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"Es ist eine Liebesgeschichte, Du kannst es mir glauben. Sie spielt sich in bemerkenswerter Stille ab, fast unmodern heimlich, und gewiß unter dem Eindruck der Tropen, die ja -wer wüßte es besser als wir- keinen Zauber mehr haben..." So berichtet einer von fünf Missionaren, die zu Wegbereitern einer großen Liebe werden, die unaufhaltsam ihren Ruhestand erschüttert. Da hatte man in der ehemaligen Missionsstation einen Gast aufgenommen, Kurt Lukas, ein gefragtes männliches Fotomodell, ein schöner Fremdling, um die Vierzig, aber immer noch nicht erwachsen. Der sich, beobachtet von den fünf alten Patres, in Mayla verliebt, die ebenso natürlich wie schön ist, und als Haushilfe durch ihren Umgang mit den Alten auch klug: eine vernichtende Kombination.
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Seitenzahl: 682
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Inhalt
Titelseite
Impressum
Widmung
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil 2
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Teil 3
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Teil 4
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Teil 5
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
1. Auflage
© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung:
Laura J Gerlach unter Verwendung eines Ölgemäldes
von Karin Kneffel (o.T., 2005, 200x240 cm)
Herstellung: Thomas Pradel, Frankfurt am Main
eISBN: 978-3-627-02138-2
1 2 3 4 5 – 10 09 08 07 06
Für Ulrike
Jegliches Werden ist bloß allmählich bewältigte Abwesenheit
(Edmond Jabès)
An einem heißen Januartag gegen Ende dieses Jahrhunderts drehte der Wind über einer kleinen Küstenstadt; zwei Wolkenmassen trieben aufeinander zu, und bald lag nur noch die Umgebung einer Kirche in der Sonne. Auf den Stufen der Kirche saß ein Priester und schaute über einen sandigen Platz, menschenleer und voller Wahlplakate. In seinen Armen ruhte eine Pekinesenhündin. Hinter seinem Rücken, im Dunkel des Eingangs, flüsterten Kinder. »Der mit dem Hündchen«, drang es nach draußen, »der mit dem Hündchen ist Father McEllis.«
Ein Taxi fuhr auf den Platz. Es wirbelte Staub hoch und puderte die Gesichter der Kandidaten, wurde langsamer und fuhr wieder an, schrammte eins der Plakate und hielt. Ein Fahrgast mit Gepäck stieg aus. Er streckte die Beine und griff sich ins Kreuz, er klopfte sich sauber – für einen Einheimischen war er zu groß, auch etwas zu ungeniert. Der Priester besaß einen Blick für Menschen und Wolken; dieser Mann hatte etwa seine Größe und käme gleich in einen kurzen, aber sintflutartigen Guß. McEllis setzte die Hündin ab und erhob sich. Eine Schwester aus der fremden Gemeinde half ihm in die Soutane, und er dachte an die Hände, die er gewohnt war. Wie sie ihm Kragen und Faltenwurf richteten, den Stoff über seinen Schultern glattstrichen und verlorene Härchen entfernten, einmal im Monat, zwölfmal im Jahr. Das Taxi fuhr weiter. Die ersten Tropfen platzten in den Sand. Der Mann, der kein Einheimischer war, drehte sich um. Er trug dunkle Kleidung, hatte helle Haut – und ein gutes Gesicht, auch dafür besaß der alte Missionar einen Blick. Dann fiel der Regen wie ein Vorhang, während die Kindergemeinde zu singen begann.
McEllis ging zum Altar. Nachdem er still gebetet hatte, sah er den Reisenden eintreten, durchnäßt wie ein Schiffbrüchiger und ebenso bestaunt. Einige Kinder rückten. Der Mann setzte sich an den Rand einer Bank, schob sein nasses Haar aus der Stirn und sah auf eine Leinwand, die neben der Kanzel von einem Querbalken hing. Alle Strophen des Liedes standen dort angeschrieben, fett wie ein Reklametext und in englischer Sprache. Es waren einfache Worte über die Liebe zu Jesus, es war auch eine einfache Melodie. McEllis hatte einen Moment lang den Eindruck, der Durchnäßte sei von ihren Klängen gerührt. Aber das lag an den Regentropfen, die über seine Wangen liefen.
Das Lied ging zu Ende, der Priester las aus der Bibel. Er kannte die Stelle auswendig und konnte in Ruhe verfolgen, wie der Mann einen Aufkleber von seinem Gepäck zog und unter der Bank verschwinden ließ. Nur die Routine bewahrte McEllis vor einer Entgleisung – ohne auf die Gemeindeschwestern mit ihren Gitarren zu achten, setzte er seine Lesung im richtigen Augenblick fort, ohne an Gott den Schöpfer zu denken, sprach er ein schönes Gebet, ja, er hielt sogar eine Predigt, bei der die Buben und Mädchen immer langsamer mit klappenden Schulheften gegen die Hitze anfächelten. Eine einzige Frage beschäftigte ihn: Hatte dieser Reisende hier ein Ziel, oder war er nichts weiter als ein verirrter Tourist auf einer Insel mit Mord und Totschlag.
Der Regen ließ nach, und er kürzte die Predigt ab, aus Furcht, der Mann könnte die Kirche vor dem letzten Amen schon wieder verlassen. Kaum war das Schlußlied gesungen, erteilte er seinen Segen, und die Schulkinder strömten ins Freie. McEllis behielt den Fremden im Auge. Er hatte sich verschätzt. Ein langer Kerl schlenderte da auf den Platz, größer als er, einer, dem jede Hose stand, sogar eine nasse.
Von der Soutane befreit, die Hündin auf dem Arm, eilte der Priester an den Bänken entlang und zählte. Nach der fünften Bank blieb er stehen, bückte sich, griff unter den Sitz und entfernte den Aufkleber vom Holz. Kurt, Raffles Hotel, Singapore war dort zu lesen. McEllis ließ das Tier herunter, zog eine Pfeife hervor und trat ins Freie; er trug jetzt abgewetzte blaue Hosen, dazu ein rotes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Ihm fehlte noch ein erstes Wort, ein natürlicher Anfang, als er sich schon hörbar die Pfeife ansteckte. Der Mann wandte sich um, und McEllis betrachtete ihn über das Streichholz hinweg. »Theologe?« Er verwirbelte den Rauch. »Oh, ich sah nur Ihre Kleidung«, fügte er hinzu und hielt den Aufkleber in die Höhe. »Das haben Sie unter Ihrem Sitz vergessen, Mister Kurt.«
Der Mann zeigte ein leichtes, auf den Lippen schwebendes Lächeln, bat um Verzeihung für den Mißbrauch der Kirchenbank und winkte dem Tier zu. Offenbar hatte er keine Erfahrung mit Hunden.
»Fassen Sie sie ruhig an, Mister Kurt, sie wartet darauf. Amerikaner? »
»Deutscher. Und kein Theologe. Auch wenn ich bunte Stoffe vermeide.«
»Ich bin Father McEllis. Und Sie, Tourist? Oder was verschlägt einen Menschen auf diese große unruhige Insel?« Er bekam keine Antwort und machte ein paar halbentschlossene Schritte. Nach und nach ging er über den Platz, mal etwas langsamer als der Deutsche, mal etwas schneller. Kurz vor der Straße fragte er ihn, warum er gerade an diesem Ort aus dem Taxi gestiegen sei.
»Der Fahrer wollte mich zu einem bestimmten Hotel bringen. Aber ich suche mir meine Hotels selbst. Außerdem schien hier noch die Sonne.«
McEllis klopfte die Pfeife an einem der Plakate aus, von dem der Präsident durch eine feine Schlammschicht sah. Ein Deutscher also. Er hatte nichts gegen dieses ferne, fast schon arktische Land. Im Gegenteil. Ein früherer Mitbruder hatte nur Wissenswertes berichtet, von Fasnachtsbräuchen und philosophischen Zirkeln im Schwarzwald, auch vom sagenumwobenen Rhein. »Es heißt, die Menschen in Ihrem Land seien romantisch.«
»Das weiß ich nicht. Ich lebe in Rom.«
McEllis griff an seinen fein gestutzten weißen Schnurrbart und blieb stehen. Die Höflichkeit verbot ihm weitere Fragen, und er entschloß sich zu einem der plumpesten Mittel, ein Gespräch zu beleben. Er nannte den Namen der Hündin – West-Virginia – und hatte Erfolg. Der Deutsche erkundigte sich nach Rasse und Alter, fragte ihn, woher er komme, wollte wissen, was ein amerikanischer Geistlicher hier mache, war überrascht, daß es noch Missionare gab, und stellte sich plötzlich mit Lukas vor.
»Mister Lukas Kurt?«
»Mister Kurt Lukas.«
»Dann stand auf dem Aufkleber Ihr Vorname.«
»Jemand hat sich geirrt. Wie Sie.«
McEllis nickte sanft. Seine erstaunlich blauen Augen bewahrten ein Lächeln und schweiften dabei etwas ab, was sogar Gemeindeschwestern nervös machen konnte; Männer sprachen nur vom Vogelblick des Priesters. »Ihr Name fordert diesen Irrtum heraus, Mister Kurt, wenn ich bei meiner Anrede bleiben darf.«
»Ich habe nichts dagegen.«
»Wunderbar. Katholik?«
»Protestant.«
»Naß wurden Sie trotzdem.«
Der Deutsche schulterte sein Gepäck, eine Reisetasche. »Also dann«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
»Was heißt also dann – wir hatten das große Glück, uns zu begegnen; die Regenwolken waren schon am Abziehen, da sprang der Wind um.«
»Wenn Sie es so sehen.« Der Deutsche nahm seine Tasche wieder in die Hand, und McEllis spitzte die Lippen; beide überquerten die Straße.
