Dänische Dämmerung - Lynn Andersen - E-Book

Dänische Dämmerung E-Book

Lynn Andersen

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Beschreibung

Tod in Nordjütland – ein virtuos konstruierter Thriller, eindringlich, düster, hart. In einem Sommerhaus an der dänischen Nordseeküste wird ein deutsches Ehepaar ermordet aufgefunden. Nur der kleine Sohn hat überlebt. Wenige Tage später verschwindet die Ehefrau von Kommissar Konermann – und es stellt sich heraus, dass sie ausgerechnet in der Siedlung, in der der Doppelmord geschah, ein Ferienhaus gemietet hat. Als Konermann dort ankommt, erwartet ihn das Grauen ...

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Seitenzahl: 368

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Lynn Andersen ist Journalistin, Werbetexterin und Autorin. Sie arbeitete einige Jahre als Reporterin und leitende Redakteurin bei einer Berliner Boulevardzeitung und ging dann der Liebe wegen in ihre Heimat bei Münster zurück, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Seit ihrer Kindheit verbrachte sie unzählige Urlaube in Dänemark.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus neal joup/photocase.de, shutterstock.com/kuzmaphoto

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-590-9

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Kossack GbR, Hamburg.

1

Manchmal wunderte sich Jytta Madsen über sich selbst. Wie konnte man nur in einer Sekunde so viele verschiedene Gefühle in sich tragen? Gerade noch hätte sie am liebsten ihre Mutter erwürgt und dem Hund einen Tritt gegeben, jetzt streichelte sie das liebe Vieh und heulte ein paar Tränen, weil ihr leidtat, dass sie so gefaucht hatte. Sie zog sich ihre Kapuze über, wickelte den Schal ein bisschen fester um ihren Hals und ging los. Einmal durch die Dünen bis zum Strand, dann wieder zurück, das würde für Brus’ Geschäft reichen. Der Hund tänzelte vor Freude vor ihr her. Das sah lustig aus, denn Brus war nicht mehr der Jüngste, und sein Tänzeln ähnelte eher einem Humpeln. »Tut mir leid«, sagte Jytta. »Ist ’n bisschen spät geworden heute.« Der Wind schluckte ihre Worte, sie schaute nach oben. Dicke Wolkenberge schoben sich vor den Mond, sie schaltete die Taschenlampe ein.

Ja, es war ein bisschen spät geworden, und natürlich hatte Mama gemotzt. Dabei war doch langes Wochenende. Sie hatte sich mit Kristian und den anderen an der Bank neben dem öffentlichen Duschhäuschen getroffen, und es war viel besser gewesen als sonst. Sie, Kristian und die anderen kannten sich eigentlich schon immer. Ihre Eltern hatten sich hier vor Jahren ihren Traum vom eigenen Wochenendhaus am Meer erfüllt – und so waren die Babys von einst Nachbarn geworden. Ferien- und Wochenendnachbarn.

Jyttas Pony schlug ihr ins Gesicht. Aus dem kräftigen Wind war ein Sturm geworden. »Los, Brus, sieh zu, dass du fertig wirst«, rief sie. Brus’ braun-weiß-schwarz geschecktes Fell wehte mit seinen Ohren um die Wette, doch ihn störte das nicht. Er schnupperte am Dünengras und trabte weiter Richtung Meer. Jytta gähnte und schaute auf ihre Armbanduhr. Mitternacht war gerade vorbei. Wenn sie gleich zurückkäme, würden die anderen bestimmt schon schlafen. Oder besser: die andere. Denn ihr Vater kam nur noch ins Haus, wenn ihre Mutter nicht da war, und ihr großer Bruder war kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag ebenfalls von der Bildfläche verschwunden. So werde ich es auch machen, dachte Jytta. Von der Bildfläche verschwinden.

***

Es war reiner Zufall. Man tat es, ganz automatisch, unzählige Male am Tag. Unbewusst. Doch hätte die Frau nur eine hundertstel Sekunde später geblinzelt, dann hätte sie den Schein der Taschenlampe nicht gesehen. Dann hätte sie nicht den Schatten des Mädchens wahrgenommen. Dann hätte sie sich nicht umgedreht und dem Mann zugeflüstert: »Da ist jemand.« Und er hätte sich nicht aufgerichtet mit dem Messer in der Hand, von dem das Blut tropfte. Hasenblut, versuchte sie zu denken, um es besser ertragen zu können. Hasenblut.

Er war neben sie getreten, nur das Rascheln der Folie war zu hören und sein Atem. »Verdammt«, zischte er.

Noch mehr Hasenblut, dachte sie und sah, wie der Schal des Mädchens im Wind zuckte.

***

Jytta schaute sich um. Beim besten Willen war hier kein Mensch mehr unterwegs, sie ließ Brus von der Leine, steckte die Hände in ihre Jackentasche und trottete mit hochgezogenen Schultern hinter ihm her.

Die Sturmböen fegten über das Dünengras, das Rauschen der Nordsee mischte sich zu den Sturmgeräuschen. Die Brandung spuckte Steine auf den Strand, um sie direkt darauf wieder zu verschlingen, sie hörte das Rollen und Ächzen. Jytta war kalt, ihr Schal konnte den Wind kaum noch abhalten, sie fühlte sich taub, weil ihre Ohren voll waren vom Geräusch des Meeres und des Windes. Sie stand oben auf der letzten Dünenreihe, hinter der es steil hinunter zum breiten Strand ging, die weiße Gischt schimmerte im Mondlicht. Brus war begeistert Richtung Sand gelaufen, sie konnte ihn nicht mehr sehen, der Strahl der Taschenlampe reichte nur ein paar Meter weit.

»Brus! Bruuuus! Komm her!«

Da unten tobte das Meer, und der Trottel wollte zum Wasser. Ihre Rufe wurden mit den Windböen davongetragen. Sie pfiff. Erst durch ihre Zähne, dann durch ihre Finger. Eine Windböe antwortete mit einer Handvoll Sand, die sie ihr ins Gesicht warf.

»Brus, komm endlich!«

Sie spitzte die Ohren, versuchte, die Geräusche zu filtern.

Da, ein Bellen. Oder war es etwas anderes? Dann ein Jaulen. Sie spürte ihren Magen. Brus wird doch nichts passiert sein? Sie drehte sich im Kreis, versuchte, etwas zu erkennen, leuchtete mit der Taschenlampe in alle Richtungen. Wenn er zu nah ans Wasser gelaufen war, wenn eine der Wellen ihn mit sich gerissen hatte, dann hätte er keine Chance. Jytta wollte am liebsten weinen und nach Mama rufen, doch dann sah sie etwas. Dort, im Dünengras. War das ein Schatten?

»Brus?« Sie sagte es nur leise, denn dieser Schatten sah nicht aus wie ein Hundeschatten.

