Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff - E-Book

Dämmer und Aufruhr E-Book

Bodo Kirchhoff

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Beschreibung

Wer spricht, wenn einer von früher erzählt? Das fragt sich ein Autor in dem kleinen Hotel am Meer, in dem seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbracht hatten, die letzten vor ihrer Trennung. Er bewohnt das Zimmer, das sie bewohnt haben, und schreibt dort an der Geschichte seiner frühen Jahre, erzählt sie mit der Distanz des Schriftstellers als eine auch fremde Geschichte: Er greift zu den Mitteln und Freiheiten des Romans, um der Geschichte seiner Sexualität, die zugleich die Geschichte seines beginnenden Schreibens ist, einen Rahmen zu geben, eine Lebenslegende, die doch nah an der eigenen schmerzlichen Wahrheit bleibt, zu der auch die gescheiterte Ehe seiner Eltern gehört. Der Krieg hat die Eltern zusammengewürfelt, die junge Schauspielerin aus Wien und den talentierten Kriegsheimkehrer mit verlorenem Bein aus Hannover, der vor dem Nichts stand. Alles, was sie wollen, ist der Enge ihrer Zeit entfliehen, jeder auf seine Art, daran zerbricht ihre Ehe. Der kleine Sohn kommt ins Internat, ein Drama der Details nimmt seinen Lauf, jenseits aller verstehenden Sprache auf einer Klinge aus so beklemmender wie betörender Gewalt. In seinem großen autobiografischen Roman "Dämmer und Aufruhr" dringt Kirchhoff mit starken Erinnerungsbildern und großem erzählerischen Atem in die Tiefen des eigenen Abgrunds vor. Dabei erzählt er vom Eros einer Kindheit und Jugend, davon, wie Wörter zu Worten wurden und daraus schließlich das eigene Schreiben, der Weg hin zur Literatur. "Wenige Tage vor seinem Geburtstag erscheint nun sein vielleicht wichtigstes Buch [...] Es enthält das gesamte Ausgangsmaterial eines altersweise gestimmten Formulierungskünstlers [...]. In seinen sorgfältig gemeißelten Sätzen über die Eltern, die ihre Kinder sich selbst überlassen haben und selber Verlorene waren, liegt etwas Feierliches, stolz Vergebliches und streng Überformuliertes, das an den längst verflogenen Suhrkamp-Weihrauch erinnert, ganz wunderbar ist und melancholisch macht." Iris Radisch, Die ZEIT

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Wer spricht, wenn einer von früher erzählt? Das fragt sich ein Autor in dem kleinen Hotel am Meer, in dem seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbracht hatten, die letzten vor ihrer Trennung. Er bewohnt das Zimmer, das sie bewohnt haben, und schreibt dort an der Geschichte seiner frühen Jahre, erzählt sie mit der Distanz des Schriftstellers als eine auch fremde Geschichte, eine Lebenslegende, die doch nah an der eigenen schmerzlichen Wahrheit bleibt, zu der auch die gescheiterte Ehe seiner Eltern gehört.

Der Krieg hat die Eltern zusammengewürfelt, die junge Schauspielerin aus Wien und den talentierten Kriegsheimkehrer mit verlorenem Bein aus Hannover, der vor dem Nichts stand. Alles, was sie wollen, ist der Enge ihrer Zeit entfliehen, jeder auf seine Art, daran zerbricht ihre Ehe. Der kleine Sohn kommt ins Internat, ein Drama der Details nimmt seinen Lauf, jenseits aller verstehenden Sprache auf einer Klinge aus so beklemmender wie betörender Gewalt.

In seinem großen autobiografischen Roman »Dämmer und Aufruhr« dringt Kirchhoff mit starken Erinnerungsbildern und großem erzählerischen Atem in die Tiefen des eigenen Abgrunds vor. Dabei verbindet er Sexualität und Sprache, ohne dass eines das andere bloßstellt, und erzählt vom Eros einer Kindheit und Jugend, davon, wie Wörter zu Worten wurden und daraus schließlich das eigene Schreiben, der Weg hin zur Literatur.

»Bodo Kirchhoff ist ein Meistererzähler.«

Richard Kämmerlings, Literarische Welt

»So brillant wie der reife Bodo Kirchhoff können nur wenige über das Wesen des Schmerzes, des Begehrens und der Liebe schreiben.«

Christoph Schröder, KulturSpiegel

»Bei Kirchhoff gerät man in den Sog einer Erzählkunst, die ihresgleichen sucht in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur.«

Hajo Steinert, Literarische Welt

Bodo Kirchhoff in der Frankfurter Verlagsanstalt

Die Romane:

INFANTA

PARLANDO

SCHUNDROMAN

WO DAS MEER BEGINNT

DIE KLEINE GARBO

EROS UND ASCHE

DIE LIEBE IN GROBEN ZÜGEN

VERLANGEN UND MELANCHOLIE

Die Novellen:

OHNE EIFER, OHNE ZORN

GEGEN DIE LAUFRICHTUNG

DIE WEIHNACHTSFRAU

DER PRINZIPAL

WIDERFAHRNIS – Deutscher Buchpreis 2016

MEXIKANISCHE NOVELLE

Die Erzählungen:

MEIN LETZTER FILM

DER SOMMER NACH DEM JAHRHUNDERTSOMMER

BETREFF: EINLADUNG ZU EINER KREUZFAHRT

Die Essays:

LEGENDEN UM DEN EIGENEN KÖRPER

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

für Nina, in brüderlicher Dankbarkeit

Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig. Ist weder falsch noch richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen.

Man spricht in seiner eigenen Sprache,man schreibt in einer fremden.

(Jean-Paul Sartre, Die Wörter)

1

Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt, auf sein erstes Glühen in der Kindheit blickt, wessen Stimme macht hier den Anfang, sagt Es war einmal – ein unvergesslicher, gültiger Alpensommer. Jubelrein der Himmel, wie gestochen die Berge, die Spitzen, hell ihre Hänge und Matten, bläulich der Wald darunter, dunkel ein Moorsee zum Baden; und oberhalb des Sees ein Gasthof mit Gewölbegang, davor zwei Liegestühle auf fetter Wiese, in einem, das Gesicht verdeckt, ein Kind mit Sonnenhut, im anderen die noch junge Mutter, tagelang seine Allmächtige. Der Hut gehört ihr, das Kind trägt ihn samt der Idee, ihn zu tragen, wie es auch, ganz kleingeduldiger Kavalier schon, die Badetasche trägt, wenn es zum See geht. Fiebrige Tage sind das, eins fließt ins andere, das Himmelsblau ins dunkle Wasser, tanzender Heustaub im Hausgewölbe in das Wirken einer Spinne, der Glanz ihrer Fäden in den Schimmer der Mutterbeine. Sie sonnt sich in Shorts, welch ein Wort aus ihrem Mund. Beim Aufbruch zu dem Gasthof war sie noch im Wollrock trotz der Hitze am späten Vormittag, als alles Sichtbare schon etwas Vollendetes hatte, der Wald, die Wiesen, die Almen, darüber das Geröll, der Fels – Herrgott, ist das schön!, ihr verzückter Ausruf oder die denkbare Zeile unter einem Foto von Mutter und Sohn, Frühsommer zweiundfünfzig.

Die junge Mutter präsentiert sich, Hände an den Hüften, der Kamera, darin ein Rollfilm, sechs mal neun, schwarzweiß, während das Kind, blinzelnd blicklos, am Rand eines Feldweges auf dem gemeinsamen Koffer sitzt – eine Abschiedsszene, aber Abschied von wem? Das Foto zeigt nur, wo die Szene stattfand, in der Umgebung von Kitzbühel, mit dem Wilden Kaiser im Hintergrund. Die Erinnerung reicht jedoch über das Bild hinaus, sie hat auch eine Tonspur, und da gibt es noch einen zweiten Ausruf, ein Abschiedswort als Stoßgebet, wie es nur von der Wiener Mutter der Mutter gekommen sein kann: Gott beschütz dich und die Mammi! Das saß. Lange vor der Schule, dem Alphabet, zerlegte der so Beschützte die Wörter, die ihn umschwirrten, Mammi, Kitzbühel, Gott; kein Ich ohne Sprachtheater, und das leichteste Spiel hatten die Selbstlaute, das A, das I, das Ü, das O. Erst will man den klangvollsten Buchstaben, später das letzte Wort – als der, der sich hier erinnert, längst Vater der Frau mit Kind und Koffer hätte sein können, erschien ihm die Anrede Mutter als einzig schlüssige, wann immer er die besuchte, deren Sommerkavalier er einst war. Nur gab es noch ein späteres Wort, das aber nicht dem gehörte, der es aussprach – wenn ich leise stockend am Telefon Mütterchen sagte, Mütterchen, wie geht es dir heute?

