte sich Nora an ihren Mann und flüsterte: »Wirst du es ihm erzählen?«
»Mir was erzählen?«, murmelte Archie. Er klang genervt.
Archer setzte sich gerade hin. »Die Alumni-Vereinigung möchte mich mit ihrer traditionsreichen Auszeichnung ehren. Wie es bei den Ehemaligen üblich ist, deren Kinder ebenfalls dort ans College gehen, haben sie darum gebeten, dass du derjenige bist, der mir die Auszeichnung übergibt.«
Wie es hieß, hatte Archer seine Beziehungen spielen lassen, damit Archie an seiner Alma Mater, der Ford University in einem Außenbezirk von San Francisco, aufgenommen wird.
»Was beinhaltet das?« Archie stocherte in seinem Essen herum.
»Es bedeutet, dass du etwas Ergreifendes und Wohlformuliertes schreibst.«
Archie ließ die Gabel fallen. »Ich soll eine Rede über dich schreiben?«
»Genau das, ja. Nur ein paar nette Worte über deinen lieben alten Dad.« Archer lächelte spöttisch. »Das kriegst du doch sicher hin, oder? Das wird eine gute Übung für dich sein – mal etwas zu schreiben statt deine freie Zeit mit diesem unsinnigen Gekritzel zu verschwenden.«
»Ja«, murmelte Archie. »Klar doch.«
Er sah nicht glücklich aus, sondern ziemlich angespannt.
Schließlich beendete Nora das unangenehme Schweigen. »Wie war dein Flug, Archie?«
»Ganz okay.«
»Hast du heute Abend schon etwas vor?«, fragte sie.
»Ich weiß noch nicht genau«, murmelte er.
Dann sah er von seinem Teller hoch und richtete zum ersten Mal seit längerer Zeit den Blick auf seine Mutter. »Wie fühlst du dich, Mom?«
Nora schien sich ein Lächeln abzuringen. »Gut, Schatz. Großartig.«
»Gut.« Er griff über den Tisch und drückte ihre Hand, eine überraschend zärtliche Geste.
Die Dynamik zwischen Archie und seiner Mutter war eindeutig eine andere als die zwischen ihm und seinem Vater.
Ich wartete darauf, dass Archie während des Essens etwas – irgendetwas – zu mir sagte, aber das tat er nicht. Nach seinem anfänglichen Witz über unser Zusammentreffen hatte ich für ihn aufgehört zu existieren. Alles lief wieder genau so, wie ich es in Erinnerung hatte.
Gerade als sich die Spannung von vorher aufgelöst zu haben schien, heizte Mr Remington sie wieder an.
»Ich habe vorgestern mit Rodney Erickson geredet, Archie. Er sagt, er kann dich diesen Sommer in seiner Kanzlei hier auf der Insel als Praktikant einstellen.«
Archie seufzte. »Kann ich meinen Sommer nicht einfach in Frieden genießen?«
Sein Vater starrte ihn böse an. »Es ist eine großartige Gelegenheit und wird sich gut machen in deinen Bewerbungen um einen Jurastudienplatz. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um den Kopf in den Sand zu stecken. Ich habe es bereits mit ihm besprochen. Du kannst mich nicht blamieren, indem du nicht hingehst.«
»Es gehört nicht viel dazu, dich zu blamieren, nicht wahr, Dad?« Archie schüttelte den Kopf. »Ja, natürlich. Gib mir seine Nummer. Ich rufe ihn an.«
»Gut.«
Wieder wurde es still. Archies Gesicht war rot angelaufen, und obwohl er schwieg, strahlte er eine enorme Anspannung aus. Sein Vater hatte ihn definitiv irgendwie im Griff.
»Das Essen war großartig. Danke euch allen«, sagte er auf einmal. Sein Stuhl rutschte über den Boden, als er aufstand.
Alle sahen zu, wie Archie rasch das Esszimmer verließ – noch vor dem Nachtisch, den Nora gemacht hatte, wie ich wusste. Erwartungsgemäß beehrte er uns mit seiner Anwesenheit nur so viel, wie unbedingt nötig. Doch ehrlich gesagt, konnte ich es ihm kaum verdenken, wenn ich sah, wie sein Vater über ihn bestimmte.
Es dauerte nicht lange, bis ich Archie wiedersah. Statt mich zu Hause zu ignorieren, ignorierte er mich an jenem Abend vor einer Gruppe von Leuten am Strand. Ich saß ihm gegenüber im Sand, dennoch wäre niemand auf die Idee gekommen, dass wir unter demselben Dach wohnten.
Er hatte keine Zeit verloren, sich ein Mädchen anzulachen. An seinem Arm hing eine Blondine und kicherte über alles, was er sagte.
Wie kann es sein, dass jemand am Nachmittag aus dem Flugzeug steigt und schon am selben Abend ein Mädchen aufgabelt?