Sie hatte den Hund zu ihrem achten Geburtstag bekommen, und sie liebte ihn wie sonst nichts in ihrem Leben. Sie hatte sich den Namen ausgedacht, Brus – Brause. So sollte ihr Hund sein, wie Brause – fröhlich, süß. Und jetzt? Was war mit ihm?

Schnell drehte sie sich um, ließ die wilde, tobende Nordsee hinter sich und lief die Düne abwärts. Unten im Dünental war es etwas ruhiger. Die Sturmböen kamen nicht so tief. Da, das Jaulen, es drang wieder an ihr Ohr. Ein seltsames Jaulen war das.

»Brus?« Sie hörte ihre eigene Stimme wieder, starrte auf das dunkle, wogende Gras, wo sie eben noch den Schatten gesehen hatte. Dann wurde sie umgerissen.

»Mein Gott, hast du mich erschreckt.« Jytta lag lachend auf dem Boden und streichelte ihren Hund. Brus hatte nach der Leine geschnappt, die sie sich wie immer um den Bauch gebunden hatte, und sie so aus dem Gleichgewicht gebracht. Er bellte kurz auf, spitzte dann die Ohren und blickte starr geradeaus. Jytta folgte seinem Blick. Außer dem Umriss eines kleinen Hauses konnte sie nichts erkennen. Doch sie hörte, was auch ihr Hund hörte. Ein Heulen oder eher ein Wehklagen.

Jytta nahm Brus an die Leine. Am liebsten wäre sie weggelaufen, doch ihr Hund zog, und das Heulen klang so verzweifelt, dass sie es nicht fertigbrachte. Vielleicht, so hoffte sie, vielleicht war es ja doch nur der Wind, der in Sturmnächten schon mal fremd klingen konnte. Doch die nächste Sturmböe kam und ging, und das Heulen blieb – auch ohne Wind. Wie ferngesteuert folgte Jytta ihrem Hund.

»Kristian?« Jytta versuchte, fröhlich zu klingen. »Seid ihr das? Verarscht ihr mich?« Doch niemand antwortete ihr. Brus zog sie weiter in die Richtung des Hauses, dessen Umriss immer deutlicher wurde. Jytta blieb stehen. Nein, sie würde nicht weitergehen. Sie würde umdrehen, heimlaufen zu ihrer Mutter, sich entschuldigen und nie wieder vergessen, vor dem Abendessen mit Brus rauszugehen. Das Wehklagen wurde noch lauter, es kam näher. Jytta wollte nicht, doch sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Kein Zweifel, dort bewegte sich etwas. Ein Bündel.

Jytta erstarrte, Brus bellte, und das, was so aussah wie ein Bündel, stieß einen Schrei aus. Dort war ein Kind. Ein kleines Kind. Es wälzte sich in unbeholfenen Bewegungen über den Schotterweg. Und es brüllte und klagte und weinte. Es klang furchtbar. Aber es war ein Kind. Jytta zögerte nicht mehr, sie lief auf das Wesen zu. Sie nahm es auf den Arm. Sie sagte Dinge wie »Ganz ruhig, alles ist gut«. Doch das Kind warf sich auf ihrem Arm hin und her, es schlug um sich. Jytta kannte sich nicht aus. Sie hätte nicht sagen können, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Auch nicht, wie alt. Sie sah nur, dass dort ein Kind war, eines, um das sie sich jetzt kümmern musste. Sie hatte es entdeckt, also war sie verantwortlich.

Es musste aus diesem Haus gekrabbelt sein, einem dieser typischen dänischen Ferienhäuser, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren hier gebaut worden waren. Schlicht, einfach, aus Holz. Es war schwarz gestrichen und stand auf einem großen Grundstück, umgeben von Dünen, Dünengras und Sträuchern. Mit dem schreienden Kind auf dem Arm ging sie darauf zu. Sie klopfte, rief und dachte nicht darüber nach, dass schon allein das Brüllen des Kindes die Bewohner hätte wecken müssen. Sie drückte die Türklinke hinunter und öffnete die Tür. »Hier sind bestimmt deine Mama und dein Papa«, sagte sie und versuchte dabei, zuversichtlich zu klingen.

Sie schaltete das Licht ein. Rief. Es musste jemand da sein. Ein Auto hatte doch vor der Tür gestanden. Brus blieb dicht neben ihr und war still.

»Hallo – tut mir leid, dass ich hier so reinkomme. Hello, sorry!« Vielleicht verstanden die Touristen kein Dänisch.

Jytta stolperte über Badelatschen und einen geöffneten Koffer, der noch nicht ganz ausgepackt war. Sie blickte in die kleine Küche. Auf dem Tisch stand eine Klappkiste mit Vorräten. Ein paar Liter H-Milch und Butter, weil die Butter in Dänemark so teuer war. Kluge Urlauber, dachte sie. Deutsche Urlauber, dachte sie, als sie das deutsche Wort für Nudeln auf einer Packung las.

Vielleicht schlafen sie. Sie ging langsam durch den kleinen Flur. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt auf.

»Hello, I’m sorry …«

Dann schob sie die Tür auf und ging zu Boden.

Ihr Schrei war lauter als der Sturm und die hungrige, Steine fressende Nordsee, er war vielleicht sogar lauter als alles, was die Menschen hier in den Dünen zwischen Blokhus und Skagen jemals gehört hatten.

2

Was für ein Schlag in die Magengrube. Sibylle legte ihre rechte Hand auf die schmerzende Stelle. Dann kreischte es in ihrem Kopf. Schrill, laut, unerträglich. Das Herz begann zu rasen. Sie blieb sitzen, leicht vornübergebeugt, und starrte auf die Zeitung, ohne etwas zu sehen. Vor ihren Augen nur Schwarz und ab und zu helle Blitze. Das Licht drehte sich, ihr wurde schwindelig. Sie versuchte es mit der Atemtechnik, die ihr sonst half. Ein und aus, langsam und immer wieder. Ein und aus. Es dauerte lange. Der Magen entkrampfte sich. Mit der frei werdenden Hand rieb sie sich die Schläfen. Die Blitze verschwanden. Das Dunkel verschwand. Sie stand auf, wankte und setzte sich wieder. Sie schwitzte.

Ein Blick auf die Uhr. Kurz nach eins. Oscar würde noch eine Stunde schlafen, zwei Stunden am Mittag, das war im Moment sein Pensum und für sie die einzige Gelegenheit, am Tag für sich zu sein. Zu baden, Zeitung zu lesen. Daniel würde frühestens in fünf Stunden nach Hause kommen. Und sie würde spätestens in vier Stunden darauf warten, dass er nach Hause kam. Sie wollte es nicht, doch sie konnte es nicht abstellen. Mit Oscar war alles anders geworden.