Die junge Frau auf dem Abschiedsfoto ist Schauspielerin, Ende des Sommers wird sie in Hamburg wieder auf einer Bühne stehen. Ihr Fach: die flattrige Schöne, die dem Helden den Kopf verdreht, die noch verpuppte Dame, auch dafür hat der kleine Sohn schon Augen, sie sind ihm früh geöffnet worden, Schau, das bin ich, die rauchende Dame auf dem Zeitungsbild! Dazu kommt noch eigener Eindruck, wenn er im Souffleusenkasten des Deutschen Schauspielhauses sitzen darf; dort hört er die vertraute und doch andere Stimme von der Bühne und sieht die Beine der Dame Mammi – zwei Wörter, zusammengeschnürt ein treffliches Wort, Damemammi. Ihre Beine verlieren sich in einem Dunkel unter dem Rock, das für den Dreijährigen schon kein Dunkel mehr ist, weil er auch dabei sein darf, wenn die Mutter massiert wird, entblößt auf dem Bett, mal in Bauch-, mal in Rückenlage. Es ist ein Zuschauen mit großen Augen, Wonneaugen genannt, Augen, denen nichts anderes übrig bleibt, als wieder und wieder hinzuschauen, bis das Erspähte, Geschaute, zur inneren Welt wird, so gültig wie die Sommertage mit Damemammi oberhalb des Moorsees.

Der schönste aller Kitzbüheler Sommer, hieß es mit leisem Seufzen, wann immer das Aufbruchfoto später von Hand zu Hand ging. Erst seufzte die Wiener Großmutter (bis zu ihrer Hochzeit mit einem deutschen Offizier Mitte der zwanziger Jahre Primadonna an der Volksoper in Wien), dann seufzte ihre Tochter, die junge Schauspielerin, und zuletzt der, der sich auf dem Koffer sitzen sah, um sich mit dem Seufzer auch schon erinnerungsselig zu geben: Ja, dieser Sommer, die Tage in dem Gasthof bei Kitzbühel, der Aufbruch dorthin! Mutter und Sohn sind sichtlich zu zweit, mit nur einem Koffer, die Person, die das Foto macht, kommt nicht mit – hätte das auch der Vater sein können? Auf keinen Fall; er ist nicht nur in der Szene abwesend, er ist überhaupt ein Abwesender während der Sommerfrische, wie die Urlaubszeit in der noch wienerischen Welt der Großmutter heißt. Nein, der Vater ist in Hamburg, er versucht dort finanziell auf das Bein zu kommen, das ihm nach dem Krieg geblieben ist; die beiden Frauen, Mutter und Tochter, und der knapp Vierjährige sind ohne ihn mit dem Nachtzug nach Kitzbühel gereist. Erst verbringt man ein paar gemeinsame Tage im Gasthof Vordergrub unterhalb des Kitzbüheler Horns, dann separiert sich die junge Schauspielerin mit ihrem kleinen Kavalier, und bei dem Aufbruch sitzt er in kurzer Lederhose auf dem Koffer, die Hände im Schoß gekreuzt. Zu der Lederhose trägt er ein helles Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, seine Füße stecken in Söckchen und Halbschuhen, die nicht ganz den Boden erreichen, obwohl er auf einem Koffer von nur mittlerer Größe sitzt, in praller Sonne, daher das blicklose Blinzeln; der Koffer wirft kaum einen Schatten, es ist ein Mittag Anfang Juli, um seinen Geburtstag herum. Und dann geht es ein Stück über den Feldweg bis zur nächsten Straße, wo ein mondgelber Postbus für die zwei Fahrgäste anhält. Der Bus fährt nach Kitzbühel hinein, und die Mutter grüßt fremde Leute, die zusteigen. Der dort ist ein Herr, sagt sie dem Kind ins Ohr, und die da ist eine Frau, keine Dame, siehst du’s? Und das Kind nickt und sieht aus dem Fenster. Die Fahrt geht auf ein Tor zu, gleich daneben ist ein Kino mit Schrift über dem Eingang – Lichtspiele, spricht die Mutter mit Theaterstimme. Nach dem Tor geht es bald aus dem Ort hinaus, auf einer Landstraße zum nahen Schwarzsee. Dort verlassen sie den Bus bei einer Badeanstalt, und die Mutter sieht schon den alten Gasthof mit Holzbalkonen und überdachtem Glöckchen auf dem Giebel. Schau, das ist das Glöckchen, das zum Essen läutet, sagt sie. Aber auch läutet, wenn ein Gewitter droht. Und wehe, man ist dann nicht rechtzeitig im Haus, hörst du? Und das Kind lauert von da an auf das Läuten.

Der Gasthof liegt an einem flachen Hang, unten eine Weide für Kühe mit prallem Euter, weiter oben eine Wiese für plustrige Hühner, und durch beides führt ein schmaler Weg. Damemammi trägt den Koffer, aber ihr Begleiter hilft, zwei Hände um einen Griff. Erst vor dem Gartenbereich des Gasthofs wird der Weg breiter und führt an Sträuchern entlang, kleine rote Beeren glänzen in der Sonne, und die Mutter schenkt dem Kind ein Wort, Ribiseln. Sie pflückt zwei der Beeren, nimmt eine in den Mund, kaut sie und schüttelt sich leicht und gibt die andere dem Kind, und es zerbeißt sie und schüttelt sich auch. Und wieder tragen sie beide den Koffer, es geht an Beeten vorbei, darin rote, grüne und blaue Kugeln auf Stöcken, ein buntes Gefunkel. Gegen die Vögel, sagt die Mutter, aber überall zwitschern Vögel, und Schwalben schießen unter dem Dach des Gasthofs hervor. Eine Frau tritt ihnen entgegen, Die Frau Wirtin, heißt es, und die Frau Wirtin begrüßt sie mit einem wie in Nase und Rachen erzeugten Singsang, den die Angekommene sofort nachahmt, ja übertrifft. Als Nächstes erscheint ein Knecht, so wird es dem Kind leise gesagt: Schau, das ist der Knecht vom Haus. Er bittet um den Koffer, damit er ihn aufs Zimmer bringt, so kann es gleich zum Mittagessen gehen, durch den Gewölbegang in die Wirtsstube, wo es nach Fett und Schnittlauch riecht. Sie haben einen Ecktisch, den besten am Fenster, auf dem Tisch ein Glasständer mit einer Vertiefung für Salz und einer für Pfeffer und in der Mitte einem Hals, aus dem Zahnstocher ragen; und die Teller mit dem Essen, das schon gebracht wird, haben ebenfalls drei Abteilungen, für das Schnitzel, für die Erdäpfel, für den Gurkensalat. Zu trinken gibt es ein Kracherl in der Farbe der Ribiseln, so prickelnd auf der Zunge wie das neue Wort im Ohr, und als Nachtisch einen Kaiserschmarrn, auch das wird dem kleinen Esser vorgesprochen, bis er es mit rollendem R nachsprechen kann, Kaiserschmarrn. Er teilt ihn sich mit der Mutter, und noch mit pudriger Süße im Mund fällt er in einem Zimmer unter dem Dach ins gemeinsame Bett. Halbschlaf und Schlaf verschwimmen ihm, er ist wach und träumt zugleich, und irgendwann taumelt er, traumtrunken, auf den Holzbalkon, und da sitzt Damemammi nackt auf der Bank, die Füße an der Brüstung mit Blumenkästen. Sie sonnt sich, auf jedem Lid eine rote Blüte, als hätte ihr wer die Augen ausgestochen.

Die ersten Stunden, der erste Tag, mit einem Abend, an dem es kaum abkühlt, gipfelnd in einem Unwetter mit Wind und Blitzen, noch ohne Regen, als man schon im Bett liegt, nur unter einem Laken, Kopf an Kopf, und das Läuten des Glöckchens ausbleibt. Dafür redet die Mutter, sie flüstert – was Blitze anrichten könnten, großer Gott, sogar einen Mann in der Mitte spalten. Sie nutzt die Pausen zwischen dem Donner, spricht von erschlagenen oder brennenden Menschen auf freiem Feld, um ihren kleinen Zuhörer am Ende beruhigend in den Schlaf zu summen, während es vor dem überdachten Balkon endlich schüttet. Wie aus Kübeln, sagt sie und singt für ihn Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.

