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Offen und glaubwürdig schreibt Christine Westermann über das Alter. Und das Älterwerden. »Das Alter holt dich nicht ein, es kommt dir entgegen.« Ebenso neugierig wie zweifelnd und ängstlich sieht die Journalistin, die in diesem Jahr 65 Jahre alt wird, dem kommenden Lebensabschnitt entgegen. In ihrem warmherzigen, mit großer Aufrichtigkeit geschriebenen Buch stellt sie sich, ernst und heiter zugleich, sehr persönliche Fragen. Er kommt nicht mit Getöse, nicht mit einem »Aha« oder »Oh Gott«, jener Moment, in dem einem klar wird, ich werde nicht einfach nur älter. Ich bin alt. Wie es sich anfühlt, wenn die Strecke, die vor einem liegt, kürzer ist als die, die man schon zurückgelegt hat. Welche Wünsche und Sehnsüchte man noch hat. Was Angst macht und was Hoffnung. Woher Mut und Zuversicht kommen. Davon erzählt dieses kluge, sanfte, poetische und humorvolle Buch. Ein Jahr lang hält Christine Westermann fest, was sie umtreibt: Wo will ich noch hin mit meinem Leben? Oder vielleicht besser: Wo will das Leben noch hin mit mir? Geht noch was? Wie viel Sorglosigkeit, wie viel Unbeschwertheit sind noch erlaubt, bevor der Leichtigkeit die Luft ausgeht? Welchen Herausforderungen werde ich mich noch stellen müssen, wie viel Mut braucht es noch? Solchen Fragen geht die Journalistin nach, mit erstaunlicher Ehrlichkeit und dem Humor, der sie ausmacht. Ein Buch, das Fragen stellt und Antworten sucht. Offen und aufrichtig. Ein Buch, das kein Ratgeber und kein Mutmacher ist. Davon gibt es schon viel zu viele. Sagt Christine Westermann.
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2013
Inhalt
Titel012345678910111213141516171819202122232425262728282930313233DanksagungBuchAutorImpressumDas Wesen einer Einleitung ist, dass sie am Anfang eines Buches steht.
Das Geheimnis dieser Einleitung ist, dass ich sie erst am Ende geschrieben habe. Als das Buch schon einen optimistischen Schluss hatte, der so ganz anders daherkommt als die ersten melancholischen Kapitel.
Zwischen Seite eins und Seite 191 liegen mehr als zwei Jahre. Bewegte Jahre. Das sichtbare Altwerden hat mich bewegt, eine leise innere Unruhe, eine unbestimmte Traurigkeit hat mich stets begleitet.
»In der ersten Hälfte des Lebens lernt man, wie es geht. In der zweiten genießt man es«, sagt man.
Ist das wirklich so? Habe ich tatsächlich schon ausgelernt? Kann ich genießen, ohne noch mehr zu wollen und zu wünschen?
Dass ich mich vor zwei Jahren auf eine sehr emotionale Reise begeben habe, weiß ich erst jetzt, wo ich glücklich am Ziel bin. Ein Etappenziel, die Reise geht weiter. Von einem Teil des Weges möchte ich Ihnen gern erzählen, Sie ein Stück mitnehmen. Es ist ein individueller Weg, mein Buch ein sehr persönliches.
Eines ist es ganz sicher nicht. Ein Ratgeber. Ich hüte mich, schlaue Ratschläge zu geben. Ich habe nämlich selbst keine allgemeingültigen Antworten, wie man das am besten mit dem Leben und dem Altwerden hinkriegt. Ich mache es auf meine Art, mit einer anderen, einer neuen Einstellung, die ich noch üben muss. Dass ich mich dabei immer mal wieder bange fühlen werde, so wie zu Beginn des Buches, weiß ich. Das gehört wohl zum Leben dazu.
Wo will ich noch hin mit meinem Leben?
Wo will das Leben noch mit mir hin?
Zwei Fragen und keine Antworten.
Nicht mal eine.
Ich bin 65 und habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, ich sollte ihm eine Richtung geben. Dabei gibt das Alter von ganz allein eine grobe Peilung an. Mit Mitte sechzig ist das Ende in Sicht. Zielgerade. Dabei scheint es egal, ob diese Strecke nur zwei oder noch zwanzig Meter/Jahre lang ist.