Ihr Innerstes brodelte, sie starrte auf das Foto. Das Einzige, das ihr Verstand ihr noch sagte, war, dass sie ihn gerade verlor. Denn obwohl sie wusste, dass es nicht stimmen konnte, war sie absolut sicher: Dieser Doppelmord hatte etwas mit ihr zu tun.

Sie las den Artikel noch einmal und rieb sich die Stirn. Die Worte machten sie nicht klüger. Im Gegenteil. Dumm kam sie sich vor. Dumm und hilflos. Sie zwang sich, die Zeitung beiseitezuschieben. Sie schloss die Augen und stützte ihre Stirn in ihre Hände. Sie sah trotzdem ein kleines Ferienhaus, davor Menschen in den lächerlich aussehenden weißen Anzügen der Spurensicherung, wie unbeholfene Gespenster wirkten sie. Gespenster. Doch sie konnte nicht darüber lachen. Sibylle öffnete die Augen und blickte in eine Nebelwand. Die Toten von Dänemark, sie weinte um sie. Warum?

***

Er blieb sitzen. Er wollte das Lied noch zu Ende hören. »Under the Bridge« von den Red Hot Chili Peppers. Er schloss die Augen. Der grau gestrichene Carport, das Laufrad seines Sohnes, das er beinahe umgefahren hätte, das Fahrrad seiner Frau mit dem Kindersitz darauf, der Rasenmäher, all das passte gerade irgendwie nicht. Nicht zum Song und nicht zu ihm.

Er atmete tief ein. Gut war er gewesen. Vorhin. Er hatte ein Machtwort gesprochen, und seine Mitarbeiter hatten es akzeptiert. »Schluss mit den dummen Sprüchen untereinander, vertragt euch.« Er hatte mit den beiden Streithähnen geredet wie mit seinem zweijährigen Sohn. Ruhig und bestimmt, aber mit Nachdruck. Es hatte funktioniert. Offenbar zweifelten seine Mitarbeiter nicht an seiner natürlichen Autorität. Er selbst war der Einzige, der sich immer wieder die Frage stellte, was er da eigentlich machte. Er war zum Bürobullen geworden, er hatte mehr als zwei Anzüge im Schrank, er hatte Nackenschmerzen vom Sitzen am Schreibtisch. Kriminaldirektor Daniel Konermann, Leiter des zentralen Kriminaldienstes in Osnabrück – alles hörte auf sein Kommando! Er grinste, während er die Lautstärke aufdrehte und die letzten Takte in sich aufsog.

Der Song war zu Ende, und im nächsten Moment machte es pling. Auf seinem Smartphone war eine Nachricht eingegangen. Im Fotoanhang die beiden Kollegen, deren Streit er vorhin geschlichtet hatte, lachend mit einem Bier in der Hand.

»Prost! Wir haben uns wieder lieb«, stand darunter.

»Ich euch auch«, murmelte er und öffnete die Autotür. Er schaute auf seine Uhr. Er war recht spät dran. Sibylle würde sicher oben sein und Oscar ins Bett bringen. Oder sie saß schon unten vor den Fernsehnachrichten.

Früher wäre er jetzt erst losgefahren, zu einer Observation, zu einem Einsatz, zu seinen Jungs, zu irgendwas Wichtigem.

Jetzt gab es noch Wichtigeres. Meine Frau, mein Haus, mein Sohn, dachte er. Er hatte alles gekriegt. Es war perfekt. Sibylle war schöner als jede Frau, die er vor ihr gekannt hatte. Sein Sohn war wie Söhne mit zwei sind – tapsig, unbeholfen, niedlich. Das Haus war toll gelegen, nah genug an der Innenstadt, ruhig genug, und einen kleinen Garten und nette Nachbarn gab es inklusive. Warum nur fiel es ihm so schwer, einfach nur glücklich darüber zu sein? Oder lautete die Frage eigentlich: Warum fiel es ihr so schwer?

***

Sie hatte sich viel ausgemalt damals, als sie noch nicht am Abend auf Daniel wartete, sondern als er einfach da war, wenn er da war. Manchmal kam er erst nachts nach einem Einsatz zu ihr in die Dachgeschosswohnung in der Innenstadt. Leicht verschwitzt, noch voller Adrenalin. Dann legte er sich zu ihr. Dann drehte sie sich zu ihm. Dann liebten sie sich, schwitzend, mit ungeputzten Zähnen, lachend, schwer atmend.

Dann zog er ein. Sie redeten oder schwiegen, sie aßen, schliefen, sahen fern, gingen ins Kino. Sie schaute nie auf die Uhr und zählte die Minuten, bis er zu ihr kam. Sie lebte, arbeitete, war glücklich, wenn er da war, blieb es aber auch, wenn er nicht da war. Sie war sich seiner sicher. Sie war sich ihrer selbst sicher.

Irgendwann kam die Frage ganz von selbst. Ein Kind?

»Klar«, sagte er und schob ihr Nachthemd nach oben.

Doch so klar war es dann doch nicht gewesen. Als ein halbes Jahr vergangen und nichts passiert war, wurde sie nervös. Sie schaute immer noch nicht auf die Uhr, doch sie schaute auf den Kalender. Heute wäre ein guter Tag. Doch Daniel kam nicht heim, weil der Dienstplan umgeschmissen wurde. Noch sechs Monate später sagte er, dass es vielleicht ganz gut sei, quasi »ein Zeichen des Schicksals«, dass sie noch kein Baby bekommen hätten. Er würde sich gerne um einen Job bewerben. Beim SEK. Sie sagte nichts, weil sie nicht wusste, was sie hätte sagen sollen. Sie hatte ja nur so eine Ahnung in diesem Moment. Am nächsten Morgen bestätigten zwei Streifen auf dem Schnelltest: Sie war schwanger.

Sie war glücklich. Daniel sprach nicht mehr von diesem Job. Stattdessen nahm er das Angebot seines Dienstherrn an, sich so langsam auf der Karriereleiter nach oben zu arbeiten. Er übernahm Sonderaufgaben in seiner Tatort-Gruppe und empfahl sich so für eine höhere Laufbahn. Er kaufte sich seinen ersten Anzug.

Sibylle kaufte Bodys für das Baby und neue BHs für ihre wachsenden Brüste. Als Oscar ein Jahr alt war, zogen sie in das Haus. Niemals hätte sie gedacht, dass die Uhr in der Küche so viel langsamer laufen würde als in ihrem Leben davor. Sie war zornig auf ihren Mann, weil er tat, was sie von ihm verlangt hatte. Sie vermisste sein unrasiertes Gesicht, das sich in ihren Nacken grub. Sie vermisste seine löchrigen Shirts, seine Wut, wenn er von der Arbeit erzählte, sein Poltern, wenn er von einem seiner Kumpelabende nach Hause kam und ihr mit leichter Alkoholfahne ein zärtliches »Tschuldigung« ins Ohr flüsterte.

