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Sis und ihr Bruder Finn leben bei ihrer Großmutter, seit ihre Eltern vor vielen Jahren plötzlich mit Finns Zwillingsbruder verschwanden. Als die Großmutter einen Schlaganfall erleidet und ins Krankenhaus muss, hinterlässt sie ihnen einen Auftrag: Sie sollen nach Spanien reisen und einen Freund ihres Vaters aufsuchen. Der Freund zeigt ihnen das Einzige, was ihnen von ihrer Familie geblieben ist: eine Gewandfibel, d. h. einen magischen Schmuck, der sie zur Überquerung der Weltengrenzen befähigen soll. Sie kommen einem großen Geheimnis auf die Spur – einem Geheimnis, das sie alle töten oder ihre Familie endlich wieder vereinen könnte …
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Veröffentlichungsjahr: 2022
ES EXISTIERT NUR DIE EINE WELT, IN DER WIR LEBEN. MAGIE GIBT ES NUR IN GESCHICHTEN. TOT IST TOT. SICHER?
Das dachten Sis und ihr Bruder Finn auch. Bis sie lernen, die Weltengrenzen zu übertreten und plötzlich das Überleben aller Zivilisationen von ihnen abhängt. Sis und ihr Bruder Finn leben bei ihrer Großmutter, seit ihre Eltern vor vielen Jahren plötzlich mit Finns Zwillingsbruder verschwanden. Als die Großmutter einen Schlaganfall erleidet und ins Krankenhaus muss, hinterlässt sie ihnen einen Auftrag: Sie sollen nach Spanien reisen und den Sohn des Wolfs aufsuchen. Hinter dem mysteriösen Namen verbirgt sich ein Freund ihres Vaters, der ihnen das Einzige zeigt, was ihnen von ihrer Familie geblieben ist: eine Gewandfibel, also einen magischen Schmuck, der sie zur Überquerung der Weltengrenzen befähigen soll. Sie kommen einem großen Geheimnis auf die Spur – einem Geheimnis, das sie alle töten oder ihre Familie endlich wieder vereinen könnte …
Für Sarah,
die Oisinn neues Leben einhauchte
Ich treibe in diesem angenehmen Gefühl von Schwere zwischen Wachen und Schlafen und frage mich, was mich geweckt hat. Ohne die Augen zu öffnen, weiß ich, dass es Nacht sein muss. Das Tageslicht würde stärker auf meinen Lidern brennen.
Es ist auch kein konkreter Laut gewesen, eher … die Ahnung eines Geräuschs. Etwas hat sich in der Wahrnehmung meiner Umgebung verschoben, ist anders als zuvor. Ich spüre die Anwesenheit eines Fremdkörpers und wage nicht, die Augen zu öffnen oder mich zu bewegen, sondern konzentriere mich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Da ist es wieder.
Wie ein Lufthauch, der über mein Bett streicht, kalt und feucht. Der Duft von Moos, frischer Erde und würzigem Tannenwald steigt mir in die Nase. Und dann spüre ich mehr. Etwas Kühles berührt meine Stirn, zeichnet langsam die Konturen meiner Wange nach, hauchzart und federleicht, kaum zu erahnen.
Eiskalte Finger.
Mein Herz verliert seinen gleichmäßigen Rhythmus und beginnt, so heftig gegen meine Brust zu schlagen, dass der Eindringling es sicher hört. Die Finger vollenden ihre Skizze und gleiten tiefer, zu meinen Lippen. Hier verharren sie länger, die Berührung wird intensiver, und die Kälte, die von ihnen ausgeht, ist jetzt geradezu schmerzhaft.
Im Kopf gehe ich rasend schnell alle Möglichkeiten durch und wage nicht einmal zu blinzeln. Aber dann bleibt am Ende meiner Überlegungen nur Luke übrig. Spinnt der? Jetzt öffne ich entschlossen die Augen.
Doch es ist nicht Luke.
Bevor ich schreien kann, legt sich eine Hand auf meinen Mund. Eine Hand, so kalt wie die eines Toten.
Falsch.
Eines Untoten.
Vor mir steht ein junger Mann, das Gesicht so weiß, dass der Mond dagegen golden wirkt. Unsere Blicke treffen sich. Tiefschwarze Augen, in denen die Pupille alles Weiß verdrängt. Das helle, blonde Haar umschmeichelt den grimmig lächelnden, blutleeren Mund. Ich liege da wie erstarrt, und meine Gedanken kreisen nur um das eine Wort: Draugar.
Sie sind gekommen, um Finn zu holen!
Er beugt sich tiefer zu mir herunter, haucht mehr, als er flüstert: »Na, große Schwester? Wo hast du denn deinen vorlauten Bruder gelassen?«
Sis
Khaos, 12. April 2019 n. Chr.
Es roch nach Streit, als Sis am letzten Schultag vor den Osterferien die verwitterte Eingangstür mit dem Türkranz aus Mistelzweigen – Weihnachtsdekorelikt und immer noch passend zu dem eisigen Wetter – aufschloss. Nach dicker Luft und angebranntem Essen. Dabei war Tess, zumindest was das Kochen anbelangte, eine Bilderbuchgroßmutter. Außer, es schlug ihr etwas auf den Magen. In den meisten Fällen war dieses »Etwas« Finn, Sis’ kleiner Bruder. Wobei er zuletzt vor drei Jahren wirklich kleiner als sie gewesen war. Frustrierend, wenn man mit siebzehn von dem fast eineinhalb Jahre jüngeren Bruder um eine ganze Kopflänge überragt und statt seiner im Kino nach dem Ausweis gefragt wurde.
Wasser tropfte in den Kragen von Sis’ Jacke, und sie warf beim Eintreten einen Blick nach oben zum grünen Blattwerk, von dem der Tropfen gekommen sein musste. Das Spitzdach und die mit Efeu und Kletterrosen eingesponnene Holzschindelfassade ließen das Haus in dem verwilderten Garten wie eine Hexenhütte aussehen. Nun, für eine störrische, alte Hexe hielt der Bauträger, der rechts und links von ihnen zwei monotone weiße Villenklötze hingepflanzt hatte, Tess sicher auch. Denn sie hatte sich geweigert, ihr Grundstück an ihn zu verkaufen, obwohl er ihr eine – wie er behauptete – unverschämt hohe Summe dafür geboten hatte.
»Alte Bäume verpflanzt man nicht«, hatte sie erwidert und ihm einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Aber wenigstens lebte in dem Haus rechts von ihnen seit dem Bau vor fünf Jahren Luke. Und das machte den Bunker doch gleich viel sympathischer.
»Ist mir scheißegal, was mein Vater zu meiner Lateinnote gesagt hätte!«, schallte Finns aufgebrachte Stimme vom ersten Stock nach unten und ließ Sis in der Diele mit der Hand an der Tür erstarren. Nicht schon wieder dieses Thema!
»Wie lief das damals eigentlich ab? Gerechtes Auslosen, oder war Kieran einfach nur ihr Lieblingskind?«
»Finn!«
»Weißt du was? Für mich sind sie alle längst tot!«
Eilig schlug Sis die Eingangstür zu, ließ den Rucksack in der Diele fallen und lief die Treppe nach oben, ohne Jacke und Schuhe abzustreifen. In der offenen Tür zu Finns Zimmer hielt sie inne. Tess stand reglos mit dem Rücken zu ihr wie ein Leuchtturm in der Brandung, Finn mit verschränkten Armen ihr gegenüber. Der Blick ihrer Großmutter flackerte, während sie sich zu ihr umdrehte.
»Spinnst du, Finn? Man hört dich bis auf die Straße!«
Die Miene ihres Bruders war trotzig, die Wangen gerötet. Seine grünblauen Augen musterten sie finster. Was war passiert? Schlechte Noten steckte er doch viel lockerer weg als sie.
»Verzieh dich, Sis!«
»Finn Winter! In diesem Ton sprichst du nicht mit deiner Schwester!«
Natürlich passte es Finn nicht, dass sie sich einmischte. Sis trat zu ihrer Großmutter und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie spürte, wie Tess’ schmaler, knochiger Körper bebte. Ihre Großmutter wirkte so klein und zerbrechlich. Wer sie nicht kannte, würde wahrscheinlich nicht glauben, wie resolut sie sein konnte.
Finn schnaubte währenddessen zornig und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Locken. Sis sah ihm an, dass er sich nur mit Mühe beherrschen konnte.
»Das aufbrausende Temperament hat Finn von eurem Vater«, hatte Tess einmal über ihn gesagt. »Erst explodieren und hinterher reumütig die Scherben zusammenkehren.«
Sis erinnerte sich noch gut an die Diskussion mit ihr vor einem Jahr. Damals hatte Finn unbedingt ein Krähenküken, das aus einem Nest auf dem Schulweg gefallen war, in seinem Zimmer aufziehen wollen. Später war Tess seufzend zu dem Schluss gekommen: »Das große Herz aber auch.«
»Reg dich ab! Erzähl mir lieber, was passiert ist.« Sis bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen, um die Situation zu entschärfen.
»Wer braucht schon Eltern, die erst drei Kinder in die Welt setzen, sich dann aus dem Staub machen und vor ihrer Verantwortung drücken?«
Sis stutzte. »Sagt wer?« So hätte Finn das niemals selbst formuliert.
