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Auf seinen Spürsinn hat sich der Provinz-Kriminalist Werner Jarosch immer verlassen können, egal ob es sich um einen Scheckbetrug handelt oder die Ausplünderung eines Dorfes, das dem Braunkohlenabbau weichen muss. Im Fall der Isa Matuschek aber lässt ihn seine Intuition im Stich: Ein Unbekannter hat die junge Frau überfallen und vergewaltigt, und Jarosch tappt im Dunkeln. Jan Eiks letzter in der DDR erschienener Krimi spielt in der Endzeit des erschöpften Landes; der Klassenfeind kommt jetzt in Grün, weiß eine gewissenhafte Schuldirektorin zu melden, während die Atmosphäre in der Schule von Kerkow, an der Swetlana und Arne Schildhauer unterrichten, auch auf andere Weise vergiftet wird. Obwohl Jarosch jeder noch so vagen Spur nachgeht und dabei über mancherlei Absonderlichkeiten des alltäglichen Lebens auf dem Lande stolpert, vergehen Monate, bis ihn endlich ein seltsamer Verkehrsunfall mit Fahrerflucht Zusammenhänge erkennen lässt, die selbst den gestandenen Kriminalisten überraschen. Das Buch erschien erstmals 1990 in der DIE-Reihe des Verlages Neues Berlin.
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Seitenzahl: 307
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Jan Eik
Dann eben Mord
ISBN 978-3-86394-474-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1990 beim Verlag Das Neue Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Müde saß Werner Jarosch an diesem trüben Maimorgen hinter dem mächtigen Schreibtisch, den die Kreisbehörde der Volkspolizei zu einer Zeit inventarisiert hatte, als man dafür noch Metallschildchen prägte. Der Stuhl indes, sinnigerweise ein Erzeugnis des VEB Sitzmöbel Waldheim, war sicherlich der zehnte seitdem, und auch der ächzte bereits bedenklich unter Jaroschs Schwergewicht.
Für Werner Jarosch hatte der Tag begonnen wie die meisten anderen seines Lebens: zu früh. Er war kein Morgenmensch. Edith, seine Frau, nannte ihn nicht zu Unrecht einen Kauz, denn wie der entfaltete er am liebsten erst in der Abenddämmerung Geschäftigkeit.
Melancholisch trank Jarosch seinen Tee und hoffte auf dessen belebende Wirkung. Der Inhalt des aufgeschlagenen Aktendeckels, den er weit genug beiseite geschoben hatte, um ihn vor Spuren seines Frühstücks zu bewahren, war nicht dazu angetan, seinen Tatendrang anzuspornen. Er enthielt lediglich zwei Formblätter mit beinahe gleichlautendem Text, auf einer uralten Büromaschine getippt und auch auf diese Entfernung bequem zu lesen. Besser als aus der Nähe, wie Jarosch in letzter Zeit festgestellt hatte.
Fahrraddiebstähle. Zwei Räder am helllichten Tage vor der Kaufhalle West entwendet. Auf Nimmerwiedersehen, fürchtete Jarosch, falls sich nicht jemand vorgenommen hatte, Fahrräder in Serie zu stehlen. Die Bearbeitungsfrist lief ab. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Geschädigten mitzuteilen, dass die Ermittlungen vorerst eingestellt werden. Wie die darauf reagieren würden, wusste er: Früher hat die Polizei sich noch Mühe gegeben. Da wurde der Diebstahl eines Fahrrades mit einem halben Jahr Gefängnis bestraft. Aber heute...