Stattdessen kam er müde und still heim, er fragte höflich nach ihrem Tag und spielte geduldig mit Oscar. Ein Ehemann und Vater wie aus dem Bilderbuch.

Und was war aus ihr geworden? Sie ließ Oscar nicht aus den Augen und war am Abend erschöpft von ihrer eigenen Dauerüberwachung. Ihre Laune war meistens schlecht, doch da sie wusste, dass Daniel nichts dafür konnte, verschonte sie ihn damit. Und während sie immer wieder auf die Uhr starrte, um auszurechnen, wann er endlich heimkommen würde, wurde ihre Laune immer schlechter. Kam er dann, spielte sie ihm vor, alles wäre gut.

***

Wie jeden Abend blieb Daniel erst einen Moment lang auf der kleinen Rasenfläche vor dem Haus stehen und schaute durch die großen Fenster. Er mochte es, wenn drinnen das Licht angeschaltet war und es draußen gerade dunkel wurde. Manchmal sah er seine Frau im Schneidersitz auf dem Teppich sitzen, entspannt sah sie dann aus. Sie reichte Oscar irgendwelches Plastikspielzeug, und allein daran, wie sie es tat, wie sie sich bewegte, wie sie ihn dabei anschaute, sah man diese große Liebe zwischen ihr und ihrem Sohn. Manchmal stand sie in der Küche und bereitete dem Jungen gerade sein Abendbrot zu. Konzentriert sah sie dann aus, aber auch verträumt. Als wäre sie gerade auf einem anderen Stern, einem schönen Stern, auf dem Daniel allerdings nicht lebte. Wenn er sie so sah, von außen, durch das Isolierglas der großen Fenster, dann sehnte er sich nach ihr.

Seine Vermutung war richtig gewesen. Oscar schlief bereits, doch statt vor dem Fernseher saß seine Frau am Küchentisch, als er eintrat. Sie hatte offensichtlich schon gegessen, es stand nur noch ein Teller ihr gegenüber. Als er ihr seinen Begrüßungskuss auf den Nacken hauchte, fuhr sie herum. Er hatte sie erschreckt.

»Hey, ich bin’s nur«, lachte er.

Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich … Ach, ich war in Gedanken.«

»Alles gut? Was ist mit Oscar? Ist er dieses Mal schneller eingeschlafen?«

Sie nickte nur. Müde.

Daniel ging zum Herd und hielt seine Hand über die Pfanne, die Nudeln gaben noch etwas Wärme ab – es würde ohne Mikrowelle gehen. Er bugsierte sich eine Portion auf den Teller und setzte sich. Gabel und Löffel fehlten, er stand auf und holte das Besteck, setzte sich wieder und aß. Er konnte ihren Blick nicht deuten. Oder besser ihren Nicht-Blick. War sie sauer, dass er seinen Sohn verpasst hatte? War sie einfach nur müde? Vom Tag, von der Last des Alltags? Oder war da an der Wand hinter ihm irgendetwas so interessant, dass sie dorthin starrte, statt ihn anzuschauen?

Er sollte sie fragen, was los war. Doch stattdessen sagte er: »Schmeckt super.« Sie schaute ihn kurz an und fixierte wieder irgendeinen anderen Punkt an der Wand.

Er mochte ihn nicht, diesen Blick, der oft so arrogant und unnahbar wirkte. Nicht mehr majestätisch wie sonst, mit ihrem oft abwesenden Lächeln, dieser kontrollierten, geraden Haltung, zu der ihr langer Hals und ihre markanten Wangenknochen so gut passten.

Er war damals vor fünf Jahren, als er sie auf der Party eines ehemaligen Mitbewohners erblickt hatte, sofort auf sie zugegangen, sie hatte von seinem Bier getrunken – und er hatte sich in diesem Moment rettungslos verliebt. Als er Monate später begriff, dass es Sibylle von Poll mit ihm ähnlich ging, war er zunächst ungläubig und dann sehr dankbar gewesen. Die Königin gibt sich mit dem Hofnarren ab, dachte er sogar noch während der Hochzeit.

Natürlich hatte er schon damals gewusst, dass es anders war. Ihr abwesendes Lächeln zeigte auch ihre Zerbrechlichkeit. Auch jetzt, hier in der Küche, war ihr kühler Blick nicht wirklich kühl, sondern ihr Schutzschild.

Daniel räumte den Teller ab, setzte sich wieder und schaute sie an. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Also begann er zu reden. Erzählte von den beiden Streithähnen in seiner Abteilung, wie sie einander vorgeworfen hatten, dass sie schlecht übereinander reden würden, wie er sie hatte antanzen lassen und dazu gebracht hatte, sich die Hände zu geben, sich zu vertragen. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und zeigte ihr das Versöhnungsfoto. Sie schaute nur kurz hin.

Wie gerne würde ich jetzt mit den beiden Kollegen gemeinsam das Versöhnungsbier trinken, ging es ihm durch den Kopf.

Die Spülmaschine piepte. Sibylle schaute kurz auf, dann auf einmal sah sie ihn an. Endlich.

»Habt ihr mit dieser Sache was zu tun?« Sie drehte die Zeitung vor ihr, die er erst jetzt bemerkte, zu ihm herum, sodass er die Titelzeile lesen konnte.

»Der Doppelmord in Dänemark?« Er war irritiert, normalerweise interessierte sich Sibylle nicht für reißerische Polizeigeschichten.

Ihre Augen fixierten ihn. »Habt ihr? Es ist ein deutsches Ehepaar.«

Daniel überflog den Artikel, obwohl er ihn eigentlich schon kannte, denn natürlich hatten sie bei der Arbeit über die Geschichte geredet. Ein Ehepaar war in einer Ferienhaussiedlung in Dänemark ermordet worden. Das gemeinsame Kind hatte überlebt, es war von einer Zeugin vor dem Haus gefunden worden. Viel mehr stand nicht in dem Artikel, den Sibylle offensichtlich so spannend fand.

»Eine üble Sache«, sagte Daniel. »Aber die Toten sind nicht aus unserem Beritt, da kümmern sich die Düsseldorfer und vor allem die dänischen Kollegen drum.«

»Aber ihr wisst doch bestimmt ein bisschen mehr als das, was hier steht«, sagte Sibylle.

Daniel verstand nicht, was sie von ihm wollte. »Natürlich unterhalten wir uns über solche Fälle, und natürlich haben wir ein paar Infos, aber die sind nicht unbedingt öffentlich.«

Ihre rechte Augenbraue schnellte in die Höhe. »Ich bin also öffentlich?«

Er schüttelte genervt den Kopf. »Sonst willst du doch nie zu viele Details von meiner Arbeit hören, weil sie dich erschrecken. Und jetzt soll ich dir ausgerechnet zu einem heftigen Mordfall Details erzählen?«

Sie nickte. »Ja, genau.«

Er stand auf und begann, die Spülmaschine auszuräumen. Und schwieg.