Er presste die Lippen aufeinander und fuhr sich erneut ungelenk durchs Haar. Ein paar widerspenstige Locken fielen ihm trotzdem wieder zurück in die Stirn. »Der Kramer.«
»Dein Physiklehrer?«
»Ja! Ich musste im Lehrerzimmer den Antrag auf Kostenübernahme für den Englandaustausch abgeben und war noch nicht ganz aus der Tür raus, als er über uns hergezogen ist.«
Arm sein ist keine Schande. Ein schöner Spruch, wenn man nicht selbst betroffen war. Bis auf das Haus besaß Tess nur eine geringe Rente. Sis’ und Finns Eltern hatten zur Miete gewohnt. Das wenige Geld, das Tess aus dem Verkauf ihrer Möbel und des Autos erzielt hatte, war schon lange aufgebraucht. Und auf das Bankkonto hatte sie keinen Zugriff, solange sie sich nicht endlich dazu durchrang, ihren seit zwölf Jahren vermissten Sohn, die Schwiegertochter und Kieran, Finns Zwillingsbruder, für tot erklären zu lassen. Tess hatte sogar eine Hypothek auf ihr Häuschen aufgenommen. Aber Markenklamotten und das neueste Smartphone gehörten ebenso wenig zu ihrem Leben wie Urlaube oder der von Finn sehnlichst gewünschte Hund.
»Ach, komm!« Sis löste sich von ihrer Großmutter und boxte ihrem Bruder sanft gegen den Arm. »Niemand kann sich seine Eltern aussuchen, und du musst dich nicht schämen.«
»Nicht schämen? Ihr glaubt ernsthaft, eure Eltern hätten euch freiwillig verlassen?« Zwischen Tess’ dünnen Augenbrauen entstand eine tiefe Falte, und hektische rote Flecken erblühten auf ihren Wangen. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst, und sie strich sie in einer fahrigen Bewegung aus der Stirn.
Normalerweise wich Sis Tess’ anklagendem Blick aus, doch diesmal hielt sie ihm stand, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Finn trotzig neben ihr nickte. Das Thema war schon viel zu lange tabu gewesen. Eine Mauer aus unbeantworteten Fragen, die Tess Stein für Stein mit ihrem eisernen Schweigen aufgeschichtet hatte. »Zu eurem Schutz«, sagte sie immer. Ihre farbenfrohen Erinnerungen mochten der Mörtel sein, der ihre Mauer zusammenhielt. Die von Sis und Finn waren bestenfalls ein grober Scherenschnitt, und sie waren keine Kleinkinder mehr. Selbst wenn ihre Eltern und Kieran einem Verbrechen oder Unfall zum Opfer gefallen waren, würden sie die Wahrheit inzwischen verkraften. Sie hatten ein Recht darauf, diese brüchige Mauer aus unerfüllter Hoffnung, Wut und Sehnsucht einzureißen und neu zu beginnen.
In Tess’ hellblaue Augen trat ein feuchter Glanz, weil sie sich diesmal auf die Seite ihres Bruders schlug. »Ihr zwei wisst überhaupt nichts!«, rief sie mit bebender Stimme, drehte sich ruckartig um und verließ das Zimmer.
»Na, so ein Wunder«, murmelte Finn und tauschte mit seiner Schwester einen genervten Blick.
Plötzlich erklang ein Poltern. Sis schnappte nach Luft, und Finn sprang mit zwei Sätzen zur Tür. So schnell sie konnte, folgte sie ihrem Bruder, doch bevor sie den Treppenabsatz erreichte, hörte sie schon seinen gellenden Schrei. Aber da konnte sie ihre vorschnellen Worte nicht wieder zurückzunehmen.
Finn
Khaos, 12. April 2019 n. Chr.
Das Pflaster vor der Haustür war nass, und die Kälte kroch Finn über die Socken langsam an den Beinen hoch. Er lehnte mit dem Rücken am Türrahmen in der offenen Tür und starrte auf die Straße. Verschwommene weiße Fetzen tanzten vor seinen Augen, blieben in seinem Haar hängen und schmolzen an den Wangen. Noch hatten die Schneeflocken es nicht geschafft, den Boden mit einer Decke zu überziehen. Der Asphalt hinter dem Gartentor wand sich wie eine dunkle Schlange an den Bäumen und Straßenlaternen entlang und fraß unersättlich die herabrieselnden Kristalle. Kahle Äste wiegten sich im Wind. Der Frühling in diesem Jahr ließ ebenso lange auf sich warten wie der verdammte Krankenwagen.
Endlich tauchten zwei helle Lichtpunkte und ein blaues Flackern in der Straße auf. Finn schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Als er sie wieder öffnete, sprangen zwei Männer und eine Frau in roten Anzügen mit gelb aufblitzenden Leuchtstreifen aus dem Krankenwagen und eilten auf ihn zu. Er folgte ihnen nicht ins Haus, blieb wie betäubt draußen in der Kälte stehen, bis das blasse Gesicht seiner Schwester vor ihm auftauchte. Sis war noch gar nicht dazu gekommen, ihre Jacke auszuziehen, seit sie zu Hause angekommen war. Jetzt zog sie den Reißverschluss zu, fluchte, weil sich eine lange hellblonde Strähne darin verfing, und nestelte sie mit zitternden Fingern wieder heraus.
»Ich fahre mit Tess ins Krankenhaus, okay?«
Finn nickte stumm.
Der Krankenwagen verschluckte Tess und seine Schwester, und er blieb allein zurück. Benommen starrte er auf die herabrieselnden, dicken Flocken, die Hände und Füße so kalt wie der Eisberg von Schuldgefühlen, der in ihm trieb.
»Hey, Finn!«
Er zuckte zusammen und schaute zur Straße. Vor dem Gartentor saß Luke auf seinem Mountainbike und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte sich die Sporttasche umgehängt, weil sein Fahrrad keinen Gepäckträger hatte, sicher war er auf dem Nachhauseweg vom Taekwondo. Finn schluckte. Dass Tess ihm nicht den Kampfsport zusätzlich zum Fußballverein hatte bezahlen wollen, hatte er ihr auch kürzlich vorgeworfen.
Du bist so ein verdammter Idiot!
»Ist was passiert?«, hakte Luke nach, weil er nicht sofort antwortete.
»Tess ist gerade vom Notarzt abgeholt worden.«
Lukes Augen wurden groß. »Ach du Scheiße!«
Er sprang ab, öffnete das quietschende Gartentor und stellte das Rad am Zaun ab, bevor er mit federnden Schritten zu ihm lief.
Luke und Sis waren bis zur Oberstufe in dieselbe Klasse gegangen. Auch jetzt belegten sie einige Kurse zusammen und fuhren normalerweise gemeinsam nach Hause, außer Luke hatte Training.
Luke hieß eigentlich Lukas Schwarz. Bei seinem Einzug nebenan vor fünf Jahren hatte Finn das witzig gefunden, weil seine eckige Kunststoffbrille schwarz gewesen war und wie ein Fremdkörper unter den dunkelblonden Haaren auf dem blassen Gesicht geklebt hatte. Inzwischen trug Luke Kontaktlinsen, und einige Typen in der Schule nannten ihn Schwarzenegger, seit er mit seinem harten Kampfsport- und Ausdauertraining begonnen hatte.
»Der kämpft doch vor allem gegen einen«, hatte Sis mit einem Augenrollen letztes Jahr zu Finn gesagt, nachdem er ihr erzählt hatte, dass Luke für ein paar Wochen einen Sonderkurs in Krav Maga belegte. »Seinen Vater.«
Vielleicht war das neben seinem Aussehen ein zusätzlicher Grund für sie gewesen, ihn Luke wie Luke Skywalker zu nennen. Sein Vater, Dr. Rainer Schwarz, bildete sich viel auf seine Führungsposition in einer weltweit vertretenen Unternehmensberatung ein und hatte nach Sis’ Theorie mit Darth Vader vor allem drei Dinge gemeinsam:
Er war machtgierig.
Er machte sich in der Familie rar.
Er wollte Luke unbedingt für sein Imperium gewinnen.
Dass Luke von einem Sportstudium träumte, war für seinen Vater gleichbedeutend mit Anarchie und Rebellion.
Finn wischte die Gedanken an Lukes Probleme daheim zur Seite und murmelte düster: »Verdacht auf Schlaganfall. Wenn Tess stirbt, ist das allein meine Schuld!«
Luke schüttelte den Kopf. »Quatsch. Einen Schlaganfall bekommt man nicht wegen eines einzelnen Streits. Glaub mir, Tess wäre die Letzte, die wollte, dass du dich jetzt dafür verantwortlich fühlst.«
Es tat gut, mit ihm zu reden. Luke war wie ein Bruder für sie. Na ja, zumindest für Finn. Im Gegensatz zu Sis waren ihm nämlich die Blicke, die er ihr neuerdings zuwarf, nicht entgangen. Früher hatte er sich um so was keine Gedanken machen müssen. Verdammt anstrengend, wenn die eigene Schwester sich plötzlich zu einem der hübschesten Mädchen der Oberstufe entwickelte. Sogar seine Klassenkameraden hatten ihn schon auf sie angequatscht. Sis, die kühle Blondine mit den gletscherblauen Augen! Er verdrehte innerlich die Augen. Einen Moment lang streifte Finn der Gedanke an seinen Zwillingsbruder Kieran. Wie er wohl heute aussah? Ein paar Bilderfetzen waren alles, was ihm an Erinnerung geblieben war. Von wegen besondere Verbindung oder gar Gedankenaustausch unter Zwillingen! Alles Blödsinn.
Er wandte sich wieder seinem Freund zu. »Kommst du mit rein?«, fragte er Luke, und der nickte zu seiner Erleichterung.
Erst zwei Stunden später hörten sie den Schlüssel im Schloss, während sie im Wohnzimmer saßen. Sie eilten zur Tür.