Sie kamen an kleinen, über Mittag geschlossenen Läden vorbei, hielten sich im Schatten und schwiegen. Schaufenster und Wände waren mit Wahlplakaten bedeckt. Die Kandidaten glichen sich in ihrem Ausdruck, als hätten sie vor der Kamera alle an Christus den Erlöser gedacht. Dem einen stand es, dem anderen nicht. Am wenigsten stand es dem Präsidenten; sein Porträt klebte sogar an staubigen Palmen. »Eine Wahl, und das bei der Hitze«, sagte der Deutsche.
»Ja, eine Wahl; die erste nach zwanzig Jahren. Und im übrigen wird die Hitze noch schlimmer. Auch die Verhältnisse. Oder kennen Sie sich etwas aus hier?«
»Ich weiß nur, daß der Präsident reich ist und das Volk arm. Aber das könnte auch woanders spielen.«
McEllis gab ihm recht. Er nahm die Hündin unter den Arm und fächelte ihr Luft zu. Aus der raschen Bewegung heraus deutete er landeinwärts. »Sehen Sie diese zerfetzten Säcke von Wolken, Mister Kurt? Solche Bilder gibt es nur hier.« Es waren die Wolken, aus denen der Regen gefallen war; sie hingen jetzt über bewaldetem Vorgebirge. »Ich kenne kein prächtigeres Schauspiel als den Himmel über dieser Insel. Besonders nachts. Aber vielleicht machen Sie sich nichts aus Sternen.«
»Aus Sternen? Doch, doch.«
»Es gibt bei uns Nächte, da nimmt einem das Himmelsgefunkel den Atem. Sie können mitkommen, wenn Sie wollen.«
»Und wohin?«
McEllis deutete wieder landeinwärts. »Dorthin, wo ich lebe. Ich habe hier nur für jemanden die Messe gelesen und ein paar Dinge erledigt.«
»Woher wissen Sie, daß ich Zeit habe?«
»Wenn nicht, hätten Sie gleich widersprochen.«
»Und wenn ich jetzt noch widerspreche?«
Der Priester forderte ihn mit einem Blick dazu auf, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Fast unmerklich ging er voraus. »Warum sollten Sie widersprechen? Wer mit Gepäck in die Kirche kommt, der hat Zeit.«
Das war kein logischer Gedanke, aber der Deutsche folgte McEllis, folgte ihm durch eine Nebentür in einen von dünnen Lichtpfeilen durchschossenen Laden, in dem es nach Jute und Erde roch, nach Gummi, Seife und Zwiebeln; eine Frau erhob sich vom Boden. Sie holte ein prall gefülltes Einkaufsnetz hinter Kanistern hervor und übergab es dem Priester. »Mitbringsel«, erklärte McEllis. »Hier zum Beispiel« – er zeigte auf einen länglichen Packen – »Leinenschuhe. Für Father Horgan. In Weiß. Oder finden Sie das unpassend für einen alten Mann?« Der Deutsche schien ihn nicht zu hören.
»Woran denken Sie gerade, Mister Kurt?«
»Ich vergleiche den heutigen Tag mit dem gestrigen.« Diese Antwort verwirrte McEllis. Für einen Augenblick stellte er sich vor, der Mann aus Rom würde vielleicht jeden Tag eine andere Kirche aufsuchen, um zu schauen, was geschieht.
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Ich habe gestern nur geschlafen.«
»Das überrascht mich nicht. Sie hatten keine Verpflichtungen. Dazu kam die Hitze.«
»Ich schlafe überhaupt viel.«
»Aber sind nicht bettlägerig?«
»Nein, nur müde.«
»Unser Ort könnte Sie wach machen.«
»Was soll ich da?«
»Was sollen Sie hier? Außerdem ist es gar nicht so weit, einige Stunden, über die Berge. Und heute abend erzählen Sie uns von Rom.«
»Wer ist uns?«
McEllis lächelte. »Father Horgan. Father Pacquin. Father Butterworth. Father Dalla Rosa. Ich. Und Father Gregorio. Aber der ist beurlaubt; ich habe ihn gerade vertreten. Er ist zur Zeit in Italien. Mit ihm sind wir sechs.«
»Und warum laden Sie mich ein?«
»Nun, warum nicht?«
Wie ein Angetrunkener oder erstmals Verliebter fühlte sich McEllis vollkommen bei Verstand, als er, immer wieder Nun, warum nicht vor sich hinsprechend, eine Tür durchschritt, die in einen Hühnerhof führte, auf ein mit Palmwedeln bedecktes Zweirad zuging und es feierlich enthüllte. »Meine Maschine«, sagte er. »Sie macht alles mit, bis auf Steigungen.« Es handelte sich um ein Moped von schwer zu bestimmendem Alter und schwer zu bestimmender Leistung. Es hatte Satteltaschen und einen Notsitz, um die Griffe waren Lappen gewickelt; sein Auspuff hing an Drähten. Der Deutsche schaute es an, als sei es lebendig. McEllis griff in eine der Taschen, nahm eine Windjacke heraus, verstaute das Netz und hob die Hündin in die andere Tasche. Dann zog er sich die Jacke über und schlug den Kragen hoch. – »Ein gutes Stück. Und unverwüstlich. Kommen Sie nun mit, Mister Kurt?«
Der Deutsche reichte sein Gepäck. McEllis schnallte es hinter den Notsitz, schon einen Fuß auf dem Anlasser. »Sobald die Maschine läuft, springen Sie auf.«
»Und wie komme ich wieder zurück?«
»Mit dem Bus. Er fährt alle zwei Tage.«
»Es stört Sie nicht, daß diese Bekanntschaft nur eine Folge des Regens ist?«
»Die Hälfte aller Bekanntschaften sind eine Folge des Wetters. Sie haben sich für einen Urlaub den falschen Ort ausgesucht, die falsche Insel und das falsche Land. Aber Gott war mit Ihnen. Sie hatten Glück mit dem Regen und Glück, mich hier anzutreffen!« Und damit trat er den Hebel herunter, es röhrte und knallte, die Maschine sprang an, der Deutsche schwang sich hinter den Priester. Sie fuhren stotternd aus dem Hof, quer über den Platz vor der Kirche, fuhren in Zickzackkursen um die Plakattafeln, bogen in einen Weg, der auf das Meer zulief, und gewannen an Tempo. McEllis lenkte mit einer Hand, in seiner anderen lag das weiche Maul von West-Virginia.
Noch vor dem im Schlick versinkenden Hafen der Stadt führte eine Nebenstraße in Schleifen bergauf, und als die buschartigen Palmen längs der Fahrbahn spärlicher wuchsen, bot jede Kurve einen Blick auf die Bucht von Cagayan de Oro. Sie zog sich ohne Brandungsschaum hin, mit fließender Grenze zum Meer, das unter der großen Sonne wie eine zerkratzte Stahlplatte dalag. Das Moped röhrte. »Es wird noch steiler«, rief der Priester, »aber geht dann auch wieder abwärts.« McEllis trat in die Pedale. Der Deutsche bot an, die Plätze zu tauschen.
»Weshalb, Mister Kurt?«
»Ich bin jünger!«
»Wie jung?«
»Um die Vierzig.«
»Und noch keine grauen Haare, erstaunlich!«
Der kurze Schatten des Mopeds hüpfte jetzt hin und her, mal war er links, mal rechts. Sie fuhren an Bananenpflanzungen entlang, an einem reglosen Ineinander von grünenden und abgestorbenen Blättern, von steilen und matten Segeln. Ab und zu stand ein Mensch zwischen den Stauden, glänzend vor Schweiß. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte der Deutsche.
»Sie waren noch nicht geboren, als ich kam.«
McEllis keuchte. Er kämpfte mit allen Kräften, um diese Bergprüfung zu bestehen. Es war nicht mehr weit bis zur Anhöhe, danach hätte er seinen Beitrag geleistet. Gregorio hatte diese Kindermesse einmal im Monat gelesen und vor seiner Abreise um Vertretung gebeten. Butterworth und Dalla Rosa hatten für ihre Fahrten den Jeep benützt. Er schwor auf sein Moped. Kaum fuhr es wieder von allein, tastete er nach dem Maul der Hündin. Es ging nun stetig bergab, in eine aschegraue, durch Brände gerodete Senke. Von den Hängen blinkte es vereinzelt. Neben schwelenden Baumstümpfen saßen Arbeiter mit Tüchern um Nase und Mund und drehten ihre Hackmesser in der Dreiuhrsonne. »Wenn alles glatt verläuft, sind wir vor Dunkelheit da«, sagte der Priester und stellte die Zündung aus. Das Moped rollte noch ein Stück; vor einer Holzbrücke über einen trockenen Bach blieb es stehen.
»Sie sind an der Reihe, Mister Kurt.«
Der Deutsche stieg ab. Ein steiler Anstieg lag vor ihnen.
Die Straße führte in engen Kehren nach oben, über kahle, narbige Hänge, an verbrannten Bäumen und schwarzem Buschwerk vorbei.
