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Er ist der beste Freund ihres Bruders, er ist verboten, er ist ihre große Liebe.
Farrah ist seit Kindheitstagen in Jace verliebt, doch es gibt ein Problem: Er ist der beste Freund ihres älteren Bruders und sie somit als behütete kleine Schwester für ihn tabu. Als dieser jedoch Jahre später nach dem College zurück nach Florida zieht, ist Farrah kein kleines Mädchen mehr, sondern eine attraktive junge Frau. Sofort ist das Knistern zwischen ihnen wieder da, und diesmal gibt auch Jace der Anziehungskraft nach. Doch es wird schnell klar, dass ihre Liebe eine einzige Achterbahnfahrt ist ...
"The Crush ist eine Fordbidden/Second-Chance Romance, aber auch eine Geschichte über Freundschaft, Familie, Geheimnisse und Vergebung. Was für ein wunderschönes Buch!" ACBOOKBLOG
Der neue Roman von Bestseller-Autorin Penelope Ward
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Seitenzahl: 452
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Penelope Ward bei LYX
Leseprobe
Impressum
PENELOPE WARD
Hot Crush
MIT DIR GIBT ES KEINE REGELN
Roman
Ins Deutsche übertragen von Richard Betzenbichler
Farrah ist seit Kindheitstagen in Jace verliebt, doch es gibt ein Problem: Er ist der beste Freund ihres älteren Bruders und sie somit als behütete kleine Schwester für ihn tabu. Als dieser jedoch Jahre später nach dem College zurück nach Florida zieht, ist Farrah kein kleines Mädchen mehr, sondern eine attraktive junge Frau. Sofort ist das Knistern zwischen ihnen wieder da, und diesmal gibt auch Jace der Anziehungskraft nach. Doch es wird schnell klar, dass ihre Liebe eine einzige Achterbahnfahrt ist …
Für Brandon
Danke für das gemeinsame Brainstorming zu diesem Buch, mein Sohn.
(PS: Du musst dringend zum Friseur!)
Ein Augenblick kann ein ganzes Leben verändern – selbst wenn die Umstände zunächst ganz banal erscheinen.
Es war einer dieser trubeligen Arbeitstage, an denen die Zeit schneller verging als sonst. Das japanische Restaurant, in dem ich arbeitete, war gerammelt voll – ich rannte zwischen dem Teil mit den Hibachi-Tischen und dem Rest hin und her.
»Du musst auch Tisch sechs übernehmen«, teilte mir der Geschäftsführer mit.
»Klar, kein Problem«, antwortete ich und nahm eine Sukiyaki-Bestellung vom Tresen.
Ich arbeitete im Makaya, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Nach ein paar wilden Jahren startete ich mit vierundzwanzig meine College-Ausbildung etwas verspätet, aber jetzt war ich endlich auf dem richtigen Weg.
Heute hatte ich eine frühe Schicht übernommen, was sich als ausgesprochen schlechte Idee entpuppte. In dem Moment, in dem ich Tisch sechs übernahm, veränderte sich für mich alles – vielleicht mein ganzes Leben.
»Hallo, darf ich Ihnen …?« Ich verstummte. Mir blieb fast das Herz stehen beim Anblick des mir nur allzu bekannten Gesichts, das ich lange nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte nicht gedacht, dass ich dieses Gesicht jemals wiedersehen würde.
Er riss die Augen auf.
Mein Kellnerblock fiel zu Boden.
Jace.
Oh mein Gott!
Ihm gegenüber saß eine Frau.
Wer ist das?
Meine Kehle schnürte sich zusammen.
In dem Moment verspürte ich den unbändigen Drang davonzulaufen – und das tat ich auch.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte ich, schüttelte den Kopf und eilte in den anderen Teil des Restaurants hinüber, vorbei an den lodernden Flammen auf den Hibachi-Tischen.
Ich stieß die Schwingtüren zur Küche auf. »Ein Notfall, Mae. Ich muss sofort nach Hause. Tut mir leid, dass ich weg muss, wenn so viel los ist, aber es geht nicht anders.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Hoffentlich. Ich kann’s jetzt nicht näher erklären.« Meine Stimme überschlug sich. »Ich muss hier raus. Tut mir wirklich leid.«
Ich rannte aus der Küche. Die Sonne blendete mich, als ich durch die Eingangstür des Restaurants ins Freie lief und den Parkplatz überquerte, um zur Hauptstraße zu gelangen.
War es feige, von der Arbeit zu verschwinden? Selbstverständlich. Riskierte ich damit, den Job zu verlieren? Vermutlich. Aber ich war um nichts in der Welt in der Lage, ihm gegenüberzutreten. Es war drei Jahre her, seit ich Jace das letzte Mal gesehen hatte, und damals hatte er mir das Herz in tausend Stücke zerbrochen. Bis dahin hatte mein Herz ausschließlich ihm gehört – schon seit meiner Kindheit.
Was machte er überhaupt wieder in Florida? Ich hatte gedacht, er wäre für immer fortgegangen. Seinem Blick nach zu urteilen hatte er nicht damit gerechnet, mich als Bedienung im Makaya anzutreffen. Wer war die Frau in seiner Begleitung? Warum musste er sogar noch besser aussehen, als ich ihn in Erinnerung hatte?
Mir wurde schwer ums Herz, während ich davonmarschierte. Natürlich hatte ich ausgerechnet an diesem Tag beschlossen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen, quasi als Training. Ein Auto wäre praktischer gewesen, um vor meiner Vergangenheit zu fliehen.
Ich wollte gerade die viel befahrene Hauptstraße überqueren, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
»Herrgott, Farrah, jetzt renn doch nicht so.«
Ich zuckte zusammen. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Als ich mich umdrehte, durchbohrten mich seine stahlblauen Augen, und ich fragte mich, wie ich je hatte glauben können, eine Konfrontation mit ihm vermeiden zu können.
Jace rang sich ein trauriges Lächeln ab. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, du läufst vor mir davon.«
Wir atmeten beide schneller. Ich grinste nervös, unsicher, ob ich lachen oder weinen sollte.
Welche Ironie! Jace war drei Jahre lang verschwunden gewesen, und da hatte er den Nerv zu behaupten, ich würde vor ihm weglaufen? Er war derjenige, der weggelaufen war.
Dreieinhalb Jahre zuvor
»Wow! Wofür hast du dich denn so schick gemacht?«
Als ich Jace’ Stimme hörte, blieb ich schlagartig stehen.
Bingo!
Es ist ihm aufgefallen.
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Für das Iguana.«
»Eine Bar. Interessant. Ich dachte immer, die Leute da tragen Kleidung.« Jace schmunzelte und brach eine Pistazie auf. Er steckte sich die Nuss in den Mund, die Schale warf er weg.
Ich schaute auf mein bauchfreies Top hinab. Ich hatte es absichtlich angezogen, damit mein neues Nabel-Piercing zu sehen war. Meine kurze Jeans bedeckte kaum meinen Hintern.
Ich gab mich verärgert. »Meines Wissens geht dich das, was ich anziehe, gar nichts an, Jace.«
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn ich einen Typen verprügeln muss, der zu viel getrunken hat und seine Hände nicht bei sich behalten kann.«
Jace hatte sich mir gegenüber einen Beschützerinstinkt angewöhnt, den ich sowohl mochte als auch hasste. Mir wäre es lieber, er würde mich nicht als seine kleine Schwester betrachten. Sein Verhalten war völlig harmlos – das Gegenteil von dem, was ich mir wünschte. Meine Gefühle ihm gegenüber waren alles andere als geschwisterlich, aber das war wohl mein kleines Geheimnis.
»Ich komme schon klar.« Ich zuckte mit den Schultern, öffnete den Kühlschrank, holte den Krug heraus und goss mir ein Glas Wasser ein. Ich war kribbelig, weil ich noch immer seinen Blick auf mir spürte, auch wenn er sich nur Sorgen um mich machte.
»Ich kann dir ja nicht vorschreiben, was du tun und lassen sollst … aber von einem männlichen Standpunkt aus betrachtet: Wenn eine Frau so angezogen ist wie du, dann sagt sie mir damit etwas über sich selbst. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Jace hatte ja keine Ahnung – nicht die geringste Ahnung. Er wusste nicht, dass er der einzige Mann war, den ich in letzter Zeit beeindrucken wollte. Jedes Mal, wenn ich mich provozierend kleidete, war das ein Versuch, ihn aus der Reserve zu locken.