Heute kam einer, der ein Rad "unbefugt benutzte", allenfalls vor die Konfliktkommission - wenn er einer geregelten Arbeit nachging. Der Oberleutnant machte eine Notiz für das übliche Schreiben und schob den Aktendeckel an die linke Tischkante. Der nächste Vorgang war um nichts erfreulicher als die leidigen Fahrradgeschichten, die seine Laufbahn bei der K von Anbeginn begleiteten, also seit zwei Jahrzehnten. Er hätte Glück gehabt, versicherten ihm die älteren Kriminalisten, weil da die große Zeit der Hühner- und Karnickeldiebe schon vorüber gewesen war. Die der Kioskeinbrecher hingegen noch nicht. An dem Mitropa-Häuschen im nächtlich-einsamen Bahnhofsvorgelände hatten bereits Generationen von Langfingern ihr Ungeschick erprobt.
Für einen Moment dachte Jarosch darüber nach, welchen Umfang eine aus den Archivbeständen des Kreisamtes zusammengestellte Dokumentation über die kriminaltechnische Spurensicherung alleine an diesem Objekt annehmen würde. Die Idee gefiel ihm. Noch vor einem halben Jahr hätte er den Einfall umgehend seiner Kollegin mit dem bemerkenswerten und von aller Welt falsch ausgesprochenen Vornamen Kathleen als Thema für eine Promotionsschrift an der Sektion Kriminalistik vorgeschlagen. Inzwischen aber hatte sie ihren Hang zur Selbstverwirklichung unerwartet auf ein gänzlich anderes, strafrechtlich weniger relevantes Gebiet menschlichen Zusammenlebens konzentriert. Sie befand sich im so genannten Mütterjahr.
Zum x-ten Mal also der Bahnhofskiosk, der längst nicht mehr jene achteckige Bretter-Rotunde war, die dort gestanden hatte, als Jarosch im Herbst 1945 zum ersten Mal das holprige Pflaster des Marktplatzes überquerte, die Deichsel des Handwagens mit der verbliebenen Habe zwischen ihm und der Mutter. Inzwischen schrieb man das Jahr 1988; wurde es nicht Zeit, dass er es endlich vergaß?
Und doch hatte er das Bild der hölzernen Bude mit den abblätternden Farbresten und dem geschwungenen Dach viel plastischer vor Augen als den nüchternen Plattenbau, der jetzt dort stand. Die Fotos vom Tatort bewiesen, dass die Täter ebenso unverfroren vorgegangen waren wie die meisten ihrer Vorgänger. Und die entwendeten Waren verrieten die Gleichartigkeit der Interessen: Zigaretten, Alkoholika - keine Kekse. Eine deliktische Kindeshandlung, wie das im kriminalpolizeilichen Fachdeutsch so schön hieß, schied also mit einiger Sicherheit aus.
Einen Augenblick war Jarosch versucht, seinem mit bestem Willen unterdrückten Vorurteil nachzugeben und unter den Namen der Amnestierten nach einem einschlägigen Straftäter zu fahnden. So leicht durfte er es sich nicht machen. Er kannte die offizielle Argumentation in dieser heiklen Frage. Außerdem waren am Tatort brauchbare daktyloskopische Spuren gesichert worden. Das Vergleichsergebnis mit der Kartei lag noch nicht vor. Es war vernünftiger, darauf zu warten.
Jarosch schob den Vorgang in den Papierberg zurück. Der war von normaler Höhe. Fünfzehn Zentimeter ungefähr. Der nächste Hefter enthielt nur ein Blatt: das Protokoll einer Anzeige, aufgenommen durch den Abschnittsbevollmächtigten in Launitz.
Eine Frau, den Angaben zufolge zweiundfünfzigjährig, war gegen einundzwanzig Uhr in der Nähe ihres Hauses von einem Unbekannten belästigt worden. Oder nur angesprochen? Von einem tätlichen Angriff war in dem Text nicht die Rede. Der Mann hatte sie in barschem Ton nach dem Weg nach Bartz gefragt. Die Frau war, zu Tode erschrocken, davongerannt. Zum zweiten Mal sei ihr das passiert. Vermutlich handelte es sich in beiden Fällen um die gleiche Person.