Cicis Atem roch nach Alkohol, als sie sich zu mir herüberbeugte und mir ins Ohr flüsterte: »Wie ich sehe, ist Archie wieder im Lande?«
»Ja.«
Nach dem Aufeinandertreffen im Badezimmer und dem angespannten Abendessen hatte ich irgendwie gehofft, ich könnte ihn den Rest des Abends vergessen. Stattdessen wanderte mein Blick immer wieder zu ihm hin. Falls Archie wegen irgendetwas sauer war, das während des Abendessens mit seinem Dad passiert war, dann ließ er sich davon jetzt nichts anmerken. Er redete und lachte und genoss nicht nur die Aufmerksamkeit der Blondine, sondern die von allen um sich herum.
Es war interessant, dass man eine armselige Persönlichkeit haben und allein wegen seines Aussehens so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte.
Ich wurde in meinen Betrachtungen über Archie unterbrochen, als sich zwei Jungs zu uns gesellten.
»Wie geht’s, Cici? Wer ist deine Freundin?«, fragte der eine.
»Noelle, dies ist mein Cousin Xavier.« Cici deutete mit ihrem Becher auf ihn. »X, dies ist meine neue Freundin, Noelle, aus New York.«
X hatte ein Tattoo von der Schulter bis zum Armgelenk, ein Lippenpiercing, und er trug trotz des warmen Wetters eine Strickmütze.
»Hallo, Noelle aus New York«, sagte er.
»Xavier ist übrigens auch in Boston am College«, sagte Cici zu mir, während ich in seine Richtung nickte.
Ich riss die Augen auf. »Echt?«
»Ja. Ich bin im Berklee College of Music.«
»Oh, cool.«
»Und du?«, fragte er.
»Ich gehe im Herbst auf die Boston University.«
»Nett. Wir sollten vorm Ende des Sommers Telefonnummern austauschen und uns mal in der Stadt treffen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Gern.«
Die nächste halbe Stunde redete ich mit Xavier. Offenbar war er ein talentierter Bassspieler. Er machte einen recht netten Eindruck, allerdings ging er sehr gern auf Tuchfühlung und legte gelegentlich die Hand an meinen unteren Rücken, während wir redeten. Es machte mir nicht allzu viel aus, aber es schien mir doch ein bisschen dreist, zumal seine Hand ziemlich nah an meinem Hintern war. Bevor er ging, vereinbarten wir vage, diesen Sommer häufiger »abzuhängen«, auch wenn ich mir nicht so ganz sicher war, was ich davon halten sollte.
Den Rest des Abends verbrachte ich mit Cici und ihren Freundinnen, während ich gelegentlich einen Blick zu Archie hinüberwarf.
Nach ungefähr zwei Stunden fand ich es an der Zeit, mich auf den Heimweg zu machen. Insgesamt war ich recht zufrieden mit meinem ersten Abend außer Haus. Ich hatte neue Leute kennengelernt und es bereits geschafft, keine Einzelgängerin zu sein, wie das in den anderen beiden Sommern der Fall gewesen war, die ich auf Whaite’s Island verbracht hatte. Und obwohl sich Archie nicht ein einziges Mal dazu herabgelassen hatte, meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, hatte er mitbekommen müssen, dass ich dort war. Irgendwann war er mit diesem Mädchen irgendwohin verschwunden, und ich hatte nicht mehr mitbekommen, wo er steckte.
Trotz meiner ungesunden Fixierung auf ihn ging ich an jenem Abend in großartiger Stimmung nach Hause. Jedenfalls bis ich wieder in meinem Zimmer war, den Knopf an der Badezimmertür drehte und feststellen musste, dass abgesperrt war.
Seine Stimme war schneidend. »Ich bin hier drin.«
Er ist schon zu Hause?
»Schön, dass du weißt, wie man absperrt«, erwiderte ich.
»Und wieder hast du nicht angeklopft.«
Verdammt. Er hatte recht. Wenn er nicht abgesperrt hätte, wäre ich erneut einfach hereingeplatzt. Aber ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass er bereits zu Hause war.
Ich seufzte. »Sag mir einfach Bescheid, wenn du fertig bist.«
Während ich in meinem Zimmer auf und ab lief und wartete, lauschte ich dem Rauschen des Wassers.
»Der Typ, mit dem du geredet hast, ist übrigens ein Arschloch«, rief er.
Hmmmm. »Es überrascht mich, dass du überhaupt bemerkt hast, dass ich heute Abend auch dort war.«
»Was soll das denn heißen?«
Die Wodkalimonade, die Cici mir eingeschenkt hatte, machte mich ein bisschen mutiger.
»Ernsthaft, Archie? Du hast nie auch nur den geringsten Versuch gemacht, mich kennenzulernen. Meistens tust du so, als gäbe es mich gar nicht.«
»Hast du denn jemals versucht, mich kennenzulernen?«, fauchte er zurück.
Vermutlich eher nicht. Ich war immer davon ausgegangen, dass er sich für etwas Besseres hielt. Aber vielleicht lag das daran, dass ich irgendwie glaubte, er wäre besser als ich.
Die Tür ging auf.