Seit er vor zwei Monaten hier eingezogen war, verbrachte ich viel Zeit damit, mir zu überlegen, wie ich seine Aufmerksamkeit erregen konnte. Aber im Gegensatz zu den Pistazien, die er andauernd aß, war er eine harte Nuss, die schwer zu knacken war. Ich ertappte ihn zwar von Zeit zu Zeit dabei, wie er mich betrachtete, das schon, aber seine Gedanken konnte ich nie erraten. Und ehrlich gesagt, wusste ich nicht einmal, was ich mir dabei dachte, seine Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Jace würde mich niemals auch nur mit der Kneifzange anfassen – nicht nur, weil er bei uns wohnte, sondern vor allem, weil ich die Schwester seines besten Freunds war. Deshalb war ich für ihn auch quasi eine Schwester – und ich hasste es. Selbst wenn er nach all den Jahren praktisch zur Familie gehörte, hatte ich ihn nie als Bruder gesehen. Ich hatte mich in dem Moment, als ich ihn das erste Mal sah, in ihn verknallt. Damals war ich etwa sechs.
»Die Mädchen, mit denen du rumhängst«, entgegnete ich, »ziehen sich kein bisschen konservativer an als ich. Oder hat sich das geändert?«
Er leckte sich Salz von den Lippen. »Das ist was anderes.«
Ich runzelte die Stirn. »Inwiefern?«
Jace’ Miene versteinerte. Darauf wusste er keine Antwort.
Eben!
Ich nahm mir die Freiheit, für ihn zu antworten. »Ich weiß, warum du glaubst, das wäre was anderes. Du hast offenbar vergessen, dass ich jetzt einundzwanzig bin. Einige der Mädchen, mit denen du ausgehst, sind in meinem Alter. Mich aber siehst du nicht als Erwachsene, weil ich erst zwölf war, als du aufs College gegangen bist – und so erinnerst du dich an mich.« Ich seufzte. »Aber ich bin keine zwölf mehr. Dreh die Ziffern um.«
In dem Moment kam mein Bruder Nathan herein. »Es ist mir egal, wie alt du bist. Du siehst aus wie eine Nutte.«
Ich verdrehte die Augen.
Jace schaute ihn an. »Red nicht so über sie.«
»Es ist meine Pflicht, ihr die Wahrheit zu sagen.«
»Aber nicht mit solchen Ausdrücken, du Idiot.«
Ich kicherte. »Genau. Jace hat mir praktisch das Gleiche vorgeworfen, aber sehr viel netter.« Ich trank das Wasser aus und stellte das Glas auf die Arbeitsplatte. »Also, im Iguana ist es heiß wie in der Hölle. Die Klimaanlage ist der letzte Dreck. Alle ziehen sich so an«, log ich.
Beide blickten mich gleichermaßen skeptisch an.
Jace und Nathan waren seit ihrer Kindheit beste Freunde. Die beiden waren sechs Jahre älter als ich. Den Großteil meiner Kindheit hatte ich damit verbracht, Jace heimlich anzuhimmeln. Damals kam er, verschwitzt vom Football-Training, zu uns nach Hause, und meine Hormone drehten durch wie mexikanische Springbohnen. Wann immer er sich herabließ, mit mir zu sprechen, bekam ich weiche Knie. In meinen alten Tagebüchern stand auf jeder Seite etwas über Jace. Ihn zu begehren und gleichzeitig zu wissen, dass ich ihn nicht haben konnte, war die reinste Folter. Besonders die beiden letzten Jahre, bevor Jace aufs College ging, hatte ich heillosen Liebeskummer.
Und dann? War er fort. Mein zwölf Jahre altes Herz war am Boden zerstört, als er zum Studium nach North Carolina zog. Und nur in den ersten paar Jahren kam er wenigstens in den Sommerferien zurück.
Insgesamt war er neun Jahre fortgeblieben und erst kürzlich wieder nach Florida zurückgezogen. Ich hatte niemals damit gerechnet, dass er bei uns wohnen würde. Mit siebenundzwanzig war Jace noch immer der Junge, auf den ich scharf war, nur größer und besser. Jetzt war er ein ausgewachsener Mann, und ich war kein Kind mehr. Ihr könnt euch also ausmalen, wo ich mit meinen Gedanken in letzter Zeit war.
Nathan riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn du Sturkopf nichts Anständiges anziehen willst, dann nimm lieber dein Pfefferspray mit.«
»Das habe ich immer dabei, das weißt du doch.«
Manchmal übertrieb es mein Bruder, aber seinen Beschützerinstinkt konnte ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Ich war jetzt erwachsen, aber alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen. Nathan war mein Vormund geworden, nachdem unsere Eltern vor sieben Jahren bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen waren. Als sie starben, war ich vierzehn und Nathan zwanzig. In dem Sommer verbrachte Jace die Semesterferien bei uns und arbeitete in der Landschaftsgärtnerei meines Vaters mit. Traurigerweise war er dabei, als meine Eltern getötet wurden. Es war noch immer schwer zu begreifen. Bis heute konnte Jace nicht darüber reden. Ich wusste, dass er unter dem Schuldsyndrom der Überlebenden litt. Auch er war angeschossen worden, hatte jedoch Glück gehabt. Dennoch hatte das Trauma, Zeuge des Mords an meinen Eltern geworden zu sein, eine andere Art von Schaden angerichtet – keinen körperlichen, aber die Narben auf seiner Seele würden niemals vollständig heilen. Keiner von uns sprach über das, was passiert war. Unsere schmerzhafte Vergangenheit verfolgte uns wie ein Geist, den wir zu ignorieren versuchten.
Ich wusste aus dem Polizeibericht, dass mein Vater und Jace auf dem Heimweg von der Arbeit waren und meine Mutter an dem Lebensmittelladen abgeholt hatten, wo sie damals arbeitete. Seit sie die Baustelle verlassen hatten, war mein Vater das Gefühl nicht losgeworden, dass ihnen jemand folgte. Der Mann hatte sie dann irgendwann von der Straße abgedrängt und seine Waffe gezogen. Mein Vater hatte eine Menge Geld dabeigehabt, da ihn seine Auftraggeber üblicherweise bar bezahlten. Die Polizei glaubte, der Mann habe von dem Geld gewusst und sei deshalb dem Pick-up gefolgt. Vielleicht hatte jemand, der für meinen Vater arbeitete, ihm den Tipp gegeben.
Dem Bericht zufolge hatten Ronald und Elizabeth Spade keinen Widerstand geleistet und dem Mann das Geld sofort ausgehändigt. Der allerdings stand unter Drogen und erschoss meine Eltern trotzdem. Eine Kugel streifte Jace, der ansonsten unverletzt blieb. Aufgrund der Beschreibung des Fahrzeugs fand die Polizei die Wohnung des Täters. Der Mann hatte sich darin verkrochen und wollte sich nicht ergeben. Bei der folgenden Konfrontation kam er während des Schusswechsels ums Leben.
Das war dann auch das Ende der Geschichte. Unser Leben veränderte sich ab diesem Moment für immer, und unsere unschuldige, idyllische Kindheit wurde zu einer Erinnerung.
Nach diesem Sommer kam Jace nie wieder zu uns nach Hause, was nur zu verständlich war.
Obwohl mittlerweile sieben Jahre seit dem Tod meiner Eltern vergangen waren, hatte ich den Verlust bis heute nicht richtig verarbeitet. An manchen Tagen wachte ich morgens auf in der Erwartung, meinen Vater und meine Mutter gleich in der Küche zu sehen. Ohne Nathan hätte ich das alles nicht überstanden. Er tat sein Bestes, die Leere zu füllen, die ihr Tod hinterlassen hatte. Obwohl wir beide anfangs am Boden zerstört waren, versuchte er, unser Leben so normal wie möglich zu gestalten – etwa indem wir unsere Familientradition der gemeinsamen Filmabende fortsetzten, auch wenn nur noch wir beide übrig waren. Bis zum heutigen Tag schauten wir uns einmal im Monat zusammen einen Film an.