Stirnrunzelnd las Jarosch die umständlichen Formulierungen noch einmal. Er verstand die Furcht der Frau, nur lag keine Straftat vor. Nicht mal der Versuch. Und aus dem Raum Bartz - Launitz, an der Grenze zum Nachbarbezirk im Südosten des Kreisgebiets, gab es keine einschlägigen Meldungen oder Anzeigen.
Er blickte auf die Uhr. Neun Uhr achtundvierzig. Um diese Zeit hatte der brave ABVer unterwegs zu sein, wenn er seinen Dienst ernst nahm. Um unbekannte Verdächtige, auf die eine so verschwommene Personenbeschreibung passte, sollte sich zuallererst der kümmern. Ein Telefongespräch konnte man zur Mittagszeit mit ihm führen.
Jaroschs Blick fiel auf die Buchstabenkombination VEB BK, die in Kathleens exakter Normschrift den nach oben geratenen Aktendeckel zierte. Allein schon sein Volumen verriet die Mühe, die eine ganze Reihe von Kriminalisten und inzwischen auch der Staatsanwalt aufgewendet hatten, um Licht in die dunklen Machenschaften des örtlichen Baukombinats zu bringen.
Angefangen hatte alles damit, dass ein Meister des im ganzen Kreisgebiet verzweigten Unternehmens verdächtigt wurde, umfangreiche Baumaßnahmen auf dem eigenen Wochenendgrundstück mit dem Material und den Arbeitskräften des Betriebes auszuführen. Die Beschuldigung bestätigte sich im Laufe der Ermittlungen und führte zu Erkenntnissen, die das Maß der ursprünglich angenommenen Straftat erheblich überschritten.
Jarosch hatte den Fall seinerzeit Kathleen zugeschanzt, aus gutem Grund. Das Grundstück des Beschuldigten Egon Regulski stieß mit einem Eckpfosten an sein eigenes Pachtland. Er kannte also das beanstandete Baugeschehen aus eigener Anschauung, hatte mit Regulski gar am Biertisch gesessen, im neuerdings rustikal aufgemachten "Heidekrug" an der Fernverkehrsstraße, wo der Fahrweg zu den Grundstücken abzweigte.
Die Nachbarn waren sicher, dass nur Jarosch der Urheber der Vorwürfe gegen den allseits geschätzten Baufachmann Regulski sein konnte. Und Regulski nährte diesen Glauben, nachdem er Jarosch während der Vernehmungen im Kreisamt begegnet war.
Die Beweislage war komplizierter als erwartet. Der Staatsanwalt drängte einerseits auf den Abschluss des Ermittlungsverfahrens und charakterisierte andererseits die vorliegenden Untersuchungsergebnisse als unzureichend. Wo genau Regulski den in seinen erdbebensicheren Fundamenten verbauten Zement entwendet hatte, ließ sich zunächst ebenso wenig nachweisen wie die konkrete Verantwortlichkeit für die Schlampereien und Fehlmengen in den Unterlagen des VEB BK. Erst die sichtbaren Schäden an der Brücke der neuen Umgehungsstraße im Gebiet der näher rückenden Braunkohlentagebaue verliehen dem Vorgang eine neue strafrechtliche Dimension.
Längst hatte Kathleen, verehelichte Steinkühler, Jarosch den Fall wieder überantwortet. Er wartete jetzt auf die Untersuchungsergebnisse aus Berlin. Wenn wirklich so wenig Zement in Teilen der inzwischen gesperrten Brücke vorhanden war, wie er das nach eigenen Kratzproben mit seinen laienhaften Kenntnissen vermutete, dann musste der Fall auf Bezirksebene ausgetragen werden. Ihm grauste es vor dem damit verbundenen Papierkrieg. Noch mehr aber schauderte ihm vor dem nächsten Wochenende, wenn er an die verkniffenen Mienen der Nachbarn dachte und an den höhnischen Gruß, den Regulski ihm niemals über den gemeinsamen Zaunpfahl zuzurufen vergaß: Mahlzeit, Genosse Kommissar...