Ich schluckte. Archie sah einfach unverschämt gut aus. Bei seinem Anblick stockte mir einen Moment lang der Atem, als er in mein Zimmer trat. Er trug jetzt ein eng anliegendes weißes T-Shirt und eine graue Trainingshose. Er war groß, muskulös und hatte die gleichen kantigen Gesichtszüge wie Disney-Prinzen. Von seiner dicken Löwenmähne oder seinem Geruch will ich gar nicht erst anfangen – einfach umwerfend. Nur sehr wenige Menschen hatten solch eine Wirkung auf mich, aber Archie Remington stand eindeutig ganz oben auf der Liste.
Und das nervt.
Ich räusperte mich und stichelte: »Und wer hat jetzt nicht geklopft?«
»Das war vorhin ganz schön verrückt, oder? Wie wir uns zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wiedergesehen haben?«
Oh, wieso kommt er jetzt damit?
»Nicht mein bester Moment«, murmelte ich.
»Du hättest dein Gesicht sehen müssen.« Er lachte.
Ich verdrehte die Augen. »Das stelle ich mir lieber nicht vor.«
Er grinste. »Würdest du dein Gesicht vielleicht tatsächlich gern sehen wollen?«
»Wovon redest du?«
Er holte ein Papier hervor, das er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte, was ich gar nicht bemerkt hatte. »Ich habe dich gezeichnet.«
Er reichte mir eine Zeichnung. Es war eine Frau … die mir erstaunlich ähnlich sah. Sie war splitterfasernackt. Und bei genauerem Hinsehen ähnelte mir auch ihr Körper – von der Form meiner Brüste bis zur Menge an Schamhaar.
Okay, dies war also ein Ganzkörperporträt von mir. Ich war davon ausgegangen, dass er in der kurzen Zeit höchstens meine Gesichtszüge wahrgenommen hatte, aber nein.
»Oha, du hast wohl ein fotografisches Gedächtnis«, sagte ich und starrte weiter auf die Zeichnung. Dann fiel mir die Bildunterschrift ins Auge: Nackt und ängstlich, AR
A und R waren seine Initialen.
»Betrachte es als Friedensangebot.« Er grinste.
»Du hättest mir … ach, ich weiß nicht … Blumen schenken können statt eines erschreckend genauen Aktporträts von mir.«
Er lachte. »Wo bliebe da der Spaß?«
»Wie auch immer …« Wieder schaute ich auf die Zeichnung hinunter, und mir fielen noch mehr Einzelheiten auf, zum Beispiel die Sommersprossen auf meiner Brust. »Du bist echt gut.«
»Nun, mein Dad würde widersprechen. Er nennt meine Kunst Gekritzel, also …«
»Hör nicht auf ihn«, widersprach ich. »Du hast Talent.«
Er sah mir ein paar Sekunden in die Augen, dann wandte er den Blick ab. »Wie auch immer, wer verdammt noch mal baut ein Badezimmer zwischen zwei Schlafzimmer? Das ist wie … such dir das eine oder das andere aus.«
»Ich denke, es wurde für Geschwister entworfen, die sich das Badezimmer teilen sollten oder so.«
»Bescheuert.« Wieder sah er mich durchdringend an. »Ich weiß, ich habe vorhin einen Witz darüber gemacht, aber du siehst wirklich ganz anders aus, als ich dich in Erinnerung hatte.«
Meine Wangen brannten. »Du meinst, du erinnerst dich nicht, wie ich früher ausgesehen habe, weil ich für dich unsichtbar war.« Ich schaute auf die Zeichnung hinunter. »Angesichts dessen hier wünsche ich mir irgendwie, ich wäre immer noch unsichtbar.«
Er kniff die Augen zusammen. »Wovon redest du? Natürlich erinnere ich mich an dich. Selbst wenn du zu glauben scheinst, dass ich ein unsozialer Idiot bin, erinnere ich mich an dich. Du hast immer zwei verschiedenfarbige Socken getragen und sie dir bis zu den Knien hochgezogen.«
Wow. Das war mein Ding gewesen, als ich fünfzehn war. »Das war damals in.«
»Du hattest auch eine Zahnspange, und jetzt hast du keine.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es haut mich um, dass du dich an solche Sachen noch erinnerst.«
»Also, jedenfalls, wie ich vorhin schon sagte, Xavier ist ein Arschloch. Halte dich von ihm fern. Diese Mädchen, mit denen du da rumhängst? Idiotinnen. Die machen auch nur Ärger.«
»Wer im Einzelnen?«
»Cici Kravitz.«
»Du magst sie nicht? Warst du nicht mal mit ihrer Schwester zusammen?«
»Aha, wir machen unsere Hausaufgaben, wie?« Er zog eine Augenbraue hoch. »War ich, eine kurze Zeit lang, bevor ich aufs College gegangen bin.«
»Nun, wie es aussieht, hast du sie ziemlich verletzt.«
»Ich vermute mal, du glaubst alles, was man dir erzählt.«
»Stimmt es denn nicht?«