Und am anderen Morgen der gültige Alpensommer mit dem Frühstück im Freien; es gibt frische Semmeln und Honig, es gibt Fliegen und Wespen und eine Klatsche – Aber mach sie richtig tot, sagt die Mutter. Und später geht es durch die Wiesen zum Schwarzsee hinunter, das Kind trägt die Badetasche, mit der anderen Hand köpft es Pusteblumen. Sie lösen Karten für die Badeanstalt, aber nicht für die nahe gelegene, wo es laut sein soll, sondern für die auf der anderen Seeseite, nach einem Weg durch Tannenwald. Das Seebichel, wie man zur dortigen, kleineren, ganz in Holz gefassten Anstalt sagt, ist das Bad der Kitzbüheler Gesellschaft, zu der die junge Schauspielerin Anschluss sucht, gleich durch ein deutliches Grüß Gott auf dem Weg zu den Umkleidekabinen. Schon riecht man das moorige Wasser neben dem Duft des erwärmten Holzes, dazu kommt die Süße von Tiroler Nussöl auf all den Beinen und Schultern, den Armen und Wangen, die das Kind im Vorbeigehen sieht. Die Leute liegen auf ihren Handtüchern oder flach auf den Planken, sie dösen oder lesen oder winken denen zu, die im Wasser sind. Es gibt ein Sprungbrett für die Großen, und es gibt ein holzumrandetes Kinderbecken. Aber zuerst eincremen, die Brust, die Bäckchen, die Stirn, den Rücken. So macht man das, sagt die Mutter im weißen Badeanzug, und ihr Begleiter macht es gleich nach, cremt ihr die Schultern ein, den Nacken, die Schenkel. Ach, wie gut er das schon kann, von wem er das nur gelernt hat? Sie möchte eine Antwort, hörbar für alle im Umkreis, und der kleine Kavalier ruft: Von dir, von der Mammi! Es ist ein Fest der Selbstlaute, und so von der eigenen Sprache umgarnt, liegen sie auf dem warmen Holz, vor ihnen der dunkle See mit Waldrand, hinter den Tannen, leicht ansteigend, eine gestaffelte Landschaft, aus der in einiger Ferne, fast wie ein Bühnenbild, der Wilde Kaiser aufragt, seine Zinnen, seine Tore, ein strahlender Felsgarten, darüber der gewaschene Himmel. Damemammi liegt auf dem Bauch, sie liest in einem Buch, bald ist ihr einer Fuß in der Luft, bald der andere, und das Augenkind, gelegentlich auch Augenstern genannt, frei nach dem Lied Du bist mein Augenstern, verfolgt, wie sich aus dem Wechsel der Füße Falten im Badeanzug ergeben oder die Kniekehlen straffen. Aber es hat auch etwas anderes im Blick, ein anderes Kind – das erste andere Kind, das sich überhaupt in seinem Gedächtnis festsetzt –, einen schon gebräunten Jungen, der angelt und sogar einen kleinen am Haken peitschenden Fisch fängt, ihn packt und den Haken aus dem Maul zieht, samt rötlichen Fetzen, und ihn auf die Planken wirft, wo er noch ab und zu mit dem Schwanz schlägt. All das steigt dem Kind zu Kopf, es löst die Zeit auf. Schon ist es Mittag, und sie kehren zurück zu dem Gasthof, endlich läutet auch das Glöckchen, und man geht gleich zu Tisch, wie es heißt, zu den Tellern mit den Abteilungen. Das Essen sättigt, nur macht es auch müde, man will jetzt liegen, will faul sein. Also geht es über knarrende Treppen, vorbei an Geweihen und einer ausgestopften Eule, in das Zimmer unter dem Dach. Dort ist die Luft erdrückend, und die Schauspielerin ruft Ich ersticke! Aber sie erstickt gar nicht, sie zieht sich aus. Ich muss mir die Kleider vom Leib reißen, sagt sie, nur ist es auch kein Reißen, es ist ein Pellen und Fallenlassen. Sie bückt sich nach Rock und Bluse und einem langen Tuch, das auch am See dabei war, nach einer blassen Unterwäsche, und legt alles über den einzigen Stuhl; danach legt sie sich selbst auf das einzige Bett. Komm, sagt sie, auch ausziehen, ja? In ihrer Stimme ist etwas Atemloses, als hätten die Stunden am See und das Essen sie zwar erschöpft, aber doch nicht gänzlich erschöpft, eher etwas Unausgeschöpftes zurückgelassen. Und ihr kindlicher Begleiter zieht sich aus, wie verlangt, das Hemdchen, die kurze Lederhose, und was er darunter trägt, nur die Sonnenbrille behält er auf. Na, da schau her, wie schick, sagt die, die schon im Bett liegt, auf der Decke, nicht darunter, aber das möchte er selbst sehen und stellt sich vor einen Spiegel in der Schranktür. Er tänzelt, er macht Faxen, und vom Bett kommen Laute der Missbilligung, die zugleich ermunternde Laute sind, ja was denn nun, er darf es sich aussuchen, die Ermunterung reizt ihn mehr, sie bringt ihn auf eine Idee. Da ist das Tuch der Mutter auf dem Stuhl, das nimmt er und schlingt es sich um, für erneute missbilligend ermunternde Laute, wie Klapse in Richtung Spiegel. Also tritt er wieder vor den Schrank, zupft sich am Mund, am Haar, am Tuch, ein einsamer kleiner Geck. Und von der Mutter eine hastige Anweisung: den Vorhang zu schließen, das Fenster aber weit zu öffnen; beides geschieht, und der Geruch des aufgeheizten Moors zieht in Wellen herein. Vom geschlossenen Vorhang geht das Dienerkind zum Bett, dort wird ihm das Tuch gelöst und die Sonnenbrille abgenommen, ein vorläufiger Platz am Fußende zugeteilt, und ein Theaterseufzer kündigt eine Mittagsstunde jenseits der gewöhnlichen Welt und ihrer Gesetze an.

Fast ein Menschenleben später, wieder im Sommer, starb die Mutter im Alter von neunundachtzig, und in den Wochen danach sah der Sohn erstmals in eines ihrer Tagebücher, die eigentlich nur Jahresberichte über die Ehe mit seinem Vater sind, festgehalten in zwei Kladden, anfangs noch in flattriger Mädchenschrift. Und dort kommen die Kitzbüheler Tage im Bericht über das siebte Ehejahr nur am Rande vor: Der Sommer kam, die Ferienzeit, und Omi (meine wienerische Großmutter mit einer monatlichen Pension durch ihren gefallenen Mann, einen Major der Wehrmacht) lud mich nach Österreich ein. Mein über alles geliebter Mann konnte die Firma in Hamburg nicht im Stich lassen, und nach vielen Debatten – und einem Intermezzo, das zu erwähnen ich mir schenke – fuhren wir, mein Augenstern, Omi und ich, für vier Wochen nach Kitzbühel.

Dem Sommerintermezzo mit dem Augenstern ist also ein anderes vorausgegangen, für die Verfasserin nicht der Erwähnung wert und damit eben doch erwähnt, in einer Schrift der bald Achtundzwanzigjährigen, die immer noch etwas Instabiles zeigt, und der Seufzer hat dieses gar nicht erwähnte, still übergangene Zwischenspiel eingeleitet, dafür die Bühne frei gemacht: Ein knapp Vierjähriger kniet zwischen den Fersen der Mutter, die nackt auf dem Bauch liegt, das Gesicht in der Armbeuge; er folgt der Trägheit seiner Augen und kann etwas vom Geheimen sehen, wo die Schenkel sich treffen, von den Fältchen dort, dem dunklen Gras der Haare, den Mulden und den Kräuselungen, und was er sieht, gräbt sich ein, als leeres Schlüssellochbild. Er sieht Allesundnichts, aber ehe er sichs versieht, ist die Schlüssellochsicht schon die bleibende. Es ist ein fast lautloses Geschehen, nur mit Schleif- und Knistergeräuschen, als sich die Schläfrige ein Kissen unter den Schoß schiebt, um den Bauch zu entlasten (sie ist im vierten Monat, aber davon weiß der kleine Sohn nichts). Etwas aufgebockt liegt sie nun da, und ihr Augenstern erkundet die Kniekehlen und die weichen, im Halblicht so schimmernden Backen und was sich dazwischen verbirgt. Warme Luft drückt ab und zu gegen den Vorhang, bläht ihn, einzige Bewegung neben der der Finger, ihrem Tun in der Mittagsruhe; nur manchmal ist eins der Hühner auf der Wiese vor dem Gasthof zu hören, die kurze Erregung im Hals, wenn der Hahn es scheucht. Das Kind thront jetzt auf den Fersen der Schläfrigen, ein Infant, gekürt in aller Stille; seine Augen, schwimmend vor Wonne, folgen jeder Bewegung der Finger, und die tun, was sie wollen. Der Mutterleib ist ein vaterloses Gebiet, der Sohn reißt es sich unter den Nagel und prüft seinen Wert, kostet von den Fingern, wie auf Spaziergängen mit der Großmutter, wenn er die fingernagelkleinen wilden Himbeeren gepflückt hat, einen ganzen Strauch geräubert. Die Tage der Sommerfrische sind grenzenlos, zuerst im Gasthof Vordergrub, wo die großmütterliche Hüterin ihm erlaubt, zum Wiener Schnitzel schon etwas Bier zu trinken, das macht schön müde, dann in dem Gasthof mit Damemammi, da ist es erlaubt, auf ihr zu sitzen, an ihr zu spielen, sie zu erkunden, das macht schön neugierig. Der kleine Sommerkavalier trinkt schon und begehrt auch; er trinkt sogar bei der Mutter, seine Augen trinken und die Fingerkuppen.