»Tess hatte nicht nur einen Schlaganfall«, erklärte Sis beim Eintreten. Weiß wie die Wand, konnte sie die Angst in ihren Augen mit dem verkrampften Lächeln nicht herunterspielen, das sie Luke zur Begrüßung schenkte. Finn umklammerte den Handlauf der Treppe, als wollte er ihn zerquetschen.
»Sie muss schon in den letzten Tagen ein oder zwei kleinere Schlaganfälle gehabt haben. Jetzt liegt sie im Koma. Sie haben ihre Platzwunden und Prellungen vom Sturz versorgt. Zum Glück hat sie sich nichts gebrochen, weil sie erst auf den letzten Stufen gestürzt ist.« Sis schniefte. »Gestern und vorgestern hat Tess immer wieder über Kopfweh geklagt, aber damit konnte doch niemand rechnen!« Sie zog die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.
Tess war störrisch wie ein Esel, was Arztbesuche anging. Selbst wenn sie etwas geahnt hätten, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sie zu einem Arzt zu schleppen.
»Und jetzt?«, fragte Finn heiser.
»Können wir nur abwarten. Der Arzt meint, es kann Tage, Wochen, in schlimmen Fällen sogar Monate dauern, bis Patienten aus dem Koma erwachen. Mit ihren siebzig Jahren ist Tess nicht mehr die Jüngste. Vielleicht … wacht sie auch gar nicht mehr auf.« In der Stille nach dem letzten Satz klang das entfernte Zuschlagen einer Autotür draußen wie ein Donnerschlag. »Der Arzt hat gefragt, ob sich jemand um uns kümmert.«
»Was hast du geantwortet?«, fragte Luke stirnrunzelnd.
»Na, dass wir bei Tess leben, schon klarkommen und …« Sie stockte, und ihre Augen verdunkelten sich. »Du meinst, er verständigt jetzt sofort das Jugendamt?«
Finns Magen verkrampfte sich, während Luke nickte. »Vielleicht nicht gleich, aber wenn sich der Zustand eurer Großmutter nicht bessert.«
»Die werden uns doch nicht in ein Heim oder zu Pflegeeltern stecken?«
»Hey!« Sis legte den Arm um ihn. Finn verzog das Gesicht. Wie er es hasste, von ihr so bemuttert zu werden. »Noch ist davon nicht die Rede.«
»Das müssen wir verhindern!« Luke strich sich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn. Dabei lugte das schwarze Freundschaftslederarmband, das Sis ihm an Weihnachten geschenkt hatte, unter seinem Hoodie hervor.
Bei dem Anblick durchzuckte Finn plötzlich eine Erinnerung. Vor fünf Jahren hatte Tess ihnen am Weihnachtsabend einen Schuhkarton gezeigt, den sie im obersten Fach ihres Kleiderschranks versteckt hinter ein paar alten Sommerhüten aufbewahrte.
»Sollte mir etwas zustoßen, findet ihr darin meinen Schmuck und noch ein paar andere Sachen, die euch erst einmal weiterhelfen können«, hatte sie gesagt und ihnen das Versprechen abgenommen, nicht vorher den Inhalt zu erkunden.
»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht!«, rief Sis, als er ihr davon erzählte.
Kurz darauf saßen sie zu dritt auf der bunten Patchworkdecke von Tess’ Bett und starrten sich fassungslos an. Vor ihnen lagen eine goldene Halskette mit einem Medaillon in Herzform, ein ordentlich zusammengerolltes Geldbündel mit zweitausend Euro in kleinen Scheinen, ein fremder Schlüsselbund mit einem Anhänger in Form eines grünen Fischs und ein Zettel. Auf dem leicht vergilbten Stück Papier stand in der blassblauen, schnörkeligen Handschrift ihrer Großmutter eine spanische Adresse zusammen mit einer Botschaft:
Wenn mir etwas zustößt, schwebt ihr in Lebensgefahr. Fahrt nach Spanien, zu dem Haus, in dem eure Eltern und Kieran spurlos verschwunden sind. Es ist die Pforte, die euch den Weg zu ihnen weisen wird. Sucht nach eurer Familie! Der Sohn des Wolfs wird euch helfen.
Okay, Tess hatte schon immer esoterisch losgelöst in höheren Sphären zwischen Räucherstäbchen, Yoga und der Suche nach innerem Frieden geschwebt, doch damit übertraf sie sich selbst.
Kieran
Erebos, Jahr 2516 nach Damianos, erster Mond des Frühlings, Tag 20
Kieran hätte mit Freuden noch ein paar Stunden länger Holz gehackt, nur um der Stimmung im Dorf zu entgehen. Dabei waren seine Hände schon voller Schwielen, und die Arme brannten wie Feuer, während er Holzscheite in die hohen Tragekörbe stapelte. Dem Sturm, der die letzten Tage in orkanartigen Böen durch die Schwarzen Lande und ihr Dorf getobt war, war endlich der Atem ausgegangen. Er hatte nicht nur genug Bäume entwurzelt und Äste abgerissen, um ihnen das Brennholzmachen zu erleichtern, sondern auch ihrer aller Nerven zermürbt. Besser, er hätte sich nicht ausgerechnet die Zeit von Dermoths Inspektion der Silbertrostminen für sein Wüten ausgesucht. Aber gegen die Natur waren selbst Damianos, seine Statthalter und das Heer seiner Grauen machtlos.
Leider war nicht viel nötig, um Dermoth zu reizen, besonders, wenn der Statthalter seinen Auftrag wegen des Unwetters nicht fristgerecht erfüllen konnte. Eine Fliege im Bier, ein neugieriger Blick, ein zu freundliches Lächeln oder das Fehlen desselben – Dermoth fand immer etwas, um seine Magie grausam zur Schau zu stellen. Ein buntes Bouquet aus Folterflüchen, in denen die Farbe Rot dominierte. Rot wie das Blut, das sie Nacht für Nacht aus den Leinenverbänden in einem Kessel über dem Feuer auskochten. Seine Mutter trug die Schatten ihrer Hilfeleistungen so dunkel unter den grünblauen Augen wie Dermoth seine Magie. Kieran hatte schon geglaubt, das Klopfen an ihrer Tür würde niemals enden und der Schwarzmagier zum unerwünschten Dauergast in ihrem Dorf werden, als sein Vater ihn heute kurz vor Morgengrauen wach gerüttelt hatte.
»Der Sturm hat sich verzogen. Lass uns Holz hacken, sonst schlage ich meine Axt in Dermoths hohlen Schädel.«
Keine schlechte Idee. Wenn sein Vater auch nur annähernd in der Lage gewesen wäre, sich an dessen Leibwächtern vorbeizuschmuggeln. Schon als kleines Kind hatte Kieran gelernt, ihnen nicht zu lange in die seelenlosen kieselgrauen Augen zu blicken, denen sie den Spottnamen »die Grauen« verdankten. Damianos’ Schattenkrieger hatten eine menschliche Gestalt. Aber sie brauchten weder Schlaf noch Nahrung. Nur ihre dunkle Magie hielt sie am Leben.
»Für heute haben wir genug.« Die Stimme seines Vaters riss Kieran aus seinen Gedanken. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich auf den Stamm einer entwurzelten Blaueiche, um einen Schluck aus seiner Feldflasche zu trinken. »Das reicht für mindestens einen Monat.«
Unter die schwarzen, lockigen Haare, die er ihm vererbt hatte, waren graue Strähnen geschlüpft, für sein Alter war Kierans Vater jedoch erstaunlich kräftig und zäh. Die Männer, die mit etwa vierzig Jahren die Minen verließen, waren nicht selten halbe Greise mit kaputten Lungen, abgenutzten Gelenken und Augen, die viel zu lange unter Tage gewesen waren. Ein Grund, warum er sich als Baumeister hier und in den umliegenden Dörfern verdingte. Nicht so gut bezahlt wie die Minenarbeit, doch zusammen mit dem, was Kierans Mutter für ihre Heilkunst verdiente, kamen sie halbwegs aus.
»Kann ich später mit Rangar und Ulric auf die Jagd gehen?«
»Von mir aus. Wenn deine Mutter dich nicht braucht.«
»Hört sich nicht so an, als würde Dermoth heute viel Zeit übrig haben, um sich neue Opfer zu suchen.« In der Ferne erklang das unregelmäßige Stampfen und Klopfen von Metall auf Stein. Dermoth hatte seinen Rausch ausgeschlafen und trieb die Minenarbeiter unter Tage. »Glaubst du, er wird das magische Pulver einsetzen, um den Abbau zu beschleunigen?«
Kieran hatte erst ein paarmal dabei zugesehen, und der Anblick war jedes Mal überwältigend. Normalerweise ließ er sich das nicht entgehen. Nur heute wollte er zur Jagd.
»Das hat nichts mit Magie zu tun, Kieran.« Die Miene seines Vaters hatte sich verdüstert. »Aber ja, das ist möglich. Wir sollten uns besser sofort auf den Weg machen, damit ich das überwachen kann.«
Was sollte es denn anderes als Magie sein, wenn Dermoth mit dem unscheinbaren schwarzen Pulver hausgroße Löcher in den Fels sprengen konnte? Doch weitere Fragen waren zwecklos, weil sein Vater ebenso widerwillig über Magie sprach wie seine Mutter.