»Ich habe ihr nie irgendetwas versprochen. Es war so ein Sommerding. Sie ist verbittert, deshalb redet sie schlecht über mich. Denk einfach daran, was ich dir über diese Leute gesagt habe. Die gehören nicht zu den Guten. Ich war schon als Kind jeden Sommer auf dieser Insel. Ich kenne hier jeden. Wenn du wissen möchtest, wer in Ordnung ist, dann frag mich einfach.«
Ich sah ihn skeptisch an. »Und du selbst bist so respektabel?«
Er riss die Augen auf. »Du magst mich wirklich nicht, wie?«
»Ach was.« Ich schüttelte den Kopf und kicherte. »Ich kenne dich ja gar nicht. Ich kann niemanden hassen, den ich nicht kenne.«
»Du hast in der Zwischenzeit nur gewisse Dinge vermutet.«
»Ja, weil du in der Vergangenheit immer so distanziert gewirkt hast.«
»Vielleicht war ich nur schüchtern. Hast du daran jemals gedacht?«
»Das bezweifle ich.«
»Lass uns die Sache klären.« Er setzte sich auf die Kante meines Betts, was mich reichlich nervös machte. »Was für einen Eindruck hast du von mir?«
»Dass du eingebildet bist«, erwiderte ich sofort.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Das hätte ich von dir genauso glauben können – dass du eine kluge, besserwisserische Überfliegerin bist, die nichts mit dem dummen Schönling-Sohn der Freunde ihrer Eltern zu tun haben wollte. Schließlich hast du auch nie versucht, mich kennenzulernen.«
»Ich halte dich nicht für dumm.« Ich kniff die Augen zusammen. »Und wer behauptet, ich wäre klug?«
»Deine Eltern geben dauernd mit dir an.«
»Nun ja, deine Mom gibt mit dir auch an.«
»Genau.« Er schnaubte wütend. »Meine Mom, nicht mein Dad, stimmt’s?«
Mist. Ich hatte seinen wunden Punkt getroffen. »Ja … Deine Mom erzählt immer die großartigsten Dinge über dich.«
»Und dennoch hältst du mich aus irgendeinem bescheuerten Grund für ein Arschloch.«
»Weißt du was? Du hast recht. Ich habe Vermutungen über dich angestellt. Du warst nur einfach immer so unnahbar.« Ich verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.
Archie stand auf und trat näher an mich heran, was meinen Körper in höchste Alarmbereitschaft versetzte.
»Wenn du mich kennenlernen willst, dann lern mich kennen. Aber stell keine Vermutungen an, für die du keine Beweise hast.« Er sah mir in die Augen. »Und ich verspreche, es genauso zu machen.« Dann ging er rückwärts zur Badezimmertür. »Wie auch immer, das Badezimmer ist jetzt jedenfalls frei. Aber zu deiner Information: Wie es scheint, lässt sich nur die Tür auf deiner Seite des Badezimmers abschließen. Ich kann dich zwar aussperren, du mich aber nicht. Ich werde aber immer besonders darauf achten, erst zu klopfen.« Er zwinkerte mir zu und drehte sich um. »Anders als andere Leute.«
Großartig. »Danke.«
Er drehte sich noch ein letztes Mal um. »Nett, dich tatsächlich kennenzulernen, Noelle Simone Benedict.«
Er kennt meinen vollständigen Namen? Interessant. »Ebenso«, murmelte ich.
Er durchquerte das Badezimmer und verschwand in seinem Zimmer. Es fühlte sich ein bisschen so an, als wäre dieses Badezimmer ein Tor zum Himmel – oder zur Hölle, ganz wie man es sehen wollte.
Da ich vermutete, dass er jede meiner Bewegungen mitbekam, wusch ich mir so schnell ich konnte das Gesicht und putzte mir die Zähne. Beinahe hätte ich sogar darauf verzichtet, vorm Schlafengehen die Toilette zu benutzen, weil ich Angst hatte, ich könnte furzen oder Ähnliches, aber dann kam mir die Idee, das Wasser laufen zu lassen, um eventuelle Geräusche zu übertönen. Ich fühlte mich einfach nicht wohl in meiner Haut, weil er zu nah war.
Danach hatte ich Schwierigkeiten einzuschlafen, wenn auch mit einem widerwilligen Lächeln im Gesicht. Denn Archie Remington war ein bisschen anders, als ich gedacht hatte. Er war … in Ordnung.
Am nächsten Morgen quälte ich mich um fünf mühsam aus dem Bett, um erneut zu joggen. Während ich mich dehnte, sah ich ein paar Minuten lang zu, wie die Sonne über dem Meer aufging. Nur das Geschrei der Möwen war zu hören.
Aber etwa eine Minute, nachdem ich mich auf der Straße in Bewegung gesetzt hatte, bemerkte ich hinter mir auf dem Kies Schritte. Mein Herz raste. Es klang, als würde mich jemand verfolgen – bis derjenige auf meiner Höhe war. Nachdem ich den Kopf gedreht und gesehen hatte, dass Archie neben mir joggte, flaute mein Adrenalinlevel wieder ab.