Nathan und ich wohnten immer noch in der Gegend, in der wir aufgewachsen waren, in Palm Creek, Florida. Es war zu schmerzhaft gewesen, nach dem Tod von Mom und Dad in unserem Elternhaus zu bleiben, deshalb hatte Nathan mit dem geerbten Geld ein Haus ein paar Straßen weiter angezahlt. Leider war Nathan kürzlich seinen Job als Autoverkäufer losgeworden und brauchte Unterstützung, um die Rechnungen zahlen zu können. Etwa zur selben Zeit kehrte Jace nach Palm Creek zurück, um vorübergehend das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Nathan hatte Jace gefragt, ob er nicht in das Schlafzimmer ziehen wolle, das bei uns frei stand, da uns das bei unseren Hypothekenzahlungen helfen würde. Da Jace noch unentschlossen war, ob er in Florida bleiben wollte, und sich deshalb mit dem Kauf einer eigenen Immobilie noch Zeit ließ, war es eine gute Zwischenlösung, bei uns zu wohnen. Jeder profitierte davon. Und so wurden wir zu einer Dreier-WG.
Ich wandte mich an meinen Bruder. »Könntest du mich zur Bar fahren?«
»Was ist denn schon wieder mit deinem Wagen?«
»Könnte diesmal die Lichtmaschine sein. Er ist jedenfalls in der Werkstatt.«
»Diese Schrottkarre.«
Mein alter rostfarbener Toyota Corolla ärgerte mich ständig. Gott sei Dank machte mir der hiesige Automechaniker – der ironischerweise Rusty hieß – immer einen günstigen Preis. Nathan war überzeugt, Rusty hätte Hintergedanken dabei, ich aber akzeptierte den Mengenrabatt dankbar, ohne das Ganze zu hinterfragen.
»Ich spare ja schon für ein anderes Auto«, sagte ich. »Bis dahin muss ich mit diesem zurechtkommen. Ich würde ohnehin keinen Cent mehr für die Klapperkiste bekommen, wenn ich ihn verkaufen wollte.«
»Bring ihn das nächste Mal nicht zu Rusty«, meinte Jace. »Dann versuche ich, ihn wieder zum Laufen zu kriegen.«
Die Vorstellung, Jace ohne Hemd und verschwitzt unter meinem Wagen zu sehen, war verführerisch.
»Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dich zu fragen. Danke für das Angebot.«
»Wann musst du denn im Iguana sein?«, fragte Nathan.
»Ich muss jetzt los. Ich brauche nur jemanden, der mich hinbringt. Zurück kann ich mit Kellianne mitfahren.«
Er schaute zur Uhr. »Ich kann jetzt nicht. In zehn Minuten kommt jemand, um sich den Rasenmäher anzuschauen, den ich verkaufen will. Danach könnte ich dich hinfahren.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber dann verpasse ich den Anfang.«
»Was ist daran so schlimm?«, fragte Nathan. »Das ist doch nur ein Haufen Besoffener, die Schwachsinn verzapfen.«
»Das ist nicht blöd. Es ist faszinierend.«
Einmal pro Woche stieg im Iguana die Open-Mic-Nacht unter dem Motto »Schütte dein Herz aus«, und davon war ich in letzter Zeit wie besessen. Gäste – hauptsächlich waren es Betrunkene – wurden ermutigt, auf die Bühne zu gehen und in einem Raum voller Fremder über irgendetwas zu sprechen, wonach ihnen der Sinn stand. Das konnte etwas sein, das ihnen auf der Seele lastete, oder ihre dunkelsten Geheimnisse. Man wusste nie, was einen erwartete. Manche Bekenntnisse waren traurig, was ich gut nachvollziehen konnte nach all den Jahren, in denen ich den Schmerz über den Tod meiner Eltern mit mir herumschleppte. Manchmal verriet jemand ein erotisches Geheimnis. Manche Leute hielten wirklich gar nichts zurück. Die Veranstaltung war definitiv nicht jugendfrei. Aber obwohl ich gern allen zuhörte, hatte ich mich noch nicht getraut, selbst auf die Bühne zu gehen. Irgendwann vielleicht.
»Ich kann sie hinbringen«, unterbrach uns Jace.
Ich jubilierte innerlich.
»Oh, Mann«, sagte Nathan, »das ist echt nett von dir.«
Jace stand auf und warf die Pistazienschalen, die er auf einer Papierserviette gesammelt hatte, in den Abfall.
Dann schnappte er sich den Autoschlüssel, warf ihn in die Luft und sagte: »Na dann los.«
Ein Schwall Adrenalin jagte durch meine Adern, als ich Jace zu seinem glänzend schwarzen Pick-up folgte, der in unserer Auffahrt stand. Es war fast acht Uhr abends, und die heiße Luft Floridas kühlte sich allmählich ab. Durch die Palmen vor unserem Haus wehte eine warme Brise. Wir wohnten in einer ruhigen Straße mit ähnlich aussehenden stuckverzierten Häusern. Unser Haus hatte nur eine Etage, war aber im Vergleich zu den anderen Gebäuden sehr groß. Wir hatten drei Schlafzimmer und nach hinten raus einen riesigen überdachten Swimmingpool. Weil die Eigentümergemeinschaft ein strenges Regiment führte, befanden sich alle Gebäude in einem guten Zustand. Ansonsten wurden Bußgelder fällig. Die Mitglieder der Gemeinschaft kontrollierten die Gegend in regelmäßigen Abständen und verschickten gepfefferte Mitteilungen auch dann schon, wenn nur die Fassadenfarbe ein wenig abblätterte. Zum Glück konnte Nathan praktisch alle Reparaturen selbst ausführen.
Ich spürte das schwarze Leder des Sitzes heiß auf meiner Haut. Der Pick-up war für unsere kleine Garage, in der Nathan seinen Hyundai abstellte, viel zu riesig. Jace musste immer draußen in der Hitze parken.
Er ließ den Motor an, fuhr aber nicht los, sondern schaute auf meinen Nabel. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich, er würde mich abchecken. »Leg den Gurt an.«
Ups, jetzt kam ich mir blöd vor. »Oh!« Ich packte den Gurt und ließ ihn einrasten. »Entschuldige.«
Als er die Hand hinten auf meinen Sitz legte und rückwärts auf die Straße fuhr, zuckte ich kurz zusammen.
Hast du etwa gedacht, er würde dich berühren wollen, Farrah?
Ich musste kichern.
»Worüber lachst du?«, fragte er.
Ich ließ mir rasch eine Ausrede einfallen. »Du weißt ja, was man so über Männer mit großen Pick-ups sagt, oder?«
Er verdrehte die Augen. »Dass die Größe des Fahrzeugs auf die Größe ihrer Männlichkeit schließen lässt? Ja. Das höre ich jeden Tag.«
»Das ist zwar nicht ganz das, was ich gehört habe, aber wie du meinst …« Ich zwinkerte ihm zu.
»Klugscheißerin.« Er lachte.
Der Duft seines Rasierwassers gemischt mit einem Hauch Zigarrenrauch erfüllte die Luft. In meiner Gegenwart hatte er noch nie geraucht, aber ich wusste, dass er sich beim Fahren hin und wieder eine Zigarre gönnte. Ich liebte den Geruch in diesem Pick-up, denn es war im Grunde genommen sein Geruch kondensiert auf engem Raum. Einfach himmlisch.
Falls ich den Eindruck erwecke, dass ich mich nach diesem Mann verzehrte – tja, der Eindruck wäre nicht ganz falsch. Aber immerhin war er mein erster Schwarm. Der Schwarm. Mein einziger Schwarm. Viele Jahre unerwiderter Sehnsucht hatten mich an diesen Punkt gebracht. Davon einmal abgesehen, war er jetzt, als erwachsener Mann, noch zehnmal attraktiver. Dazu kam, dass ich jetzt alt genug war, um mich meinen Fantasien hinzugeben, was aber wenig hilfreich war. Ich wollte ihn nicht wollen. Er war der Letzte, in den ich mich verlieben sollte, denn das Ganze war hoffnungslos. Aber man kann sich eben nicht aussuchen, zu wem man sich hingezogen fühlt.
Schweigend fuhren wir einige Minuten, bis ich schließlich sagte: »Danke, dass du mich hinbringst.«
Er warf mir kurz einen Blick zu. »Kein Problem.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Was hast du heute Abend vor?«
Er zögerte. »Wahrscheinlich schau ich bei Linnea vorbei.«
Linnea war eine Frau, mit der er sich hin und wieder traf, das wusste ich. Ich hatte einmal gehört, wie er mit Nathan über sie geredet hatte, und einmal hatte ich sie in seinem Pick-up gesehen.