»Ich bin noch nie mit einem Moped gefahren.«
»Das macht nichts, tun Sie einfach so, als sei es ein Rad. Sie können doch radfahren?«
Der Deutsche schwieg und schwang sich auf den Sattel. Er umfaßte den Lenker. McEllis’ Hände griffen um seine. »Hier wird gebremst, und da wird Gas gegeben«, erklärte der Priester und trat den Motor an. Das Moped ruckte, schwankte, fuhr, er lief ihm nach und sprang auf den Notsitz, schon hatten sie die Brücke hinter sich; noch schaffte es der kleine ölbespritzte Motor, aber bald übertönten die Fehlzündungen das Schnauben des Deutschen.
»Geht doch bemerkenswert gut«, rief McEllis.
»Danke. Über Erwarten.«
»Sind Sie Sportler?«
»Ich habe Tennis gespielt.«
»Beruflich?«
Statt einer Antwort kam nichts als rasselnder Atem. Nur noch durch heftige Sprünge auf die Pedale ließ sich das Moped weiterbewegen. »Sie werden es nicht bereuen, Mister Kurt. In Father Horgan finden Sie sogar einen Partner!« Wieder kam keine Antwort, und McEllis machte sich Sorgen. Falscher Ehrgeiz hatte schon manchen das Leben gekostet. Gerade noch rechtzeitig nahm die Steigung ein Ende. Der Priester blickte über die Kuppe. »Bleiben Sie jetzt ruhig«, sagte er.
In Rufweite stand vor ihnen ein Jeep auf der Straße. An der Haube lehnten zwei Männer in Grünzeug. »Die Polizei, Mister Kurt, bremsen Sie.« Der Deutsche bremste, das Moped fuhr. Es fuhr weiter und weiter, bis McEllis am Zündschlüssel drehte. Darauf machte es noch einen Sprung und kam eine Armlänge vor den Männern zum Stillstand. Der ältere der beiden führte eine Hand an die Schläfe.
»Nachwuchs, Father?«
»Unser Gast.«
»Priester?«
»Nein.«
»Erklären Sie ihm bitte, wer ich bin.«
»Das ist Hauptmann Narciso, unser Polizeichef. Neben ihm steht Sergeant Romulus. Er war Boxmeister.«
Der Sergeant kämmte sich; an seine Brusttaschen waren birnengroße Handgranaten geknüpft. »Vor acht Jahren Fünfter, Halbmittelgewicht. Fünfter von sämtlichen Menschen.« Er sprach ein eigenwillig nachempfundenes Amerikanisch und unterstrich seine Worte, indem er beide Fäuste ruckartig hob; die Handgranaten pendelten. Der Deutsche trat etwas zurück. Er sei nur Tourist.
»Wie ich gerade von Ihrem Gastgeber erfuhr, kommen Sie aus Rom«, bemerkte der Polizeichef. »Mit Nachrichten von Gregorio? Oder gehören Sie zur Vorhut von Singlaub?«
»Er ist ein Gast«, wiederholte McEllis. »Einen Mann aus Singlaubs Truppe würden wir nicht einladen.«
»Wer ist Singlaub?« fragte der Deutsche.
McEllis sah nach der Hündin.
»Ein Ex-General aus den Staaten. Angeblich plant er, mit einer Privattruppe auf der Insel zu landen, um Rebellen zu jagen, was als Schatzsuche getarnt werden soll . . .« Der Hauptmann unterbrach ihn. »Gut, gut. Ihr Gast ist also kein Schatzsucher. Aber sicher Amerikaner. Und bestimmt nicht grundlos hier.«
»Ich wollte mich ausruhen.«
»Sie sind mit der Mittagsmaschine gekommen, bald darauf in einen Guß geraten und, nachdem Sie schon halb getrocknet waren, zu dieser Fahrt aufgebrochen. Dafür spricht die Art, wie der Staub auf Ihrer Kleidung verteilt ist. Und ich nenne Ihnen auch Ihren Beruf. Fernsehkorrespondent. Weil Sie gut aussehen. Vielleicht aber auch nur der Gehilfe eines Korrespondenten; in Amerika herrscht ja kein Mangel an Männern mit kinoreifen Gesichtern. Und ich sage Ihnen nicht nur, wo Sie herkommen und was Sie sind, ich sage Ihnen sogar, wo Sie hingehen und was Sie dort wollen. Sie gehen an einen Ort, den bisher nur Gäste betreten haben, die doppelt so alt waren wie Sie. Sie wollen dort nach Motiven suchen und auf drei Ereignisse warten. Auf die Rückkehr Gregorios, die Wahl und eine Revolution.«
»Ich will nur meine Ruhe.«
»Sie befinden sich auf dem Weg in unser Erholungsgebiet.« Der Polizeichef ging um das Moped herum. »Und Ihre Frau kommt nach?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Das dachte ich mir.« Er gab die Straße frei.
»Wir fahren jetzt weiter«, flüsterte McEllis, »und drehen uns nicht um.« Der Deutsche trat die Pedale herunter, der Motor blieb still. Er versuchte es wieder, eine Zündung und Stille. McEllis drückte ihm die Pfeife in den Rücken. »Den Hebel dort ziehen. Und nicht zuviel Gas geben. Und glauben, daß es gelingt.«
Es gelang nicht.
»Gleich noch einmal, Mister Kurt. Gott steht Ihnen bei.« Und der Deutsche sprang mit seinem ganzen Gewicht auf den Anlasser, zog den Hebel und gab so behutsam Gas, wie ein Anfänger nur Gas geben kann, das Moped fuhr; eisern hielt er den Lenker, stur sah er geradeaus. Schon nach wenigen Metern ging es bergab, durch Spaliere von Palmen und Farnen, einen lichten Wald, der ohne Übergang endete. Vor ihnen dehnte sich eine Ebene. »Mit Polizeikontrollen sollte man hier immer rechnen«, rief McEllis nach vorn. »Manchmal fangen sie dabei sogar einen Rebellen, der aus Bequemlichkeit die Straße benutzt. Narciso ist gerissen. Außerdem empfindsam. Eine verheerende Kombination. Dazu nervös wegen der Wahl.«
»Wer wird die Wahl gewinnen?«
»Im Zweifelsfall das Militär. Sie wissen aber wenig, Mister Kurt.«
Der Deutsche stellte keine Fragen mehr, er schaute in die Landschaft. Über glitzernden Reisfeldern spannte sich der Himmel als hohes unverrückbares Dach, geradezu gerecht waren seine Wolken verteilt. Noch über dem bergigen Horizont, auf den die Straße zuführte, erschienen ihre Umrisse scharf. Wie durch luftleeren Raum glitt jetzt das Moped, sein Röhren verlor sich. Als ein großer dunkelblauer Wagen an ihnen vorbeifuhr, spürte der Deutsche für einen Moment die Hände des Priesters. Er drehte sich nicht um. Er fuhr und fuhr; kaum merklich stieg die Straße wieder an, in weit auseinandergezogenen Wellen, hinter denen der blaue Wagen mal verschwand und mal auftauchte. Wiesen und Äcker lösten die Reisfelder ab. Sie erreichten eine Gabelung.
»Richtung Süden«, rief McEllis, »nach rechts!« Richtung Süden, das war eine trockene Piste, die auf einen Einschnitt in den Bergkuppen zulief. Der Horizont rückte näher; immer öfter saßen am Wegrand junge Frauen vor ausgebreiteten Früchten, die im Vorbeifahren wie Mosaike aussahen. McEllis lachte plötzlich. »Sie sind also nicht verheiratet . . .«
»Ja!«
»Und vermissen auch nichts?«
»Vermissen Sie denn etwas?«
»Nur gründliche Kenntnisse von den Frauen, nicht die Frauen selbst. Aber davon später; wir sind bald da.«
Längs der Piste standen schon vereinzelt Hütten, dahinter stieg der Regenwald an. Sie fuhren durch den Einschnitt, und es ging abwärts in einen weiten Kessel, aus dem kleine Hügel ragten. Zwischen den Hügeln wanden sich Pflanzungen und bräunliche Schneisen, auch ein Tal; Blechdächer schimmerten, ein Kirchturm erhob sich, kaum höher als die Bäume. Es roch nach gebackenen Bananen und Schmieröl.
»Mein Zuhause, Mister Kurt.«
»Und wie heißt dieser Ort?«
»Infanta.«
McEllis unterließ alle Erklärungen. Er war kein Fremdenführer. »Dort vorn wieder rechts«, sagte er, und der Deutsche bog in einen lehmigen Weg. Die Hütten standen hier nicht mehr so dicht. Zu jeder gehörte ein Hängebauchschwein. An einen Pfahl gebunden, scharrte es graue Schwaden auf. Die einzigen Fahrzeuge waren bunte Motorräder mit Beiwagen. »Unsere Taxis«, sagte der Priester. »Und nun links.«
Sie kamen auf einen weichen, immer wieder von Rinnsalen gekreuzten Pfad. Der Deutsche lenkte das Moped um schwarze Pfützen und schlummernde Hunde, oft nur noch balancierend, eine Hand in der Luft; so schaukelten sie durch einen Hain steiler Palmen und ein schiefes Bambuswäldchen. Es mündete in eine hohe Wiese, auf der ein Sendemast stand. Handbreite Falter taumelten über den Gräsern. Die Wiese ging in einen Abhang über, der Abhang führte in ein kleines Tal; ein Gebäude tauchte auf. Es stand am Rande des Hangs und war aus Holz und eingeschossig, mit einer Veranda vor dem Eingang. Verglichen mit den Häusern im Ort erschien die Bauart pedantisch.