Zwanzig Jahre sind lang, wenn man sie mit Leben füllt, oder? In den letzten zwanzig Jahren bin ich nach Amerika gezogen, habe dort gelebt und gelernt, bin beruflich der Länge nach hingeschlagen, wieder aufgestanden, gefeiert worden, zurückgekommen, habe mich verliebt, verheiratet, Bücher geschrieben, Angst gehabt, persönlichen Schrecken erlebt, alte Freunde verloren, neue gefunden. In der Rückschau war das unglaublich viel. Viel Leben.
Warum zögere ich dennoch zu glauben, dass die nächsten zwanzig Jahre genauso voll, bunt und intensiv sein werden? Vielleicht weil es keine zwanzig mehr sein werden. Vielleicht nur zehn. Oder gar nur eines? Nicht mal das?
Lebe jeden Tag so, als ob es der letzte Deines Lebens wäre. Zehn Euro fürs Phrasenschwein.
Hat was von Schlussverkauf, von Hektik, Raffgier, Mitnehmen, was man kriegen kann. Das große Ramschen am Lebensabend, bevor nichts mehr geht. Ich tröste mich damit, dass es sich in meinem Fall möglicherweise erst mal nur um den späten Nachmittag des Lebens handelt. Das Gefühl, dass noch was kommen soll, kommen muss, ist nur vage. Aber es ist da, es plagt mich, schiebt mich, drängt mich in eine Richtung, die ich nicht erkennen kann. Als hätte ich Scheuklappen auf. Werde aber den Eindruck nicht los, dass es gut wäre, mich endlich auf den Weg zu machen. Wohin? Ich habe keinen Plan.
Wenn ein Autor gut ist, dann sagt er nichts. Er flüstert es. Wenn ich mein Flüstern höre, bin ich mir nicht wirklich sicher, ob ich es aufschreiben sollte.
Ich bin mir nicht ganz geheuer. Beim Strandspaziergang nur der Ozean an meiner Seite, mein Blick geht ins Ungefähre, ich bin mit mir selbst unterwegs. Schaue mir beim Gehen zu und frage mich, wie lange das noch gut gehen kann. Wie viel Sorglosigkeit, wie viel Unbeschwertsein erlaubt sind, bevor der Leichtigkeit, dem Luftballonherzen in mir, die Luft ausgeht. Als würde mein Inneres mir zustimmen wollen, schickt es einen Seufzer nach oben. Er ist nicht nur tief, er ist auch laut. Ein leiser Schrei. Ich laufe am Strand entlang und schreie einmal kurz auf.
Ungewollt, es macht jemand in mir, den ich nicht kenne. Es ist mir peinlich, ich bin mir peinlich.
Eine ältere Frau am Strand, die laut seufzt. Zu laut.
Wenn man könnte, würde man, nur ein einziges Mal, wissen wollen, was in Zukunft ist? An einem Januartag in einem Jahr? In fünf, in zehn Jahren? Und wenn man wüsste, dass man dann schon nicht mehr ist, würde man sofort damit anfangen, anders zu leben?
Vor ein paar Monaten ist der Vater eines Freundes gestorben. Bei der Beerdigung las der Pfarrer einen Psalm aus der Bibel, von dem ich gleich wusste, der ist für mich bestimmt. Verwegener, aber sehr sicherer Gedanke. »Bedenket, dass ihr sterben müsst, auf dass ihr klug werdet.« Als hätte da mal eben einer ganz lässig den Sinn des Lebens, den Sinn meines Lebens, auf den Punkt gebracht. Die Furcht, sterben zu müssen, jetzt, wo es mir manchmal scheint, als habe ich halbwegs begriffen, wer ich bin, wie ich bin (von lautstarken Strandseufzern abgesehen), begleitet mich wie ein sanfter Schatten.
Mit dem Sterben ist es wie mit dem Altwerden. Keiner sagt einem, wie es sein könnte. Alle schreiben sie Ratgeber, aber eigentlich sind sie alle ahnungslos. Ich weiß mir keinen Rat, das wäre mal ein kluges Bekenntnis, ein ehrlicher Buchtitel.
Ehrlich gesagt will ich auch von anderen gar nicht wissen, wie es am besten gehen könnte. Mit dem Sterben und dem Altwerden. Mit 65 Jahren geht man mit nicht mehr ganz so federnden Schritten auf die 70 zu. Ob ich da unversehrt ankomme, ob ich da überhaupt ankomme, woher soll ich das wissen?