Glücklicherweise hatte er seinerzeit von Regulskis Angebot, ihm Baustoffe zu beschaffen, keinen Gebrauch gemacht. Manchmal konnte er sich auf seine Nase verlassen.
Er erhob sich, reckte die Arme und stieß sich schmerzhaft das rechte Knie. Länger als anderthalb Stunden hielt es ihn selten ohne Unterbrechung hinter seinem Antikmöbel. Seine Tätigkeit bot ihm genügend operativen Spielraum. Über Mangel an frischer Luft brauchte er sich nicht zu beklagen. Er kam überall im Kreis herum, von den sanften Hügeln im Norden bis hin zur sandigen Heide im Süden, an der die gefräßigen Großraumbagger nagten. Wenn es die Zeit erlaubte, parkte er den Dienstwagen weit entfernt vom eigentlichen Ziel und legte einen gesundheitsfördernden Fußmarsch ein.
Handelte es sich um einen Ereignisort im kriminalistischen Sinn, einen Tat- oder Fundort also, musste er auf derlei Verzögerungen verzichten. Außerdem war der Einsatzkoffer mit der technischen Grundausrüstung zu schwer.
Solche Wanderungen gehörten für ihn durchaus zu seiner Arbeit. Wie sonst sollte man Landschaft und Leute kennen lernen, sie als ein Abbild in sich aufnehmen, das sich auch nachträglich noch befragen ließ. Mitunter hatte er im Vorfeld mehr über einen Sachverhalt erfahren, als den Betroffenen lieb war. Die Menschen schenkten ihm gewöhnlich schnell Vertrauen, seine Wortkargheit schien deren Redefluss eher anzuregen - eine Tatsache, die vor allem seine eigene Frau in Erstaunen versetzte: dass dir überhaupt einer was erzählt...
Ja, man erzählte ihm so allerlei, wahrscheinlich weil er zuzuhören verstand oder es zumindest so schien. Die Beichtvaterrolle konnte leicht zur Last werden, wie jetzt, als Jarosch im Sekretariat stand, um die Post in Empfang zu nehmen, und die Ehegeschichte der Tochter von Edelgard Neubert gratis dazugeliefert bekam. "Hmm, hmm...", sagte er nur und wagte nicht so recht, die beiden Briefumschläge zu öffnen, weil das nach mangelnder Aufmerksamkeit ausgesehen hätte. Das tat man einer besorgten Mutter nicht an, auf die man in den tausend kleinen Zwängen der täglichen Dienstabwicklung angewiesen blieb. Jarosch hatte sich schon einmal überlegt, dass eine Pfeife à la Kommissar Maigret in solchen Situationen eine brauchbare Ablenkung wäre, nur machte er sich nichts mehr aus dem Rauchen, seitdem Edith es ihm abgewöhnt hatte.
Als der Major eintrat, gelang es ihm endlich, den Raum zu verlassen. Noch auf der Treppe kontrollierte er den Inhalt der Post. Eine Vorladung zu einer Hauptverhandlung des Kreisgerichts, die eigentlich Kathleen galt. Ein Fall von Diebstahl sozialistischen Eigentums in Verbindung mit der Vortäuschung einer Straftat. Soweit er sich erinnerte, ein dilettantisch fingierter Einbruch in eine Gaststätte, den Kathleen im ersten Angriff aufgeklärt hatte.
Das zweite Kuvert enthielt ein Klarsichttütchen mit mehreren Scheckformularen, dazu die Anzeige der Sparkasse gegen die Kontoinhaberin. Er überflog die stereotypen, ihm allzu vertrauten Sätze. Scheckbetrug schien sich anhaltender Beliebtheit zu erfreuen.
An seinem Schreibtisch las er die Anzeige noch einmal, schüttelte die sechs grünen Blättchen aus der Tüte und besah sie gründlich. Alle trugen die gleiche, gut lesbare Unterschrift Martina Fahrlandt. Adresse und Personalausweisnummer standen auf der Rückseite. Jarosch blätterte in seinem Kalender und trug Datum und Uhrzeit in ein Vorladungsformular ein. Was sich so eine Frau wohl dabei dachte, das eigene Konto in dieser Höhe zu überziehen.