Während sie sich die Tragekörbe auf die Schultern schnallten, die Äxte in den Hüftgurt steckten und losmarschierten, ging er in Gedanken durch, was er alles für die Jagd brauchte. Bogen und Köcher, Vaters Jagdmesser, die Fallen würde Ulric …
In der nächsten Sekunde bebte der Boden unter ihren Füßen, und ein ohrenbetäubendes Knallen und Bersten zerriss die Stille. Es klang, als würden Dutzende gefällte Bäume zeitgleich zu Boden stürzen. Doch das Geräusch kam nicht aus dem Forst, sondern aus der Richtung, in der die Minen lagen. Kierans Vater blieb wie angewurzelt stehen, schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte in die Ferne. Hinter ihrem Dorf, wo sich die letzten Hütten an den Berg und den steilen Weg zu den Minen schmiegten, stieg eine gewaltige Rauchsäule in den Himmel. Er erbleichte.
»Nein!«, stammelte er, rang nach Luft und brüllte: »NEIN! Dermoth kann doch nicht … er weiß doch gar nicht, wie …«
Sein Vater ließ den schweren Tragekorb zu Boden gleiten und rannte los, als wäre ihm ein ausgehungertes Wolfsrudel auf den Fersen. Dermoth musste in seiner Ungeduld schon jetzt sein magisches Feuer in den Minen gesetzt haben, um den Abbau des Silbererzes zu beschleunigen. Eine Aufgabe, die sonst immer Kierans Vater überwachte, denn für den Baumeister war es ein Leichtes, zu berechnen, wo das Feuersetzen in den Schächten sinnvoll war und wo ein Einsturz drohte. Kierans Magen verkrampfte sich, während sie atemlos die ersten Häuser erreichten und ihnen markerschütternde Schreie entgegenschlugen.
Sis
Khaos, 12. April 2019 n. Chr.
»Wir können doch nicht einfach abhauen!«, rief Sis und folgte ihrem abenteuerlustigen Bruder und Luke in die Küche. Wie erwartet, wollte er am liebsten auf der Stelle nach Spanien fahren. Sis drehte den Hahn auf und füllte den Teekocher randvoll mit Wasser. Nachdenklich versuchte sie, die neuen Puzzlestücke, die Tess ihnen mit ihrer absurden Botschaft hingeworfen hatte, mit dem Rest der ihr bekannten Vergangenheit zu einem Bild zusammenzufügen. Vergeblich.
»Warum nicht?«, nervte Finn in ihrem Rücken. »Tess kannst du im Krankenhaus eh nicht helfen, und wir haben Ferien.«
Während das Wasser sich erhitzte, trat Sis zu ihm an den Küchentisch und las zum wiederholten Mal die Worte ihrer Großmutter. Finn klappte das Medaillon mit den Fotos auf. Auf der linken Seite des herzförmigen Anhängers sah ihnen ein Junge mit braunen Locken entgegen. Das Bild war schon vergilbt, aber Sis erkannte es sofort, weil es auch in einem Rahmen auf Tess’ Nachttisch stand. Das Foto zeigte ihren älteren Sohn Silas, Sis’ Onkel, bei seiner Einschulung. Er hielt eine riesige Schultüte in Raketenform in der Hand, trug die für Anfang der Achtzigerjahre modische Jeans mit Schlag und dazu ein orangefarbenes T-Shirt. Verschmitzt lächelte er in die Kamera.
Auf einem Bild in einem Familienalbum ein Jahr später lag er in einem Sarg.
»Verkehrsunfall«, hatte Tess gesagt und sich geweigert, mehr darüber zu erzählen. Wie nach einem Verkehrsunfall sah der Leichnam des Jungen auf dem Foto jedoch nicht aus. Wenn Sis so darüber nachdachte, gab es verdammt viele Geheimnisse in ihrer Familie.
Es versetzte ihr einen Stich, als sie über Finns Schulter hinweg auf das Foto rechts von Silas linste. Ihr bezopftes, sehr viel jüngeres Ich stand zwischen einer hellblonden Frau und ihrem schwarzhaarigen Mann. Laura und Michael Winter, ihre Eltern, die ihr so fremd waren wie ihre Namen. Jeder von ihnen hielt einen kleinen Jungen auf dem Arm. Finn und Kieran waren eineiige Zwillinge und sahen sich so ähnlich, dass Sis beim besten Willen nicht sagen konnte, wer von den beiden Finn war.
»Das ist doch Wahnsinn!«, erklärte sie energisch, weil sie fühlte, wie ihr eigener Widerstand ins Wanken geriet. Neugierig war sie nämlich schon, was es mit diesem Haus in Spanien auf sich hatte. Ihr Blick wanderte zu Luke. Der saß am Küchentisch und belegte gerade Sandwiches mit Käse, Tomaten und Salat. Seit er Kampfsport machte, ernährte er sich gesünder und hatte sogar ihren sturen Bruder davon überzeugt, dass Gemüse ihn nicht umbrachte.
»Wie wär’s zur Abwechslung mal mit ein wenig Spontaneität, Sisgard!«, feixte Letzterer gerade. Luke versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen, seine Mundwinkel zuckten jedoch verdächtig.
»Nenn mich gefälligst Sis!« Himmel, wie sie ihren Namen hasste! Noch so ein Geheimnisding in ihrer Familie. Ihre Mutter hatte angeblich diese besondere Melodie im Ohr gehabt, während sie mit Sis schwanger gewesen war, und dann war sie eines Morgens mit dem Namen Sisgard auf den Lippen aufgewacht. Sis hatte ihn gegoogelt, er bedeutete: die Hüterin des Zauberlieds. Für eine Namensänderung benötigte sie vor ihrem achtzehnten Geburtstag die Zustimmung des gesetzlichen Vormunds, und Tess hatte sich geweigert. Zumindest hatte sie durchsetzen können, dass alle sie nur »Sis« nannten.
»Vielleicht finden wir dort wirklich eine Spur von unseren Eltern«, sagte Finn und ließ das Medaillon zuschnappen.
Sis hängte zwei Beutel Hibiskustee in eine Glaskanne und goss das sprudelnde Wasser darüber. »Sie hätte doch längst selbst dort nachgeforscht.«
Dampf schlug ihr entgegen, als sie den Tee nach ein paar Minuten in die Tassen füllte und sich zu den anderen an den Tisch setzte.
»Dann wird das eben ein Urlaubstrip. Jetzt komm, Sis! Du hast noch nie was Verrücktes gemacht!« Finn ließ nicht locker.
Sie stellte die Kanne so schwungvoll ab, dass ein paar Tropfen überschwappten. »Komm mir nicht so! Ich habe schon eine ganze Menge …«
»Wenn du mal was anstellen willst, verlangst du garantiert nach einem Handbuch mit genauem Regelwerk!«, unterbrach er sie und biss in sein Sandwich.
Luke versteckte sein Grinsen nicht schnell genug hinter der Tasse. Sis versetzte ihm unter dem Tisch einen Stoß gegen das Schienbein, und er gab einen schmerzverzerrten Laut von sich.
»Jetzt sag ihm doch, dass das nicht stimmt!« In Gedanken ging sie fieberhaft gemeinsame Schultage durch, aber etwas richtig Rebellisches wollte ihr auf die Schnelle einfach nicht einfallen. Luke grinste noch breiter, als er die Tasse vom Mund nahm und abstellte. Sie hätte ihn erwürgen können.
»Wie auch immer. Eins steht fest: Für so eine Adventure-Tour braucht ihr einen Profi an eurer Seite. Wenn ihr wollt, fahr ich zum Bahnhof und besorge für morgen drei Zugtickets.«
»Du kommst mit?«, rief Finn und strahlte.
Sis rang die Hände. »Super Idee! Deine Eltern rasten bestimmt sofort aus und verständigen die Polizei!«
Luke war früher einmal für ein paar Tage abgehauen. Er hatte ihnen nie verraten, was genau passiert war, aber seitdem hielt er sich immer öfter bei ihnen auf, und seine Eltern akzeptierten das, ohne ständig an ihrer Tür zu klingeln und ihn nach Hause zu beordern.
»Die wollten mich in den Ferien ohnehin zu Tante Hannah aufs Land abschieben, schon vergessen? Damit sie ihre Karibikkreuzfahrt genießen können. Morgen früh lasse ich mich von ihnen brav zum Bahnhof bringen und steige dann zu euch in den Zug nach Spanien. Tante Hannah ruf ich von unterwegs an und sag ihr, ich würde nun doch in die Karibik mitfahren.«
Ein diabolisches Grinsen glitt über sein Gesicht, und Sis verkniff sich nur mühsam das Lachen. Wer ließ sich auch gerne die Karibik entgehen? Luke war seit Monaten beleidigt, weil seine Eltern die Reise ohne ihn gebucht hatten. Zum einen, um ihn wegen seiner Aufsässigkeit zu bestrafen. Zum anderen, weil er angeblich als kleiner Junge seekrank geworden war.
Sis seufzte. Die zwei starrten sie erwartungsvoll über ihre Teller hinweg an. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Was, wenn sich Tess’ Zustand verschlechterte oder sie sich Sorgen um sie machte, sobald sie aus ihrem Koma erwachte und ihre Enkelkinder verschwunden waren? Andererseits konnten sie Tess im Krankenhaus nicht helfen, und außerdem war sie diejenige gewesen, die sie mit ihrer Botschaft nach Spanien schickte. Irgendetwas musste sie sich doch dabei gedacht haben!
»Okay.« Ein lächerlich kurzes Wort für das, was sie damit in Gang setzen sollte.