Ich habe Furcht zu sterben. Ziemlich banal, hat vermutlich jeder, falls er sich auf den Gedanken überhaupt einlässt, das Ende zu bedenken. Ich habe Furcht, weil es zu früh sein könnte. Weil ich unbedingt noch bleiben will. Jetzt, wo ich ganz vorsichtig die Erziehung des Lebens zu begreifen beginne. Sie ist nicht autoritär, nicht anti, nicht Summerhill und nicht Waldorf. Sie ist für mich seit mehr als sechzig Jahren eine Mischung aus erstaunlichen Nackenschlägen, die sich abwechseln mit beruhigenden Streicheleinheiten. Der Rhythmus erschließt sich mir nicht, vielleicht ist es tatsächlich eine Abfolge von sieben guten und sieben schlechten Jahren.
Wenn es dunkel ist, kann alles schiefgehen. Im Kopf. Mit so einer Reise. Mit dem Leben. Mit der Zukunft. Gestern beim Wein mit Freunden erzählten sie von einer Verwandten, die auf einem Parkplatz vor dem Supermarkt aus dem Auto stieg, den Einkaufszettel in der Hand. Wenige Sekunden später konnte sie nicht mehr sprechen, keinen Satz, kein einziges Wort, nicht mal ein »Hilfe« brachte sie zustande. Der Tumor in ihrem Kopf, von dem sie nichts ahnte, weil sie nichts spürte, hatte das Sprachzentrum erreicht.
Was wäre, wenn? Wenn es mir morgen beim Delfingucken am Strand so ginge wie der Frau auf dem Parkplatz?
Angekommen am Ferienort mit dem undeutlichen Gefühl, nie weg gewesen zu sein. Über das Phänomen Zeit haben sich klügere Leute den Kopf zerbrochen. Ich stehe nur erstaunt vor der Tatsache, dass zwölf vergangene Monate woanders ein Nichts sind, wenn sie beim Anblick von Vertrautem so schnell aus dem Gedächtnis zu tilgen sind: die Dünen, der Strand, der Rotwein in der Kneipe an den Gleisen der stillgelegten Eisenbahnstrecke.
Und wenn das mit dem Leben tatsächlich so schnell geht, bin ich in gefühlten sechs Monaten achtzig. Und dann?
Beim Strandlaufen fange ich an, Steine zu sammeln. Nicht irgendwelche, sondern die mit den geometrischen Linien und den klaren Farben, dunkelrotbraungelb. Und schon hat mich die Frage nach dem Wann-woher-wohin am Wickel. Wie alt ist so ein kleiner Kiesel? Wo kommt er her, was würde er preisgeben, könnte man die Botschaft seiner Zeichnung entziffern?
In hundert Jahren wird ihn irgendein anderer Mensch in der Hand halten.
Am Strand hockt ein Kormoran, die Flügel weit ausgebreitet, als habe ihn jemand an ein unsichtbares Kreuz genagelt. Er watschelt Richtung Wasser, als ich näher komme. Ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann, von den Wellen wird er hin- und hergeworfen wie eine Gummiente, die in einen Duschstrahl gerät.
Der Kormoran ist noch immer da, steht an Land mit tropfnassem Gefieder, ein jämmerlicher Anblick. Ich frage im Guesthouse nach Hilfe. Verständnisloser Blick.
Mother Nature will do what she has to do. Wie im richtigen Menschenleben auch.
Ich trödele in den Tag, denke, dass ich lange hier bleiben möchte. Und zähle doch schon die Tage bis zur Abreise. Schönes kann ich schwer ertragen.
Wir essen bei den »Girls«. Zwei lesbische Frauen, die vor ein paar Jahren hinter einer Tankstelle in einem Anbau ein Restaurant eröffnet haben. Ein dunkler Schuppen, in dem die Luft steht. Im besten Fall kriegt man einen Fensterplatz, ein kleiner Guckkasten mit Blick auf Zapfsäulen. Öffnen verboten, sonst riecht man das Benzin. Aber das Essen ist erstklassig, der Laden ist jeden Abend gerammelt voll. Die Küche ist ein Glaskasten mitten im Restaurant. Roxanne, die eine Hälfte der Girls, wirbelt auf ein paar Quadratmetern, drei, vier Frauen gehen ihr zur Hand. Die andere Hälfte der Girls, Cherry, weiß nicht mehr, dass sie mal die andere Hälfte war. Für Vorspeisen und Desserts war sie zuständig, das hat sie längst vergessen. Auch wie man sich bewegt, wie man lacht, sich umarmt.