»Und?« Sibylles Stimme klang seltsam, fast schrill.

»Nichts und. Das ist nicht unser Fall. Ich kapiere nicht, warum dich das so interessiert?«

»Aber du könntest einen Kollegen in Düsseldorf anrufen und fragen.«

Daniel drehte sich um. »Und was soll ich den Kollegen fragen? Hallo, meine Frau findet diesen netten Doppelmord in Dänemark so spannend, sag mal, hast du nicht ein paar hübsche, blutige Informationen für sie? Damit sie ihre Sensationsgier befriedigen kann?«

Er wusste, dass er zu weit gegangen war.

»Du denkst, darum geht es mir?« Sibylle saß immer noch aufrecht auf ihrem Stuhl, ihre Fäuste waren geballt.

Er wusste nicht, was er sagen, was er tun sollte. Also öffnete er die Schublade für die Teller. Normalerweise stritten er und Sibylle sich nicht. War sie sauer, schwieg sie eisern. Oft hatte er sich gewünscht, sie würde ihn anschreien, ihm Vorwürfe machen, damit er begreifen könnte, was sie dachte. Doch jetzt war ihm nicht danach. Er fischte nach der letzten Müslischüssel, die sich kopfüber in der hintersten Ecke verhakt hatte. Dann holte er tief Luft. »Okay. Was ist los, Sibylle?«, fragte er in bemüht neutralem Ton, während er die Spülmaschine zuklappte und sich langsam umdrehte. »Warum interessiert dich das so? Vielleicht kann ich ja –«

Mit der Müslischale in der Hand stand er da und starrte auf den leeren Stuhl. Sibylle saß nicht mehr am Tisch. Die Zeitung lag in der Kiste für das Altpapier. »Deutsches Ehepaar tot«, las er.

Und dachte: Deutsche Ehe tot.

3

»Frau Ekström, Sie sind ein Schatz.« Arne Birklund wanderte mit seinem Telefonhörer in der Hand durch seine Kanzlei und genoss den Ausblick aus seinem Fenster, genauer: seiner Fensterfront. Von hier oben konnte er bis zum Hafenschwimmbad von Aalborg schauen, und vielleicht würde er gleich, zwischen den beiden Kliententerminen, kurz dort abtauchen.

Frau Ekström lachte am anderen Ende der Leitung. »Ich wusste, dass Ihnen das Objekt gefallen wird. Wann wollen Sie sich die Insel anschauen?«

Birklund zog sein Handy aus der Hosentasche und checkte seinen Terminkalender. »Übermorgen, so gegen Mittag. Kümmern Sie sich um ein Boot?«

»Natürlich. Über den endgültigen Preis reden wir dann vor Ort?«

Birklund grinste. »Sie sind clever, Frau Ekström. Sie wissen genau, dass der Charme einer Schäreninsel selbst den härtesten Verhandlungsprofi weichkocht. Von Ihrem Charme natürlich ganz zu schweigen.«

Frau Ekström kicherte. »Wir haben eben alle unsere Tricks, Herr Birklund. Aber den Verkehrswert hatte ich Ihnen ja schon genannt.«

»Ich erinnere mich.« Birklund lachte. Ihm gefiel die forsche Immobilienmaklerin aus Stockholm, ihr Foto auf der Homepage war vielversprechend, vielleicht sollte er sie auf ein Glas Champagner einladen, wenn er das Haus samt Insel gekauft hatte. »Das war eine Zahl mit vielen Nullen daran. Sechs, wenn ich richtig gezählt habe«, scherzte er.

»Exakt. Sie hätten Mathematiker werden sollen.« Die Ekström war nicht auf den Mund gefallen. Birklund lachte erneut und spürte die kurze Vibration seines Handys, die ihm eine eingegangene Nachricht ankündigte.

Als er las, was dort stand, schlug er mit der Faust auf den Tisch. Ekströms Frage, was bei ihm los sei, beantwortete er nicht mehr, sondern legte auf. Dann rief er einen Kontakt in seinem Handy auf, wählte und spuckte seine Worte ins Telefon. »Es ist mir scheißegal, warum. Der Auftrag war ein anderer, du hast versagt, und jetzt hat die Polizei die Leichen.« Dann eine kurze Pause. »Jetzt reiß dich zusammen! Ich melde mich, über das Telefon hier läuft ab jetzt gar nichts mehr. Kapiert?«

Birklund legte auf und nahm die Speicherkarte aus dem Gerät.

4

Als er aufwachte, sah er zuerst die beiden leeren Bierflaschen, die er am Abend auf dem weißen Lacktisch abgestellt hatte. Der Fernseher lief, irgendeine amerikanische Serie, in der irgendwelche gestylten Menschen so taten, als wären sie Spurensicherer.

Er schaltete den Fernseher aus, doch still war es danach nicht. Sein Sohn weinte. Er schob die weiche Decke beiseite, stand auf, gähnte, streckte sich und ging ins Kinderzimmer. Oscar stand in seinem Gitterbett. Er hatte rote Wangen, die Tränen liefen über sein Gesicht, und ihm klebten verschwitzte Haare an der Stirn. Als Daniel die Tür weiter öffnete und das Licht aus dem Flur ins Zimmer fiel, war Oscar schlagartig ruhig. Er streckte seine Arme aus und fing, als Daniel auf ihn zuging, um ihn hochzuheben, sofort wieder an zu schreien.

»Mama! Mama! Mama soll tommen!« Seine Stimme überschlug sich, die Schluchzer ließen das »Mama« wie bei einem Schluckauf klingen.

Daniel nahm den Jungen auf den Arm. »Pst. Ich bin ja da. Es ist alles gut. Hast du was Doofes geträumt?«

»Mama«, schallte es ihm entgegen. Oscar wand sich in Daniels Armen. Er schaute zur Tür. Doch Mama kam nicht.

Daniel wurde wütend auf seinen undankbaren Sohn. Zu Unrecht, das wusste er. Doch es tat weh, zu sehen, wie sehr Oscar sich aus seinen Armen wegwünschte, um bei Sibylle zu sein. Offensichtlich schlief sie tief und fest. Dabei war sie doch sonst bei jedem Pieps bei dem Kleinen. Daniel hatte doch gar keine Chance, eine Beziehung zu dem Jungen aufzubauen. Klar, er kam oft spät nach Hause, aber das war ganz sicher nicht der einzige Grund.

»Oscar, jetzt finde dich damit ab. Ich bin hier«, sagte er.

Oscar jammerte. »Mama!«

»Mama hat keine Lust aufzustehen, sie braucht jetzt ihren Schönheitsschlaf«, sagte er. Es sollte beruhigend klingen, nett. Doch es klang anders. Ironisch. Bissig.