Mehr als einmal sitzt er in diesen Tagen, in der Mittagsruhestunde, zwischen ihren Fersen oder den Kniekehlen, vorgebeugt, und sieht und befühlt das mütterlich Rückwärtige mit dem Spalt in der Mitte, darin noch immer ein Geheimnis. Die Liegende, das Gesicht halb im Kissen, schweigt. Gleich neben dem Kissen liegt ein Rollenheft, diese Nähe soll Wunder wirken, den Text von selbst ins Gedächtnis treiben; die junge Schauspielerin übt bereits für ihre kommende Rolle (dem Jahresbericht nach die der Lysistrata in der gleichnamigen Komödie von Aristophanes). Immer nach dem Frühstück ist sie auf dem Balkon, Füße an der Brüstung, das Heft auf den Knien, in der Hand einen kleinen grünen Bleistift zum Anstreichen ihrer Sätze, dazu Gemurmel und auch leises Lachen. Der Stift gehört zu dem Heft, als gäbe es nur den einen, und diesen einen holt sich der kleine Mittagsgalan schließlich, nimmt ihn in die Finger: ein Instrument, wie gemacht, um damit vorzudringen in das Geheime, dorthin, wo er herzukommen glaubt. Also erkundet er das Dunkel damit, ohne dass ihm Einhalt geboten wird. Er hat freie Hand bei seinem Tun und entdeckt, noch vor jedem Wissen um die Schrift, etwas nahezu Kreisförmiges, in das er den Stift senkt, seinen Buchstaben O. Die Schläfrige im Bett öffnet sich ihm, sein Tun ist kein Nehmen, eher ein Geben, ein zartes Versorgen. Der Infant stillt seine Mutter. Der kleine grüne Bleistift ist ein Teil von ihm, und es liegt ein unbestimmter Schmerz in seiner so sichtbaren Abnutzung und in dem Bemühen der jungen Schauspielerin, das nahende Ende seiner Bestimmung als Bleistift auf die Art noch hinauszuzögern, als gäbe es eben nur den einen Stift für beide Bestimmungen. Der Bleistift ist aber auch ein zierlicher Taktstock, sachte im Rhythmus bewegt, wenn die Mutter ihrem Augenstern etwas vorsingt, ein Lied, in dem das Weltdesaster, das seine Eltern zusammengebracht hat, nachhallt: Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg. Sie singt es leise ins Kissen, am Ende ist es nur noch ein Flugsummen, als wären sie nun beide beflügelt, träumerisch fliegend im Zimmer; die Schwerkraft scheint aufgehoben und damit auch andere Gesetze, eine Desperadostunde. Der kleine Gesetzlose aber nutzt den Bleistift, um in seinen Buchstaben O einzudringen, und da fallen unvergessene Worte: Aber nicht mit der spitzen Seite, mit der guten – eine nur geringe Einschränkung, die doch alles verändert, den Stift beseelt, während die anderen Dinge im Raum bleiben, was sie sind, der Koffer auf dem Boden ein Koffer, der Stuhl am Tisch ein Stuhl, die Waschschüssel eine Waschschüssel, das Textheft ein Textheft.

Der Unschuldsschlummer meiner frühen Jahre endete in diesen Mittagsdämmerstunden der Jahre, an die es nur verwischte Erinnerungen gibt, Bilder von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden: Ja, wahrscheinlich ist es so gewesen, alle Bilder sprechen dafür. Und doch könnte ich nicht einmal sagen, ob ich im Alter von drei, von vier, ein eher glückliches oder eher unglückliches Kind war; sicher ist nur das Alleinsein in diesen Jahren, das Fehlen eines Alltagsanderen und damit die so großartige wie traurige Idee, dass einem kein fremdes Wesen die Welt streitig macht. Wer oder besser gesagt: was war dann aber dieses alleinselige Kind in seinem Zimmer? Ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten, dass es sich selbst genug war. Es summte sich zum Beispiel oft ein Lied vor, das es nur von der Mutter gehört haben kann – In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee –, eine Melodie von universeller wehmütiger Leere, die mir noch immer, sobald sie irgendwo anklingt, nahegeht. Und es tat, was ich heute noch tue, wenn ich mich langweile, auf einem Stück Papier etwas kritzeln.

Gab es also den, der sich hier erinnert, bereits als das Kind, an das er sich kaum erinnert? Den, der im Moment in einem kleinen Hotel in Alassio schreibt, woran er schon länger sitzt, es nun aber beenden will in dem Hotel, das seine Eltern im Spätsommer 1958 nach einem Geschäft in Nizza, ihrem letzten finanziellen Aufatmen innerhalb der Ehe, für einige Tage bewohnt hatten – ich denke, ja. Es gab den, der hier zurückblickt, schon zu der Zeit, als er Kind war, ein Alleiniger auf der Welt, der noch in ihm steckt, ihn denken lässt, dass die eigene Geschichte auch eine allgemeine sei und er es sich herausnehmen könne, von seiner Welt und Zeit zu sprechen. Das ist das eine; das andere ist die stete Sorge jedes Infanten, unberechtigt das letzte Wort zu haben, als Regent (oder Chronist) also irgendwann zwangsläufig aufzufliegen.

2

Das kleine alte Hotel am schmalen Strand von Alassio an der Riviera dei Fiori heißt Beau Sejour, Schöner Aufenthalt, und war für ein paar Tage der Traumplatz meiner Eltern, so heißt es im Ehebericht für das Jahr achtundfünfzig: Wir hatten etwas Traumhaftes in Alassio gefunden, das kleine Strandhotel Beau Sejour, und verbrachten dort die letzten unbeschwerten, märchenhaften Tage, für die wir dem lieben Gott danken. Wir saßen auf unserem Balkon im zweiten Stock, sahen auf das blaue Meer und wussten, dass wir wieder etwas Geld im Rücken hatten, die Firma wenigstens bis Jahresende gerettet wäre. Und danach? Daran durfte man gar nicht denken.

Sie hatten in Nizza die Lizenz für das am zuverlässigsten arbeitende medizinische Gerät aus einer nie ganz auf die Beine gekommenen Apparatebaufirma, in der ihrer beider Träume steckten, nach Frankreich verkauft, das von meinem Vater mitentwickelte handliche Tastotherm, ein immerhin schon elektronisches Instrument für die sofortige Messung der Körpertemperatur – ein kleiner warmer Regen für die bedrängte Firma, ein Teil davon bar auf die Hand. Der Überschwang meiner Mutter rührte wohl auch von dem sichtbaren Geld und war ansteckend genug, damit sie beide unbeschwert über die nahe Grenze nach Alassio fuhren, damals wie heute ein mondänes Seebad in einer von Bergen umgebenen Bucht, bekannt für ein mildes Klima, mit fast noch sommerlichen Tagen bis in den Oktober. Ja, es waren die letzten schönen Tage, ein im Jahresrückblick unterstrichener Satz, als hätte die Verfasserin damit auch die Tage mit ihrem Mann gemeint, während der Sohn, fast ein Menschenleben später, nur das gute Wetter aufnimmt, darin aber verborgen die Melancholie der letzten schönen Tage, mit dem Bangen, wie lange es noch so weitergehe. Jeden Morgen ist es ein Ausschauhalten nach ersten Wolken beim Hinaustreten auf den einzigen Balkon im zweiten Stock des alten Hotels, einst Ferienvilla einer italienischen Familie, dem Balkon des inzwischen begehrtesten Zimmers, schon im Jahr zuvor gebucht, nachdem ich in den Kladden meiner Mutter auf das Beau Sejour in Alassio gestoßen war. Über den Aufenthalt selbst steht dort kaum etwas, nur eben dass er märchenhaft gewesen sei und es im Hotel einen Leseraum gebe (den es noch gibt), man auf einer Terrasse mit Meerblick frühstücken könne und das Zimmer klein sei, mit auch schmalem Bett – alles in allem aber unbeschreiblich schöne Tage, auch wenn mein geliebter Mann oft etwas Fernes hatte, mit einem Wein und einer Zigarette auf dem Balkon, sein ohnehin schon dunkles Gesicht in der Sonne.

Das Bett in dem Zimmer ist inzwischen breiter, ein französisches Doppelbett, kein Kingsize, zumal in das Zimmer nachträglich Dusche und Toilette eingebaut worden sind, während alles Übrige, der Schrank, der Schreibtisch, die Bilder, auch die Balkonstühle und der kleine gusseiserne Außentisch, alt ist oder mir so alt erscheinen will, dass schon meine Eltern diese Stühle genutzt haben könnten, meine Mutter mit Kissen im Rücken, dabei die Füße an der Brüstung, wie einst auf dem Holzbalkon in dem Gasthof oberhalb des Schwarzsees, wenn sie ihre nächste Rolle memoriert hat oder einfach nackt in der Sonne saß, zwei rote Blüten auf den Lidern. Aber was ist das, sich am vermutlich letzten Glücksort seiner toten Eltern aufzuhalten, diesen Raum einzunehmen, ja darin zu schreiben? Eine stille Übertretung, als hätte man als Kind, nachts von rätselhaften Lauten geweckt, die elterliche Schlafzimmertür geöffnet; aber auch eine Verbeugung vor ihren Tagen hier, die sie sich aus dem Leben geschnitten hatten, den Kämpfen um den Erhalt der kleinen Firma – Unternehmer sein, Traum meines Vaters, der als Habenichts mit einem Bein aus dem Krieg kam – und den Kämpfen um den Erhalt der Ehe: Traum meiner Mutter, das Liebesglück mit dem idealen Mann bis ans Ende aller Tage. Die erste Nacht in dem Zimmer war noch zerrissen, traumzerfurcht, und in der zweiten Nacht hat schon das Meer geholfen, die Geräusche der Wellen, ihr Anrollen und Brechen am Strand vor dem Hotel; der alte Sohn einst junger Eltern, die das Zimmer bewohnt hatten – sein Vater zweiundvierzig, die Mutter vierunddreißig –, hat tief geschlafen und war am nächsten Morgen von einer Wachheit wie unter einer Droge, wenn sich das Chronologische auflöst, Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen nebeneinanderstehen und es keine Grenzen der Erinnerung mehr zu geben scheint.