»Wird es langsam ernst mit ihr?«
Er zuckte mit den Schultern. »So richtig ernst wird es bei mir mit niemandem. Ich verbringe lediglich mit manchen Leuten mehr Zeit als mit anderen.«
Ich nickte langsam. »Verstehe.«
Während mich das einerseits ein wenig freute, hieß es andererseits wohl, dass es mehrere Frauen gab, mit denen er »Zeit verbachte«.
»Bedauerst du es, dass du nach Palm Creek zurückgekehrt bist?«, fragte ich.
»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte er nach kurzem Zögern zurück.
»Ist das nicht offensichtlich? In North Carolina hattest du deine eigene Wohnung. Du hattest einen tollen Job, wenn ich das richtig verstanden habe. Und jetzt wohnst du mit Nathan und mir zusammen und arbeitest für deinen Vater. Das ist schon eine große Veränderung.« Ich überlegte kurz. »Außerdem … deine Erinnerungen an diesen Ort sind nicht alle schön. Ich habe nur gedacht …«
Er unterbrach mich. »Das ist schon in Ordnung. Mein Vater hat mich gebraucht, um eine Weile sein Geschäft zu führen. Mir blieb zwar kaum eine Wahl, aber seit ich wieder hier bin, ist mir klar geworden, wie sehr mir das alles gefehlt hat. Es ist gar nicht so übel.«
Jace’ Dad Phil gehörte die Firma Muldoon Construction. Phil Muldoon musste sich einer Behandlung gegen Kehlkopfkrebs unterziehen und benötigte vorübergehend Unterstützung im Unternehmen. Da Jace einen betriebswirtschaftlichen Abschluss hatte, kam er von allen Geschwistern für diese Aufgabe am ehesten infrage. Genau genommen kamen Jace’ ältere Halbbrüder für gar nichts infrage, weil sie beide drogenabhängig und arbeitslos waren. Deshalb hatte Jace seine Stelle als Immobilienverwalter in Charlotte gekündigt und war wieder hergezogen.
»Hast du vor, dauerhaft hierzubleiben?«
»Das hängt von allerhand Dingen ab. Ich lasse alles auf mich zukommen.«
»Nathan freut sich sehr, dass du bei uns eingezogen bist. Er ist meist nicht gut mit Worten und kann seine Dankbarkeit nicht immer so richtig ausdrücken. Sein Stolz steht ihm im Weg. Aber jetzt, wo er weiß, dass wir die Hypothek bezahlen können, schläft er besser. Ich bin froh, dass er dich gefragt hat.«
»Ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, ihm was schuldig zu sein.«
»Warum das denn?«
Er schwieg eine Weile. »Als das damals … passiert ist … bin ich verschwunden. Ich bin einfach zurück aufs College gegangen. Weißt du …«
Dies war das erste Mal, dass Jace anspielte auf das, was »passiert« war. Mir war nie klar gewesen, dass er Gewissensbisse hatte, weil er nach der Ermordung meiner Eltern sofort wieder nach North Carolina gegangen war. Aber es klang nun irgendwie logisch. Ich hatte ihm wegen dieser Entscheidung nie irgendwelche Vorwürfe gemacht. Was hätte er denn tun sollen? Das College schmeißen? In Palm Creek bleiben und mit uns leiden? Damals hatte ich ihn sogar beneidet, weil er einen Ort gehabt hatte, wo er hingehen konnte. Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich ihn sofort begleitet.
»Du musstest aufs College zurückgehen und dein Leben weiterleben. Dir blieb gar keine andere Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl. Und ich bedauere es, dass ich nicht hier war für ihn … und für dich. Dies ist jetzt die Gelegenheit, das wiedergutzumachen.« Er sah mich an. »Für mich seid ihr beiden wie meine Familie.«
Während ein Teil von mir das gern hörte, gefiel einem anderen Teil der inzestuöse Unterton seiner Feststellung nicht.
Er räusperte sich. »Was hat es mit diesem Seelenstriptease in der Bar auf sich? Was reizt dich daran so sehr?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wenn man selbst seine Gefühle in sich hineinfrisst, beneidet man diejenigen, die den Mut haben, sie rauszulassen.«
»Dann bist du wohl nie selbst auf die Bühne raufgegangen, oder?«
»Nein, jedenfalls noch nicht. Irgendwann vielleicht.«
»Worauf wartest du?«
Ich kicherte. »Mut.«
»Wovor fürchtest du dich denn?«
»Hauptsächlich, dass ich meine Fähigkeit zu sprechen verliere, oder schlimmer noch, dass ich nur unverständliches Zeug brabbele, sollten tatsächlich Worte aus meinem Mund kommen … Dass ich ohnmächtig werde oder zusammenbreche, dass ich in die Psychiatrie verfrachtet werde in ein Zimmer mit gepolsterten Wänden. So was in der Richtung.«
»Katastrophenszenarien?« Er lachte. »Aber ich verstehe dich. Es ist nicht leicht, vor ein Publikum zu treten. Da kann ich dir keinen Vorwurf machen.«
»Genau. Vorläufig höre ich lieber zu. Ich finde es sehr inspirierend, auch wenn ich wünschte, ich hätte selbst den Mut dazu.«
»Dich drängt ja nichts. Wenn du dazu bereit bist, schaffst du es auch. Öffentlich zu sprechen erfordert Mut, noch dazu, wenn es um persönliche Dinge geht.«
Ich nickte. »Ganz genau. Außerdem bräuchte ich etwas Interessantes. Manchmal reden die Leute über schmerzhafte Dinge, die ihnen zugestoßen sind, aber das möchte ich nicht machen. Ich würde lieber etwas Schlüpfriges oder Lustiges erzählen, statt vor Fremden rumzuheulen.«
»Mach bloß keinen Unfug, nur damit du was zu erzählen hast. Deinen Bruder würde der Schlag treffen.«
»Um Nathan aus der Fassung zu bringen, braucht es nicht viel.«
Er drehte sich zu mir. »Du redest nicht viel mit ihm, oder? Er hat mir gesagt, er hätte keine Ahnung, was in deinem Kopf so vorgeht.«
Mein Bruder hat mit Jace über mich geredet? »Wirklich?«
»Ja. Ich glaube, er wünscht sich, du würdest dich ihm gegenüber etwas mehr öffnen.«
»Ich bin nicht sehr gut darin, mit anderen über bestimmte Themen zu reden. Ich schreibe meine Gedanken lieber auf. Manchmal schreibe ich auch fiktive Geschichten, in denen die Figuren durchmachen, was mir passiert ist. Aber das behalte ich alles für mich. Sogar wenn ich Songs höre, die mich berühren, hilft mir das. Hin und wieder meditiere ich auch oder mache Yoga. Reden war nie so mein Ding.«
»Hauptsache, du hast ein Ventil.«
»Und was ist dein Ventil?«
»Nichts so Ehrbares wie Schreiben oder Yoga.«
»Sex und Zigarren?«, fragte ich.
»Ich habe schon seit einer Woche keine Zigarre mehr geraucht.« Er zwinkerte mir zu.
Herr im Himmel. Dann muss es wohl Sex sein.