Kaum hatte er es ausgesprochen, stand sie plötzlich im Kinderzimmer. Kein Zweifel, sie hatte gehört, was er gesagt hatte. Schweigend nahm sie ihm seinen Sohn ab und brachte ihn in sein Bettchen zurück. Dann suchte sie in der Ritze zwischen Bett und Wand zwei Schnuller heraus und gab sie ihm. Er steckte sich einen in den Mund, nahm den anderen in die Hand und schlief sofort wieder ein.

Daniel sah von der Tür aus zu. Seine Frau ging danach wortlos an ihm vorbei, legte sich wieder in ihre Betthälfte und drehte ihm den Rücken zu. Er zog sich im Dunkeln um und legte sich neben sie. Kurz überlegte er, ob er die Kaschmirdecke aus dem Wohnzimmer holen sollte. Hier, neben Sibylle, unter dem Vierjahreszeiten-Oberbett war es eiskalt.

5

Sie versuchte, sich an zwei Dingen festzuhalten. An ihrer Mutter und an der Nachricht, dass der Junge jemanden hatte, der sich um ihn kümmern würde. An alles andere wollte sie nicht mehr denken. Nie wieder. Jytta Madsen lag wach und würde so schnell nicht einschlafen, das war ihr klar. Genauso, wie ihr klar war, dass das, was sie gesehen hatte, alles veränderte. Bei ihr, in ihr. Für immer.

Sie rückte noch näher an den Körper ihrer Mutter, die sich hinter sie gelegt und die Arme um sie geschlungen hatte. Sie schlief. Jytta schloss die Augen und hatte das Gefühl, ein Schnellzug rase auf sie zu. Ein Schnellzug, der mitten in ihr Hirn knallen würde, um ihr die Bilder zu bringen, die sie nicht sehen wollte. Flashbacks nannte man das. Die Polizeipsychologin hatte mit ihrer Mutter darüber gesprochen und sie gewarnt, dass nach solchen Erlebnissen oft zunächst gar nichts zu merken wäre bei den Betroffenen. Doch dann könnten eben jene Flashbacks kommen.

War sie eine Betroffene? Waren nicht eigentlich der Mann und die Frau die Betroffenen? Und ihr kleiner Sohn? Wie anmaßend von ihr, betroffen zu sein. Sie hatte doch nur etwas gesehen. Etwas, was in jeder dänischen Krimiserie im Fernsehen tausendfach zu sehen ist.

Sie hatte zwei Tote gesehen.

Sie öffnete die Augen wieder. Nein, kein Erinnerungszug, bitte! Doch er fuhr weiter. Und er brachte die Bilder mit, die Geräusche, die Gerüche.

Sie sah sich selbst. Wie sie in jener Sturmnacht im kleinen schwarzen Haus die Tür zum Schlafzimmer aufgestoßen und zuerst dieses seltsame Rascheln gehört hatte. Auf dem Boden lag eine schwarze Folie, die sie mit der Tür zur Seite geschoben hatte. Die Folie war im ganzen Raum verlegt, auch auf dem Bett. Und darauf lagen sie. Ein Mann, eine Frau. Nebeneinander. Sie im Nachthemd, er in T-Shirt und Boxershorts. Sie wusste sofort, dass sie tot waren. Ihre Münder standen offen, ihre Augen starrten an die Decke, und der linke Arm der Frau lag abgeschnitten neben ihr.

An ihren eigenen Schrei erinnerte sie sich nicht. Doch ihr Hals tat ihr weh, sie war auch jetzt noch heiser, klang wie eine Kettenraucherin. Doch keiner machte darüber einen Scherz, keiner witzelte auf ihre Kosten.

Dann war da wieder der Junge. Sie hatte ihn gehalten, als sie zu Boden gegangen war, er war weich gefallen. Er lachte sie sogar an, der Schrei hatte ihn nicht erschreckt. Auch nicht seine toten Eltern auf dem Bett. Er hatte gelacht, und sie hatte gesehen, dass er anders aussah als die Kinder, die sie immer auf dem Spielplatz der Ferienhaussiedlung sah. Die Augen hatten diese seltsame Form. Aus seiner Nase lief Rotz.

Sie hatte ihn wieder hochgenommen und war mit ihm in die Küche gegangen. Dort nahm sie ein Blatt von der Küchenrolle und putzte ihm die Nase. Als sie das Papier gerade in den Mülleimer warf, waren schon die Nachbarn da. Wann die Polizei gekommen war, wusste sie nicht mehr. Als ihr eine Frau in Uniform den Jungen aus den Armen nehmen wollte, klammerte sie sich an ihm fest.

Sie hörte, dass sie über ihn sprachen. »Sieht nach Down-Syndrom aus«, sagte jemand.

»Seine Eltern sind tot«, sagte sie immer wieder und weinte. Dann endlich kam ihre Mutter. Und nahm sie beide in den Arm. Den Jungen mit den seltsamen Augen und sie. Ganz fest. Brus hatte eifersüchtig gejault.

Und an mehr wollte sie jetzt nicht denken. Nur an die Umarmung, an Brus, ihre Mutter und den Jungen. Der Polizist hatte gesagt, das Kind hätte eine Tante aus Deutschland. Eine, die es abholen würde und sich kümmern. Sich kümmern. Jytta schloss die Augen.

Ihre Mutter öffnete ihre. »Hey«, sagte sie zu ihrer Tochter.

»Wie heißt der deutsche Junge eigentlich?«, fragte Jytta leise.

Ihre Mutter strich ihr über die Haare. »Frederik, haben sie gesagt.«

»Frederik?« Jytta spürte, wie ihre Mutter, die immer noch hinter ihr lag, nickte. »Wie unser Prinz?«

»Ja, wie unser Prinz.«

6

Kein Licht im Haus. Logisch, es ist ja auch noch hell draußen, dachte Daniel. Aber sonst störte sie die Energieverschwendung doch auch nicht. Wenigstens die Küchenlampe über dem Esstisch, die brannte eigentlich immer. Er stand auf dem Rasen und schaute durch die großen Fenster. Sibylle bereitete kein Essen zu, sie saß nicht auf dem Teppich im Wohnzimmer und gab Oscar Bauklötze in die Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Auto fehlte. Er schaute auf die Uhr. Er war früh dran. Zu früh offensichtlich.

Seine Kollegen hatten ihn schon damit aufgezogen. »Na, Freitagnachmittag schon Feierabend machen? Wird aus dir also doch noch ein ordentlicher Beamter?« Sie wussten, dass er normalerweise immer der Letzte war, der ging. Es fiel auf, dass es heute anders war.