Mit meinem vierten Geburtstag endete das Zweisame und zugleich Einsame der Mittagsschlafstunden in dem Dachzimmer mit dem Geruch des aufgeheizten Moorsees, der in Wellen hereinzog. Wir wechselten wieder in den Gasthof Vordergrub, damit Das Menscherl, wie die Wiener Großmutter ihr Einundalles nannte, auch gefeiert werden konnte. Sie, meine Hüterin, hatte für Gratulanten gesorgt, die Kinder der Wirtsleute eingeladen, einen Buben und ein Mädel, beide mit Spangen im frisierten Haar – Gott, wie adrett, hieß es, als sie auftauchten –, sowie die Buben von dem Bauernhof, auf dem ihre Schwester wohnte, sie kamen barfuß, aber gekämmt immerhin, und jemand machte ein Foto von der Geburtstagsrunde, lauter lachende Kinder, bis auf den kleinen Jubilar, der etwas Abweisendes um seinen Mund hat. Die Eingeladenen sind im Grunde Claqueure zum Bejubeln der ausgepackten Geschenke, Spielzeug aller Art, das sie anschauen und berühren dürfen, aber nicht ausprobieren. Nur das Geburtstagskind darf, nachdem die Gratulanten verabschiedet worden sind, mit einem Ball spielen und ein Blechauto anschieben, damit es von allein weiterfährt, in einem Bilderbuch blättern und schließlich, als Höhepunkt, einen Pappzylinder aufsetzen und den dazugehörigen Zauberstab auf die drei Frauen am Tisch richten. Es darf sie verzaubern, und weil auf der Wiese vor dem Gasthaus Hühner umherlaufen, verwandelt es sie, Abrakadabra, in Hennen: drei, die sich im Hennesein überbieten, gackern und flügelhaft die Arme bewegen, zum Erstaunen aller übrigen Gäste – ein Spektakel, das den Zylinderträger vergessen lässt, was ihm die Mutter in der letzten gemeinsamen Bettstunde, sich den schon leicht gewölbten Bauch streichelnd, als großes Geheimnis erzählt hat: dass er bald ein Geschwisterchen bekomme. Und so fühlt er sich jetzt noch ganz als der Alleinige und lässt sich Zeit, den Zauber wieder aufzuheben, während das Wesen, in das er selbst verwandelt wurde – ein Unkind, das schon haben will, was es hatte, das schon begehrt –, als ihm eigenes Wesen bleibt. Unauslöschlich eingebrannt ist dieser Alpensommer, jedes Geschehen darin, alles so schrecklich Schöne, das unter keinem guten Stern stand, letztlich noch unter dem Unstern, dem Desastrum, das die elterliche Welt keine zehn Jahre zuvor heimgesucht hatte und das, von Kitzbühel und ähnlichen Orten abgesehen, noch überall sichtbar war.

Das Hamburg meiner ersten Jahre war ein Hamburg der entmutigenden, ihrer Farbe beraubten Farben, mit dem rußigen Klinkerrot der Häuser, dem Grau des Hafenwassers, der Werften, des Himmels; dem Düsteren der Speicher mit den Spuren von Ebbe und Flut, dem Schwärzlichen der Kanäle. Dazu am Abend das fahle Licht der Laternen, das Geduckte der Brücken, der eilige Heimweg, die Zigarette in hohler Hand, als gäbe es noch immer Verdunklung und ein Leben mit eingezogenem Kopf. Noch schien der Krieg durch seine Zeugnisse über den Menschen zu wachen, mit Ruinen, mit Bunkern, mit wie ausgebrannten Hochbahnstationen. In den Zügen standen Männer mit leerem Jackettärmel, die Hand, die sie noch hatten, am Haltegriff, während Männer mit leerem Hosenbein auf den Plätzen für Schwerkriegsverletzte saßen, die hochgeschlagenen Hosenbeine oder Ärmel oft nur lose angenäht, als würden sie noch einmal gebraucht, weil das Bein und der Arm vielleicht wieder nachwachsen, wenn es auch allgemein aufwärtsgeht. Aber von diesem Aufwärts war in Hamburg noch nichts zu sehen. Es herrschte ein Halblicht zwischen Tag und Nacht, die Sonne schien lediglich rund um die Alster, das war der Eindruck; dort waren die Villen auch hell (wie eine Vorstufe zu ihrem heutigen Unschuldsweiß), und der Mercedes vor der Tür war schwarz. Noch hielten sich die Reichen im Hintergrund, das Hamburg meiner frühen Kindheit war eine Arbeiterstadt, ein geschundener, aber in sich zäher Stadtleib, mit nicht totzukriegenden Organen, St. Pauli, St. Georg, Altona, Hoheluft oder Winterhude – ich führte diese Namen im Mund, wie die Namen von Spielgefährten, die es nicht gab. Und ich mochte es, an den Ruinen vorbeizugehen, oft noch mit einem kleinen Laden darin, einem Milchgeschäft im Souterrain, oder einer einzelnen Wohnung im ersten Stock, einem Fenster mit Gardine zwischen Ausgebranntem, so gerettet wie verloren. Bis auf die Pracht um die Außenalster ist mir nichts froh in eine Zukunft Weisendes aus den frühen Hamburgjahren in Erinnerung, und letzten Endes zielte die ganze elterliche Anstrengung darauf, aus dieser allgemeinen Düsternis an ein bleibendes Licht zu kommen. Das Desaster des Krieges, das zwei alles andere als füreinander Bestimmte vereint hatte, blieb für die beiden Entronnenen folgenschwer, mit den sichtbaren Folgen der Zerstörung und mehr noch den unsichtbaren, vor allem der ständigen Sorge, wieder in das Chaos zurückzufallen und nur durch unaufhörliche Anstrengungen die Bresche in eine bessere, die hellere Zukunft offenhalten zu können.

Vereint, ein zu romantischer Begriff für das, was zu dieser Verbindung geführt hatte. Ein Zahnarzt und Angehöriger der SA, mit dem meine künftige Großmutter im Wien der letzten Kriegsmonate wohl etwas mehr als eine Affäre gehabt hatte, war mit einem jungen Hauptmann, der dort nach einer Beinamputation im Lazarett lag, in irgendeiner Form bekannt genug, um ihm gegenüber die schöne Tochter seiner getrösteten Kriegerwitwe mehr als einmal zu erwähnen, eine junge Schauspielschülerin, abkommandiert zur Pflege von Verwundeten, aber tätig in einem anderen Flügel des Lazaretts – so weit die Version der einstigen Reinhardt-Seminar-Absolventin, meiner Mutter, als sie schon vom Leben nichts mehr wissen wollte. Dieser SA-Zahnarzt also, beschäftigt in dem Lazarett, in dem mein künftiger Vater lag, hat den jungen Hauptmann, beinamputiert zwar, aber fesch, wie man in Wien sagt, gut aussehend, vorbereitet auf die schöne Hilfsschwester, und noch vor der ersten Begegnung ist der in jeder Hinsicht ausgehungerte Soldat aus Hannover blind genug, um die ihm eigentlich fremde Gefühlslage, das überreizte, von tiefem Kummer geradezu gemästete Glücksverlangen einer Neunzehnjährigen, die erst den Vater und später den Verlobten durch den Krieg verloren hat, zu übersehen: Keine Verwundete tritt da an sein Bett – so verwundet wie er, nur unsichtbar –, sondern ein Engel. Und auch die, die vom Kuppler im Braunhemd mit Kampfbinde an das Bett des Hauptmanns gelotst worden ist, steht dort in herzklopfender Erwartung und erkennt allein, was sie sieht: einen Helden mit blauen Augen und schwarzem Haar, Offizier wie ihr so früh im Krieg als Major gefallener, über alles geliebter Vater, nebenbei zartbesaiteter Amateurdichter. Und sie sieht in dem Beinamputierten eine Art Wiedergeburt ihres Verlobten, als Leutnant in einem U-Boot ertrunken (beider Vornamen bilden meine Mittelnamen). Es hätte damit kaum besser und, aus der Distanz eines Lebens gesehen, kaum schlechter kommen können: Zwei, die sich unter weltfriedlichen Umständen niemals gefunden hätten, der Sohn eines gescheiterten Hannoveraner Möbelhändlers und die Schauspielschülerin aus gehobenen Wiener Kreisen hatten sich auf Anhieb gefunden – auch das, im Grunde, ein Desaster, aber vor dem Weltdesaster beiden als Glücksfall erschienen. Die Hochzeit fand in den letzten Kriegstagen statt, am vierundzwanzigsten März fünfundvierzig in Wien, Trauzeuge war der Zahnarzt, vermutlich noch liiert mit der Brautmutter, und ihm war es geschuldet, dass die Zeremonie trotz eines kirchlichen Rahmens vom Horst-Wessel-Lied begleitet wurde. Das Lied der Kampforganisation der NSDAP galt als zweite deutsche Nationalhymne, und so üblich es auch war, eine Hochzeit damit zu begleiten, um dem jungen Paar den Rücken zu stärken, war es doch keine Pflicht. Aber so kurz vor Kriegsende, bei der Hochzeit eines Hauptmanns, der sein Bein einem Verbrecher geopfert habe, wie er später oft sagte, war es ein Hohn auf den Bräutigam: den er entweder aus Liebe überhört hat oder als Preis für den Kuppler ertragen; denkbar auch, dass beides zusammenkam, ein Überhören und stilles Dulden, während der Brautmutter und ihrer Tochter zuzutrauen war, dass sie vom Erhebenden dieses Liedes trotz allen Leids durch den Krieg mit emporgehoben wurden. In jedem Fall beendete aber die Hochzeit den Kriegskummer offiziell. Der Verlust von Vater und Verlobtem und der Verlust eines Beins und der gemeinsame Verlust von Jugend hatte einen Ausgleich erhalten, nur ein tieferer Schmerz infolge aller Verluste blieb, und er ist im Verlauf dieser Ehe, samt den Versuchen, ihm zu entfliehen – der letzte vielleicht im Hotel Beau Sejour in Alassio –, eine der Ursachen ihres Scheiterns. Beide, mein Vater wie meine Mutter, haben sich immer wieder dorthin gestürzt, wo sie das Glück vermuteten, er das seine, sie das ihre, und in dem Maße, wie diese Stürze Stürze blieben, ohne das Netz eines Alltags, festigte sich, zusammengehalten von Stolz, eine Privatwelt aus Eigensinn, Distanziertheit und Trauer: und noch der Stolz des Sohnes bemisst sich aus dem Abstand, der sich zwischen ihm und der Welt errichten lässt (so offensichtlich auch diese Distanz nur Ausdruck fehlender Mittel ist, sich als Teil der Welt zu erleben).