Kieran
Erebos, Jahr 2516 nach Damianos, erster Mond des Frühlings, Tag 20
Rauch verschleierte Kieran die Sicht, und der Geruch von verbrannter Haut war so intensiv, dass er würgen musste. Zusammen mit seinem Vater kämpfte er sich gegen den Strom von Menschen, die in ihre Häuser flohen, zum Marktplatz durch. Bis zu den Minen kamen sie erst gar nicht, denn schon hier sah es aus wie nach einer Schlacht. Überall lagen Schwerverletzte und Tote auf dem Boden, umringt von weinenden Angehörigen.
Kieran packte in letzter Sekunde einen kleinen Jungen mit rußschwarzen Wangen und brachte ihn vor den schweren Stiefeln zweier Grauer in Sicherheit. Er drückte ihn einer Frau, die sich ängstlich unter dem Vordach zur Dorfschenke verbarg, in die Arme und lief zurück auf den Platz. Sein Vater war irgendwo in der Menge verschwunden. Wunden wurden gewaschen und Verbände angelegt. Das Bein eines Minenarbeiters, an dem er vorübereilte, war so zerfetzt, dass zwei Männer sich gerade anschickten, es zu amputieren. Seine ohrenbetäubenden Schreie erstarben in einer gnädigen Ohnmacht. Die rauchschwarzen, blutgesprenkelten Gesichter der Minenarbeiter, die den Explosionen entkommen waren, erzählten Geschichten von dem Grauen, das sich in den Schächten zugetragen haben musste.
Plötzlich entdeckte er Ulric, der seine Mutter im Arm hielt, während seine Schwester Serafina über einem Mann am Boden kauerte. Gänsehaut bildete sich auf Kierans Armen, und seine Schritte wurden schneller. Björns linker Arm und die Schulter waren zerschmettert und sein Kopf eigentümlich verdreht und blutig. Die Spitzen von Serafinas langem kupfergoldenem Haar färbten sich in den Wunden ihres toten Vaters dunkelrot. Benommen stolperte Kieran auf die beiden zu. Björn war immer wie ein Onkel für ihn gewesen.
Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als Serafina den Kopf hob und ihn ihr tränenverhangener Blick aus kornblumenblauen Augen traf. In der nächsten Sekunde traten zwei Schattenkrieger auf sie zu, rissen sie von ihrem Vater weg und schleuderten sie von sich wie eine Strohpuppe. Gerade noch rechtzeitig sprang Kieran herbei, um sie aufzufangen. Die Grauen packten Björn und trugen ihn fort. Serafinas schmaler Körper bebte in seinen Armen, während sie sich an ihn klammerte. »Wo wart ihr? Sie haben überall nach deinem Vater gesucht!«
Was sie außerdem sagen wollte, ging in einem Schluchzen unter, weil die Schattenkrieger ihren Vater nur zwanzig Schritte entfernt auf einen mittlerweile erschreckend großen Haufen von Toten in der Mitte des Platzes warfen. Sie würden den Leuten keine Zeit für eine Beerdigung und Trauer lassen. Dermoth und die Grauen würden die Leichen mit ihrem magischen Feuer verbrennen, das nichts von ihnen übrig ließ. Danach mussten die Überlebenden zurück an die Arbeit in den Minen gehen. Aus dem Stimmengewirr erhob sich auf einmal der Schrei seines Vaters, und Kieran lief es eiskalt über den Rücken.
»NICHT Caden! Seid ihr wahnsinnig? Er lebt doch noch!«
Kieran sah über Serafinas Kopf hinweg, wie er neben Cadens völlig aufgelöster Mutter und seinem eilig hinterherhinkenden, ruß- und blutverschmierten Vater zwei Schattenkriegern nachstürmte, die den jungen Mann zu den Toten trugen.
Caden war nur drei Jahre älter als Kieran. Er hatte Rangar, Ulric und ihm Schwimmen am Fluss beigebracht, ihnen gezeigt, wie man Messer schliff, Fallen im Wald auslegte und einen Gegner im Kampf zu Fall brachte, der größer und stärker war als man selbst. Sie hatten seine Liebesbriefe heimlich an Lisann übermittelt, und zum Dank hatte er ihnen ihr erstes Bier aus der Dorfschenke geschmuggelt. Jetzt hing er fast leblos zwischen den Grauen, aber aus seinem Mund quollen rote Blasen, als wollte er protestieren. Heiße Wut packte Kieran. Er wollte sich gerade von Serafina lösen, da wurde sie von der massigen Gestalt eines Mannes rau zur Seite gestoßen. Dermoth, der auf Brusthöhe seiner schwarzen Tunika das Machtinsigne seines Herrn trug und nun mit dröhnender Stimme befahl: »Der ist so gut wie tot. Werft ihn zu den anderen!«
Cadens Mutter schrie auf, und zorniges Gemurmel setzte unter den Umstehenden ein, verstummte jedoch unter Dermoths Blick ebenso schnell, wie es ausgebrochen war. Der rote Bart von Damianos’ Statthalter loderte wie Feuer über den langsam zurückweichenden Dorfbewohnern.
Da entdeckte Kieran eine Bewegung entgegen dem Menschenstrom. Seine Mutter, die sich ihren Weg durch die Menge bahnte, die Augen riesig, Hände und Schürze blutverschmiert. Sie musste geholfen haben, Verletzte zu versorgen. Serafinas Körper bebte immer noch in seinen Armen, und ihre heißen Tränen liefen ihm am Hals entlang. Dem mächtigsten Mann nach Damianos würde sich niemand widersetzen. Niemand außer einem.
Und in diesem Moment begriff Kieran, wem der Ausdruck von Angst in den Augen seiner Mutter galt. Nicht Dermoth, sondern seinem Vater. Zu spät. Michael Winter war für sein aufbrausendes Temperament ebenso bekannt wie für seinen Gerechtigkeitssinn, und während der letzten Tage war seine Geduld durch Dermoths willkürliche Grausamkeiten zum Zerreißen gespannt gewesen.
»MÖRDER!«, brüllte er und baute sich vor dem Magier auf.
Ringsum herrschte plötzlich eine gespenstische Stille, nur unterbrochen von vereinzeltem Schreien und Stöhnen von Verletzten. Kieran schob Serafina sanft von sich und wollte seinem Vater zu Hilfe eilen, als Ulric ihn zurückhielt und ihm ins Ohr flüsterte: »Nicht, Kieran! Wenn Dermoth erst erkennt, dass du sein Sohn bist, wird er dich qualvoll foltern und umbringen, nur um deinen Vater für diese Dreistigkeit zu bestrafen.«
Kierans Blick suchte den seiner Mutter. Sie war ebenfalls stehen geblieben, hatte die Hände vor den Mund geschlagen und schüttelte, ihn fixierend, unmerklich den Kopf.
»Warum habt Ihr mich nicht rufen lassen?«, polterte unterdessen sein Vater. In seinem rasenden Zorn bemerkte er überhaupt nicht, wie sich ein Kreis von Grauen um ihn schloss und die Zuschauer die Luft anhielten. »Ich hätte leicht berechnen können, wo Ihr das Feuer setzen müsst, damit KEIN Zusammensturz des Schachtes droht! Die hier«, er deutete mit ausgestreckter Hand auf den Leichenhaufen zu seiner Rechten, »habt allein Ihr auf dem Gewissen!«
Kieran konnte nicht anders, sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und er machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, doch Ulric schlang seinen Arm noch fester um seine Brust und hielt ihn wie in einem Schraubstock umklammert.
Auf Dermoths Miene machte sich ein bösartiges Lächeln breit. »Ich handle stets auf Befehl meines Herrn, Baumeister!« Er spuckte das Wort aus wie ein Schimpfwort. »Aber ich gebe dir gerne die Gelegenheit, mich zu ihm zu begleiten, dann kannst du ihm ausführlich von meinen Untaten berichten.« Er sah zu den Schattenkriegern, die jetzt Kierans Vater wie Aasgeier umringten. »Legt ihn in Fesseln! Wir nehmen ihn mit nach Temeduron.«
»Nein!«, flüsterte Kieran und begann, sich gegen Ulrics Umklammerung zu wehren.
»Du kannst nichts für ihn tun!«, zischte der ihm ins Ohr.
Aber er trat gegen die Beine seines Freundes, wehrte sich immer heftiger, bis sich plötzlich Serafinas verweintes Gesicht vor ihn schob. Ihre weichen, schmalen Hände berührten seine Wangen so zart wie ein Windhauch. Er erstarrte. »Kieran, bitte, tu das nicht. Dein Vater ist ein guter Mann, doch du bist klüger! Wirf dein Leben nicht weg, wenn es nichts zu gewinnen gibt.«
Über ihren Kopf hinweg sah er zu seinem Vater, der jetzt leblos wie eine Marionette zwischen zwei Grauen hing, die ihn zu ihrem Lager schleiften. Sein Widerstand brach und machte tiefer Verzweiflung Platz. Aus Temeduron, Damianos’ Festung, die auf einer Insel im gefürchteten Drakowaram thronte, war noch nie ein Gefangener zurückgekehrt.
Finn
Khaos, 18. April 2019 n. Chr.
Böen peitschten Finn Wasserstaub auf die Wangen und hinterließen salzig schmeckende Kristalle auf seinen Lippen. Während er mit geschlossenen Augen an der kalten Metallbrüstung über den Klippen lehnte, verfluchte er sich dafür, Sis und Luke zu der Fahrt überredet zu haben.
Er war noch nie so müde gewesen.