Zwei Jahre nach der Eröffnung der Girls ist sie ausgefallen, jetzt sitzt sie zu Hause. Wartet, dass es dunkel wird und Roxanne nach Hause kommt. Vielleicht weiß sie auch schon nicht mehr, wie Warten geht. Was Warten ist.
Dass Roxanne ihr Girl war.
Der Kormoran ist immer noch da. Leichte Beute für einen alten Hund, der von seinem Besitzer gerade noch zurückgepfiffen wird. Ich wünsche mir insgeheim, er wäre weniger gehorsam gewesen, hätte seinen Instinkten vertraut und zugebissen.
Einladung bei Gerhard, dem Innkeeper.
Der sich sein Stück Paradies am Indischen Ozean von einer Abfindung kaufte, die er bekam, als er keine Lust mehr auf den ganz normalen Alltag hatte, auf das Leben als Angestellter einer Bank in Johannesburg. Lange Jahre gehörte er zu einer kleinen, aber feinen Truppe, die auf besondere Investments spezialisiert war. Beim Millenium-Jahreswechsel war er noch bei der südafrikanischen Task-Force, die um Mitternacht wie gebannt auf die Computer der großen Banken starrte, jederzeit mit dem Zusammenbruch der Systeme rechnend. Irgendwann danach verließ ihn die Lust. Drei Wochen lang war er jeden Morgen mit dem Warum-tue-ich-das-Gefühl aufgestanden. Und dann war es gut. Mit den vielen Zweifeln. Zu viele, als dass er sie noch länger hätte bändigen mögen. Ausgezweifelt und aufgehört. Nicht zum Jahresende, nicht in drei Wochen, drei Monaten. Nein, heute.
Morgen, hatte er beschlossen, beginnt ein anderer Tag in einem anderen Leben. In seinem neuen Leben ist er mit Freude Innkeeper, steht morgens in der Küche des Guesthouse, denkt sich Menüs fürs Frühstück aus. Haferflocken mit Sahne, Honig und schottischem Whisky, geschmorte Kuduleber mit Zimtapfelscheiben zu den Rühreiern mit Trüffelöl.
Wir sitzen auf der Terrasse, trinken eiskalten Champagner, essen Käsetörtchen. Gerhard und seine Frau Anna feiern, dass sie sich kennen.
Das war knapp mit dem Kennenlernen, eine Sache von Minuten. Es war ein Telefonat, das Anna aufgehalten hat. Wäre nicht dieser Anruf ihrer Schwester gewesen – es ging um irgendetwas Belangloses –, hätte Anna just an diesem Vormittag, in dieser Minute den Vertrag mit der Dating-Agentur gelöst und gelöscht. Zu lange hatte sie schon auf den richtigen Mann gehofft, zu viele Abendessen mit merkwürdigen Menschen hinter sich gebracht. An diesem Vormittag, in jener Minute, als Anna mit ihrer Schwester telefonierte, hatte Gerhard Annas Profil bei der Partnerschaftsvermittlung entdeckt und ihr eine E-Mail geschickt.
Einer wie Gerhard auf Partnersuche im Internet. Fast undenkbar. Aber eben nur fast. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau war er das Alleinsein leid, wollte aber nur einen einzigen Versuch wagen. Ohne großen Optimismus eigentlich, eher aus Neugier, aus Interesse, ob dieses technische Medium Computer funktionieren kann, wenn es um Menschen, nicht um Zahlen geht.
Als Anna den Dating-Vertrag löschen wollte, sah sie Gerhards Eintrag. Ein letztes Mal, beschloss sie. Ein letztes Mal versuche ich es noch. Vor dem geplanten Abendessen lud sie ihn auf ein Glas Wein bei sich zu Hause ein. Das schlug er aus, Restaurantbesuch, sonst nichts. Nach zwei Stunden lieferte er sie an ihrer Haustür ab.
Das war’s. Dachte Anna.