Er griff zum nächsten Vorgang. Das war ein dicker Hund. Auf der Heide hatten drei Dörfer den Abraumbaggern weichen müssen. Einer der ehemaligen Einwohner von Gorna, ein Mann kaum über die Vierzig, war entgegen dem ausdrücklichen Verbot am vergangenen Sonnabend noch einmal in sein aufgegebenes Haus zurückgekehrt und dort von zwei oder drei unbekannten Burschen brutal niedergeschlagen worden. Erst am Montag hatten ihn die Männer vom Tagebau gefunden. Von den Tätern fehlte jede Spur. Es wurde Zeit, dass er nach Gorna fuhr, bevor die Planierraupen die letzten Anhaltspunkte beseitigten. Außerdem musste er den Mann im Krankenhaus aufsuchen und, so oft es dessen Zustand zuließ, ein ordentliches Protokoll aufsetzen.
Das Telefon schrillte. Der Diensthabende in der Anmeldung ließ ihn wissen, dass eine Bürgerin eine Anzeige erstatten wolle.
"Ich komme", sagte Werner Jarosch ergeben. Beim Aufstehen stieß er sich das rechte Knie.
Die junge Frau mit zerzaustem rotem Haarschopf, die Werner Jarosch gegenübersaß, fühlte sich sichtlich unwohl. Angelegentlich beschäftigte sie sich damit, ihre Nase mit einem verknüllten Papiertaschentuch zu putzen, während er ihre Personalien aufnahm.
Isa Matuschek aus Großpöhlow, vor drei Wochen gerade neunzehn Jahre alt geworden. Ein wenig älter sah sie aus, fand Jarosch, oder reifer vielleicht. Ein sportlich wirkendes Mädchen, mehr als mittelgroß, mit kräftigen Händen und energischem Kinn. Sie hatte sich nicht besonders fein gemacht für den Besuch bei der Polizei, trug Jeans und einen dunkelblauen Anorak. Darunter schaute ein Sweatshirt mit englischer Aufschrift hervor.
Jarosch registrierte das ganz automatisch, auch den Schutzhelm, der zu ihren Füßen lag, die in halbhohen Stiefeln steckten. Den Grund für die dunkle Färbung ihres Jochbeins unter dem rechten Auge würde sie ihm gewiss noch verraten.
"Ich wollte nicht kommen...", sagte sie verdrossen. "Mein Freund meint, man muss so was melden."
Der Oberleutnant nickte und schwieg abwartend.
Das Mädchen Isa blickte ihm offen ins Gesicht und blähte für einen Augenblick ihre Backen auf. "Ich bin vergewaltigt worden", stieß sie trotzig hervor.
Jaroschs flächiges Gesicht blieb unbewegt. Wenn es stimmte, was die junge Frau sagte, dann hatte es der Täter gewiss nicht leicht gehabt mit ihr. Sie sah nicht aus, als würde sie sich wehrlos in eine solche Situation fügen, und das Veilchen war damit auch erklärt. Wenn es stimmte. Das war allemal der Haken bei so einer Anzeige. Werner Jarosch hätte viel darum gegeben, jetzt sagen zu können: Meine Kollegin unterhält sich mit Ihnen darüber etwas genauer.
Da Isa Matuschek ihrer Erklärung keinen weiteren Satz folgen ließ, ihn vielmehr erwartungsvoll anstarrte, bequemte Jarosch sich schließlich zu der Frage: "Eine vollendete Vergewaltigung - oder hat der Täter nur versucht, Ihnen Gewalt anzutun?"
Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Zornesröte, wie Jarosch annahm, denn peinlich schien ihr die Auskunft darüber nicht zu sein. "Vollendet!", sagte sie in einem Ton, der keinen Zweifel an der Tatsache zuließ, blickte sich dann aber doch um, ob auch kein Unbefugter sie hören konnte. Am Hinterkopf ging ihr strubbeliger roter Schopf in glattgestriegeltes mittelblondes Haar über. Wahrscheinlich war das ihre natürliche Haarfarbe. Aber das auffällige Rot stand ihr, fand Jarosch.
"Sie sind nicht beim Arzt gewesen?", vergewisserte er sich.
Sie sah ihn an, als habe sie ihn nicht verstanden. "Wozu sollte das gut sein?"
"Das ist bei einer so schweren Straftat unerlässlich", erklärte Jarosch mild. "Wann ist es denn passiert?"
"Am Sonnabend."
"Heute ist Dienstag." Aus seiner Stimme klang kein Vorwurf. Eher Resignation. So waren die Menschen eben. Beeilen musste sich nur die Kripo.
"Sie hätten unverzüglich Anzeige erstatten müssen. Schon wegen der Spurensicherung."
In ihrem Blick lag eine Mischung aus Ekel und Unglauben. "Spurensicherung?", sagte sie abfällig. "Ich habe erstmal 'ne dreiviertel Stunde geduscht, als ich nach Hause kam, falls Sie sich das vorstellen können."
Jarosch nickte. "Und die Kleidungsstücke, die Sie trugen?"
"Die habe ich in die Waschmaschine gesteckt! Wohin hätte ich sie mitten in der Nacht bringen sollen?"
"In Großpöhlow gibt es einen Abschnittsbevollmächtigten."
"Ich dachte, für so was sind Sie zuständig. Und heute hatte ich sowieso hier in der Kreisstadt zu tun. Ich kann mir schließlich nicht freinehmen, wann ich will!"
"Der ABV hätte uns angerufen. Wir wären sofort gekommen!"
"Am Sonntag?", fragte sie zweifelnd.
"Am Sonntag. Feuerwehr und Kriminalpolizei sind immer im Dienst. Wussten Sie das nicht?"
"Bei uns ist mal im Stall eingebrochen worden. Da kam erst nach einer Woche einer vorbei."
Jarosch ließ sich ungern auf didaktische Erläuterungen ein, obwohl seine Frau behauptete, an ihm wäre ein Pauker verloren gegangen, mit seiner geradlinigen Betulichkeit und seiner ostpreußischen Geduld. Er sagte: "Eine Vergewaltigung ist eine schwere Straftat gegen die Würde des Menschen, Frau Matuschek. Da dürfen wir keine Minute zögern, um alle Spuren zu sichern, die zu einer Aufklärung führen."
"Sie meinen, Sie kriegen den?", fragte sie, sichtlich ungläubig.
Wir müssen, hätte er beinahe gesagt, denn dass sie ein Sexualverbrechen aufklären mussten, daran konnte kein Zweifel bestehen. Das war etwas anderes als ein Fahrraddiebstahl oder Scheckbetrug als Freizeitsport. Wenn ein solcher Täter herumlief, kochten die Gerüchteküchen in den Dörfern. Die Miefwolke würde bis hierher in die Kreisstadt wehen, der Major eine Lagebesprechung nach der anderen anberaumen. Und Edith würde zu Hause keine Ruhe geben und jeden Tag mit neuen Tartarenmeldungen aus ihrer Bibliothek heimkehren.
"Mit Ihrer Hilfe!", sagte Jarosch fest. "Sie müssen versuchen, sich an jede Einzelheit zu erinnern. Auch wenn Sie Ihnen noch so unwesentlich erscheint. Wann und wo genau ist es passiert?"
Isa Matuschek schien doch ein wenig eingeschüchtert. "Am Sonnabend...", sagte sie zögernd. "Irgendwann nach zehn. Ich war mit dem Roller unterwegs nach Hause."
"Woher kamen Sie?"
"Na, aus der "Sonne". Da war Disko. In Bartz."