»Vielleicht sollte ich meditieren lernen«, fügte er hinzu. »Wann machst du es denn?«
»Wann immer ich Zeit dazu habe. Ich benutze eine App auf meinem Handy als Anleitung. Meditieren hilft mir, mich bei Stress zu entspannen. Und ich habe das Gefühl, es hilft mir auch, in Kontakt mit meinem Unterbewusstsein zu treten.«
Er lächelte mich an. »Du bist viel tiefgründiger als das kleine Mädchen, das auf seinen Haaren herumkaute.«
Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen anfingen. »Ich kann gar nicht glauben, dass du dich daran noch erinnerst.«
»Manche Dinge kann man nicht so leicht vergessen.«
Ich seufzte. »Damals war das Leben definitiv leichter. Ich bin trotzdem froh, dass ich mir das abgewöhnt habe. Wenn ich bei Stress immer noch auf meinen Haaren herumkauen würde, hätte ich schon längst keine mehr.«
»Jedenfalls kannst du es mittlerweile gut verbergen, wenn du gestresst bist. Hinter deinem Lächeln versteckst du allerhand, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Tu so, als ob, dann wird es auch so.«
Er schaute kurz zu mir her, dann wieder auf die Straße. »Was stresst dich denn so?«
»Das könnte ich gar nicht so genau sagen. Allgemeine Zukunftsängste. Ich möchte etwas aus mir machen, weiß aber nicht, was eigentlich. Ich hänge vollkommen in der Luft. Ich mache diesen stumpfsinnigen Bürojob – tagein, tagaus das Gleiche – und habe dabei das Gefühl, mir läuft die Zeit davon.«
»Du bist noch jung und hast jede Menge Zeit.«
Ich konnte es mir nicht verkneifen zu sagen: »So jung bin ich auch nicht mehr.«
»Ich weiß, du bist kein Kind mehr, aber immer noch jung.«
»In meinem Alter müsste ich bald den College-Abschluss machen, dabei habe ich noch nicht einmal angefangen. Meine Mutter war in meinem Alter schon verheiratet und hatte ein Baby.«
Er verzog das Gesicht. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass du dir auf der Stelle einen Mann und ein Baby wünschst.«
»Nein, aber ich wünsche mir ein Ziel, einen tieferen Sinn für mein Leben. Und dass ich das bis jetzt nicht gefunden habe, frustriert mich.«
»Dafür gibt es keinen Zeitplan, Farrah. Du hast viel durchgemacht, mehr als die meisten Menschen deines Alters. Und ehrlich gesagt, ich bin stolz auf dich und Nathan, wie ihr das alles geschafft habt. Ihr habt ein Dach über dem Kopf und passt aufeinander auf. Ihr macht das super, auch wenn du glaubst, du hättest nicht immer alles im Griff. Letztlich versuchen wir alle nur, irgendwie den nächsten Tag zu überstehen. Sei dir gegenüber nicht so streng.«
Ich bewunderte sein attraktives Gesicht, während sich das Licht der Straßenlampen auf seinem kohlrabenschwarzen Haar spiegelte, und musste lächeln. »Ich werde versuchen, es so zu sehen.«
Schließlich erreichten wir das Viertel, wo sich das Iguana befand.
Jace fuhr langsamer. »Ist es hier?«
»Ja.«
Er hielt direkt davor. Inzwischen war auch das letzte Tageslicht verschwunden, und das blaue Neonschild über der Bar leuchtete in der Dunkelheit.
»Und du hast jemanden, der dich zurückbringt?« Er legte die Hand auf meine Kopfstütze.
Erneut war sich mein Körper seiner Nähe nur allzu bewusst.
»Ja. Ich treffe mich hier mit Kellianne, und sie fährt mich auch nach Hause.«
Jace schaute mich skeptisch an. »Trinkt sie?«
»Keine Bange. Wenn sie fahren muss, trinkt sie höchstens einen Drink.«
»Gut. Falls was dazwischenkommt und du doch einen Chauffeur brauchst, schick mir kurz eine Nachricht.«
Es war verlockend, später dafür zu sorgen, dass dieses Szenario Wirklichkeit wurde.
»Okay.«
»Sei vorsichtig«, mahnte er mich.
Ich hatte es nicht eilig, aus seinem Pick-up auszusteigen, und blieb noch einen Moment sitzen. Ich hätte gern die ganze Nacht mit ihm verbracht und über das Leben geredet, hätte gern mehr darüber erfahren, wie er so tickte, wonach er sich sehnte. Ich wollte alles über ihn wissen.
Stattdessen zwang ich mich, die Tür zu öffnen. Bevor ich ausstieg, beugte ich mich kurz zu ihm und umarmte ihn. »Nochmals danke.«
Er verkrampfte sich schlagartig, legte mir aber dennoch die Hand auf den Rücken. Ich genoss die wenigen Sekunden, bevor ich mich wieder zurückzog. Es war eine harmlose Geste, doch innerlich glühte ich. Ich bekam nur selten die Gelegenheiten, mich auf diese Weise bei ihm zu »bedanken«.
Jace wartete, bis ich im Iguana war, ehe er losfuhr.
Kaum war die Tür hinter mir zugefallen, steuerte ich geradewegs auf die Theke zu. Ich hasste es, die Erste zu sein. Kellianne wollte direkt von der Arbeit hierherkommen.
Nachdem ich an einem Tisch mit Blick auf die Bühne Platz genommen hatte, nippte ich an meinem Mojito.
Etwa zehn Minuten später kam meine Freundin angerauscht.
Ich hatte Kellianne in der Anwaltskanzlei kennengelernt, in der ich als Sekretärin arbeitete. Sie hatte mittlerweile eine andere Stelle angenommen, wir waren aber in Kontakt geblieben. Vom Aussehen her hätten wir unterschiedlicher kaum sein können. Kellianne war klein und hatte blonde Locken. Ich war gut eins siebzig groß und hatte lange glatte braune Haare.
»Entschuldige, dass ich so spät komme, aber der Verkehr war die Hölle«, begrüßte sie mich.
»Kein Problem.« Ich deutete auf mein Glas. »Wie du siehst, habe ich nun einen kleinen Vorsprung.«
»War schon jemand auf der Bühne?«
»Nein, es hat noch nicht angefangen.«
Die Auftritte begannen üblicherweise gegen neun Uhr und dauerten etwa eine Stunde, manchmal auch etwas länger. Das hing davon ab, wie viele Leute ihr Herz ausschütten wollten.
»Hat dich dein Bruder hergefahren?«
»Nein, Jace hat mich mitgenommen.«
»Ah … Jace.« Sie seufzte. »Der Typ ist so verdammt sexy. Ich bin ihm neulich über den Weg gelaufen, als ich getankt habe. Na ja, er hat mich nicht gesehen, und eine Frau saß in seinem Pick-up.«
Ich verdrehte die Augen. »Eine Rothaarige?«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Das war Linnea. Mit der geht er seit ein paar Wochen aus, und heute Abend ist er auch mit ihr unterwegs.«
»Geht dir das gegen den Strich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen. Ja.«
Ich hatte Kellianne nicht von meinen wiedererwachten Gefühlen für Jace erzählt. Sie wusste nur, dass ich als Teenager in ihn verknallt gewesen war. Eine aussichtslose Schwärmerei war entschuldbar, sogar süß, wenn man zwölf war. Aber mit einundzwanzig? Schon weniger.
Meine Antwort schien sie allerdings nicht zu überraschen. »Habe ich mir gedacht …«
»Das Thema lassen wir lieber.«
»Ich möchte aber gern darüber sprechen.«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Du weißt doch, dass ich als kleines Mädchen in ihn verknallt war. Jetzt wohnt er bei uns, und da sind die alten Gefühle wieder hochgekocht.«
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Gleich erzählst du weiter, aber dafür brauche ich was zu trinken.«
Sie ging zur Bar, und als sie mit einer Rum-Cola zurück war, griff sie das Thema sofort wieder auf.
»Gut, also … ein paar alte Gefühle für ihn sind wieder da. Oder waren sie nie wirklich weg?«
Ich trank aus und ließ die Eiswürfel im Glas kreisen. »Als er in North Carolina gelebt hat, war es leichter, nicht an ihn zu denken, aber jetzt ist er zurück, und ich komme gegen meine Gefühle nicht an. Es ist, als würden sie nahtlos an die Vergangenheit anknüpfen. Und seit er nun bei uns wohnt, lerne ich ihn ganz anders kennen. Früher, als ich noch ein Kind war, haben wir nicht viel miteinander geredet. Damals habe ich ihn aus der Ferne angehimmelt. Inzwischen sind wir beide reifer, deshalb ist es jetzt anders.«
Ihre Augen strahlten vor Begeisterung. »Siehst du irgendeine Chance, dass tatsächlich etwas aus euch wird?«
»Nein, kaum. Er behandelt mich wie Nathan – wie eine Schwester. Und das nervt.«
»Na ja, man kann nie wissen. Zieh dich weiterhin so an wie heute Abend, dann könnte sich das ändern.«
»Keine Ahnung. Er mag mich, so viel weiß ich. Und ich glaube, das ist genau der Grund, warum er niemals etwas unternehmen würde.« Ich schob mir einen Eiswürfel in den Mund. »Ich wüsste ehrlich gesagt gar nicht, was ich tun sollte, wenn er meine Zuneigung erwidern würde. Nathan würde uns beide umbringen.«
»Na gut, rein hypothetisch … Wenn sich die Gelegenheit ergeben würde, würdest du sie ergreifen?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte ich. »Das sind alles Hirngespinste, die mit der Realität nichts zu tun haben.«
»Es ist schon merkwürdig zu wissen, dass man dem Menschen, von dem man besessen ist, viel bedeutet, nur eben nicht auf die Weise, wie man es gerne hätte. Das gibt es auch nicht oft.«
Das Wort »besessen« ließ mich aufschrecken. Ich hatte meine Gefühle für Jace ein wenig heruntergespielt, aber sie hatte mich offenbar durchschaut.