Sie hatten das Foto ihrer Eltern tagelang überall in der Gegend herumgezeigt und das ganze Haus auf der Suche nach Informationen über ihren Verbleib auf den Kopf gestellt. Vergeblich. Mühsam zwang er sich, die Augen zu öffnen. Vor ihm ein Panorama wie aus einem Werbeprospekt für Mittelmeerreisen, hinter ihm das geilste Haus, das er je gesehen hatte, und trotzdem schnürte sich ihm bei dem Anblick die Kehle zu. Nahezu von jedem Zimmer aus hatte man eine unverbaute Aussicht über die Bucht. Den gerahmten Grundrisszeichnungen an den Wänden des Arbeitszimmers zufolge hatte ihr Vater das Haus persönlich entworfen. Spätestens jetzt war auch klar, warum Tess ihren Sohn immer als begnadeten Architekten bezeichnet hatte.
Während Finn nun auf den glühenden Feuerball der tiefhängenden Sonne starrte, bis seine Augen brannten und schwarze Punkte wie lästige Mücken in seinem Sichtfeld herumschwirrten, wünschte er sich, er könnte sie mit diesem Blick fixieren und daran hindern, unterzugehen. Doch die Wärme des Tages floh unaufhaltsam vor den Schatten der Nacht. Und nachts kamen diese Träume.
Nicht die Art von Erlebnis, die man gewöhnlich als Traum bezeichnete und woran man sich nach dem Aufwachen kaum erinnern konnte. Auch nicht die Variante Albtraum, wie gruselig sie auch sein mochte. Mehr so eine Art Virtual-Reality-Horror mit nachhaltigen Spezialeffekten, das perfekte 4-D-Kinoerlebnis, produziert von seinem eigenen Gehirn. Wie das funktionierte, verstand er selbst nicht. Aber es wurde täglich schlimmer. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er diesen Wahnsinn stoppen sollte.
Den ersten Trip dieser Art hatte er in der Nacht gehabt, nachdem Tess ins Krankenhaus eingeliefert worden war und sie beschlossen hatten, nach Spanien zu reisen.
Vor mir ein langes, schmales Fenster. Gegenüber der linke Gebäudeflügel mit dem zweiten Turm und rechts das Meer. Tintenschwarz, endlos. Nur der Mond wirft sein silbernes Licht übers Wasser und pflügt eine gleißend helle Schneise in die Unendlichkeit. Sie ist wie ein leuchtender Pfad, der an den Seiten dunkel ausfranst und in gerader Linie vom Haus bis zum Horizont führt, wo die Finsternis ihn verschluckt. Wind stößt in die Palmen, verwandelt die Äste in glänzendes Rabengefieder, gespreizt zum Flug, und lässt Wolkenheere aufmarschieren. Sie tauchen den Turm gegenüber in blauschwarze Finsternis. Ein Schrei zerreißt die Stille. Mensch oder Tier? Mein Blick huscht nach unten, wo ich eine schattenhafte Bewegung ausmachen kann. Die Wolkendecke reißt auf, und das Mondlicht offenbart zwei abgemagerte schwarze Katzen, die miteinander ringen und sich in wilden Sätzen verfolgen. Schon jagen sie über die schmalen Steinstufen einer Treppe und verschwinden im unteren Teil des Gartens. Als mein Blick wieder nach oben zu dem Fenster gegenüber gleitet, steht dort plötzlich der Junge.
Überhaupt nicht gruselig, abgesehen von der Tatsache, dass Finn exakt bis ins winzigste Detail von diesem Haus hier geträumt hatte, und zwar bereits in der Nacht vor ihrer Ankunft, in der er noch gar nicht wissen konnte, wie die Villa aussah. Das Architektentraumhaus ihres Vaters, von dem sie daheim nie ein Foto entdeckt, von dem sie überhaupt nichts geahnt hatten! In einer Hufeisenform mit zwei sich gegenüberstehenden Türmen umarmte die Villa eine Terrasse und das vor ihm liegende Meer. Und von dem Seitenfenster des einen Turms blickte man direkt in das gegenüberliegende. Finn hatte eine Gänsehaut bei ihrer Ankunft bekommen, als er das Haus aus seinem Traum wiedererkannt hatte. Mit seiner Schwester oder Luke wollte er nicht darüber reden, denn der Traum hatte von diesem Punkt an Fahrt aufgenommen.
Der Junge ist sicher eins achtzig groß, sein Kopf reicht fast bis zum oberen Fensterrahmen, und er sieht aus, als käme er geradewegs von einem Filmset, Cosplay oder einem Mittelaltermarkt mit dieser schwarzen Tunika über der eng anliegenden Stoffhose. Ein geometrisches Zeichen mit Zacken zeichnet sich hell von dem dunklen Stoff auf Brusthöhe ab. Aber auf die Entfernung kann ich das Symbol nicht genau erkennen. Ist das ein Stern? Ineinander verschachtelte Dreiecke? Seine Hände am Fenster sind zwei helle Monde hinter dem nachtdunklen Glas. Schwarzes Haar fällt ihm in sein schmales, bleiches Gesicht und bis auf die Schultern. Er wirkt abgemagert. Das Gespenstischste an ihm sind die Augen: Weit aufgerissen starren sie mich mit einem Ausdruck an, als wäre ich der Joker und er Batman, der die Welt vor mir retten muss. Und während ich mich noch frage, was das alles zu bedeuten hat, wird mir plötzlich etwas klar:
Der Typ sieht mir nicht einfach nur ähnlich.
Würde er sich die Haare schneiden und vernünftige Klamotten anziehen, könnte kein Mensch uns unterscheiden!
Dumpfe Schritte hallen auf einmal hinter mir auf dem Steinboden wider. Klingt, als würde sich jemand in Stiefeln nähern. Dabei tragen wir alle hier Sneakers oder laufen barfuß. Aber ich bin nicht in der Lage, mich umzusehen, mein Blick klebt wie hypnotisiert an dem Jungen gegenüber. Licht flackert hinter ihm auf, und ich erkenne die Silhouette eines Mannes, der sich langsam aus der Finsternis des Raumes schält. Er bewegt sich so geschmeidig wie die Katzen vorhin im Garten. Ein langer Umhang umfließt ihn wie eine schwarze, wabernde Aura, und auf seinem Kopf klafft das aufgerissene Maul eines Leoparden, dessen spitze Eckzähne sich in seine Stirn bohren und dessen Fell ihm wie Haare auf die Schultern fällt. Unnatürlich leuchtend weiße Haut spannt sich pergamentgleich über hervorstehende Wangenknochen, eine breite Nase, volle Lippen und ein kantiges Kinn. In der linken Hand hält er eine Fackel.
»Hast du letzte Nacht den Weinvorrat deines Vaters geplündert?«
Genau das würde Luke sagen, wenn Finn ihm von diesem Traum erzählen würde. Deswegen behielt er ihn für sich. Das Ganze war ohnehin total verrückt. Tess sparte sich zu Hause in Deutschland jeden Bissen vom Mund ab, während hier in Spanien über dem Meer die Architektentraumvilla ihres Vaters thronte, und niemals, nicht ein einziges Mal, waren sie in den Ferien hierhergefahren.
Etwas stimmte hier nicht.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Eine eigenartige Kälte macht sich in mir breit, als der gruselige Typ mit dem Leopardenkadaver mich mit blutroten Augen anstiert. Meine Finger fühlen sich auf einmal ungewöhnlich starr und blutleer an, sie stechen regelrecht – wie nach dem Fahrradfahren im Winter ohne Handschuhe.
In der nächsten Sekunde formen sich in meinem Kopf heiser gesprochene Worte. Die Lippen des Mannes sind geschlossen, doch ich würde meinen Turnierpokal darauf verwetten, dass trotzdem er mir zuflüstert. Meine Kehle schnürt sich zu. Dumpf hallen Schritte jetzt unmittelbar hinter mir, und Licht spiegelt sich in meinem eigenen Fenster. Aber ich stehe immer noch da wie festgefroren. Der Mann gegenüber hebt langsam seine knochige, langfingrige Hand. Ich starre auf die Tätowierungen seiner Handkante. Dann schießt sie plötzlich vor, und ihre Finger bohren sich wie die Klauen eines Raubvogels in die Schulter des vor ihm stehenden Jungen. Ich zucke von der Scheibe zurück, sehe noch, wie der Junge schmerzerfüllt das Gesicht verzieht und den Mund zu einem Schrei öffnet – und spüre zeitgleich eine Hand auf meiner eigenen Schulter. Tiefer, alles, was ich bisher erlebt habe, in den Schatten stellender Schmerz. Ich ringe nach Luft, fühle, wie meine Beine nachgeben, mein Herz stolpert und …
Hier wachte Finn immer auf, schweißgebadet und schreiend. Sis erzählte er, er hätte Albträume wegen Tess. Aber auf seiner Schulter erblühten täglich mehr Blutergüsse, Kratzer und tiefe Wunden. Er konnte sich die im Schlaf doch nicht selbst zugefügt haben! Sein privates 4-D-Kino und keine Möglichkeit, das Programm zu ändern.
Finn stieß sich von der Brüstung ab und stieg den kleinen gewundenen Pfad hinab, der zwischen wildem Lavendel und stachligem Gestrüpp zum Meer führte und der sie gleich an ihrem Ankunftstag begeistert hatte. An der Felsküste angekommen, kauerte er sich auf einen flachen Felsvorsprung und starrte in das dunkle Nass.
»Du bist der Überbringer.«
Was zur Hölle sollte das bedeuten? Die heiser gesprochenen Worte des Leopardenmannes spukten noch in seinem Kopf herum, während das Wasser im schwachen Licht der Abenddämmerung bereits eine veilchenblaue Farbe annahm. Gelb-rote Lichtspritzer tanzten auf den kleinen Wellen, wurden zunehmend dunkler und verschwanden in der immer schwärzer werdenden See. Oben im Haus rief Sis nach ihm. Doch erst, als die letzten Lichttänzer unter die wogende Decke des Wassers geschlüpft waren, stand er auf und ging zurück.