»Du hast mich zu Tode erschreckt«, keuchte ich.
»Du solltest so früh nicht allein laufen.«
»Wieso nicht? Dies ist eine sichere Gegend.«
»Nicht so sicher, wie du glaubst. Hier hängen genügend zwielichtige Gestalten rum, die gern über Leute herfallen, von denen sie glauben, sie hätten es verdient, weil sie reich und privilegiert sind. Leute kommen hierher, um anderen aufzulauern. Und du bist das perfekte Opfer, ganz allein hier draußen ohne jemanden in der Nähe. Es ist quasi mitten in der Nacht. Die Sonne ist noch nicht mal richtig aufgegangen.«
»Woher wusstest du, dass ich jogge?«
»Zum einen, weil ich von deinem verdammten Wecker wach geworden bin. Dann habe ich aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass du dich vor der Tür gedehnt hast. Da dachte ich mir, ich komme mit.« Er drehte den Kopf und schaute nach vorne. »Jedenfalls jogge ich auch und habe nichts gegen einen Partner.«
»Nun, ich brauche nicht unbedingt einen, also …«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast dich geärgert, weil ich unsozial war, und jetzt willst du meine Gesellschaft nicht? Ist das nicht ein bisschen widersprüchlich? Ich kriege keine Punkte für guten Willen?«
Ich lief ein bisschen schneller und sagte: »Ich laufe gern allein, um den Kopf freizubekommen. Und ich merke jetzt schon, dass du mir zu viel redest.«
»Jetzt rede ich zu viel?« Er lachte. »Verdammt, dir kann man es auch nicht recht machen, Noelle. Wie wäre es, wenn ich einfach die Klappe halte, während wir laufen?«
Himmel, er sieht verdammt heiß aus.
Er hatte eine Baseballkappe der Dodgers verkehrt herum aufgesetzt, die sein goldbraunes Haar kaum bändigen konnte, sodass es darunter hervorlugte. Sein schwarzes Sport-T-Shirt schmiegte sich eng an seine Muskeln.
»Okay.« Ich seufzte. »Joggen ohne Reden ist für mich in Ordnung.«
Wie gewünscht verlief der Rest unserer Joggingrunde ruhig, auch wenn mich allein seine Gegenwart überforderte und ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte. So viel dazu, den Kopf freizubekommen, wenn ich die ganze Zeit seinen köstlichen Geruch einatmen musste und er mir so nahe war.
Auf einem Hügel machten wir eine kurze Pause.
Archie stützte die Hände auf die Knie. »Du bist ganz schön schnell, Benedict. Beeindruckend.«
»Ich habe versucht, dich abzuhängen«, zog ich ihn auf.
»Du Biest.« Er lachte.
Ich deutete mit dem Finger auf ihn. »Du musst dich nicht dazu zwingen, mir Gesellschaft zu leisten, nur um zu beweisen, dass du kein Arschloch bist. Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Vermutungen mehr über dich anstellen werde.«
»Ich fühle mich schlecht, weil du geglaubt hast, ich hätte dich früher ignoriert, aber deswegen bin ich nicht hier. Ich bin mitgekommen, weil ich nicht wollte, dass du so früh am Morgen allein läufst.«
Wenn das stimmte, wärmte es mir irgendwie das Herz. Ich schaute hoch und sah, wie sich die Sonne in seinen Augen spiegelte und sie noch eisiger wirken ließ, als sie sowieso schon waren. Ich räusperte mich. »Nun … danke, dass du dir Gedanken machst.«
»Übersetzt: Hau ab.« Er grinste.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein.«
Nach einer Minute liefen wir wieder los, zurück Richtung Haus.
Als wir hereinkamen, saßen unsere Eltern am Küchentisch und tranken Kaffee. Als meine Mutter uns zusammen sah, fiel ihr die Kinnlade hinunter.
»Wie schön, dass ihr euch gut versteht«, sagte Nora.
»So weit würde ich nicht gehen«, murmelte Archie und grinste mich an.
»Er war so nett, mich zu begleiten, damit ich nicht allein laufen musste«, sagte ich.
»Das wissen wir zu schätzen, Archie«, sagte meine Mom. »Ich mache mir immer Sorgen, wenn sie so früh am Morgen läuft. Zu Hause macht sie das auch.«
Archie trat von hinten an mich heran, als ich gerade eine Kaffeekapsel in die Maschine fallen ließ. Seine Nähe jagte mir einen Schauer über den Rücken.
»Möchtest du duschen?«
Ich wurde knallrot. Mein durstiges Gehirn interpretierte diese Frage völlig unkorrekt. Aber dann … also echt … wir teilten uns schließlich ein Badezimmer. Ich räusperte mich.
»Ich nehme einfach das Badezimmer meiner Mom. Geh du ruhig.«
Er nickte. »Okay.«
Nora lächelte ihrem Sohn zu, bevor er die Treppe hinauflief. »Es ist so schön, mein Baby wieder hier zu haben.«
»Nächstes Jahr, wenn Noelle in Boston ist, wird es uns bestimmt genauso gehen«, sagte mein Dad.