Einer der Stürze ins Glück, sieben Jahre nach Kriegsende im Frühsommer zweiundfünfzig, war zweifellos der von Kitzbühel mit dem knapp vierjährigen Sohn als Begleiter – Herrgott, ist das schön!, ruft die junge Mutter mit Blick auf die Berge. Und doch gibt noch immer die Kriegskatastrophe den Ton an, nicht nur bei ihr, auch bei dem, der in Hamburg geblieben ist, um die kleine Firma weiter aus dem Boden zu stampfen, obwohl es an Geld fehlt, Tag für Tag. Beide schlingern durch diesen Sommer, beide glauben zu wissen, wo das Glück liegt, beide beschwören es wortreich, während sie in Wirklichkeit, ihrer eigenen und einzigen, die zählt, noch nicht aufgehört haben, durch die ersten Winter nach dem Krieg zu taumeln, mit gefälschten Lebensmittelkarten (mein Vater war Meister darin) und Zigaretten aus Amerika (vom Bruder des Vaters, nach dem ich benannt bin) als Zahlungsmittel auf dem Schwarzmarkt. Und bei all dem ohne jede Aussicht, dass es je wieder anders würde, statt all der Trümmer Paläste aus Glas und Stahl aufragten, statt der leeren Theken ein Überquellen von Waren wäre, von hundert Brotsorten und Feinkost aus aller Welt, und man statt dem En-suite-Spielen auf eisigen Bühnen, in Kiel, in Celle, in Lübeck, in Flensburg, auf den überweichen Händen des Fernsehens getragen würde oder statt Märschen auf einem Bein quer durch Hamburg, um irgendwo Briketts aufzutreiben, die Drehung an einem Knopf genügte, damit es in der ganzen Wohnung warm wird (heute sogar per Smartphone). Beide hatten noch nicht aufgehört, durch ihr Nachkriegsdunkel zu irren, eingeschlossen in etwas unmenschlich Maßlosem, das mit seinem Getöse, seinem Gebrülle und Stechschritt, mit all den grauenhaften Clownerien der Macht – vom Krieg wagt der Sohn gar nicht zu reden auf seinem Hotelzimmerbalkon mit Meerblick – die Oberfläche ihrer äußeren und auch inneren vertrauten Welt bis zur Unkenntlichkeit geschleift hat. Und womöglich ist es dieses Zerstörungsgeräusch, das ihnen noch, gleich einem Tinnitus, in den Ohren liegt und die Laute eines Kindes übertönt, das schon früh lernt, mit sich allein zu sein, nicht zu ertrinken in schier endlosen Nachmittagsstunden. Ein Nachhall des großen Grauens reicht sogar bis in den siebten Ehejahrbericht der jungen liebenden Schauspielerin und Mutter, noch auf der allerletzten Seite, der hinteren Innenseite des Einbands der Kladde, schwingt ein imperativer Ton mit. Dort steht, nach der bereits unterschriebenen Schlusszeile, als Apotheose eine mit Liebeslied überschriebene Hymne: Durch Dich hat die Welt nur ein Gesetz und einen Sinn, ich liebe Dich, solang ich bin / Durch Dich hat die Welt nur ein Gesetz und ein Gebot, ich bleibe bei Dir bis in den Tod / Nichts ist so vollkommen wie das Glück, das uns vereint / Das Dir erscheinen mag als Märchentraum, doch unser wahres Leben ist!

Ich höre meine Mutter deklamieren, wenn ich diese Zeilen lese, Beschwörung war ihr Mittel, zusammenzuhalten, was an sich nicht zusammenpasste, oder zu überspielen, dass jeder, sie und mein Vater, mit seinen Wunden, seinen Wünschen, einem Lebenstraum, letztlich allein war. Die äußere Not nach dem Krieg, der Mangel an Nahrung und Wärme, und etwas später der an Geld, Wissen und Schönheit ist das Siegel über der inneren Not, die dadurch kaum zur Sprache kommt, höchstens zum Ausbruch. Die nicht sichtbaren Wunden aus dem Krieg (die von Millionen, meine Eltern eingeschlossen) sind auch in den Nachkriegsjahren noch ein unbetretenes Gebiet. Alle Anstrengungen zielten darauf, fremdes Gebiet zu erobern und die Eroberer schließlich zurückzudrängen, und das Reich der geheimen verwundbaren Stellen, zu denen man Zuflucht nimmt, wenn einem sonst nichts gehört, blieb sich selbst überlassen (oder klang nur in einem Lied wie Lili Marleen an); die, die das Terrain der Gefühle seit Beginn des Jahrhunderts betreten hatten, waren entweder emigriert oder mehr als mundtot gemacht worden. Neben einem Wissensmangel ist es auch der Mangel an eigener begriffener Sprache, der die Berichte einer Glücksbesessenen, meiner Mutter, über ihre Ehejahre durchzieht, ein Mangel aus dem Überfluss an Bühnensprache, die sich beliebig einsetzen lässt; immer wieder spielt sie junge Damen mit überspannten Worten für überspannte Gefühle, über tausendmal etwa in Oscar Wildes’ Idealem Gatten, Abend für Abend auf jeder ungeheizten Bühne Norddeutschlands.

Es bestand kein Mangel an Wörtern, und so gab es sie auch im Überfluss in dem Sommer, als die Schauspielerin und ihr kleiner Kavalier durch Kitzbühel ziehen und er wildfremde Damen zu grüßen hat, mit einem Diener und der Anrede Gnädige Frau, wobei ein leises Gnä’ Frau genügt; immer zur Teestunde geschieht das, nach längerem Sichfeinmachen in dem Gasthofzimmer, in das man mittags aus der Badeanstalt Seebichel geflüchtet ist, wenn dort alles zu viel wurde, die Leute, die Sonne, die Fliegen. Das Zimmer unter dem Dach mit seiner Mittagsluft zum Ersticken ist eine Höhle, in der man die Welt hinter sich lässt; das Infantenkind hockt zwischen den Kniekehlen der Mutter und folgt den eigenen Blicken, wohin sie fallen, mit seinen Fingern, mit dem Bleistift – im Übrigen ein Vorgehen mit links, wie ein verfrühter Triumph des geborenen Linkshänders, der unter Druck mit rechts das Schreiben lernen sollte (und gleichwohl bis heute nur mit der richtigen falschen Hand sich die Zähne putzt oder einen Regenschirm hält, telefoniert oder imstande ist, jemanden zu streicheln).

Die linke Hand, geschickter zwar, aber anfälliger für Versuchungen, gehörte der Mutter, die andere, unbeweglichere, dafür mehr der Vernunft verbunden, dem Vater. Ihm fehlte das rechte Bein, nicht das linke, und seine Erfahrung war, dass man nicht den Mangel auf der einen Seite durch besondere Artistik auf der anderen ausgleichen kann, es blieb immer ein leichtes Hinterherhinken mit dem Holzbein – für den kleinen Sohn ein Mysterium, besonders der Halt des schweren hölzernen Beins am narbenfaltigen Stumpf. Und jedes seltene Wort des Vaters über den Verlust des richtigen Beins, etwa dass ihm bei einer Schlacht im Winter ein Stahlsplitter von seinem getroffenen Panzer ins Knie gedrungen sei, ohne dass er mehr gemerkt habe als etwas Warmes im Knie, wiegt wie die wenigen Worte der Mutter in dem gemeinsamen Mittagsbett. In das Kind aber dringt damit ein Stück Sprache, an dem es sich fortan bis zur stillen Ekstase reiben kann, wenn es an das fehlende Bein des Vaters denkt, wie es wohl ausgesehen haben mochte und wie sich der narbige Stumpf anfühlt, oder wenn es das mütterliche Schlaflied echohaft nachsingt, um sich an Nachmittagen ohne Anfang und Ende, die Schauspielerinmutter bei der Probe, aufzulösen in der inzwischen elterlichen Wohnung am sogenannten Grindelberg. Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck’: Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Ganz und gar unbegreifliche Worte sind das (alte Volksworte aus Des Knaben Wunderhorn), Rätselbilder, Rätselwörter, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt. Abend für Abend singt Damemammi, zurück von der Probe, am Kinderbett mit leiser, vom eigenen Gesang gerührter Stimme diese Zeilen, bis damit Schluss ist, sie abends wieder Theater spielt. Doch das Kind weiß sich zu helfen, es singt einfach selbst, es bemuttert sich. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, singt es gegen die Wand gedreht, eine Tapete mit den Konturen von Segelschiffen. Der Glaube an die, die ihn abends in den Schlaf singt, und sein Glaube an Gott sind durch nichts zu erschüttern, auch nicht durch das Alleinsein, ja, sein Ertragen des Fehlenden zeigt nur das Weitreichende der Mutter, ihren beruhigenden Schirm, sonst würde es ja in der Wohnung toben, treten, sein Spielzeug kaputt machen und müsste, wie alle Unartigen, in den Kindergarten und könnte nicht mehr an der Hand seiner großmütterlichen Hüterin nach Belieben durch den nahen Innocentiapark bummeln und sich über die, die dort in Reih und Glied unter Aufsicht eines ältlichen Fräuleins marschieren, lustig machen: Kindergarten, Schweinebraten! Also lieber vor sich hin singen, zur Tapete gedreht, lieber all die Schiffe zählen und ihre Linien mit dem Finger nachfahren.