Kieran
Erebos, Jahr 2516 nach Damianos, erster Mond des Sommers, Tag 19
Funken stoben aus der Esse, während Kieran Kohle ins Feuer schaufelte und mit dem Blasebalg Luft zuführte. Er trug eine Schürze aus dickem Leder, dennoch musste er achtgeben, dass sie nicht Löcher in die Ärmel seines Leinenhemds brannten. Doch die äußere Hitze war nichts gegen die Glut der widerstreitenden Gefühle in seinem Inneren. Loyalität gebar viele Kinder, und man konnte ihnen allen nur schwer gerecht werden, das wurde ihm in diesen Tagen erstmals bewusst. Ebenso, wie sehr es schmerzte, die zu belügen, die einem in der Not halfen. Wie seine Freunde. Und Ansgar, den Schmied.
Er lebte abseits der übrigen Häuser, und die meisten Dorfbewohner hielten ihn für eigenbrötlerisch. Ob er die abgeschiedene Lage am Waldrand gewählt hatte, um seine Ruhe zu haben, oder weil er verhindern wollte, mit seinem steten Hämmern auf Metall seine Mitmenschen zu stören, war schwer zu sagen. Aber Kieran erinnerte sich nur zu gut daran, wie Ulric, Rangar und er sich als Kinder immer neugierig vor seiner Werkstatt herumgedrückt hatten, weil aus ihr Funken und Dampf wie der feurige Atem eines wütenden Drachen stoben. Mit viel Glück hatten sie einen Blick auf lodernde Flammen, glühendes Metall und alle Arten von Waffen erhascht, die ihre Herzen begehrten. Pfeilspitzen, Dolche, Wurf- und Stichmesser, Kurz- oder Langschwerter. Meist hatten sie jedoch Pech gehabt und waren von Ansgar entdeckt worden, der sie wie ein wilder Bär brüllend vom Hof gejagt hatte.
Der Schmied hatte sich im Laufe der Zeit einen gewissen Ruf erarbeitet, weshalb er Aufträge nicht nur von den Fürsten dieser Gegend, sondern auch von denen ferner Ländereien erhielt. Kierans Vater hatte sich oft gefragt, warum er nicht längst in eine größere Stadt gezogen war. Vielleicht fürchtete er, zwischen die Fronten der rivalisierenden Fürstenhäuser zu geraten. Sie alle waren am Ende nur willfährige Diener des mächtigen Damianos. Doch Temeduron war weit entfernt, und der Schwarzmagier überließ seinen Adelsknechten die Aufgabe, Land und Bevölkerung mit Profit zu verwalten – solange sie ihm die geforderten Abgaben leisteten. Wer das nicht tat und sich selbst im Übermaß bereicherte, landete ebenso schnell am Galgen wie Wegelagerer. Jedes Mal ein beliebtes Schauspiel bei den einfachen Leuten.
Die reichen Silbertrostminen unterstanden formell Fürst Magnus von Finsterwalde. Dieser war gerissen genug gewesen, ihre jährliche Ausbeute in voller Höhe Damianos und deren Überprüfung seinem Statthalter Dermoth anzubieten. Zum Ausgleich durfte Magnus alles andere, was seine Ländereien hergaben, seinerseits in voller Höhe einstreichen, was ihn am Ende reicher machte als andere Fürsten und ihn zugleich vor der Gefahr des Galgens bewahrte. Denn der jährliche Ertrag aus den Minen unterlag hohen Schwankungen, und wer konnte schon voraussehen, ob Silberadern versiegten? Dermoth hätte Magnus bei der ersten Abweichung an Silberausbeute von seinen Schattenkriegern am Henkersberg aufknüpfen lassen. Jetzt musste Damianos’ Statthalter sich selbst vor seinem Herrn rechtfertigen. Seinen Unmut darüber ließ er an den Dorfbewohnern aus. Nur vor Ansgar hatte er Respekt. Was für alle ein Rätsel war.
Deshalb hatte Kierans Herz fast zu schlagen aufgehört, als der Schmied plötzlich, nur wenige Tage nach der Gefangennahme seines Vaters, an ihrer Tür aufgetaucht war. Seine massige Gestalt hatte den ganzen Türrahmen ausgefüllt.
»Guten Abend, Laura. Ich habe gehört, dein Sohn sucht Arbeit.«
Kierans Mutter, die gerade dabei gewesen war, Kräuter zu zerkleinern und in Alkohol einzulegen, war aufgestanden und hatte ihm einen Platz am Tisch angeboten. Ansgars langes grauschwarzes Haar war dicht und zottig wie das eines Bären und sein Bart reichte ihm bis zum Bauch. Damit er bei den sprühenden Funken in der Schmiede nicht in Brand geriet, trug er ihn zu einem Zopf geflochten. Schwarze Augen hatten Kieran an diesem Tag durchdringend gemustert.
»Das ist richtig, Herr«, hatte Kieran sich beeilt zu antworten und seiner Stimme dabei einen möglichst festen Klang verliehen.
Ursprünglich hatte er seine Mutter dazu überreden wollen, ihn in den Minen arbeiten zu lassen, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt beizusteuern, doch sie hatte es ihm verboten. Ansgar musste davon Wind bekommen haben. Kierans Gedanken hatten sich überschlagen: Brauchte er ihn zum Holzhacken? Oder sollte er das Holz zum Köhler schaffen? Denn nur Kohle erzeugte die hohen Temperaturen, bei denen sich Metall verarbeiten ließ. Stattdessen hatte Ansgar gesagt: »Ich könnte einen geschickten Lehrling gebrauchen.«
Kieran war vor Überraschung der Mund aufgeklappt.
Dasselbe war Ulric geschehen, als er seinem Freund später von dem seltsamen Besuch des Schmieds in ihrem Haus erzählt hatte. »Bei allen guten Geistern, das ist eine große Ehre, Kieran!«
Die Ehre hatte ihm mittlerweile unzählige Brandblasen und reißende Muskelschmerzen eingebracht. Dennoch war Kieran glücklich. Warum Ansgar gerade ihn ausgewählt hatte, wusste er nicht, aber er war ein guter Meister und die Arbeit anspruchsvoll und abwechslungsreich.
»Vertrauen«, hatte er an Kierans erstem Arbeitstag gesagt und ihm dabei mit seinen Kohleaugen tief in die Seele geschaut, »ist das Wichtigste. Du musst mir vertraun können. Wenn wir zu zweit am Amboss stehn, und du hältst das Eisen, und ich hau mit dem Hammer druff, dann musst du mir vertraun, dass ich deine kleinen Pratzen nicht zu Brei schlag!«
Seine kräftigen, behaarten Arme konnten stärker zupacken als die jedes anderen Mannes. Nachdem Magnus von Finsterwalde nach langen Regenfällen mit seiner Kutsche im Morast stecken geblieben war, hatte der Schmied sie allein wieder herausgezogen. Manche munkelten, Ansgar wäre ein Halbling und sein Vater ein Riese.
»Gute Arbeit, Kieran«, hatte der Schmied heute in seinen Bart gebrummt, während er den Dolch für den Fürsten begutachtete, an dem er tagelang gearbeitet hatte. Einen Skilinga wollte er ihm ab jetzt monatlich als Lohn zahlen.
Ja, es war nicht einfach mit der Loyalität.
Kieran könnte so viel von Ansgar lernen.
Ihn zu belügen, fiel ihm unendlich schwer. Doch die Loyalität zu den Eltern wog schwerer, und er hatte mit seiner Mutter einen Plan gefasst: Sie wollten versuchen, seinen Vater zu befreien. Bald würden sie genügend Skilinga gespart haben, um nach Temeduron aufzubrechen.
»Auf keinen Fall werde ich hier untätig herumsitzen und auf ein Wunder warten«, hatte seine Mutter gesagt, und für diesen Mut bewunderte er sie. Sie hatte ihr hüftlanges Haar abgeschnitten und es zusammen mit den Heilkräutern und Tinkturen aus ihren Vorräten auf dem Markt von Haljaensheim, des größten Dorfes der Umgebung, verkauft. Zwei Skilinga und fünfzig Tremis hatte der Krämer ihr dafür bezahlt. Viele Frauen im Dorf tuschelten seither über sie mit vorgehaltener Hand. Eine Frau mit kürzerem Haar als ihre Männer – unerhört! Kieran war das gewohnt. Laura war schon immer anders und ein Dorn in den Augen der übrigen verheirateten Frauen hier in der Gegend gewesen, die in der Öffentlichkeit nur ihre Männer für sich sprechen ließen und kaum das Haus verließen. Vermutlich hatte ihre Tätigkeit als Heilerin sie selbstbewusster werden lassen, was auch der Grund war, warum Birgit ihre Tochter Serafina nur ungern seiner Mutter beim Kräutersammeln und Zubereiten von Tinkturen helfen ließ. Sie fand, Laura hätte einen schlechten Einfluss auf sie. Kieran war da anderer Meinung. Er mochte es, wie die beiden Frauen beim Kräuterverarbeiten miteinander fröhlich scherzten. Doch seit dem Minenunglück war Serafina nicht mehr bei ihnen zu Hause aufgetaucht. Sie hatte nun den Haushalt übernommen, weil Birgit nach dem Tod ihres Mannes völlig zusammengebrochen war.