»Archie muss das alles allmählich ernster nehmen«, warf Archer ein. »Diese Zeit ist kostbar. Ich fürchte, er verschwendet sie. Er muss endlich anrufen …«
»Er ist doch gerade erst hier angekommen«, fiel ihm Nora ins Wort. »Er wird ihn anrufen, keine Sorge.«
Hat dieser Typ noch nie was von Sommerferien gehört? Ich trug meinen Kaffee an den Tisch, setzte mich zu ihnen und nahm mir einen Donut.
Zu meiner Überraschung richtete Archer seine Aufmerksamkeit auf mich. »Noelle, deine Mutter hat mir erzählt, dass du dich für ein Journalismus-Studium an der Boston University entschieden hast?«
Ich nickte. »Ja.«
»Findest du das nicht ein bisschen verschwendete Zeit?«
Ich kaute langsamer. »Wieso?«
»Nun, soweit ich weiß, verdienen Journalisten nicht viel Geld.«
Ich setzte mich gerade auf. »Irgendjemand muss aufzeichnen, was in der Welt passiert. Egal ob Journalisten viel oder wenig verdienen, es ist eine wichtige Aufgabe. Das können Sie nicht leugnen.«
»Nur weil jemand es machen muss, heißt das ja nicht, dass du das machen solltest. Du gehst ja auch nicht zur Müllabfuhr, nur weil sich jemand um den Abfall kümmern muss, oder?«
Himmel, er ist derart herablassend! »Auch daran ist nichts verkehrt«, erwiderte ich.
Ich verstand allmählich immer besser, wie sich Archie in Gegenwart seines Dads fühlte. Ich war ein selbstsicherer Mensch, aber er hatte so eine Art, einem ein Gefühl von Minderwertigkeit zu vermitteln. Ich war mir nicht recht sicher, was mein Vater in ihm sah. Ich fragte mich, ob sich mein Dad hauptsächlich mit Archer abgab, weil ihm das beruflich nützte.
Ich schaute die anderen am Tisch an, aber meine Eltern und Nora blieben still. Es wäre nett gewesen, wenn mich jemand verteidigt hätte. Aber vermutlich wusste keiner im Raum, wie man Archie die Stirn bot. Also würde ich diejenige sein müssen.
Ich konnte einfach nicht anders, daher sagte ich: »Selbst wenn ich nicht Journalistin werde, zeigt ein Abschluss in Journalismus potenziellen Arbeitgebern, dass ich über gute Formulierungs- und Kommunikationsfähigkeiten verfüge. Das kann man in vielen Berufszweigen anwenden.« Ich nahm einen weiteren Bissen von meinem Donut und redete mit vollem Mund weiter. »Viele Leute arbeiten nach ihrem Abschluss in einem Beruf, der nicht viel mit ihrem Studium zu tun hat. Man muss sich nicht aufgrund seines Studienfachs festlegen.«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn du klug bist, dann wirst du das tun. An deiner Stelle würde ich mir überlegen, zu Betriebswirtschaft zu wechseln. Die BU bietet eine ausgezeichnete Managementausbildung.«
Angewidert stand ich vom Tisch auf. »Wenn ihr mich entschuldigt, ich glaube, ich gehe jetzt duschen.«
Oben im Badezimmer meiner Eltern ließ ich das Gespräch noch einmal Revue passieren, während das Wasser auf mich herabströmte. Das waren nur fünf Minuten gewesen, aber für Archie musste das Leben die ganze Zeit so sein.
Archie sah ich erst beim Abendessen wieder. Während des Essens sprachen wir kaum miteinander. Die meiste Zeit hörte ich zu, wie sein Dad ihm erneut zusetzte, und betrachtete dabei gelegentlich sein schönes Gesicht, seine breiten Schultern, seine kräftigen Unterarme und wie das Deckenlicht die herrlichen blonden Strähnen in seinem Haar zur Geltung brachte. Ja, es war erbärmlich, wie ich ihn insgeheim anhimmelte.
Irgendwann begann Nora Fragen zu stellen, die sie, wie ich mich erinnerte, bereits am Abend vorher beim Essen gestellt hatte – unter anderem, wie Archies Flug hierher gewesen war. Es verblüffte mich, und ich fragte mich, ob sie nur zur Ablenkung irgendein Thema gewählt hatte, weil sie hoffte, dass sich sein Dad dann beruhigen würde.
Wieder war Archie der Erste, der vom Tisch aufstand. Konnte ich ihm das verdenken? Absolut nicht.
Vergangenheit
Später an jenem Abend fragte mich Cicis Cousin Xavier, ob ich Lust auf einen Spaziergang am Strand hätte. Das erschien mir harmlos genug, also gingen wir los und redeten – er überwiegend über seine musikalischen Ziele, und ich fragte ihn vor allem über das Leben in Boston aus.