Im Leseraum des kleinen alten Hotels, in das meine noch jungen Eltern vor dem Leben geflüchtet waren, ohne die Flucht zu bemerken, nur ihr unverhofftes Glück während der letzten Sonnentage an der Blumenriviera, einem holzgetäfelten Raum mit Messingschildchen an der Tür, camera dei libri, fand sich, zwischen Liebes- und Kriminalromanen in den verschiedensten Sprachen, auch ein Werk von Freud auf Italienisch, Psychologie des Unbewussten, Psicologia dell’inconscio, eine alte Ausgabe, gut erhalten. Und ihrem Erscheinungsjahr nach, dem meiner Geburt, könnte sie längst in der kaum geordneten Büchersammlung der camera dei libri gestanden haben, als meine Eltern in dem Hotel waren, mein Vater sich auf dem Balkon sonnte, Wein und Zigaretten bei der Hand, und meine Mutter mit Sicherheit auch im Leseraum saß, am bevorzugten späteren Nachmittag in einem von drei Sesseln, kaum jünger als die Freud-Ausgabe – vom Sohn Seite für Seite durchgesehen, als wäre darin ein Hinweis zu finden, eine Art Bücherflaschenpost, die nicht nur beweisen könnte, dass seine junge Mutter hier war, sondern auch belegen, dass ihr der Name Freud zu der Zeit schon etwas sagte und sie vielleicht, obwohl es eine italienische Ausgabe ist, glaubte, beim Blättern darin würde sie daraus etwas anwehen: ein Hauch von Verständnis für sich selbst, das Unglück hinter ihrem Glück in diesen Tagen.

Der Sohn hat es da leichter, er ist damit erwachsen geworden, sich weit zurückzuerinnern, und weiß, dass jeder Blick auf das eigene früheste Glühen ein Lüften von Vorhängen ist, ohne dass sich je die ganze Bühne von einst öffnet – und dass der große Wiener Erinnerungsforscher durch die neue und zugleich mythische Sicht auf das erste Liebesgeschehen ebenso viel Verwirrung gestiftet hat wie Wege bereitet, sich diesem Geschehen erzählend zu nähern. Und damit weiß er auch, dass jedes Erzählen von Eigenem immer ein Stück Theater ist, es gibt kein Jenseits davon, man selbst ist Teil der Handlung und führt sein altes Drama auf. Da ist der gültige Sommer, da sind die Berge und der Moorsee und die hölzerne Badeanstalt; und da ist mittags, im gedämpften Licht, der Körper der jungen Schauspielerin, die auch die Mutter gibt, den Text dazu kennt, die Lieder, die Gesten, den Sohn erst gewähren lässt, dann in den Schlaf singt, ihm die Idee der Liebe zu ihr souffliert, bis er, liebestextsicher, auf seiner unsichtbaren Bühne steht – die noch im selben Sommer zu einer sichtbaren wurde.

3

Am dritten August neunzehnhundertzweiundfünfzig entsteht in einem Filmstudio bei Hamburg ein Foto des Unkinds oder Infanten, das zu seiner Bühne wird. Es trägt alle Merkmale des Professionellen, in der Bildschärfe wie auch der eingefangenen Geste zweier applaudierender Händchen; deren Zwischenraum aber füllt, genau im Moment der Belichtung, die legendäre Rechte des damals wie heute größten deutschen Boxers, nur leicht bewegungsverwischt, darüber der ikonenhafte Schädel, gut ausgeleuchtet. Und professionell ist auch das Format, vierzehn mal zwanzig, später seitlich beschnitten, um das Foto jederzeit aus der Tasche ziehen zu können, Das hier bin ich! Ein Autogramm auf der Rückseite ist zum Glück vollständig geblieben – Max Schmeling, Hamburg, den 3. 8. 1952.

Meine Mutter hatte Verbindungen zu einem Besetzungsbüro, dort suchte man für einen der erbaulichen Filme jener Zeit ein Kind, das an Schmelings Seite als kleiner Zuschauer in einem Zirkus zum Ausdruck bringen sollte, dass es dem Land wieder gut geht und Kinder unerschrocken in die Manege des Lebens blicken können; offenbar war ich geeignet dafür. Der Film hieß Keine Angst vor großen Tieren, und die Hauptrolle spielte Heinz Rühmann als verhuschter Büroangestellter, der immer den Kopf einzieht, bis er unerwartet zu einer Erbschaft kommt: drei Zirkuslöwen. Aber der stärkste Löwe ist natürlich der Mann, der Joe Louis besiegt hat – vor kurzem lag der Film als DVD auf einem Gabentisch, und das Kind von einst neben dem Boxer hat ihn erstmals bewusst angesehen, sein Auftritt dauert nur Sekunden. Rühmann als Erbe hat sich auf der Suche nach den Löwen in die Manege verirrt, wo der Messerwerfer gerade loslegen will, nur fehlt noch die Schöne, um die alle bangen sollen, aber da steht das Inbild des tapferen kleinen Mannes plötzlich vor der runden Scheibe, und schon fliegen die Messer; Schnitt auf eine Loge am Manegenrand: In höchster Erregung wirft ein neben dem berühmten Boxer sitzendes Kind – in dem ich mich augenblicklich erkannte – seine Ärmchen in die Luft und ruft mit hellster Stimme: Onkel Max, Onkel Max, warum trifft er den Mann denn nicht?, während Schmeling in der Szene kein Wort sagt, nur unter den buschigen Brauen hervor auf das Geschehen im Ring sieht.

Das Foto, das im Laufe des Drehs – er soll sich über einen ganzen Tag erstreckt haben – entstanden ist, hält die Wahrheit eines Moments fest, nicht die Erinnerungen, die anfangs noch damit verbunden waren, sie sind erdrückt worden. Das Filmkind in der Loge ist ohne Geschichte, neben der Boxlegende ist es bloße Zugabe mit Baskenmützchen, entblößend aus der Stirn gezogen, sein Blick geht ins Nirgendwo, aus großen und dennoch leeren Augen. Ein Bild, das nichts erzählt, nur zeigt, was man sieht: vorn die Begrenzung der Loge, bespannt mit vermutlich rotem Samt, dahinter die beiden Akteure, links das Kind im Pullover, aus dem ein weißer Kragen ragt, über dem Kragen kaum ein Hals, das Gesicht dafür mit Pausbacken und hübschem Mündchen, leicht nach unten gebogen, mit schmaler Nase und einem starren bis gleichgültigen Blick; und über den Augen eine blanke Stirn und das, was man Pagenfrisur nannte (der Erwachsene sträubt sich, etwas von seinem späteren Gesicht darin zu sehen, am ehesten den Kinnspalt und die Mundwinkel). Das Gesicht des Idols aber gibt nur, tautologisch, das allseits Bekannte wieder; Schmeling, Ende vierzig auf dem Foto, hat noch den festen Blick unter den Brauen und auch den leicht geöffneten Mund, stets darauf aus, Atem zu schöpfen, ist immer noch Boxer, obwohl er im Mantel dasitzt, mit Schlips, ein stattlicher Mann, der mit dem Kind applaudiert und doch die Faust zeigt. Das Foto erzählt weiter nichts, es ist geheimnislos; nur in einer dritten Person im Bild, schräg hinter Schmeling, hager, mit wirrem Haar, lauert eine Geschichte: Sitzt sie dort zufällig oder hat sie eine Funktion? Ist es ein Mann oder eine Frau? Etwas Maskenhaftes geht von ihr aus, als würde sich ein Unheil in ihr verbergen, und sie sitzt dort nur, glaubte ich als Kind, weil sie auf mich wartet. Ohne diese Person im Hintergrund – wie dem Theaterstück Draußen vor der Tür entsprungen – hätte das Foto in seinem Offenkundigen, Geheimnislosen etwas Pornografisches; mit ihr aber enthält es ein Stück der Nachkriegswelt dieser Jahre.

August zweiundfünfzig, ein sonniger Monat in Hamburg, Balkonzeit, und die elterliche Wohnung in einem Klinkerbau vier Stockwerke über dem Holi-Kino (wo sich heute noch der Vorhang öffnet) besaß einen Balkon mit Blick auf die Grindelhochhäuser; er lag halb nach Süden und war ideal für Sonnenbäder, auch wenn die Sonne durch ein Gitter fiel, vom Vater angebracht, damit das kleine Filmkind nicht über die Brüstung stürzen konnte. Und in einer dieser Sonnenbadstunden entsteht ein Foto von Vater und Sohn, aufgenommen von der Mutter, inzwischen schon im siebten Monat, ein Schnappschuss, der mehr enthält, als er zeigt. Man sieht von ihrem Mann nur Kopf und Schulter und einen Arm, er verstand es, seinen Stumpf zu verbergen, und auch ihr Augenstern hat keine Beine im Bild, nur einen Oberkörper und ein Gesicht, fast weiß vor Licht. Das Söhnchen, wie der Vater es nennt, trägt eine Sonnenbrille mit runden Gläsern und auf dem Kopf ein an den Enden verknotetes Taschentuch als Maßnahme gegen die Sonne. Der so durch Brille und Taschentuch Geschützte ist ein wie vom Himmel gefallenes hellhäutiges Wesen ohne Geschlecht; der gebräunte dunkelhaarige Vater ist hingegen eindeutig männlich (zwei Beine, und die Ufa hätte Verwendung für ihn gehabt). Sein starker Arm hält das Sohnesärmchen, das schwächere rechte, ja schient es geradezu – denkbar, dass es mir dadurch leichter fiel, später mit rechts Schreiben zu lernen, das Opfer der geschickteren Hand zu bringen, die dafür die bleibende Hand für das Zeichnen wurde, abgeschaut von einem Vater, der bei jeder Gelegenheit nebenher gezeichnet hat.