Ich spielte mit dem Strohhalm herum und schaute in mein leeres Glas. »Ich bedeute ihm etwas, und er mir. Es ist nicht nur oberflächlich. Er war so viele Jahre lang ein großer Teil meines Lebens, weil er viel Zeit mit unserer Familie verbracht hat. Wenn seine Mannschaft ein Footballspiel verlor, jammerte er deswegen bei uns am Esstisch. Ich habe viele wichtige Momente seines Lebens aus erster Hand mitbekommen, etwa als Nathan und er die Highschool beendeten und zum Abschlussball gingen. Ich habe ihn aufwachsen sehen.« Ich schloss die Augen. »Und ich hab dir ja schon erzählt, dass er dabei war, als meine Eltern starben. Er war bei ihnen, weil er in dem Sommer für meinen Dad arbeitete.«
Kellianne schüttelte den Kopf. »Das ist echt verrückt.«
»Ja. Er will nicht darüber reden, und das verstehe ich auch.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie traumatisch das gewesen sein muss. Es tut schon weh, bloß daran zu denken.« Ich wischte mir eine Träne aus dem Auge. »Aber jetzt ein anderes Thema bitte, und zwar sofort.«
Kellianne klatschte in die Hände. »Also gut. Ich weiß, worüber wir uns unterhalten können. Was muss ich tun, damit du auf die Bühne gehst und erzählst, wie sehr du insgeheim in den besten Freund deines Bruders verknallt bist?«
Das war jetzt nicht der Themenwechsel, den ich mir gewünscht hatte.
»Dafür müsstest du die Hölle zufrieren lassen.«
In unserem Haushalt kümmerte sich jeder selbst um seine Wäsche. Da wir keinen separaten Waschraum hatten, standen Waschmaschine und Trockner in der Garage. Etwa einmal pro Woche wusch ich meine Sachen, wenn ich von der Arbeit kam, und das war meist, ehe Nathan und Jace eintrudelten.
Eines Nachmittags trug ich meine Klamotten in einem Korb in die Garage und bemerkte neben der Waschmaschine einen Stapel von Jace’ Kleidung in einem Leinenbeutel. Ich erkannte das rote T-Shirt, das obenauf lag und das Jace am Vortag getragen hatte. Er hatte mir am Tisch gegenübergesessen und sagenhaft gerochen. Das T-Shirt roch bestimmt auch heute noch so gut.
Aus einem Impuls heraus zog ich es aus dem Beutel und hielt es mir unter die Nase. Ein paar Sekunden atmete ich die Mischung aus erdigem Rasierwasser und Jace’ köstlichem Duft tief ein. Welch himmlische Folter. Nun konnte ich mir leicht vorstellen, wie er sich ganz nah an mir anfühlte. Ich schloss die Augen, drückte mir den Stoff ans Gesicht und malte mir aus, er würde das T-Shirt gerade tragen. Mehr konnte ich mir nicht erhoffen, deshalb genoss ich den Augenblick.
»Was zum Teufel treibst du da?«, unterbrach mich eine ruppige Stimme.
Mir blieb fast das Herz stehen. Ich ließ das T-Shirt zu Boden fallen und blickte einem wütenden Jace in die Augen. Offenbar war er durch den Seiteneingang in die Garage gekommen, während ich mich meiner fantastisch duftenden Fantasie hingegeben hatte.
Ich versuchte gelassen zu bleiben und sagte: »Oh, hi … du bist zu Hause.«
»Ja, ich musste meinen Dad zu einem Arzttermin bringen, deshalb habe ich heute früher Schluss gemacht. Machst du das immer, wenn wir nicht zu Hause sind? An schmutziger Wäsche rumschnüffeln?«
In seiner verwirrten Miene spiegelte sich eine Mischung aus Wut und Belustigung.
Ich ließ mir auf die Schnelle eine komplett abstruse Ausrede einfallen. »Ich habe die merkwürdige Angewohnheit, an Dingen zu riechen, die mir nicht gehören. Das ist wie ein … Zwang.«
Im Takt meines Herzschlags schallte das Wort Lügnerin, Lügnerin, Lügnerin durch meinen Kopf.
»Und dann hast du dir ausgerechnet mein T-Shirt herausgepickt?«
Ich schluckte. »Sieht so aus. Es ist hellrot und fiel mir ins Auge. Außerdem riecht dein Rasierwasser gut.«
Er grinste. »Du bist schon ein seltsamer Mensch, Farrah.«
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
Er runzelte die Stirn. »Und wie hat es sonst so gerochen?«
Ich seufzte leise und nickte. »Gut. Keine komischen Gerüche oder so – nicht wie bei Nathans Hemden. Seine Shirts riechen nach Tacos.«
Jace lachte. »Wenn ich nicht recht weiß, ob ich was waschen muss, sollte ich ab sofort erst dich fragen, oder?«
»Es gibt Schlimmeres. Immerhin habe ich nicht an deiner Unterwäsche gerochen. So seltsam bin ich dann doch wieder nicht.« Ich schnaubte und schloss vor Scham die Augen.
»Na herzlichen Dank auch.« Nach einer etwas peinlichen Pause fuhr er fort: »Ich lasse dich dann mal weitermachen … mit was auch immer.«
Ich salutierte lächelnd. »Danke.«
Kaum war er weg, drehte ich mich um und stieß einen leisen Schrei blanken Entsetzens aus.
Nachdem ich die Waschmaschine gestartet hatte, beschloss ich, eine Runde um den Block zu drehen, um meine Nerven zu beruhigen. Außerdem wollte ich ihm nicht sofort wieder über den Weg laufen. Je mehr Zeit verging, desto besser.
Als ich den Block umrundet hatte, ging ich in den Garten, um eine Avocado von unserem Baum zu pflücken. Da sah ich Jace durch sein Schlafzimmerfenster. Er stemmte Gewichte, und ihm liefen Schweißperlen den Rücken hinab. Da er mich nicht bemerkte, gönnte ich mir ein paar Sekunden, um seinen Körper zu bewundern. Seine wunderbar geformten Muskeln. Den runden, knackigen Hintern. Seine perfekt gebräunte Haut. Jace hatte immer einen ansehnlichen Körper gehabt, aber mit siebenundzwanzig war er in der Form seines Lebens.
Plötzlich schoss unter meinen Füßen ein Schwall Wasser in die Höhe. Ich erschrak und stieß einen Schrei aus. Tja, und natürlich drehte sich Jace daraufhin zu mir um und sah mich wie eine Idiotin dastehen – eine durchnässte Idiotin, die nicht mitbekommen hatte, dass Nathan auf dieser Seite des Rasens einen neuen Sprinkler installiert hatte.
Jace lief zum Fenster und öffnete es. »Was zum Teufel machst du da? Bist du nass geworden?«
Äh … nein, damit fangen wir gar nicht erst an.
Ich verbarg meine nasse Brust. »Es ist so … heiß heute. Da dachte ich, ich kühle mich ein bisschen ab.«
»Und ich dachte, ich hätte dich schreien gehört.«
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so kalt ist.«
Er kniff die Augen zusammen. »Alles in Ordnung, Farrah? Du wirkst ein bisschen neben der Spur.«
»Ja, natürlich ist alles in Ordnung.« Ich lachte nervös, weil er mich weiterhin musterte. »Wirklich. Ich schwöre.
»Du weißt, du kannst es mir erzählen, wenn irgendwas los ist, oder?«
»Ja.« Ich nickte energisch.
»Gut.« Eine Weile behielt er mich noch im Blick, dann schloss er das Fenster und wandte sich wieder seinen Gewichten zu.
Ist vier Uhr nachmittags zu früh für einen Wodka?