Zwei Tage später eine SMS, ob er sie zu Hause, bei sich, am Ozean, zum Essen einladen dürfe. Er durfte. Eine Woche nachdem Anna ihren Dating-Service hatte kündigen wollen, nach einem formellen Dinner, nach einer SMS und einem Abendessen bei Sonnenuntergang, zog Anna bei Gerhard ein. Versetzte damit vier erwachsene Menschen in Panik: die beiden Söhne von Anna, Sohn und Tochter von Gerhard. Die waren sich, obwohl einander unbekannt, einig: Vater/Mutter ist wahnsinnig geworden.
Sind sie nicht.
Höchstens wahnsinnig glücklich.
Er mit 64, sie mit 61.
Kalter Champagner und Käsetörtchen markieren jetzt jenen Tag, an dem durch einen vorschnellen Tastendruck alles auch ganz anders hätte kommen können.
Wieder ein Abendessen bei Anna und Gerhard. Mit am Tisch Louis, Annas ältester Sohn, und seine beiden Kinder. Seine Frau hat ihn vor ein paar Monaten verlassen.
Ein neuer Mann, die Lust auf neues Glück. Anja und Christie, die beiden Kinder, werden hin- und hergeschoben. Eine Woche beim Vater, eine bei der Mutter. Es wird nicht darüber geredet. Auch nicht darüber, warum so etwas passiert. Warum sich ein neuer Mensch anfühlt, als sei man wieder lebendig. Was denken Kinder, die neun und zwölf Jahre alt sind, wenn Vater und Mutter sich trennen? Ich glaube nicht an die Nullachtfünfzehn-Psychoerklärung, Kinder fühlten sich schuldig.
Sie fühlen sich verantwortlich, ja. Zuständig dafür, die Eltern wieder zusammenzubringen. Schuldig fühlen sie sich höchstens, wenn sie das nicht schaffen. Aber sie wissen nicht, dass sie das gar nicht schaffen können.
Wir reden über alles Mögliche, aber das Ungesagte wabert im Raum. Vielleicht gerade deshalb schleicht sich das Thema Heirat, Glück ins Gespräch. Anja, die Zwölfjährige von Louis, hat die Augen weit aufgerissen, hört beinahe atemlos zu. Als sie gefragt wird, wann sie glaubt, heiraten zu wollen, sagt sie wie aus der Pistole geschossen: in neun Jahren. Dann ist sie 21. »Nur über meine Leiche«, sagt ihr Vater leise.
Mit 21. Früh finden wir Erwachsenen das. Viel zu früh. Für Anja scheint es bis dahin noch eine halbe Ewigkeit, neun endlose Jahre. Und 21, das ist für sie schon fast alt, zumindest aber sehr erwachsen. Ich habe noch mit 19 gedacht, dass das Leben spätestens mit 40 so gut wie vorbei ist.
Jetzt bin ich 65, und wenn ich an 19 denke, fällt mir nichts mehr ein. Es fühlt sich an, als sei es einem anderen Menschen in einem anderen Leben passiert. Und doch ist dieses Ich-bin-19-Leben irgendwo noch in mir drin, hat im besten Fall eine kleine Prägung, im weniger guten eine mittelmäßige Delle hinterlassen.
Wie wird es sein, falls ich 89 werde? 95?
Wird mir dann mein 65er-Leben vorkommen, als sei es aus der Zeit gefallen?
Jemand hat geschrieben, dass uns das Alter nicht einholt, es kommt uns entgegen. Gefällt mir, diese Form der Annäherung.
Als die beiden Mädchen später auf der Couch einschlafen und wir noch beim Wein bleiben, erzählt Louis, dass er die neunjährige Christie neulich zum Ballettunterricht gebracht hat. Die Tanzlehrerin war neu in der Schule, eine große, sehr attraktive Frau. Als Vater und Tochter den dunklen Gang zur Turnhalle Richtung Unterricht laufen, steht plötzlich die Lehrerin in der Tür. Im Gegenlicht, das auf ihre Locken fällt, wird sie zu einem blonden Engel. Christie fragt ihren Vater, ob er die Frau auch sieht.
Wie kann ich sie nicht sehen, so schön, wie sie ist?
Sie ist Single, Dad, sagt Christie.
An uferlosen Tagen wie diesen wüsste ich gern, was für ein Kind ich war. Wenn ich mit mir allein war. Habe ich mich je gelangweilt? Fühlt sich nicht so an. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. An Langeweile, an Nicht-Wissen, was man tun soll, tun will.
Ich habe kein Gefühl für Langeweile.
Mir wird die Weile nicht lang. Glaube ich.
Ganz sicher bin ich mir nicht.