Das Foto entstand von der Balkontür aus, denn es zeigt im Hintergrund ein Stück der Grindelhochhäuser und auch etwas von der Hausreihe vis-à-vis, mit einem Lokal im Erdgeschoss; dort soll die Taufe gefeiert werden, ein Beschluss an diesem Tag, der wohl ein Sonntag war. Und endlich hört der Vierjährige mit geheimen Rechten auf den Körper der Mutter aus ihrem Mund etwas Genaueres über sein künftiges Geschwisterchen, das er wahnsinnig liebhaben wird. Noch sei es beschützt im Bauch, wo es sich schon bewege, Du darfst mal fühlen, fühlst du es? Und er fühlt, was er bald wahnsinnig liebhaben wird, ein gespenstisches Drängen aus dem Körper, der ja eigentlich sein Ort ist, sein Nest. Noch glaubt er an eine Welt mit sich als Dirigenten, zumal der Vater ihn mit etwas Taktstöckchenartigem in der Hand liebevoll gezeichnet hat, eine kolorierte Arbeit auf Karton: Der Linkshänder hält in seiner Linken das Stöckchen und in der anderen Hand einen zierlichen Topf, in dem etwas zu sein scheint, das er zeigen möchte, nur nicht hergeben will. Der Topf ist wie ein Körperteil, ebenso der Stock, ohne beides stünde er mit leeren Händen da.

Es ist ein Bild im Format dreißig mal vierzig, gut erhalten hinter Glas im Originalrahmen, der Rahmen aber so marode, dass er neu verleimt werden musste. Und da fanden sich zwischen einem hellen Karton, dem Träger der Zeichnung, und einer rückwärtigen Pappe lose Seiten einer sechzig Jahre alten, schon bröseligen Filmvorschau zur weiteren Stabilisierung des Kartons, der Film-Revue, die mein Vater nach dem Krieg in Hamburg begründet hatte; sein Talent für Werbung und mehr noch für ein zeichnerisches Gestalten lässt der junge Kriegsheimkehrer dann jedoch bald außer Acht zugunsten des Traumes, ein Fabrikant von medizinischen Apparaten zu werden.

Aber das Söhnchen ist nicht nur gezeichnet worden, es hat dieses andere und doch genauso stille Tun mit einem Bleistift, seine spitze Seite nun in Richtung des Blicks, eben auch übernommen und damit den Trost durch die Kunst entdeckt. Der kleine Zeichner, tagsüber nur in Gesellschaft von Papier und Stift, entwirft Ozeanriesen im Querschnitt, die Salons, die Kabinen, die Brücke, den Ballsaal und das Bordtheater, die vielen Gänge, Treppen und Fluchtwege, den großen Schiffsbauch mit dem Vorratslager und dem Maschinenraum. Es ist ein Tun in absoluter Konzentration, um sich selbst nicht zu spüren, ja sich aufzulösen im Zeichnen, und wenn die Mutter abends von der Probe kommt – sie spielte noch im achten Monat –, dann schreibt sie, nach Vorschlägen des Zeichners, als letzten Akt, dem der Taufe, den Schiffsnamen an den Rumpf, Bismarck oder MS Hamburg oder Queen Mary. Ist die Zeichnung aber besonders gelungen, hat das Schiff Formen und Salons nach ihrem Geschmack, schreibt sie auch den eigenen Namen hin, vom zeichnenden Kind nie in den Mund genommen, um sie damit anzureden – und im Klang und Schriftbild dieses Namens liegt nach wie vor so viel Intimes, dass noch der erwachsene Sohn Ohren und Augen davor verschließt. Im Übrigen aber hat keine seiner Schiffszeichnungen überdauert, alle sind untergegangen im Meer der Zeit, die meisten schon einen Tag nach Fertigstellung, damit sie nicht herumliegen im Kinderzimmer (der Papierkorb war für meine Mutter bis zuletzt ein Objekt der Erlösung: Was ihr zu viel wurde, sollte in ihm verschwinden, er selbst aber durfte nie voll sein; also auch ein Objekt der Paradoxie, mit dem sich der eigene Widerspruch zwischen Bewahrenwollen und Belastung durch das Bewahrte auf die Spitze treiben ließ). Papier und Bleistift sind die Dinge, über die der Vierjährige Macht besitzt, wenn er zeichnet, eine räumlich und zeitlich begrenzte Macht, die sich noch während seiner Alleinherrschaft, ohne Geschwisterchen, im Hamburger Hallenbad Kellinghusen ausdehnt. Er soll dort früh das Schwimmen lernen, was aber misslingt, dafür entdeckt er die Schrift. Rauchen verboten! steht groß an der Wand hinter dem Becken, und kaum dass ihm die Buchstaben einzeln vorgesagt worden sind, kann er beide Worte, lesend, sehen, ein berauschender Moment. Von da an beginnt der Nichtschwimmer, nur auf der Grundlage dieser paar Buchstaben, seine Macht zu erweitern, eine Macht, die weder zeitlich begrenzt ist noch von Papierkörben bedroht wird, ja, die sich sogar abends im Bett in Gedanken noch steigern lässt: Wenn er sich die gelernten Buchstaben vor Augen führt, als kleine schlagfertige Truppe zu seinen Diensten, und daraus Wörter bildet oder rekrutiert – haben, raten, tauchen, Bauch –, Wörter, die ihm als Besitz erscheinen wie der eigene Name aus zwei Mitlauten und zwei Selbstlauten.

Eine Vorform des Schreibens, schon mit der Falle, die in jedem Schreiben, auch dem fantasierten, steckt: Der Vierjährige ist Gefangener seiner Wörterspiele vor dem Einschlafen, er ist der Gesprochene, nicht der Sprechende. Und so ist es auch an den hellen endlosen Nachmittagen, wenn er in seinem Kinderzimmer am Tischchen sitzt und tut, als könnte er bereits einen Schreibstift führen, die väterlichen Schwünge auf einem Blatt Papier nachmacht, eigentlich aber die Mutter herbeizwingen will und schließlich, ersatzweise, die gerundeten Buchstaben seines Namens zeichnet. Der kleine Künstler rüstet sich für ein Schwesterchen, von dem jetzt die Rede ist; noch vor ihrer Geburt im November kann er seinen Namen schreiben, mit der für ihn falschen Hand. Die erste Aneignung von Schrift gelingt durch die so schlichten und doch welterschließenden Buchstaben des eigenen Namens, letztlich umrandeten Leerstellen, spricht man sie aber geschlossen aus, bekommen sie ihren vollen Klang. Und wenn die großmütterliche Hüterin des Schreibnachahmers den Enkelnamen gar wienerisch abwandelt, schraubt sich dieser Klang in betörend opernhafte Höhen.

Der Herr an der Rezeption des Hotels Beau Sejour – ein Herr im Sinne meiner Mutter, graue Schläfen, feine Züge, Manieren – erkundigte sich in gutem Deutsch, als ich die Nebenkosten der ersten Tage bezahlte, ob auch mein Vorname etwas bedeute, wie mein Familienname, und ich sagte, möglicherweise, aber ich wüsste es nicht, womit das Thema eigentlich beendet war, er aber kam auf Vornamen im Italienischen, die immer eine Bedeutung hätten. Und von da kam er auf Opern, die mit solchen Namensbedeutungen spielten, ja stellte sich überhaupt als Opernfreund heraus, was in der stillen Mittagsstunde an der Rezeption dazu führte, dass ich von meiner Großmutter anfing, einst Sängerin an der Wiener Oper, bis sie durch Heirat mit einem Wehrmachtsoffizier nicht mehr auftreten konnte, weil Korpsgeist und Tingeltangel, der auf einer Opernbühne eingeschlossen, nicht zusammenpassten. Auch darüber sprach ich, dankbar, dass jemand zuhörte, das leise Murmeln beim Schreiben unterbrochen war, abgelöst von echtem Reden, bis auch das unterbrochen wurde. Eine ältere Dame – keine im Sinne meiner Mutter, dafür war sie zu italienisch ausstaffiert, knapp am Rande des guten Geschmacks – nahm den Rezeptionisten, sechzig mochte er sein und erinnerte mit einem leichten Silberblick an den Filmschauspieler Vittorio Gassman in Der Duft der Frauen, überfallartig in Beschlag. Es blieb nur der Rückzug in das Zimmer, das meine Eltern vor sechzig Jahren bewohnt hatten, die Fortsetzung der Arbeit an dem Balkontischchen bei noch immer bestem Wetter – vierundzwanzig Grad, wie das Smartphone zeigt, mit schwachem Wind von Südwest.