»Wir sind da, Mister Kurt.«
Der Deutsche hielt an, das konnte er jetzt. McEllis befreite die Hündin aus ihrem Verstau, mit der anderen Hand faßte er sich an den Steiß. »Für mich war das ein bißchen unbequem, für Sie ein bleibendes Erlebnis.« Er zeigte auf den Sendemast. »Das Werk von Wilhelm Gussmann, ein Landsmann von Ihnen.« McEllis ging über ein Treppchen auf die Veranda und führte seinen Gast in einen Flur. Dünner Gesang drang durch die Wände. »Das sind die anderen, Mister Kurt, wir müssen leise sein.« Er hob die Hündin vom Boden und schritt auf Zehenspitzen voraus. Mit dem Ellbogen öffnete er eine Tür. »Unser Gemeinschaftsraum. Da sitzen wir abends, da besprechen wir alles, da nehmen wir die Mahlzeiten ein; und hinter der Durchreiche dort« – er machte eine vage Handbewegung – »kocht man für uns.«
Weiches Abendlicht schien ihnen entgegen. Es drang durch Sträucher vor den Fliegengittern, bildete zitternde Flecke auf einem Tisch und nahm zwei Bücherwänden ihre Schwere. Eine Klappe in der Durchreiche ging auf, und milder Grießgeruch zog in den Raum; zwischen dampfenden Töpfen glänzte ein Arm. McEllis winkte den Deutschen in einen Gang mit Türen zu beiden Seiten, die hinterste sperrte er auf.
»Unsere Gästekammer. Mit Balkon.«
Er setzte die Hündin ab und schaute sich um. »Handtücher sind da, Insektenspray steht auf dem Tisch, Toilettenpapier ist vorhanden, das Bett ist bezogen. Nichts fehlt, Mister Kurt. Ich lasse Sie jetzt mit West-Virginia allein. Sie ist übrigens gedeckt worden, während ich meine Einkäufe gemacht habe. Wir sehen uns zum Abendessen, gegen sieben.« Der Priester verließ die Kammer und holte tief Luft. In seinem Gesicht lag der Ausdruck eines Sammlers, dem ein besonderes Stück in den Schoß gefallen ist.
Sah den Deutschen auf den Balkon gehen, beneidete ihn um den ersten Blick. Über den Kuppen auf der anderen Seite des Tals schwebte wie immer ein Wolkenband. Mit seiner Unbewegtheit schien es alle Geräusche zu dämpfen und dabei doch aus der Stille zu heben. Wahrscheinlich hörte unser Gast den eigenen Herzschlag, während er den Geruch warmen Holzes aufnahm und die Guave berührte, die neben der Brüstung wächst.« McEllis machte sich Notizen; er stand auf der Terrasse der Station. »Mister Kurt staunte dann wohl über die baldachingroßen Blätter der Bananen und die terrassenartig gestaffelten Kronen turmhoher Bäume, über das Geschlinge, aus dem sich ihre Stämme erheben, Blütenketten von leuchtendem Blau bis zu fleischigem Rot, und sah das ganze Wuchern in ein Gewirr aus Farnen und geknicktem Bambus münden, aus toten Bäumen und krausem Buschwerk, einen abgesunkenen Garten.«
Der Priester steckte seinen Block ein und schaute über das Tal. Das Wolkenband wechselte die Farbe. Es wurde blaß, es lockerte sich, und einzelne Wolken nahmen Gestalt an, bevor sie im Dunkel versanken. Die Nacht brach herein, schon sandten Glühwürmchen ihre lautlosen Botschaften. Wie aus der Welt entlassen erschiene dem Gast jetzt alles, dachte McEllis, wie ein unerzählbarer Traum. Etwas benommen kehrt Mister Kurt in seine Kammer zurück und dreht die Nachttischlampe an. Auf ihrem Sockel erglüht ein ewiges Licht, für einen Lutheraner sicher ein Schrecken. Aber er läßt es brennen und betrachtet das Inventar bei intimer Beleuchtung. Das Schränkchen, den Tisch, einen Stuhl; das gußeiserne Waschbecken ohne Spiegel, den steifen Duschvorhang, das schmale Bett. Irgendwann streicht die Hündin an ihm vorbei, zweiter Schrecken. Er sieht, wie sie durch eine ausgesägte Öffnung am Fuße der Tür mit einem Kratzgeräusch entschlüpft, und wundert sich; wird aber auch neugierig und verläßt die Kammer. Und immer noch mitgenommen von seiner Jungfernfahrt auf einem Moped, erscheint er dann zum Abendessen . . .
»Er kam ganz leise«, schrieb McEllis noch in der Nacht in ein Wettertagebuch, das auch seine privaten Notizen enthielt. »Plötzlich trat er aus dem Gang und stand vor uns, und ich sagte, dies also ist Mister Kurt, Deutscher aus Rom! Die Brüder nahmen ihre Zahnstocher aus dem Mund, wandten die Köpfe ein wenig und betrachteten ihn, als bekämen sie nur gelegentlich einen Menschen zu sehen und niemals aus solcher Nähe. Es dauerte etwas, bis jeder seinen Gruß murmelte, während Mister Kurt sprachlos über unseren Anblick war. Fünf alte Männer in Haushemden, flüchtig rasiert, das Haar mit Wasser gekämmt; halb Missionare noch mit kleinen Aufgaben, halb gewöhnliche Ruheständler von undeutlicher Nationalität. Ich übernahm die Vorstellung und begann mit Horgan, der gerade bei Kräften schien. Unser Tenniscrack. Konnte mal aufschlagen, daß der Sand wegspritzte. Mister Kurt gab sich alle Mühe, über Horgans Spindelarme hinwegzusehen, ging auch auf das Thema nicht ein, als habe er gar nichts mit Tennis zu tun. Die anderen bestätigten den legendären Aufschlag, und Horgan schob sich eine Hand unters Kinn. Er richtete seinen Kopf auf und zeigte Mister Kurt sein Gesicht mit der gewaltigen Nase, die ja auf rätselhafte Weise noch wächst, wenn er lächelt. Und der Gute lächelte wie schon lange nicht mehr; die tränengebadeten Augen sahen unter den schweren Brauen hervor, sahen unseren Gast nur regungslos an, und der brachte kein Wort heraus. Inzwischen, erklärte ihm Butterworth, geht alles etwas zeitlupenartig bei Father Horgan, mit Ausnahme des Denkens natürlich; Hirnprozesse haben ja oft ihr eigenes Leben. Wie bei jeder seiner beiläufigen Belehrungen zuckte Butterworth mit den Lidern, nahm das bleiche Gesicht zwischen die Hände und zog schließlich seine Brillenbefestigung stramm, die ihm den Kahlkopf so schön teilt. Ich nannte seinen Namen und machte meine üblichen Bemerkungen zur Person. Finanzverwalter des Hauses. Zuständig auch für alle täglichen Einkäufe und die Korrespondenz. Studienjahre in New York und Italien. – In der Ewigen Stadt, verbesserte mich Butterworth und ergriff die Hand unseres Gastes. Wie der Zustand der Sixtinischen sei, erbärmlich? Und die Petrarca-Handschriften, noch in dieser schlechten Vitrine? Und die kleinen Pilgerlokale rechts der Conciliazione, von San Angelo kommend, noch so preiswert? Mister Kurt wußte es nicht. Er entgegnete nur, Restaurierungsarbeiten seien im Gange. Und erwähnte, er wohne nicht ständig in Rom und spreche auch leider nicht gut Italienisch. Darauf Butterworth, typisch: Nun, Signore Kurt, heute könnte ich auch nicht mehr Dante lesen – es ist bald fünfzig Jahre her. Aber denken Sie deshalb nicht, ich sei der Älteste hier. Wir sahen natürlich alle zu Pacquin, der gerade aufgestanden war und mit seinen winzigen Schritten zur Durchreiche ging. Er holte die Platte mit den Bratfischen. Als er zurückschlich, sagte ich, Father Pacquin, unser Superior, ist hier geboren, ist hier aufgewachsen, ein Insulaner, und Mister Kurt machte eine Verbeugung. Er überragte Pacquin um zwei Köpfe, sah geradezu ratlos auf den zwergenhaften Greis, der wie immer einen geschäftigen Eindruck machte, die sechs Fische nachzählte, sein Haushaltsheft auf den Tisch legte, seine Serviette aus dem Ring zog. Lukas ist ein guter Name, sagte er nur, und ich brachte unseren Gast zu Dalla Rosa, flüsterte, er solle keinesfalls den Versuch machen, ihm in beide Augen zu sehen. Als Bibliothekar der Station stellte ich ihn vor, geboren in Triest. Mister Kurt bemerkte dann, vermutlich aus Höflichkeit, irgend etwas in italienischer Sprache zu ihm, worauf Dalla Rosas Wanderauge in Bewegung geriet. Mit seinem gewöhnlichen Auge blickte er mich hilfesuchend an und bat dabei unseren Gast, nie wieder mit ihm italienisch zu reden, denn sein eigenes Italienisch sei das eines Kindes. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr dort, rief er aus. Und komme auch nicht mehr hin. Mein Heimweh hat sich schon vor dreißig Jahren gelegt. Und inzwischen möchte ich hier sterben. – Mister Kurt preßte bei dem Wort Sterben die Lippen zusammen, ihm schien damit endgültig der Mund verschlossen. Er schwieg dann auch lange und schaute immer wieder zur Durchreiche, wo gelegentlich Maylas Hände auftauchten, diese dunklen, oft etwas kühlen Hände, Bestecke trockenrieben oder das Geschirrtuch glattstrichen, unsere Nachtischbananen zurechtlegten oder einfach auf den Fingerspitzen standen, ein kleines Ballett . . .« McEllis führte diesen Fingertanz-Gedanken noch weiter aus und sah sich bald gezwungen, einen ganzen Absatz zu streichen, ehe er nach Hände auftauchten neu fortfuhr.