Es müsste mal einer in einem Restaurant einen Film drehen. Die Handlung wäre ganz simpel:
Paare beobachten. Urlaubspaare. Sie beschließen den Tag mit einem Abendessen im Restaurant. Es gibt nicht viel zu sagen. So sieht es jedenfalls aus. Ein Zeichen von Leere, Überdruss, von Bei-lebendigem-Leibe-in-der-Ehe-Begraben?
Oder Zeichen von stummem Verstehen, von Gleichtakt, von Nicht-mehr-viele-Worte-machen-Müssen? Von leisem Glück?
Essen in der Öffentlichkeit, eine sehr intime Angelegenheit. Mir ist peinlich, wie ich seziere. Wie meine Fantasie mit mir durchgeht, wie ich beobachte, manchmal starre, mithöre.
Ein stiller Teilhaber am Leben der anderen.
Seit zwanzig Tagen gehe ich am Meer entlang und sammele Steine. Es gibt jede Menge Muscheln, aber ich will Steine. Die tiefroten, mit der ockergelben Maserung. Das Gelb malt Phantastisches auf die Steine. Die Umrisse von Afrika. Einen Horizont mit Palmen. Einen Delfin. Ich bin streng in meiner Auswahl, nicht jeder Stein kommt mit.
Als die vielen Steine kurz vor der Abreise auf dem Terrassentisch liegen, ist mir nicht mehr klar, warum es diese sein mussten. Warum ich sie aufgehoben habe, aufbewahren will. Ich spüre vages Unbehagen, den Impuls, sie dem Meer zurückzugeben. Wenn ich sie später in die Glasvase in meinem Badezimmer lege, sind sie dann noch die, die sie waren?
Liegt es an den Ferien, der Ruhe und der Planlosigkeit, dass mir solche Gedanken kommen? Wie lange würde ich das aushalten, was ich seit drei Wochen tue? Dem Meer zuhören, mich in der Ferne verlieren, Zeit im Überfluss haben, sie verprassen, mit vollen Händen ausgeben. Geht das so leicht, weil ich weiß, dass es ein Ende haben wird? Haben muss.
Muss es?
Es klang so leicht. So unbeschwert. In einer Radiosendung hatte der erfolgreiche Autor auf die Frage, was für ihn Glück bedeute, eine Antwort zur Hand, die perfekt schien. Maßgeschneidert für jedermann. Glücksklamotte in Unisex. Ein Mantel aus Worten, zum Wohlfühlen.
Ich habe es nicht geschafft, mir seine grandiose Glücksdefinition zu merken, sie hat sich verflüchtigt wie ein Champagnerrausch, jenes Glücksseligkeitsgefühl, das sich nach dem zweiten, dritten Glas einstellen kann. Wenn man beinahe selbst schon perlt, vor sich hin blubbert, sich an sich selbst berauscht und sich tief drinnen etwas sachte Richtung Superman ausdehnt, das locker jeden Selbstzweifel in die Ecke drängt. Glücksbesoffen eben.
Ich wünsche Dir viel Glück. Als ob Glück etwas zum Festhalten sein könnte. Was man zu Hause abgepackt ins Medizinschränkchen stellen und bei akutem Unglücklichsein herausholen kann. Täglich dreimal zehn Tropfen nach den Mahlzeiten. Dabei ist Glück schnell verderbliche Ware. Geschätzte Haltbarkeitsdauer zwanzig Sekunden.
Glück, das ist ein Amselmoment. Wenn sie auf dem Dachfirst hockt, wie eine gefeierte Sopranistin in die Runde blickt und jubiliert, was das Zeug hält. Und für einen Augenblick, genau die Länge, die man braucht, um einmal zu blinzeln, bin ich beseelt, den Tränen nahe. Nein, ich weiß nicht, warum. Ich will es auch nicht ergründen. Man kann dem Glück nicht nachstellen, mit Worten gleich gar nicht.
Das mag es nicht.
Ist man glücklich, wenn man verliebt ist? Habe ich oft so empfunden. Heute würde ich es vorsichtiger Hochgefühl nennen, denn ich kenne auch die Fallhöhe.
Hochgefühl, bei der Formulierung komme ich mir vor wie ein Mitarbeiter des Katasteramtes, der zufrieden an seinem Ärmelschoner zupft, weil es ihm soeben gelungen ist, etwas vage Schönes mithilfe einiger Buchstaben zu erwürgen.