Für den folgenden Abend hatten Nathan und ich unseren Filmabend geplant. Irgendwie hatte er Jace überredet, zu Hause zu bleiben und sich uns anzuschließen. Das Einzige, was bei diesen Filmnächten nicht fehlen durfte, war Eis. Da mein Auto immer noch in der Werkstatt war und Nathan noch arbeitete, fuhr mich Jace zum Supermarkt, um welches zu besorgen.
Die Stimmung auf der Fahrt war etwas angespannt. Ich vermutete, Jace war deshalb so schweigsam, weil er an meine T-Shirt-Schnüffelei oder den Sprinklerzwischenfall vom Tag zuvor dachte. Der Grund wiederum, dass ich dies vermutete, war: Wenn man zweimal hintereinander bei so einer dämlichen Aktion erwischt wurde, konnte man an gar nichts anderes mehr denken.
Als wir bei den Gefriertruhen waren, holte ich eine Packung Rocky-Road-Eis heraus und roch daran. Nun ja … um ihn auf eine falsche Fährte zu lenken.
Entsetzt blickte er mich an. »Du tust es schon wieder.«
»Ertappt. Siehst du? Ich rieche eben gern an Dingen«, log ich. »Hierbei bekommt man ein Gefühl für den Geschmack.«
Er schüttelte den Kopf und lachte. »Du bist es, oder?«
»Was bin ich?«
»Du bist die Person, die von der Überwachungskamera erwischt wurde, wie sie die Eisbehälter öffnet, den Inhalt probiert und die Packung dann wieder zurückstellt. Sie suchen dich.«
»Schuldig«, scherzte ich. »Aber ernsthaft: Das finde ich total eklig. So etwas würde ich nie tun.«
Ich hob weiter Becher hoch und roch daran, als hätte ich wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Tut mir leid, wenn es länger dauert«, sagte ich zwischendurch. »Für mich ist das jedes Mal eine Riesenentscheidung.«
Nach mehreren Minuten griff Jace um mich herum. »Ich erlöse dich aus deinem Elend.« Ein Hauch seines Dufts überlagerte alles, was ich sonst noch zu riechen vorgab. »Cookie Dough ist das Beste.« Er legte eine Großpackung in den Einkaufswagen. »So, fertig.«
»Der Ansicht bin ich nicht, aber gut. Wenn du darauf bestehst, soll es mir recht sein.«
Wir marschierten zur Kasse, und die Augen der Kassiererin tanzten regelrecht über Jace’ Körper. Eine typische Reaktion. Jüngere Mädchen und ältere Frauen nahmen ihn gleichermaßen ins Visier. Ich fand es lustig, weil die Leute höchstwahrscheinlich dachten, ich wäre seine Freundin. Allerdings hielt sie das nicht vom Glotzen ab.
Bevor wir den Laden verließen, warf ich der Kassiererin ein überhebliches Grinsen zu, das besagte: Ja, schau nur, was mir gehört und nicht dir. Auch wenn es nicht im Geringsten der Wahrheit entsprach, machte es mir doch Spaß.
Als wir in Jace’ Pick-up stiegen, drang mir sofort wieder dieser göttliche Duft in die Nase.
»Schnall dich an.«
Ich war völlig vom Anblick seiner großen Hände abgelenkt gewesen, die das Lenkrad umfassten.
»Danke, dass du mich erinnerst.«
»Wieso muss ich dich immer erst daran erinnern? Das sollte dir doch in Fleisch und Blut übergegangen sein.«
Weil du mich ablenkst. »Tut mir leid, du Tyrann. Nächstes Mal versuche ich, daran zu denken.« Ich klickte den Gurt ein und setzte mich zurecht. »Oh, das habe ich ja ganz vergessen: Heute ist jemand vorbeigekommen, der zu dir wollte.«
Er fuhr vom Parkplatz. »Wer?«
»Sein Name war James … Moore. Er wollte dir eine Nachricht schicken, deshalb habe ich angenommen, du hättest schon mit ihm gesprochen.«
»James Moore?«, rief er.
»Ja. Und er machte keinen allzu freundlichen Eindruck.«
Jace schlug auf das Lenkrad. »Scheiße. Er will Geld, das ihm die Firma für Pflasterarbeiten schuldet, und hat keine Geduld. Aber bei uns zu Hause hat er rein gar nichts zu suchen.«
»Es war kein Drama. Ich habe ihm gesagt, du seist nicht da, und er ist wieder gegangen.«
»Mir gefällt nicht, dass er irgendwas mit dir zu tun hat, und das gilt für eine Menge Leute, die für uns arbeiten. Wieso hast du ihm überhaupt die Tür aufgemacht?«
Jace hatte vermutlich recht, sich Sorgen zu machen, aber trotzdem erschien mir seine Reaktion ein wenig übertrieben. »Es ist mein Haus. Wieso sollte ich die Tür nicht öffnen? Ich bin ja kein Kind mehr, das man nach der Schule allein gelassen hat.«
»Nein, aber du bist eine attraktive Frau, die einen Kerl auf falsche Gedanken bringen könnte, wenn er sich rächen will. So einen Typen könntest du dir nicht vom Leib halten. Das hat nichts mit deinem Alter zu tun. Ganz egal, wie alt du bist, du solltest keinem Mann die Tür öffnen, wenn du allein zu Hause bist.«
Attraktive Frau.
Er nannte mich eine attraktive Frau, und was danach kam, hatte ich praktisch nicht mehr gehört. Dies war das erste Anzeichen seinerseits, dass er mich für attraktiv hielt.
»Ich werde künftig vorsichtiger sein.«
»Das musst du auch, Farrah. Da draußen gibt es jede Menge übler Typen. Wenn jemand vor deiner Tür steht, den du nicht kennst, lass ihn wieder gehen. Nichts ist so wichtig, dass du deine Sicherheit riskierst.« Gereizt stieß er den Atem aus. »Ich weiß nicht einmal, woher dieser Arsch unsere Adresse hat. Ich gebe sie ja nirgendwo an.«
Leise fluchte Jace weiter vor sich hin.
»Ich habe verstanden. Wenn ich allein bin, mache ich die Tür nicht mehr auf, außer es ist eine Pfadfinderin, die Kekse oder so verkauft.«
»Ich würde mir nie verzeihen, wenn dir was passiert«, murmelte er.
Seine Worte trafen mich tief im Innersten.
»Worauf haben wir uns jetzt geeinigt?«, fragte ich.
Nathan benutzte mein Handy, um die Möglichkeiten für unseren Kinoabend auszuloten. »Wir waren noch unentschieden zwischen dem Pete Davidson Film und dem mit The Rock«, sagte er, ehe er das Handy auf den Tresen legte. »Ach übrigens, Farrah, wieso um Himmels willen hast du ›vibrierende Vagina‹ gegoogelt?«
Meine Gesichtszüge entgleisten. Scheiße! Dieses Fenster hatte ich offenbar nicht geschlossen.
Jace hob mit weit aufgerissenen Augen den Blick von seinem Laptop.
Jede Ausrede, die ich mir hätte ausdenken können, hätte sich vermutlich noch seltsamer angehört als die Wahrheit. Also entschied ich mich für Letztere. »Heute Morgen habe ich so eine seltsame Sache gespürt. Es fühlte sich an, als würde in meinem Höschen ein Handy vibrieren. Wahrscheinlich ein Muskelzucken. Ich hatte Angst, es könnte irgendeine Nervensache sein. Offenbar bin ich aber nicht der einzige Mensch auf der Welt mit diesem Problem. Eine Frau in Indien hat darüber ebenfalls etwas geschrieben.«
Nathan legte lachend den Kopf in den Nacken. »Habt ihr euch zum Telefonieren verabredet?«
Ich starrte ihn an.
Er lachte noch lauter. »Im Ernst jetzt, gehst du ran, wenn es vibriert?«
Jace schüttelte den Kopf. »Lass sie in Ruhe, du Idiot. Du hättest ihren Suchverlauf gar nicht erst ansehen sollen.«
»Wer rechnet denn mit so was? Es war schon auf dem Display, als ich das Handy wegen dieses verdammten Films in die Hand genommen habe.«
»Stell dir mal vor, sie würde deine Suchliste anschauen. Da würde sie ziemlich viel Scheiß finden, mit dem sie dich bloßstellen könnte.«
»Das wäre definitiv keine gute Sache.« Nathan grinste breit.