Er hatte nicht geantwortet, sondern war einfach verschwunden. Heute würde er Oscar ins Bett bringen und danach mit Sibylle reden. Richtig reden. Auch über seine blöde Bemerkung gestern, er würde sich entschuldigen, aber ihr auch sagen, wie schwer es manchmal war mit ihr, mit ihrer Schwermut. Dann würde er sie fragen, warum sie so einen Wirbel um diesen dänischen Mordfall gemacht hatte. Er konnte nicht glauben, dass es ihr wirklich um den Fall ging. Bestimmt war der Zeitungsartikel nur ein Aufhänger gewesen, um einen Streit mit ihm zu beginnen. Er wollte wissen, warum. Er musste den Grund wissen.

Er schloss auf, hängte seine Jacke an die Garderobe und ging in die Küche. Auf dem Esstisch lag ein Zettel. Er stutzte kurz, dann nahm er ihn in die Hand – und konnte nicht glauben, was er las. In ihrer klaren Handschrift hatte sie ihm ein paar Zeilen hinterlassen. Oscar sei bei Tanja und Stefan nebenan, er könne ihn jederzeit abholen.

Ich brauche dieses Wochenende für mich, um über einige Dinge nachzudenken, die uns, aber vor allem mich selbst betreffen. Ich hoffe, du verstehst das. Macht euch ein paar schöne Männertage. Sibylle

Er las den Brief noch zweimal, dann faltete er ihn in der Mitte, sodass ihre Schrift nicht mehr zu sehen war, und schob ihn beiseite. Nachher würde er zu begreifen versuchen, was Sibylle ihm mit dieser kurzen Botschaft eigentlich sagen wollte. Jetzt war er einfach nur vor den Kopf gestoßen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob er zornig, verletzt oder enttäuscht war. Überrascht war vielleicht das Wort, das es am ehesten traf. Einfach übers Wochenende zu verschwinden, diesen Schritt zu tun, alleine, ohne stundenlange Diskussionen von Für und Wider, das passte überhaupt nicht zu Sibylle. Und schon gar nicht passte der Satz »Macht euch ein paar schöne Männertage« zu ihr. Es klang viel zu fröhlich, viel zu sehr nach oberflächlichem Spaß, nach hemdsärmeligem Vergnügen – nicht gerade Sibylles Spezialität.

Daniel stand auf, warf einen letzten Blick auf den gefalteten Brief und zog sich seine Jacke wieder über. »Nun gut«, sagte er laut zu sich selbst. »Dann werden wir mal Spaß haben.«

Tanja, die Nachbarin, öffnete die Tür und grinste. »Keine Ahnung, wo Oscar ist! Ich glaube, er ist unsichtbar …«

Daniel grinste gequält zurück. Sein Sohn wollte also Verstecken spielen, und Daniel musste jetzt so tun, als fände er ihn nicht. Das würde die Abholgeschichte in die Länge ziehen.

Doch Daniel ergab sich. »Ja, so was! Er ist also tatsächlich verschwunden?«

Er sprach übertrieben laut und deutlich und fühlte sich erbärmlich. Er war nicht gerade in der Stimmung für schauspielerische Einlagen. Oscar hatte sich – was für eine grandiose Idee – hinter den Beinen seiner Babysitterin versteckt, der das Theaterspielen offensichtlich sehr gut gefiel.

Zum Glück kam irgendwann ihre Tochter aus dem Wohnzimmer, zeigte auf Oscar und rief: »Da! Da hat Oscar versteckt!«

Oscar lachte, Tanja lachte, das Mädchen lachte, und Daniel versuchte zu lachen.

Nach endlosen Minuten, die es noch dauerte, bis sein Sohn sich – natürlich alleine – die Schuhe angezogen und die Fleecejacke übergestreift hatte, konnte er sich endlich verabschieden.

Nachbar Stefan war inzwischen auch dazugekommen und schlug Daniel jovial auf die Schulter. »Wird mal wieder Zeit für einen Grillabend.«

Daniel nickte, zum Glück zog Oscar jetzt an seiner Hand. »Hause gehen!«, rief er, und Daniel gab ihm gerne nach.

»Na, dann macht euch mal ein paar schöne Männertage«, rief Tanja ihm noch fröhlich hinterher, als er das Gartentürchen schon beinahe erreicht hatte. Er hob die Hand zum Abschiedsgruß.

»Wo ist das Breipulver?« Daniel hatte keine Zeit für eine Begrüßung, sein Sohn saß im Hochstuhl und schrie, weil er Hunger hatte. Er hatte in allen Schränken nachgeschaut, mehrfach, und tat es immer noch, während er das Telefon an sein Ohr hielt. Natürlich wusste er, wo der Brei für Oscar normalerweise stand, doch anscheinend hatte Sibylle die Schachtel umgeräumt.

»Was?« Sibylles Stimme klang müde.

»Das Breipulver, sonst war es doch immer in der großen Schublade unter dem Kühlschrank, doch da ist es nicht.«

»Oscar isst keinen Brei mehr.« Sibylle betonte jedes Wort einzeln.

Daniel verstand trotz Oscars Gebrüll jedes Wort, und er verstand, was jedes Wort bedeutete. »Oh. Ja, natürlich. Es – tut – mir … Mann, was bin ich für ein Idiot. Sibylle?«

Am anderen Ende war Schweigen.

»Sibylle, ich weiß, dass unser Sohn inzwischen Brot essen kann. Ich hatte es nur für einen Moment vergessen.«

Schweigen.

»Komm. Hör auf damit.«

»Womit?« Leise, müde und traurig war ihre Stimme.

»Mit dem Geschweige. Sag doch einfach, ich bin ein Idiot, dass ich nicht kapiere, dass unser Sohn schon zwei Jahre alt ist, dass ich zu blöd bin, ihm Abendessen zu machen.« Daniel sprach sehr laut, Oscar weinte immer noch. »Es tut mir leid, was ich gestern Nacht gesagt habe, du weißt schon, als Oscar so geschrien hat. Ich weiß, dass du normalerweise immer die Erste bist, die zu ihm geht. Das mit dem Schönheitsschlaf war nicht böse gemeint.«

Schweigen.

»Ich war müde. Oscar hat die ganze Zeit nur nach dir gerufen. Das war ein mieses Gefühl. Und was war eigentlich los mit dir? Warum hat dich dieser verdammte Mord so interessiert?«

»Ich weiß es nicht.« Ihre leise Stimme war kaum zu verstehen.

»Aber jetzt einfach abzuhauen, ohne vorher was zu sagen …«

»Er weint.« Ihre Stimme, noch immer traurig und müde.

Daniel griff in die Zwiebackschachtel und gab Oscar eine Scheibe. Der aß und war endlich ruhig.

»Ich weiß, dass es anstrengend für dich ist. Du bist den ganzen Tag alleine, und … Aber ich kann nicht dauernd eher Feierabend machen.«

»Darum geht es nicht.« Sie sprach lauter.