»Boten unserem Gast den Platz zwischen Pacquin und Gregorios leerem Stuhl an, und Butterworth reichte ihm die Abendsuppe, in der etwas weiche Brotrinde schwamm. Löffeln und Schlürfen. Mister Kurt äußerte sich lobend; er lobte die Suppe einmal zuviel. Neigt überhaupt zu Übertreibungen, wie mir scheint. Als wir unsere Teller geleert hatten, sprach er vom Urwaldblick, den sein Balkon biete, und nannte die Gästekammer komfortabel. Eine glatte Lüge. Um davon abzulenken, holte ich die Leinenschuhe, die ich für Horgan besorgt hatte. Weißere gab es nicht, erklärte ich, streifte Horgan seine Boote von Sandalen ab, zog ihm die neuen Schuhe an, schnürte sie zu und legte ihm ein Bein übers andere; so konnte er wenigstens einen Schuh sehen. Von den übrigen kein Kommentar. Nur Pacquin halblaut zu Mister Kurt: Und wie finden Sie Father Horgan, elegant? Etwas deutsche Antwort: Oh, sicher, durchaus, Superior. Pacquin zwinkerte über das ganze dünne Gewebe seines Gesichts und begann, eine Eintragung ins Haushaltsheft zu machen. Ein weiteres Rätsel für unseren Gast, diese Buchstaben von der Größe einer Nase, die Pacquin mit seinen Gärtnerhänden einzeln zu Papier bringt, wobei die Augen völlig unbewegt bleiben, nur seine weißen Wimpern zittern. Ich habe zu notieren, was zu besorgen ist, war seine knappe Erklärung. Denn jeder hier hat noch eine Aufgabe, auch Father Horgan. Und wenn sie nur darin besteht, zu lernen. Etwas erstaunter Einwurf von Mister Kurt: Was zu lernen? Prompte Antwort: Alles, was wir noch nicht wissen. Punkt und Schweigen. Dalla Rosa holte Horgans Milchschleim und fütterte ihn auf seine taktvolle Weise, und ich berichtete von Narcisos Fragen zu Gregorio. Gregs Rückkehr muß auf jeden Fall heimlich erfolgen, bemerkte Butterworth dazu, ehe er, an unseren Gast gewandt, seine Zigarettenspitze aus der Brusttasche zog und wie ein Taktstöckchen hielt; Father Gregorio zähle zu den wenigen, die über Revolution reden könnten, ohne eitel zu erscheinen. Natürlich regte dieses Bonmot ein Tischgespräch über Marxismus und Psychologie an, einen Meinungsaustausch, der für Mister Kurt offenbar wie eine Unterhaltung in einer fremden Sprache war. Er nagte am Fisch, lächelte schwach und nickte an unpassenden Stellen. Unser Kühlschrank erlöste ihn. Mit der üblichen Erschütterung schaltete er sich aus und ließ die Anrichte mitbeben, und die bekannten Vorschläge, dem abzuhelfen, wurden gemacht. Wir kamen auf technische Errungenschaften zu sprechen, lautlose Kühlgeräte, lautlose Uhren, lautlose Autos, das Bildtelefon, bis Pacquin plötzlich murmelte: Ich hoffe, Sie haben nicht zuviel hier erwartet, Mister Kurt. – Kopfschütteln. Gar nichts habe er erwartet. Darauf Pacquin leise zu Horgan: Kannst du dir vorstellen, daß ein Mann irgendwo ankommt und gar nichts erwartet? Ich stand auf, holte den Bourbon, goß jedem ein. Horgan machte die Schnecke. Mister Kurt starrte ihn an. Wo sollte unser Gast auch einen Menschen gesehen haben, der sich in seinem Stuhlgehäuse förmlich zusammenrollt, am Ende fast nur noch aus Kopf besteht, einem mächtigen, von nichts als Willen gestützten Schädel? Wie immer nahm Horgans Gesicht einen Ausdruck an, als entscheide er über eine Frage von fundamentaler Bedeutung. Die Leuchtröhre summte. An den Fliegengittern kratzten Fleischkäfer. Stille. Endlich lächelte er. Ich lieh ihm mein Ohr, und er hauchte mir zu, ein Mann kann irgendwo ankommen und irgend etwas Namenloses erwarten, kann weder wissen, was er erwartet, noch, ob er überhaupt Erwartungen hat, ja nicht einmal wissen wollen, was ihn erwartet. Kaum hatte ich das bekanntgegeben, ging die Klappe in der Durchreiche zu, vielleicht nicht ganz so sachte wie gewöhnlich. Dalla Rosa stand als erster auf. Er machte seine rudernde Bekreuzigung und verschwand. Ihm folgte Butterworth, der Horgan schob. Pacquin schloß das Haushaltsheft. Mister Kurt trank. Schenkte ihm nach und holte meinen Eiswasserkanister. Doch er verdünnte nicht, studierte nur das Namensschildchen auf dem Kanister – Fr. McEllis, S. J. –, erkundigte sich nach der Bedeutung der Abkürzungen und sagte, interessant, so etwas hinter dem Namen, etwas, das über einen selbst hinausreicht. Erwiderte nichts. Wechselte zur Leseecke. Zeitungslektüre, während Pacquin, seit neuestem gegen den Uhrzeigersinn, den Eßtisch umrundete und Bewegung flüsterte, Bewegung. Unterhielten uns noch mit geringsten Mitteln, das Übliche. Was nach der Wahl passieren könnte, erstens, zweitens, drittens. Bis unser Gast sich leise zurückzog. Ich nahm West-Virginia und sah nach Wetter und Sternen, wurde unruhig und eilte ihm nach. Er war noch nicht in der Kammer, sondern stand mitten im Gang, als habe er irgend etwas gehört, vielleicht Horgans klagenden Atem im Schlaf. Er fuhr herum. Ich bin es, Mister Kurt, ich. Aufatmen, Schweigen. Seine Augen folgten meiner Hand, dem Streicheln der Hündin. Komme gerade von draußen. Eine dieser erschlagenden Sternennächte. Ich beobachte hier seit vierzig Jahren den Himmel; müde? Er sah mich an, sagte ja und deutete auf das Tier. Warum hat sie diesen Namen? – Weil ich sentimental bin. Sie nicht? Erneutes Aufatmen, Lächeln. Gute Nacht, Mister Kurt. – Gute Nacht, Father.«
Ein rascher, einprägsamer Dialog; der Deutsche hatte seine Melodie noch im Ohr, als er ausgezogen auf dem Bett lag und zur Balkontür sah. Warmer Wind bewegte die Tür lautlos nach innen, und eine Gegenkraft schloß sie bald wieder sanft. Erst gegen Morgen kühlte es ab, und er sank in flachen Schlaf. Die Luft verlor ihre Schwere, das Unendliche der Dunkelheit wich einer Ahnung von Licht, der Horizont kehrte wieder. Eine Brise strich durch die Kronen der Bäume und brachte die dünnen Drahtseile, die den Sendemast hielten, zum Singen; Hähne schrien.
Noch vor Sonnenaufgang klang eine wie von winzigen gläsernen Spieluhren erzeugte Musik durch die ganze Station und weckte die Priester. Sie kam aus einem Kassettengerät, das in der Küche stand, fädelte sich in den Schlaf und drang in Etappen ins Bewußtsein, auch in das von Kurt Lukas. Als die Klänge endeten, stand er auf, und ein fast vergessenes Wort fiel ihm ein. Muskelkater. Leise stöhnend, beide Hände auf den Schenkeln, trat er mit Greisenschritten auf den Balkon und wartete die Sonne ab, das letzte fehlende Stück Drehung der Erde, und war bewegt, als sie mit einem Ruck ihren gleißenden Rand zeigte. Schon ihr erster Strahl erwärmte sein Gesicht. Wie immer am Morgen hatte er Durst; Mineralwasser, viel Kaffee und ein Stückchen, das war sein Frühstück in Rom. Er zog sich an.
Im Gemeinschaftsraum war schon gedeckt, aber es saß noch niemand am Tisch. In den Regalen der Anrichte fand er eine Büchse mit klumpigem Zucker und eine Büchse mit klumpigem Kaffee-Extrakt. In einer Blechdose war gelbliches Milchpulver, in zwei Thermoskannen stand heißes Wasser bereit. Alle Mengen schienen bemessen, und er wagte es nicht, sich zu bedienen. Die Hündin kam durch ein weiteres ausgesägtes Türchen aus der Küche und legte sich unter den Stuhl von McEllis. Kurt Lukas drehte sich um. Schräge Sonnenstrahlen schossen herein und ließen die Bücherwand samt ihrem Staub leuchten. Er lief von einem Fenster zum anderen. Er wollte überall zugleich sein. Der Duft gebackener Eier mischte sich jetzt mit einem Duft aus dem Tal nach verdampfendem Tau auf Millionen von Blüten. Er atmete beides ein und sah in die blendende Sonne, er trat auf dem Boden auf, daß es knackte im Holz, und strich an den Fliegengittern entlang. Er winkte dem Tier zu, er roch an den Buchrücken. Er hörte Schritte.
Die alten Priester kamen von der Messe. Sie kamen geschlossen, als letzter Butterworth in einer grauen Soutane. Mit einer Geste, einer Silbe, einem Blick wünschten sie guten Morgen. Dalla Rosa trug auf. Es gab Eierkuchen, getrockneten Fisch und Reisbrei. »Und geht es Ihnen gut, Mister Kurt?« fragte Pacquin nach einer Weile.