Zum Glück ritt er nicht weiter darauf herum, und ich kümmerte mich wieder um den Nachtisch. Die letzten paar Tage waren voller peinlicher Momente gewesen.
Ich öffnete den Behälter mit dem Cookie-Dough-Eis und ließ ihn eine Weile stehen, damit es weicher werden konnte. Dann schnappte ich mir drei Schalen und durchwühlte die Besteckschublade.
Plötzlich klingelte es an der Tür.
»Erwartest du jemanden?«, fragte ich Nathan.
»Es ist Linnea. Ich habe sie eingeladen«, rief Jace, der schon auf dem Weg zur Tür war.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Na toll! Bis jetzt hatte er sie nicht mit zu uns gebracht, und ich hatte gehofft, das würde auch so bleiben.
»Hast du gewusst, dass er sie eingeladen hat?«, fragte ich meinen Bruder.
»Ja.« Nathan schnappte sich einen Löffel und probierte das Eis. »Wo ist das Problem? Es ist auch sein Haus.«
»Das ist eine Familiensache. Ich mag keine Fremden dabeihaben.«
»Na ja, für ihn ist sie wohl kaum eine Fremde.« Er schaute mich spöttisch an.
Ich konnte die Augen gar nicht weit genug verdrehen.
Kurz darauf kamen Jace und Linnea in die Küche.
»Linnea, Nathan kennst du ja schon, aber seine kleine Schwester Farrah noch nicht, glaube ich.«
Aua.
Kleine Schwester.
Leck mich!
Sie musterte mich von oben bis unten und warf ihr rotes Haar über die Schulter nach hinten. »Schön, dich kennenzulernen. Farrah ist so ein schöner Name. Deine Mutter hat wohl gern Drei Engel für Charlie geschaut.«
»Und wieso?«
»Farrah … Fawcett. Die Schauspielerin. Sie war einer der drei Engel. Das war mal eine Fernsehserie. Sie ist eine Ikone. Leider ist sie mittlerweile gestorben.«
»Oh.« Von der Schauspielerin hatte ich gehört, und ich wusste auch, dass meine Mutter mich nach ihr benannt hatte. Ich hatte nur vergessen, wie die Serie hieß.
Jace grinste verschmitzt. »Mein Dad hatte in unserer Garage ein Poster von Farrah Fawcett hängen. Es war so ziemlich mein erstes … Anschauungsmaterial.«
Anschauungsmaterial? Nach ein paar Sekunden fiel der Groschen. Ach so.
Und jetzt war ich auch noch eifersüchtig auf eine tote Schauspielerin, weil sich Jace mit ihrem Bild einen heruntergeholt hatte?
»An das Poster erinnere ich mich noch«, sagte Nathan lachend. »Sie war so was von scharf.«
»Ich habe jetzt erst erfahren, Nathan«, sagte Linnea, »dass du und Jace zusammen aufgewachsen seid.«
Nathan seufzte übertrieben. »Ja, den Kerl habe ich schon mein ganzes Leben am Hals.«
»Das ist doch toll. Eine so lange Freundschaft ist etwas Seltenes.« Sie wandte sich an mich. »Du bist um einiges jünger als die beiden, oder? Gehst du noch zur Highschool?«
Wie bitte?
Jace lachte leise.
»Highschool? Ich? Nein, ich bin einundzwanzig.«
»Oh, Entschuldigung. Du siehst jünger aus.«
So viel zu meinem Plan, provokative Kleidung zu tragen, um älter zu wirken. Aber Linnea legte es offensichtlich darauf an, mich zu beleidigen.
»Und du bist dreißig?«, fragte ich und neigte den Kopf.
Das versetzte ihr einen Dämpfer. »Sechsundzwanzig.«
»Aha!«
Jace verschwand im Bad und ließ Nathan und mich allein mit Linnea in der Küche zurück.
Sie setzte sich auf einen Stuhl an der kleinen Kücheninsel. »Gehst du hier irgendwo aufs College?«
Das ging sie nun gar nichts an, ich klärte sie dennoch auf. »Eine Weile habe ich Vorlesungen am Palm Creek Community College besucht, im Moment pausiere ich aber. Nächstes Jahr kann ich mich hoffentlich wieder irgendwo einschreiben. Ich will keine Zeit verschwenden, bis ich weiß, was ich als Hauptfach wählen soll. Momentan tendiere ich zu Pädagogik.«
»Du solltest Englisch unterrichten«, meldete sich Jace hinter mir zu Wort, der gerade aus dem Bad zurückkam.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich.
»Du schreibst doch gern. Vielleicht würde es dir Spaß machen, eine Englischlehrerin zu sein.«
Ich nickte. »Das ist in der engeren Wahl. Aber falls ich jemals unterrichten sollte, müsste ich erst meine Angst, vor anderen zu reden, überwinden.«
Linnea nickte. »Ah … ich hasse es auch, vor Leuten zu stehen.«
Dich hat niemand gefragt, aber nun gut.
Auch wenn wir jetzt eine Person mehr durchfüttern mussten, bemühte ich mich, etwas freundlicher zu sein, obwohl mir ihre Anwesenheit gegen den Strich ging. Ich deutete auf den Schrank. »Es gibt Eis. Magst du welches?«
»Gern«, antwortete sie.
Mir wäre lieber gewesen, sie hätte abgelehnt, »weil sie auf Diät war«, dann hätte ich sie besser hassen können.
Nachdem ich jedem die gleiche Menge Eis in eine Schale gefüllt hatte, nahm ich meine und ließ die übrigen auf dem Tresen stehen.
Ich ging als Erste ins Wohnzimmer, ließ mich auf die Couch fallen und ging die Video-on-Demand-Möglichkeiten durch. Nathan ließ sich auf der Chaiselongue nieder, was bedeutete, dass für Nathan und Linnea nur noch Platz auf der Couch neben mir war. Als sie kamen, rückte ich an den Rand. Zu meiner Freude nahm Jace neben mir Platz. Ein Lichtblick? Mit drei Leuten auf der Couch mussten wir zumindest näher beieinandersitzen.
Wir entschieden uns für den Film mit Pete Davidson, und alle schienen damit zufrieden zu sein. Er spielte in Staten Island, New York. Ich mochte jeden Film, der rund um New York City spielte. Früher hatte ich davon geträumt, dort einmal zu wohnen, wenn auch nur für ein paar Jahre, um einmal den völligen Gegensatz zu Florida zu erleben.
Irgendwann in der Mitte des Films stand Jace auf, schnappte sich Linneas Schale und stellte sie auf seine. Dann hielt er mir auffordernd die Hand hin, und ich gab ihm auch meine. Manchmal war er ziemlich aufmerksam. Nathans Schale, die auf dem Boden neben seinen Füßen lag, hob er hingegen nicht auf.
Jace kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Eine reichte er Linnea. Als er sich diesmal hinsetzte, landete er näher bei mir als vorher. Ich konnte seine Körperwärme direkt spüren. Die feinen blonden Härchen an meinen Beinen stellten sich auf. Wenn ich meinen Schenkel nur wenige Zentimeter in seine Richtung schob, würden sich unsere Beine berühren.
Dann, etwa eine halbe Stunde später, streckte Jace sein Bein aus. Dabei strich sein Knie leicht über meinen Schenkel. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, und genoss den Druck seines harten Knies durch seine Jeans. Das war in Ordnung, sagte ich mir, schließlich hatte er sich in meine Richtung bewegt.
Mir war nicht klar, ob Linnea von ihrem Platz aus sehen konnte, dass sich Jace’ und mein Bein berührten. War es Zufall, dass sie näher an ihn heranrückte? Vielleicht war ich dreister, als ich dachte, denn kaum war sie an ihn herangerutscht, machte ich das Gleiche. Ich veränderte fast unmerklich meine Position, sodass mein Bein stärker auf seins drückte. Sollte er unseren Körperkontakt vorher nicht bemerkt haben, jetzt musste er es spüren. Trotzdem rührte er sich nicht.
Dass er blieb, wo er war, bedeutete vermutlich nicht allzu viel. Aber immerhin. Zehn Minuten harrte er so aus. Was das hieß, darüber würde ich mir später den Kopf zerbrechen, im Moment gab ich vor, mich ganz auf den Film zu konzentrieren, und ignorierte, dass mein ganzer Körper in Flammen stand.