»Worum geht es dann? Willst du mir zeigen, dass ich es nicht hinbekomme mit Oscar? Und wo steckst du überhaupt?« Er versuchte, nicht zu laut zu werden, und sah zu Oscar, der ihn mit vollen Backen anlächelte.

»Ich ruf dich an«, sagte sie.

Dann nichts mehr. Sibylle hatte aufgelegt.

7

Ihre Hände waren krebsrot vom kochend heißen Wasser. Doch sie besaß keine Spülmaschine, und das Messer musste sauber werden. Blitzeblank sauber. Jede Spur musste sich lösen. Das Hasenblut war längst im Abguss versickert, doch sie wusste, dass sie noch nachschrubben musste. Mit viel Seife. Das Holz am Griff war glatt und fasste sich gut an. Die Klinge war immer noch scharf wie damals, als ihre Mutter damit Hühner zerlegt oder Gurken geschnitten hatte. Vielleicht war sie sogar schärfer inzwischen, denn er bestand immer darauf, dass es geschliffen wurde. Vorher. Das übernahm er. Die Reinigung war dann wieder ihre Aufgabe. Sie nahm das Trockentuch aus dem Regal und rieb über die zwanzig Zentimeter lange Klinge. So lange, bis sie glänzte wie neu. Dann legte sie es wieder in die Küchenschublade. Die hielt er für das beste Versteck. Ein Messer unter vielen Messern, es würde niemandem auffallen.

Sie würde es nicht anrühren. Sie könnte ohnehin nichts essen, was mit der Klinge in Berührung gekommen war. Für sie klebte immer Blut daran, egal wie heiß das Wasser auch war, mit dem sie es abwusch. Jedes Mal, wenn sie die Schublade öffnete, um etwas anderes herauszunehmen, überfiel sie wieder das Gefühl, dass Hasenblut herausschwappte. Dunkles Hasenblut, das genauso wenig da war, wie das Blut an dem Messer von einem Hasen stammte.

8

Als seine Schwiegermutter anrief, war klar, dass nichts mehr klar war.

»Daniel, mein Lieber, wie geht es euch?«

»Aua!« Oscar schlug mit einem Holzstein auf Daniels Bauch, während der rücklings auf dem Teppich lag, den Telefonhörer in der Hand.

»Ah, der Kleine hält euch auf Trab, nicht wahr?«

Daniel setzte sich auf. Liselotte von Poll sprach von »euch«. Sibylle war also nicht bei ihr, er atmete tief durch und räusperte sich.

»Ja«, sagte er ins Telefon und versuchte dabei, munter und freundlich zu klingen, während er Oscar streng anschaute, den Holzklotz in die Höhe hielt und den Kopf schüttelte.

»Dein Enkel wollte mich gerade steinigen.« Er wusste, dass seine Schwiegermutter lachen würde. Wie über alles, was er sagte. Selbst wenn es gar nicht lustig gemeint war. Für Liselotte von Poll würde er wohl für immer der Hofnarr bleiben. Nicht gut genug für ihre Tochter, aber auch kein Totalausfall. Eine Sache, die man zu akzeptieren hatte.

»Ist denn die Mutter des kleinen Totschlägers auch in der Nähe?« Liselotte versuchte auch einen Scherz, und Daniel lachte gekünstelt.

»Ha, nein. Die ist auf der Flucht«, sagte er und bemerkte erst, als er es ausgesprochen hatte, dass es vielleicht wirklich so war. Auf der Flucht vor ihm und ihrem tristen Hausfrauendasein vielleicht. Dabei hatte sie doch genau das, was sie immer wollte. Ein hübsches Haus, einen hübschen Sohn, ein hübsches Leben und einen Mann mit einem sicheren, ungefährlichen Job.

»Sie ist, äh, joggen«, sagte er zu seiner Schwiegermutter. »Und danach ist sie bei einer Nachbarin zum Kaffeeklatsch«, schob er noch hinterher. Was für ein altmodisches Wort das doch war, Kaffeeklatsch. Liselotte müsste schon alleine daran merken, dass etwas nicht stimmt, dachte er.

Doch sie gab sich zufrieden, bestand darauf, dass Oscar noch einmal ans Telefon kam, und führte eines dieser sinnlosen Telefongespräche, in denen die eine Seite – die erwachsene – lauter Fragen stellte, auf die die andere Seite – die kindliche – immer nur mit Ja oder Nein antworten konnte.

»Und deine Mama macht gerade Sport?«

Daniel konnte Liselottes Stimme hören. Sein Sohn schaute in Daniels Richtung und sagte nichts.

»Sie joggt?«, versuchte es seine Großmutter noch einmal.

Daniel nickte seinem Sohn aufmunternd zu.

»Ja, ja, ja!«, rief der ins Telefon, und dann folgte ein »Tüss Oma«.

Daniel nahm seinen Sohn in den Arm. »Tschüss Liselotte. Wann startest du eigentlich zu deiner Kreuzfahrt?«

»Morgen geht es los. Sag Sibylle, sie soll mich anrufen, damit ich mich verabschieden kann.«

»Klar.«

»Wird bestimmt komisch, so alleine.«

Daniel wusste, er hätte jetzt darauf eingehen müssen. Sein Schwiegervater war vor zwei Jahren gestorben, dieser Urlaub war der erste, den Sibylles Mutter ohne ihn machte.

»Wird schon«, murmelte er. Zu mehr konnte er sich nicht aufraffen.

Als er auflegte, lachte Oscar ihn an. »Mama wiedertommen?«

Bald kommt Mama wieder, wollte er sagen. Doch er tat es nicht.

Den Samstag über hatte er stillgehalten. Vielleicht war es ja gut, dass sie über sie beide und sich nachdachte. Nötig war es allemal. Doch als sie am Sonntagmittag noch immer nicht angerufen hatte und auch nicht wieder auftauchte, begann er sich zu fragen, warum sie ihm nicht geschrieben hatte, wo sie war und wann genau sie wiederkam. Wollte sie ihn damit einfach nur ärgern?

Den ganzen Sonntagnachmittag rief er jede Stunde einmal bei ihr an. Doch ihr Handy blieb aus. Er schickte jede Stunde eine Nachricht. Keine wurde beantwortet. Sibylle blieb still. Oscar wurde laut. Und Daniel wurde wütend.

Er war schon zu den Nachbarn gegangen, hatte gefragt, ob sie ihm zwei Eier leihen könnten, in der Hoffnung, dass sie etwas wussten, vielleicht, wohin sie gefahren war. Doch als Tanja ihn fragte: »Und, ist Sibylle noch gar nicht wieder da?«, hatte er sich schnell wieder verabschiedet. »Die hat’s gut«, hatte sie noch in Richtung ihres Mannes gerufen. »Ein Wochenende ausspannen, das würde ich mir auch mal wünschen.«