»Nur Muskelkater.«
»Vom Treten«, bemerkte McEllis, »ich dachte, Sie seien trainiert.« Er schob Toast in einen Röster und erinnerte den Superior daran, daß ein Brief beantwortet werden müsse. Es ging um einen Novizen. Man wußte nicht viel über ihn, war nur darüber unterrichtet, daß sein Wunsch, dem Orden beizutreten, unter Umständen, so die Vermutung, ein extremer Fall von Selbstgefälligkeit sei. Der Psychologe des Seminars hatte in einem Schreiben zu Händen Pacquins von verdächtiger Opferbereitschaft gesprochen, die durch eine Betreuung Father Horgans auf die Probe gestellt werden könnte. Kein Geringerer als der Bischof der Gegend, der einmal im Monat zum Mittagessen auf die Station kam, hatte Horgans Fähigkeiten, einem Menschen auf den Zahn zu fühlen, immer wieder gerühmt. Sein Besuch stand bevor; er werde den Novizen gleich mitbringen, hieß es.
Aus dem panzerartigen Röster stieg Qualm auf, keiner der Alten zeigte sich überrascht. Dalla Rosa öffnete das Gerät und schubste die geschwärzten Schnitten mit der Gabel heraus, sie sprangen in Stücke – »Im Prinzip funktioniert er, Mister Kurt, er wird nur zu heiß.« McEllis verteilte die Trümmer. Die Priester kratzten das Schwarze herunter und häuften auf den Rest Konfitüre; so geschah es jeden Morgen, und am Ende des Frühstücks lag in der Mitte des Tisches ein sorgfältig zusammengeschobenes Häufchen Ruß. Erst nach mehreren Tagen, manchmal auch nie, begriff ein Gast, daß der Toast nur ein Vorwand war, um in den Genuß von möglichst viel Pflaumen-, Aprikosen- oder Granatapfelgelee zu kommen.
Der Superior und Butterworth verständigten sich über Besorgungen. Sie redeten mal Englisch und mal Cebuano, die Sprache der Einheimischen. Schließlich prüfte Butterworth die Brillenbefestigung, Zeichen zum Aufbruch, schlug ein Kreuz und erhob sich. Obwohl sämtliche Händler im Ort bereit waren, die Station zu beliefern, sprach Butterworth von der Notwendigkeit seiner täglichen Einkaufstour. Man muß sich zeigen, sagte er. Im Laufe der Zeit hatte er daraus das Recht abgeleitet, wann immer er wollte, den Jeep zu benutzen. Keiner machte ihm dieses Recht streitig, aber die anderen redeten offen über gewisse Allüren, die der achtzigjährige Bruder an den Tag lege, wenn er, die Zigarettenspitze im Mund und einen frechen Sonnenhut auf der Glatze, ohne Verdeck durch den Ort fahre.
Butterworth hatte sich umgezogen – Sandalen, flatternde Shorts, weißes Unterhemd, Halstuch – und war hinter den Rollstuhl getreten. »Sie könnten mir helfen, Mister Kurt. Draußen.« Er schob den Rollstuhl, ein schweres Gefährt aus den Kindertagen dieser Erfindung, auf die Veranda, schob ihn dort neben einen Korbsessel und fixierte die Bremsen, langte dann unter das Polster des Sessels, holte ein schmales, in Zeitungspapier eingeschlagenes Buch hervor, sagte, »Seine Lektüre«, und drückte Horgans magere Hände darum. »Und nun heben wir ihn hinüber, Mister Kurt, auf seinen Leseplatz, dort sitzt er bis zum Mittagessen. An manchen Tagen wechselt er selbst den Stuhl; heute ist er nicht so in Schwung.« Damit griff er ihm unter die Achseln, während Kurt Lukas, furchtsam, als könne Horgan entzweibrechen, die Beine des Priesters nahm. Sie hoben ihn an, er war leicht wie ein Kind. Kaum saß er in der Mulde, hauchte er eine Ziffer, und Butterworth schlug das Buch an der entsprechenden Stelle auf und gab es zurück. Horgan führte eine Hand an die Lippen, Speichel floß ihm über die Finger. Ein Faden entspann sich und lief bis in den Schoß. Zwischen dem Gestrüpp seiner Brauen verschwanden die Falten, und die Nase schien zu wachsen. Er lächelte. Er las.
Butterworth, morgens noch bleicher als abends, strich den Faden mit dem Handteller fort, bevor er den Gast beiseite nahm. Er ging mit ihm in den Garten, er zeigte Kurt Lukas das Reich des Superiors, Beete und Rabatten. In einem braunen Kittel, kaum zu erkennen, kniete Pacquin zwischen Tomatenstöcken und wühlte im Boden. »Er hat’s mit dem Unkraut«, sagte Butterworth leise und machte einen Bogen Richtung Sendemast. Die Sonne brannte jetzt schon, und der Priester legte sich das Halstuch auf den nackten Kopf. Er konnte sich keinen Stich leisten; sein Tag war ausgefüllt. Gleich kämen junge Gemeindehelferinnen, denen er einmal in der Woche die Beichte abnahm. Dann folgte die Einkaufstour, das tägliche Bad in der Menge, seine sichtbarste Freude. Der Nachmittag gehörte Gebeten und Schlaf und wieder Gebeten. Und gegen Abend war eine Prüfung aller Activa und Passiva fällig. Butterworth unternahm diese Prüfungen zweimal im Monat mit einer Leidenschaft, die er bereits verschleierte. Erst der spätere Abend, die Nacht, war frei, frei für seine heimlichste Passion, das Schreiben. Auch wenn er seit geraumer Zeit nichts zu Papier gebracht hatte, dachte er doch über Wege nach, die ihn wieder zum Bilden und Festhalten von Sätzen führen könnten; alles, was ihm fehlte, war ein Auftrag. Der bleiche Priester blieb stehen. Er hielt eine Hand gegen die Sonne und sah am Sendemast hoch.
»Father McEllis hat in Ihrer Gegenwart sicher schon den Namen Gussmann erwähnt. Wilhelm Gussmann hat den Orden und unseren Kreis verlassen; er war auch einmal Deutscher. Nun ist er staatenlos. Und seit dem Austritt gehört er eigentlich nirgendwohin. Vor einigen Jahren kam durch seine Vermittlung ein junges Mädchen zu uns. Sie arbeitet hier in der Küche, aber ich wollte etwas anderes sagen. Gussmann ist unwesentlich jünger als wir, lebt vom Verleih billiger Heftchen und läßt sich den Bart stehen. Gleichwohl übt er noch Anziehung aus auf die Frauen. Können Sie sich das erklären, Mister Kurt? Ich vermute, daß auch Sie Wirkung auf Frauen besitzen, über die Sie ab und zu nachdenken.«
Kurt Lukas faltete die Hände im Nacken. »Ich glaube, ich bin kein besonders nachdenklicher Mensch, Father.«
»Ach so. Das konnte ich nicht wissen.«
Butterworth zuckte mit den Lidern; trotz feuchter Hitze war sein Gesicht völlig trocken. Er riet dem Gast noch, sich den Ort anzuschauen, am besten gleich, sprach von der Kirche als Zuflucht in der Mittagsglut, empfahl, sich vor der Sonne zu schützen, auch wenn der Himmel bedeckt sei, und suchte dann selbst den Schatten.
Infanta war ein Ort mit ungewisser Einwohnerzahl. Wer kein Dach über dem Kopf hatte, galt nicht als Bewohner. Aber was war nicht alles ein Dach. Geplättete Kanister. Bambusrohre. Palmwedel und Pappe. Bunte Fetzen. Ein Sack. Auf hundert Menschen mit Dächern kamen fast halb so viele, die keine Bleibe angeben konnten. Bis vor kurzem. Denn in den Wählerverzeichnissen tauchten diese Obdachlosen plötzlich namentlich auf, neben den frisch Verstorbenen und Schwachsinnigen Infantas. Sichere Stimmen. Parteitrommler konnten den Ort getrost übergehen; Politiker von außerhalb mieden ihn gar – zu heiß, zu unwegsam. Infanta erstreckte sich über den ganzen Kessel, in dem es lag, über seine Hügel und sein Tal, über sumpfige Felder und Regenwald, schien schon zurückgefallen an das Dickicht und erhob sich noch einmal als wilde Siedlung aus schwelender Asche wie eine Sinnestäuschung. Trotz aller Weitläufigkeit gab es eine Art Hauptstraße. Sie trug den Namen eines Generals und diente auch dem Durchgangsverkehr; eine bessere Fahrspur, die in der Trockenzeit bis nach Davao reichte, der Hauptstadt der Insel.