Als wir wieder in der Nähe des Lagerfeuers waren, stellten wir uns unten ans Wasser, ein bisschen weg von den anderen Leuten am Strand. Xavier streckte die Hand aus und streichelte mein Haar.
»Deine Augen sind so faszinierend, Noelle.«
Ich versteifte mich. »Danke.«
»Ernsthaft, sie sind fast durchsichtig. Deine Grübchen mag ich auch sehr.«
Ich schaute auf meine Flipflops hinunter und sagte noch einmal »Danke«.
Als ich wieder hochsah, starrte er mich noch immer durchdringend an. Dann, plötzlich, wagte er den nächsten Schritt. Alles in mir verspannte sich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich küssen würde, und schon gar nicht damit, dass er mir derart brutal die Zunge in die Kehle schieben würde. Ich ruderte mit den Armen und lehnte mich zurück, damit er aufhörte, aber das führte nur dazu, dass er mich noch heftiger küsste. Dass er leicht angetrunken war, machte die Sache nicht einfacher.
Es war zu viel für mich, das alles – der Kuss, sein Gewicht. Nicht weit von uns entfernt waren Leute, aber ich fühlte mich trotzdem total allein.
Dann jedoch war das Gewicht auf einmal weg. Als ich hochsah, lag Archies Hand um Xaviers Hals.
»Was zum Teufel treibst du da?«, rief er. »Hast du nicht gemerkt, dass sie versucht hat, dich wegzuschieben?«
»Hey, Mann, beruhige dich.«
Archie schubste Xavier über den Strand, was dazu führte, dass er auf dem Hintern landete. »Sie wollte es eindeutig nicht, und du hast einfach weitergemacht«, schnauzte er ihn an.
Xavier sah mich an, sein Blick war unstet. »Das habe ich nicht gemacht, oder? Sag es ihm.«
Völlig unter Schock schüttelte ich den Kopf und stammelte: »Äh, ich glaube, du solltest jetzt gehen, Xavier.«
Xavier stand auf und stolperte davon.
Archie war außer Atem. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, erwiderte ich seufzend. »Er war betrunken. Ich glaube nicht, dass er irgendwas damit bezwecken wollte.«
»Hör auf, Entschuldigungen für ihn zu finden. Ich habe es gesehen. Du hast versucht, ihn zum Aufhören zu bringen. Er hat weitergemacht. Punkt.«
Ich holte tief Luft. »Du hast recht. Ich bin einfach ein bisschen aufgewühlt. So etwas ist mir noch nie passiert.« Ich strich mein T-Shirt glatt. »Du hattest vermutlich recht mit ihm, wie?«
Archie sah mich aus den Augenwinkeln an. »Deswegen fühle ich mich jetzt übrigens nicht gut.«
»Wie konntest du uns hier unten sehen?«
»Ich habe vorhin mitbekommen, wie ihr weggegangen seid, deshalb habe ich die Augen offen gehalten. Als ich euch unten am Strand entdeckt habe, wollte ich mich vergewissern, dass mit dir alles in Ordnung ist.«
»Tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe.«
»Nun, vermutlich habe ich dir noch keinen Grund geliefert, mir zu vertrauen.« Er deutete mit dem Kopf auf seine Freunde, die ein Stück entfernt zusammensaßen. »Komm. Gehen wir da rüber.«
Hinter mir brachen sich die Wellen, und ich schaute ihn an, während wir gingen. »Mit Cici dürftest du dann wohl auch recht haben. Was ist mit ihr? Du hast nichts Genaueres geäußert.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Wie du bereits herausgefunden hast, war ich mit ihrer Schwester zusammen. Und wie ich dir schon gesagt habe, war es nur eine Sommeraffäre mit Amanda und sonst nichts, egal, was Cici dir vielleicht erzählt hat. Dass ich ihr das Herz gebrochen haben soll, ist echt ein Witz.« Er seufzte. »Wie auch immer, eines Abends waren wir alle im Keller ihrer Eltern. Amanda war betrunken. Als sie nach oben gegangen ist, um sich zu übergeben, hat Cici angeboten, mir einen zu blasen.«
Mir fiel die Kinnlade hinunter.
»Das würde sie garantiert abstreiten, wenn du sie fragen würdest«, fügte er hinzu. »Aber sie hat es gemacht. Du kannst niemandem vertrauen, der seine eigene Schwester derart hintergeht.«
Diese Neuigkeiten gingen mir wirklich gegen den Strich. »Ja. Da hast du recht.« Ich hatte erst zweimal mit Cici etwas unternommen, aber dies roch tatsächlich nach Verrat.
»Wie auch immer«, sagte er. »Die Leute, mit denen du mich immer siehst, die sind alle cool. Gute Leute, die ich schon seit Jahren kenne. Du solltest lieber mit uns abhängen.«
Na gut. »Du meinst, mit dem Mädchen, mit dem du diesen Sommer rumknutschst? Sie ist die Einzige, mit der ich dich gesehen habe.«
»Bree habe ich eigentlich nicht gemeint. Allerdings gehört sie zu der Gruppe dazu.«
»Ist sie deine Freundin?«
»Nein. Ich habe keine Freundin. Sie ist einfach eine, mit der ich …« Er zögerte.