Glück ist gleich Hochgefühl?
Ich habe dem bekannten Autor mit dem Glücksversprechen eine Mail geschrieben. Ihn gebeten, es mir noch einmal aufzuschreiben.
Wann er es spürt.
Und wie er es dann nennt.
Noch ehe er mir das Wechselgeld zurückgibt, steigt er aus, prüft kurz die Bordsteinkante und fängt an. Der Taxifahrer macht fünfzig Liegestütze, hinter uns hupt einer, den Turner stört es nicht. Er hat eine Mission. Er will mir zeigen, wie man sich beweglich hält, auch wenn man den ganzen Tag sitzen muss.
»Ist ganz leicht«, sagt er, »auch für Frauen«. Er heftet den Blick auf meine Oberarme.
Ich spanne automatisch die Muskeln an, was aber keine Wirkung zeigt. Flatterarm bleibt Flatterarm.
Der Platz neben jenem Taxifahrer ist nicht einfach nur ein Beifahrersitz. Er wird zum Beichtstuhl, als der Liegestützenmann mir eröffnet, dass er in einem früheren Leben mal Zuhälter war. Ja, er hat auch Frauen geschlagen, aber nur, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.
Ob ich das schlimm fände, will er wissen.
Die Frage ist doch, finde ich es schlimm, dass ich den Eindruck vermittle, als hätte ich die gottgegebene Autorität, während einer fünfzehnminütigen Fahrt mal eben wildfremde Menschen zum Beten von drei Rosenkränzen für vergangene und zukünftige Sündenfälle zu animieren?
Möglicherweise muss bei meinem Taxifahrer auch noch ein Ave Maria dazu, denn er kramt weiter in seiner Vergangenheit und fördert mehrere Wohnungseinbrüche zu Tage.
Früher natürlich.
Früher, als er noch jung war. Was sie damals angestellt haben, war allerdings nichts im Vergleich zu dem, was heute los ist. Alles viel krimineller heute. Wo doch in jede dritte Wohnung eingebrochen werde.
Könnte auch jede achte gewesen sein, das habe ich vergessen, weil das Gespräch kurz darauf einen für mich sehr ungünstigen Verlauf nimmt.
Zunächst bleibe ich höflicher Fahrgast, möchte etwas zur Unterhaltung beitragen und erwähne, dass man auch in meine Wohnung mal eingebrochen habe, ich danach das Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel, das ins Bücherregal gehört, unter der Matratze wiedergefunden hätte. Nein, gestohlen hätten sie nichts. Keinen teuren Schmuck, keine teuren Uhren.
Wo nichts ist, kann man nichts klauen.
Er wirft mir einen schnellen, scharfen Blick zu. »Tja«, sagt er, »da haben die sich mal geirrt. Die haben gedacht, eine alte Frau, die hat bestimmt Gold zu Hause liegen.«
Bis ich begriffen hatte, was er meinte, hat es ein paar Augenblicke gedauert.
Definitiv keine Amselmomente.
Die alte Frau, das war ich.
Lange danach, und auch jetzt wieder, frage ich mich, warum ich stumm geblieben bin.
Warum ich mich nicht empört habe.
Worüber?
Über die alte Frau? War das unverschämt? Oder nur unhöflich? Oder schlicht wahr? Warum soll man nicht ansprechen, was man zu sehen glaubt? In Gedanken fallen meine möglichen Erwiderungen noch immer sehr kurz aus. Einsilbige Empörung.
Im Ernstfall sind die mentalen oder verbalen Wehrübungen ohnehin sinnlos. Im Ernstfall übernimmt die Sprachlosigkeit. Siehe Turnschuhe.
Ich stehe in Istanbul im Basar, ich will ein Paar Turnschuhe. Zitronengelbe, ich habe sie draußen baumeln sehen. Der Laden ist winzig, vollgestopft mit Schuhkram, Herren, Damen, Kinder. Um zitronengelbe Turnschuhe in meiner Größe zu finden, muss der kleinere Bruder des jungen Verkäufers auf eine Leiter und oben, im Speicherchaos unter dem Ladendach, suchen.
Es dauert. Er flucht Unverständliches.
Der große Bruder unten wirkt gereizt, guckt mich an. Erst meine Füße, die Beine, dann mein Gesicht.
»Sie sind über fünfzig«, sagt er sichtlich genervt.