Auch mit seinen Freunden traf Kieran sich jetzt nur noch einmal in der Woche zum Jagen. Ulric war mit seinen sechzehn Jahren seit dem Tod des Vaters Familienoberhaupt und hatte begonnen, in den Minen zu arbeiten. Meist brachten Rangar und Kieran seiner Schwester Serafina einen erlegten Hasen oder ein anderes Stück Wild von der Jagd mit. Kieran war zwar ein Einzelkind, aber Rangar und Ulric waren schon seit frühester Kindheit immer mit ihm zusammen gewesen, weshalb er Geschwister nie vermisst hatte. Und Serafina nahm noch einmal einen ganz besonderen Platz in seinem Herzen ein, was er jedoch bis jetzt immer erfolgreich von sich geschoben hatte.
Über sich selbst den Kopf schüttelnd, wandte sich Kieran wieder seiner Arbeit zu.
Doch an diesem Nachmittag lief er Ulrics Schwester überraschend über den Weg. Er war gerade mit Rangar vom Jagen zurückgekehrt und entdeckte sie beim Reisigsammeln.
»Du kannst von Glück reden, dass deine Mutter nicht so am Schicksal deines Vaters verzweifelt wie Birgit«, sagte Rangar zu Kieran und nahm Serafina fürsorglich die schwere Trage ab. Sie sah blass und erschöpft aus. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Ulric zufolge ihre Mutter aufgehört zu sprechen, war vollkommen in sich gekehrt und starrte die Wand an. Alle Arbeiten im Haus hatte Serafina übernehmen müssen. Aber ihre Augen blitzten bei Rangars Worten auf, und sie hob trotzig das Kinn.
»Kierans Vater ist nicht gestorben, schon vergessen?«
»Nie ist jemand aus der Festung zurückgekehrt, das weißt du genau, und ich finde, Birgit sollte nicht dir die ganze Arbeit aufbürden. Andere Frauen müssen auch mit Verlusten leben und weitermachen.«
Kieran hätte seinem Freund gerne einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben. Er wusste, Rangar wollte weder ihn noch Serafina verletzen, sondern sie lediglich trösten, aber er bewegte sich wie immer im Dickicht der Worte so behutsam wie ein Bär während der Brunftzeit im Wald.
»Jeder hat eben eine andere Art, mit Trauer und Sorgen umzugehen«, versuchte Kieran schulterzuckend die Wogen zu glätten. Zu spät.
»Kümmere dich um deine eigene Familie! Ich brauche deine Ratschläge nicht«, fuhr Serafina Rangar zornig an.
»Aber ich …«
Sie zog ihm ihre Trage vom Rücken, schnallte sie sich wieder selbst um und stapfte mit eiligen Schritten davon. Rangar sah vollkommen zerstört aus, und Kieran knuffte ihn in die Rippen. »Sie wird sich schon beruhigen.«
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Nein. Vielleicht. Ach, bei Damianos! Wenn du mit ihr sprichst, fährt sie nie so aus der Haut. Wie machst du das nur?«
»Ich vermeide vermutlich alles, was sie in Wut versetzen könnte.«
Rangar wirkte nicht sonderlich überzeugt. Sie marschierten eine Weile stumm nebeneinanderher. Kurz bevor sie das Dorf erreichten, fasste er Kieran am Arm und blieb stehen.
»Ich mag Serafina wirklich gern, weißt du.« Kieran wurde mulmig. Rangars Blick war ungewöhnlich ernst, und er wusste nicht recht, was er jetzt von ihm hören wollte. »Nur, wenn du sie auch magst, also, so wie ich, dann wird sie dich mir vorziehen.«
Da begriff Kieran und spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Er dachte daran, wie sie früher mit Serafina und Ulric Fangen gespielt hatten, ihr langes Haar im Wind geflogen war und ihr glockenhelles Lachen ihm ein Lächeln auf die Lippen gezaubert hatte. Wie sie ihm ein Stück Leinen um sein aufgeschlagenes Knie gewickelt hatte, als er bei der Jagd vor einem Wildschwein Reißaus hatte nehmen müssen und gestürzt war. An ihre Art, leichtfüßig über den Waldboden zu laufen und sich anmutig das Haar hinter die Ohren zu streichen. Und zuletzt an ihre sanften Hände auf seinem Gesicht, nachdem sie seinen Vater gefangen genommen hatten. »Du bist so viel klüger.«
»Nein«, hörte er sich laut mit einer vollkommen fremden Stimme sagen. »So wie du mag ich sie sicher nicht.«
Loyalität schmeckte bitter wie Feenkraut.
Ein Lächeln erhellte Rangars Miene, während er beschwingt weiterging, und Kierans Herz fühlte sich an, als hätte er sich selbst sein Messer hineingerammt.
Er log, weil Serafina ihn vergessen musste. Schon bald würden sie nach Temeduron aufbrechen. Niemand wusste, was sie dort erwartete und ob er je wieder zu ihr zurückkehren konnte.
Sis
Khaos, 18. April 2019 n. Chr.
Möwen zogen kreischend ihre Bahnen am Himmel, und die Sonne malte am Horizont nur noch vereinzelte blassgelbe Strahlen auf den Saum des violettblauen Wassers. Fröstelnd zog Sis die Strickjacke enger um sich. Der Wind war stärker geworden und peitschte ihr die langen Haare ins Gesicht. Schon zweimal hatte sie nach Finn gerufen. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Bruder, seit sie in Spanien angekommen waren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Luke eine Gasflasche von der Garage die schmale Treppe hinunter zum Haus schleppte. Seine Muskeln spannten sich unter dem T-Shirt, und sie musste plötzlich an Nicki denken, die total auf Luke stand, seit er vergangenes Jahr mit dem Kampfsporttraining begonnen hatte.
»Ihr zwei hängt doch die ganze Zeit zusammen ab«, hatte sie gesagt und stirnrunzelnd gefragt: »Mal ehrlich, läuft da was zwischen euch?«
»Nein, das weißt du genau! Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit.«
Nicki hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Und? Kann sich schließlich ändern.«
Während Sis Luke jetzt auf sich zukommen sah, musterte sie ihn genauer. Er hatte sich körperlich ganz schön verändert, war größer und kräftiger geworden. Seine dunkelblonden Haare trug er nicht mehr raspelkurz, sondern als Undercut mit langem Deckhaar, was ihm gut stand. Er blickte auf. Seine warmen nussbraunen Augen hatte sie schon immer gemocht. Ihre eigenen graublauen Augen nannte Tess liebevoll gletscherblau. Ein Schuss Grün in dem Blau, wie bei Finn, wäre ihr lieber gewesen. Sis lächelte, und Luke kam ins Straucheln. In letzter Sekunde fing er sich.
»Bring dich nicht um!«, rief sie neckend.
Röte schoss in seine Wangen. Sis konnte schon verstehen, dass Nicki ihn toll fand, doch für sie war Luke einfach … na, Luke eben. Ihr bester Freund – wie ein Bruder. Sie war noch nie richtig verliebt gewesen, aber müsste da nicht mehr sein? Das berühmte Prickeln auf den Armen oder Schmetterlinge im Bauch?
Die verwirrenden Gedanken abschüttelnd, eilte sie zur Terrassentür und hielt sie ihm auf, damit er die Gasflasche nicht extra abstellen musste, und schlüpfte nach ihm ins Haus. Das Gas brauchten sie für den Herd in der Küche. Der Strom war abgestellt worden. Neben dem Licht war Warmwasser ein Luxus, auf den sie hier verzichten mussten. Aber ansonsten war das Haus ihrer Eltern gut in Schuss. Irgendwer schien sich darum gekümmert zu haben. Am nervigsten war, dass sie ihre Handys und Powerbanks tagsüber in einem Café oder an der Strandbar aufladen mussten. Wenigstens waren die Leute dort hilfsbereit und freundlich.
»Was ist los?« Luke hatte die Gasflasche unter dem Kochfeld ausgetauscht, schloss die Tür des Unterschranks und sah sie jetzt – die leere Flasche noch in der Hand – prüfend an.
»Ich mach mir Sorgen um Finn.« Sis wunderte sich nicht darüber, dass Luke nichts von Finns Albträumen mitbekommen hatte. Wenn er schlief, konnte unbemerkt von ihm ein Schiff anlegen, Piraten das Haus plündern und wieder abziehen. »Seit Tess im Krankenhaus ist, hat er Albträume.«
Luke schwenkte die Gasflasche wie eine Kettlebell. »Er gibt sich die Schuld dafür.«
»Schon klar, doch das ist natürlich Blödsinn.«
»Hab ich ihm auch gesagt.« Er setzte die Flasche ab und fuhr sich nachdenklich durchs Haar. »Glaubst du, da steckt noch was anderes dahinter?«
»Keine Ahnung. Ich bin seine Schwester.« Luke sah sie verwirrt an. »Soll heißen, ich bin die Letzte, die was von ihm erfährt.«
Er lachte, hob die Flasche wieder hoch und ging zur Tür. »Ich fühl ihm gern mal auf den Zahn. Ganz ehrlich, Sis. Lass mal ein bisschen locker. Finn ist keine Prüfung, für die du büffeln und die du unbedingt mit voller Punktzahl bestehen musst. Falls du das vergessen hast: Er ist vor Kurzem sechzehn geworden und kommt ganz gut ohne Bemuttern klar.«
Sie starrte ihm mit offenem Mund nach, während er die Gasflasche hinaustrug und sich zu der Treppe wandte, die zur Garage führte.
Besten Dank aber auch, Dr. Freud!