»Eine, mit der du vögelst?«
Archie zwinkerte mir zu. »Wieso klingt das so falsch, wenn es von Fräulein Immer-Brav kommt?« Er lachte. »Ich kenne sie seit Jahren. Sie ist einfach eine Freundin.«
»Eine Freundin mit gewissen Vorzügen«, fügte ich hinzu, während meine Wangen vor Eifersucht brannten.
»Könnte man so sagen. Aber wir sind uns da einig. Es ist also alles in Ordnung.«
Wir kamen an die Stelle, wo seine Freunde immer zusammensaßen, und er winkte mich näher. Bisher hatte ich die Gruppe immer nur aus der Ferne betrachtet.
»Komm«, sagte er. »Ich stelle dich vor.«
Drei Jungs, Bree und noch ein Mädchen redeten miteinander und lachten.
»Leute, das ist Noelle. Sie ist die Tochter der Freunde meiner Eltern – die, mit denen wir jetzt gemeinsam das Haus haben.«
Archies Freundin oder Nichtfreundin hielt mir die Hand hin. Ihr langes Haar bewegte sich in der Brise. »Hallo, ich bin Bree. Nett, dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls.«
Bree war äußerlich das genaue Gegenteil von mir: groß, mager und blond, während ich klein, brünett und kurvig war.
Einer der Jungs lächelte und winkte. »Ich bin James.«
Ich nickte. »Hallo.« James war dunkelhaarig und irgendwie süß, auch wenn er nur wenig größer war als ich.
Dann stellte Archie mir Linus und Sean vor sowie Seans Freundin Sarina.
Wie sich herausstellte, waren Archies Freunde ziemlich cool. Sie waren etwa in seinem Alter – ein bisschen älter als ich also –, und alle waren sie vom College nach Hause gekommen. Ich blieb still und hörte die meiste Zeit nur zu, wie sie Geschichten von vergangenen Sommern auf der Insel erzählten.
Bree konnte nicht die Finger von Archie lassen, aber er redete scheinbar unbeeindruckt mit den anderen weiter. Von ihnen allen schien James am ehesten Interesse zu haben, mich kennenzulernen. Er stand neben mir und stellte mir immer wieder Fragen über mich.
»Wie haben sich Archies und deine Familie eigentlich angefreundet?«
»Unsere Väter arbeiten für dieselbe Rechtsanwaltskanzlei. Mr Remington war viele Jahre lang der Vorgesetzte meines Vaters, und dann haben sie beschlossen, gemeinsam in ein Haus zu investieren. Und daher sind wir jetzt alle den Sommer über hier.«
»Verstehe.« Er vergrub die Zehen im Sand. »Archie ist ein anständiger Kerl. Ich kenne ihn schon seit Jahren.«
»Bist du von hier?«
»Ja. Geboren und aufgewachsen. Es war ein großartiger Ort zum Aufwachsen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Es ist so idyllisch. Aber es ist vermutlich ein bisschen seltsam, wenn im Sommer alle über euch hereinbrechen, oder? Wenn ihr die Idylle mit uns Stadtbewohnern teilen müsst?«
Er richtete einen Moment lang den Blick aufs Wasser. »Seltsam, aber großartig. Es ist immer die beste Zeit des Jahres, wenn du mich fragst.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt, wo ich an der Uni bin, weiß ich es umso mehr zu schätzen, zu Hause zu sein. Nichts kann damit konkurrieren, hierher zurückzukommen.«
Während der nächsten halben Stunde erfuhr ich eine Menge über James. Er war im Vorstudium Medizin, liebte 90er-Jahre-Alternativrock und hatte eine ältere Schwester, die bereits Medizin studierte. Und anders als Archies Dad schien James beeindruckt von meinen Journalismusplänen und den Möglichkeiten, die sich aus diesem Abschluss ergeben konnten.
Unser Gespräch plätscherte angenehm dahin, aber es wurde allmählich spät. Ich hatte das Gefühl, eine Verschnaufpause zu brauchen. Heute Abend war eine Menge passiert, vor allem die Sache mit Xavier. Deshalb verabschiedete ich mich aus dem Gespräch mit James und ging zu Archie.
»Hey, ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause«, sagte ich.
Er ließ Bree los und stellte den Becher, den er in der Hand hielt, in den Sand. »Ich begleite dich.« Sein Atem roch nach Bier.
»Das brauchst du nicht.«
»Du solltest so spät nicht allein rumlaufen.«
Archie hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, deshalb widersprach ich lieber nicht.
Nachdem ich mich von allen verabschiedet hatte, machten wir uns schweigend auf den kurzen Weg vom Strand zu unserem Haus. Dann beschloss ich, ihn etwas zu fragen.
»Woher kanntest du meinen zweiten Vornamen?«
Er sah mich amüsiert an.
»Was ist?«, fragte ich.