Längs dieser Hauptstraße standen die wenigen soliden Gebäude des Ortes, Gemeindehaus und Schule, Bürgermeisteramt und Kirche, das Hauptquartier der Polizei sowie eine Poststelle. Etwas abseits, aus Latten gezimmert, lag die Hahnenkampfarena. Alles übrige waren Hütten und Verschläge. Dazwischen gab es winzige Läden wie aufgegebene Puppenbühnen. Manche boten nur Bananen, die an feinen Schnüren hingen, nicht mehr als sechs oder sieben. Andere verströmten den Geruch von Gummiartikeln und Lakritze oder führten Fortsetzungsheftchen, die man ausleihen konnte, ebenfalls an Schnüren hängend. Das Unterhaltungsangebot war groß. Jeder Ortsteil hatte seinen Billardschuppen, Heftchenladen oder Glücksspielstand. Konkurrenzlos war nur ein Vergnügungslokal auf einem der Hügel. Nacht für Nacht schallte von dort Musik über Infanta, fast vergessene Schlager, kläglicher Amateurgesang und zwischendurch eine richtige Stimme. Sie gehörte der schwarzen Sängerin Elvira Pelaez, der auch die Bude gehörte, wie sie ihr Lokal schlicht genannt hatte. Eine Zugereiste, die sich bei jedem Auftritt ein Gebläse hinterhertragen ließ; ihr junger Träger bediente sonst Musik- und Lichtanlage, seine Tante trat in der Bude als Tänzerin auf. Bis zu ihrer Spätvorstellung wurde warmes Essen serviert. Niemand erhielt Kredit. Ein Monopol.
Schärfster Wettbewerb herrschte dagegen unter Friseuren. Es gab vierzehn Schönheitssalons, der fünfzehnte sollte in Kürze eröffnen; über dem Laden war bereits ein Schild montiert, auf dem der Inhaber Frisuren für jedes Gesicht anpries. Kein Mensch nahm die Reklame ernst. Über jedem Laden gab es eine Tafel, die versprach, was sich der Kunde erträumte. Helle Haut durch Sonnenschirme. Weitsicht durch Brillen. Karriere durch gestärkte Hemden. Glück durch ein Los. Persönlichkeit durch ein Foto. Drei Fotografen boten ihre Dienste an, darunter ein Meister – auf der Tafel über seinem kleinen Geschäft gegenüber der Post stand kein einziger Hinweis auf Familien- oder Hochzeitsbilder, sondern nur Haus der Wunder. Die meisten Reklametafeln waren größer als die Läden und flatterten während eines Taifuns wie Segel, nicht selten rissen sie den Unterbau mit sich. Aber es war Sommer. Und Wahlkampfzeit. Alle Wände, alle Hütten, jede brauchbare Fläche war mit alten und neuen Plakaten bedeckt. Die unzähligen Porträts mit ihren Sprüngen und Blasen waren in diesen Tagen das schäbige Kleid von Infanta. Sogar einem der offiziellen Gebäude war dieses Papierkleid bei Nacht übergestreift worden.
Der Polizeichef machte aus seiner Schwäche für die Diktatur keinen Hehl. Wie alle Gewalt ausübenden Männer konnte er sich mehrere Schwächen zugleich erlauben. So zeigte er Vergnügen an amerikanischer Arroganz und brüstete sich, er sei mit Haut und Haaren Patriot. In jeder seiner Schwächen steckte ein Schuß Folklore, und wie überall auf der Welt offenbarte sich dieser Gemütszustand am Automobil. Weithin hörbar klang aus einem Horn auf Narcisos Wagendach als Hupmelodie Für Elise, quälend verlangsamt und in schnarrenden Tönen, wieder und wieder, bis endlich der erlösende Akkord einsetzte. Der Hauptmann hatte sein Standardsignal auswechseln lassen, nachdem der Kommandant eines Infanterieregiments bei Infanta von einer Hongkong-Reise mit einer Hupe heimgekehrt war, der die Fledermaus-Ouvertüre zugrunde lag. Narciso hatte sofort das Schmissige dieser Musik erkannt und dem entgegengesetzt, was er für erhabener hielt. Er gab viel auf Stil und Ästhetik. Sein Vorbild war der frühere Gouverneur der Provinz, ein Mann mit Maßanzügen, Schweizer Uhren und Flugzeug, den auf der Südinsel jeder kannte; Amtsmißbrauch und Predigten Gregorios hatten ihn um seine Wiederwahl gebracht.
Angeblich gehörten dem Ex-Gouverneur alle bedeutenden Gebäude entlang der Hauptstraße, bis auf die Kirche. Doch es gab Leute, die darauf schworen, daß er auch die Kollekte einstrich, um sie in immer weitere Chromteile an seinem Mercedes zu verwandeln; nie sah man den Politiker in Person, immer nur sein ultramarinblaues Fahrzeug. Glühende Windstille, die manchmal nächtelang auf dem Ort lag, und dieses schwere Auto, das waren die unterschätzten Prüfungen der Seele in Infanta.
Selbst in der Kirche fiel darüber kein Wort; sie war das einzige vollständig von Kandidatenbildern freie Haus weit und breit, ein gestreckter weißer Holzbau mit flachem Giebel und Spitzturm. Zwischen Portal und Hauptstraße lag ein schattenloser Platz mit einem Denkmal des Nationalhelden. Rund um das Denkmal standen Jeepneys, protzig verzierte Kleinbusse, die erst abfuhren, wenn sie mit Menschentrauben besetzt waren. Neben der Haltestelle fand jeden Vormittag ein Markt statt; unter der lebensgefährlichen Sonne war die Platzmiete geringer als während des Nachtmarkts. Der Tagesmarkt gehörte reisenden Händlern mit ihrem leisen Gefeilsche. Gekauft wurde kaum. Auch das Billigste war zu teuer. Ein Leibchen mit dem Kopf des Präsidenten kostete zwölf Pesos oder einen halben Dollar, ein Tageslohn für viele; die Leute befühlten es und gingen weiter. Nach elf Uhr leerte sich der Markt. Bald schien es nur noch Händler zu geben. Sie standen unter aufgesteckten, einen trügerischen Schatten spendenden Tüchern und sahen zu einem Mann, der alles mit großen Augen betrachtete, schillernde Fische und stinkende Innereien, minderes Spielzeug und teilnahmslose, an den Füßen aufgehängte Hühner. Kurt Lukas, noch in Reisekleidung. Er suchte nach einer hellen, freundlicheren Hose, aber alles, was in Frage kam, war zu klein. Umherlaufen und Bestauntwerden hatten ihn müde gemacht. Es war Mittag, als er die Kirche betrat.
Durch das lange lichtgedämpfte Schiff wehte ein Luftzug. Zwischen den Querbalken schossen Spatzen hin und her. An den Hauptpfeilern hingen Figuren, Heilige aus gesprungenem Holz. Sie hatten kaum noch Farbe auf ihren Gesichtern und einen überraschend sorglosen Ausdruck. Kurt Lukas ging durch den Mittelgang. Er setzte sich in eine der vorderen Reihen. Die Bank war glatt und kühl. Er faltete die Hände und sah zum Gekreuzigten, als würde er an ihn glauben.
Eine Katze schlich über die Stufen vor dem Altar, ließ sich dort nieder und blickte unbewegt ins Kirchenschiff. Kurt Lukas wandte den Kopf um. Unter einem der Heiligen kniete eine weinende Frau. Wie aus undichten Stellen flossen ihre Tränen; als er wieder zum Altar sah, war die Katze verschwunden. Schweiß tropfte ihm jetzt von den Brauen, fiel auf Wimpern und Wangen und rann ihm kitzelnd über den Hals. Er knöpfte sein Hemd auf und trocknete sich Stirn und Haar mit einem Ende; er schaute rasch über die Schulter. Auch die Frau war jetzt fort. Die Kirche gehörte ihm und den Spatzen. Er beobachtete ihre Flüge; seine Lider wurden schwer. Schließlich fielen sie ihm zu. Die Fäuste zwischen den Schenkeln, saß er da wie als Schüler, betäubt von zuviel Neuem, und hörte nicht, daß die Lehne knackte. Erst der Geruch einer frisch geschälten Mandarine ließ ihn die Augen aufschlagen.
Er sah ein gelbes Kleid und Hände, die die Mandarine hielten, junge Hände ohne Schmuck, mit kleinen hellen Nägeln. Als sie die Mandarine teilten, hob er den Blick und sah auf kürzeste Entfernung in ein Gesicht. Ein Mädchen schaute ihn an. Sekunden verflogen, bis es Ich bin Mayla sagte und ihm eine Hälfte gab. Er löste ein Stück ab, es fiel ihm herunter. Er hob es auf, blies den Staub von der Haut und nannte zweimal seinen Namen.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte das Mädchen.
Er wollte fragen, woher, da wußte er es schon selbst; mit einer Hand schloß er sein Hemd.
»Du arbeitest bei den alten Priestern, nicht wahr?«
»Ja.«
Zwei kleine Adern pochten unter ihren Augen. Er sah auf ihr Haar.
»Bist du mir nachgegangen?«
»Nein.«
In ihrer Stimme schwang Spott. Sie schob den Rest der Mandarine in den Mund und kaute. Sie ließ sich Zeit. Mit beiden Händen strich sie ihr Haar hinter die Ohren.
»Ich komme jeden Tag hierher. Um diese Zeit.«
»Für mich ist es das erste Mal.«
»Ich weiß«, sagte sie wieder.
Er nahm sich einen Kern von den Lippen und legte ihn auf die Bank, sah ihre Blicke und schob ihn über den Rand, erschrak, als er hörbar vom Boden wegsprang, und bedeckte ihn schnell mit dem Schuh. »Wo hast du so gut Englisch gelernt?« fragte er.
»Bei Father Gussmann.«
»Dem ausgetretenen Priester?«
»Ja.«
»Aber es klingt nach McEllis, wenn du sprichst.«
»Er gab mir auch Unterricht.« Ihr Blick glitt über seine Stirn, ging über ihn hinweg, in die Weite der Kirche, folgte dem Hin und Her der Spatzen und traf ihn dann so überraschend, daß er beinahe gelacht hätte – »Sag mir, wie alt ich bin.«
»Achtzehn?«
»Ich werde zwanzig. Noch ein Jahr, und ich studiere. Für meine Arbeit auf der Station wird mir der Orden ein Studium bezahlen. Ich habe Glück.«
»Was willst du studieren?«
»Theologie.«
»Geht das?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf; ihre Augen lächelten nicht mit. Kurt Lukas sah sie immer noch an. »Ich bin doppelt so alt wie du«, sagte er.
»O nein«, entgegnete sie. »Du bist nicht so alt.«
Er aß seine Hälfte zu Ende. Die Worte gingen ihm aus. Er fühlte sich wie nach Stunden konzentriertester Arbeit, fast dumm. »Ich glaube nicht, daß du zufällig hier bist«, sagte er in umständlichem Englisch. »Ich glaube, du wolltest mich sprechen.«
Unter ihren Augen bildeten sich Schatten wie ein feiner, über die Äderchen geworfener Flor.
»Ich spreche gern mit dir«, fügte er leise hinzu.
»Du sprichst zuviel.«
Sie reichte ihm die Mandarinenschalen, sagte, »Ich muß weiter«, und glitt aus der Bank.
Er sah ihr nach. Sie war noch schöner, wenn sie sich bewegte. Kurz vor der Tür drehte sie sich um und bekreuzigte sich mit einem fließenden Auf und Ab ihrer Hand, ehe sie unter den Sonnensegeln des Marktes verschwand.
Ein Spatz flog schräg durch die Kirche und wieder zurück. Lautlos flitzte er unter der Decke umher, flog den Gekreuzigten an, um auf der Dornenkrone zu landen, drehte nach unten ab und sauste dicht über den Boden, stieg erneut und verharrte mit wildem Geflatter, verschwand zwischen Balken und kam woanders hervor und schoß im Zickzack weiter. Kurt Lukas verfolgte den Irrflug und sah plötzlich drei, ja vier Spatzen zugleich, als habe er getrunken, sah auch wieder die Katze vorm Altar, wie sie unbewegt schaute, sah die Heiligen mit ihrem sorglosen Ausdruck, seltsam lebendig, und die Mandarinenschalen in seiner Hand, zwei gleich große Teile. Er steckte sie vorsichtig ein, und vorsichtig stand er auf.
Rückwärts, immer wieder nach den Seitenbänken greifend, den Altar und die Katze im Auge, entfernte er sich. Neben dem Weihwasserbecken blieb er stehen und stellte sich vor, wie sie ein Kreuz zu schlagen, mit der gleichen schönen Bewegung. Aus Furcht, sie zu parodieren, ließ er es sein. Statt dessen warf er Münzen in den Opferstock, sämtliche Münzen, die er bei sich hatte, stopfte dann auch noch Papiergeld nach, alle getauschten seifigen Scheine, dazu zwei Dollar und tausend Lire; nur die Schalen behielt er.
Der Januar wurde immer heißer. Die erste Nacht ohne Abkühlung verging, der erste Tag ohne Wind. Am dritten Tag unter verschleiertem Himmel zerflossen die Eisblöcke, die in den Eßbuden Bier und Fleisch kühlten, zerfielen Wahlplakate wie Asche, und die Schatten der Fußgänger verschwammen, als löse sich auch die Menschengestalt langsam auf.
Gegen drei Uhr, als die Sonne überall zu stehen schien und die Luft in den Hütten zum Schneiden war, unterhielten sich Dalla Rosa und der Superior im Garten. Wie in Zeiten emsigster Missionsarbeit glaubten beide, der Hitze durch Nichtbeachtung trotzen zu können. Ein Irrtum, dem auch die übrigen unterlagen. Besonders Nächte ohne Abkühlung setzten den Alten zu. Das endlose Wachliegen mit seinen verzweigten Gedanken lockerte ihre Festung aus Regeln. Dalla Rosa tupfte sich die Stirn. »Kein schöner Anblick«, sagte er. »Nur Haut und Knochen.«
»Weil sie ihn frißt, die Freiheit.«
»Dazu kam sein Husten mit dem Gelächter am Ende.« Obwohl jeder auf der Station bemüht war, den ehemaligen Mitbruder nicht zu erwähnen, tauchte er doch regelmäßig in ihren Gesprächen auf. Immer wieder wußte der eine oder andere etwas über Wilhelm Gussmann zu berichten. »Jedenfalls lebt er«, bemerkte Pacquin und lehnte seinen Kopf an. Die beiden saßen in einem offenen Pavillon. Er stand am Rande des Grundstücks und war ganz aus Bambus. Dalla Rosa löste eine Rosine aus einem Bananenkuchen und schob sie sich schnell in den Mund. Er war auf dem Weg zur Post an Gussmanns Heftchenladen vorbeigekommen und hatte dem früheren Priester und dessen Gefährtin zugenickt. Flores hatte sich bekreuzigt, Gussmann nur den Hut gezogen und gehustet. Und so rasch er konnte, war Dalla Rosa in der Hitze weitergegangen, erst den Husten und dann das Gelächter im Rücken. »Dieses Gelächter«, fügte er seiner Erzählung hinzu, »wie ein Echo aus dem Abgrund.«
»Jedenfalls lebt er«, wiederholte Pacquin und griff in den Kuchen. Der Superior sah nur noch Schemen. Seine Finger bohrten eine Rosine hervor, nicht zu tief eingebacken, damit er sie finde. Dachte er.
Jeder der fünf glaubte Zeichen einer speziellen Zuneigung Maylas zu bemerken. In einem Strauß blauer Kreppmyrte auf dem Tisch entdeckte McEllis eine Anspielung auf seine Augen. Gab es Innereien, fühlte sich Dalla Rosa in seinem einsamen Genuß des Ulysses verstanden. Mehr als einmal Karotten in der Woche deutete Butterworth als liebevoll erdachte Therapie für sein bleiches Gesicht. Und geringen Variationen in der Zubereitung des Milchbreis entnahm Horgan ganze verschlüsselte Botschaften. Sie hatten nie über diese Dinge geredet, doch mit dem richtigen und zugleich falschen Instinkt aller Eifersüchtigen sofort gespürt, wenn sich einer von ihnen an etwas erfreute, das in Wahrheit weder für ihn noch für alle bestimmt war, sondern nur einer Tageslaune ihres Schützlings entsprang. Mayla war gerade vierzehn geworden und hatte Eltern und Geschwister verloren, als sie ihr Arbeit und Obhut anboten. Ein Armeetrupp hatte eine wilde Siedlung nach Rebellen durchkämmt, plötzlich waren Schüsse gefallen; sie und ein Mädchen namens Hazel, die spätere Tänzerin in Infantas berühmter Bude, waren am Leben geblieben. Gussmann, damals zuständig für wilde Siedler, hatte sich um Mayla gekümmert und sie den anderen schließlich vorgestellt. Bis zu ihrer Volljährigkeit wohnte sie im Haus der Gemeindeschwestern, dann zog sie mit Hazel zusammen. Nur wer nicht wußte, was beide verband, wunderte sich über das ungleiche Paar.
Dalla Rosa stand auf und öffnete das Pavillontürchen.
Die drei anderen kamen. McEllis schob Horgan, Butterworth schritt nebenher, eine Kanne mit Eistee in der Hand. Sie setzten sich und redeten kein Wort, solange sie brockten, kauten und tranken. Die Alten genossen ihre Teestunde, die nur stattfand, wenn es Kuchen gab. Mal hatte Mayla Lust zu backen, mal nicht; sie genossen auch ihre Abhängigkeit.
»Er sah nicht gut aus«, begann Dalla Rosa von neuem, als sich der erste Spatz auf dem Tisch niederließ. Er erzählte noch einmal sein Vormittagserlebnis und sprach von einem Bild des Jammers, das der Hustende biete. »Eine Ruine«, sagte er, »die bald einstürzen wird; wer hätte das damals gedacht.« Dalla Rosa erinnerte an Gussmanns einstige Erscheinung, an sein straffes Gesicht, sein Lachen, seinen Gang, seine Mähne, bis Butterworth bemerkte, jetzt hätten sie ja wieder einen Gutaussehenden unter ihrem Dach. Einen, der tagsüber zwar viel schlafe (Kurt Lukas hatte zum zweiten Mal Frühstück und Mittagessen versäumt), doch wenn die Hitze zurückgehe . . . Butterworth ließ den Satz offen, er sah den Spatzen zu. Mit seitlichen Hüpfern rückten sie bis auf den Kuchenteller vor. Als sie ihn erobert hatten und aufgeregt pickten, flüsterte Horgan, er denke an ein Tennismatch mit Mister Kurt. Nach dieser kleinen Prüfung werde er dann urteilen über den Deutschen aus der Ewigen Stadt. Und an McEllis gewandt, hauchte er, ob es Hinweise gebe, daß ihr Gast mit dem Vatikan verbunden sei. Sämtliche Spatzen flatterten auf – McEllis antwortete mit erhobenen Händen.
»Er trug schwarze Sachen, und ich erfuhr, daß er Lukas heißt und in Rom lebt. Und dachte, er habe noch mehr apostolische Trümpfe, aber es blieb bei den dreien.«
Butterworth schob eine Zigarette in das Mundstück; seine nervösen Lider bewahrten ihn davor, arrogant zu erscheinen, wenn er sich der Spitze bediente. »Jedenfalls folgte er meinem Rat, in der Mittagsglut die Kirche aufzusuchen, und saß dort nicht lange allein . . .« Die anderen wollten dazu Näheres hören, aber der bleiche Priester lenkte das Gespräch auf die Persönlichkeit des Gastes.