In Bartz. Die Mappe mit dem Protokoll über den Vorfall in Launitz lag rechts. Jarosch schlug sie auf. Nein, der Mann in Launitz hatte sich schon am Donnerstagabend nach dem Weg nach Bartz erkundigt. Möglicherweise bestand dennoch ein Zusammenhang.
Mit der Täterbeschreibung ließ sich in beiden Fällen nicht viel anfangen. Zwischen vierzig und fünfzig hieß es in der Launitzer Anzeige, groß, mit einer Mütze. Und Isa Matuschek behauptete zwar, den Mann jederzeit wiederzuerkennen, aber beschreiben - nein, beschreiben könnte sie ihn beim besten Willen nicht. Außerdem hatte er ja eine Pudelmütze mit Augenschlitzen über sein Gesicht gezogen. Jedenfalls in dem Augenblick, als sie mit dem Roller bereits angehalten und der Kerl mit raschem Griff den Zündschlüssel herausgerissen und damit das Licht gelöscht hatte, bevor sie ihn auch nur annähernd zu erkennen vermochte. Auf dem stockdunklen Weg von Bartz nach Großpöhlow war das gewesen, mindestens ein, zwei Kilometer vor der Kreuzung mit der Umgehungsstraße. Sie war nur mühsam vorangekommen zwischen all den Löchern und Pfützen auf dem unbefestigten Fahrweg, auch weil irgendwas mit dem Roller nicht in Ordnung war. Wie sie später festgestellt hatte, war kaum Luft auf dem Hinterreifen. Auf dem Knüppelpflaster vor der "Sonne" war ihr das nicht aufgefallen.
Ihr war gar nichts anderes übrig geblieben als anzuhalten, als da eine Gestalt genau an der schmälsten Stelle zwischen dem Feldrain und einer Riesenpfütze auftauchte.
Natürlich hatte sie sich gewehrt, war ihm an den Hals gefahren und hatte ihm das Hemd zerrissen, wenn sie sich recht erinnerte. Mit ihren langen Fingernägeln musste sie ihn verletzt haben, irgendwo am Schlüsselbein. Ein Nagel war sogar abgebrochen. Nachdenklich starrte sie auf jenen Finger, während Jarosch schrieb.
Isa Matuschek war gewiss couragiert, doch der Täter war mit so großer Brutalität und Zielstrebigkeit vorgegangen, dass ihr kaum eine Chance blieb. Geschrieen hatte sie auch, selbstverständlich. Aber erst, nachdem der ihr ins Gesicht geschlagen hatte, einmal und sehr heftig. Wahrscheinlich als Reaktion auf den Kratzer am Hals. Und dann hatte er sie geknebelt, mit ihrem eigenen langen Schal, und ihre Hände damit auf dem Rücken zusammengebunden. Und die ganze Zeit irgendwelche Sauereien geflüstert, dass sie es sich schön machen wollten miteinander, und noch viel schlimmere Sachen, die sie prompt aussprach, als Jarosch danach fragte, um sie getreulich zu protokollieren.
Irgendwann war ihre Gegenwehr erlahmt. Wenn du nicht ruhig bist, mache ich dich kalt, hatte er geflüstert, immer nur geflüstert, kein lautes Wort, obwohl wahrhaftig keine Gefahr bestand, dass jemand dort vorbeikam. Die Disko in Bartz ging mindestens noch eine Stunde, und aus Großpöhlow war sowieso kaum jemand in der "Sonne". Dass der sie umbringen würde, davor hatte sie plötzlich Angst gehabt, und deswegen hatte sie sich alles gefallen lassen von dem Saukerl, nachdem der sie die Böschung rauf aufs Feld geschubst hatte. Irgendwann war er aufgesprungen und zurück auf den Weg gerannt. Sie hatte aufgeatmet und begonnen, den festgezogenen Schalknoten an ihren Händen zu lösen; aber der hatte nur den Roller beiseite geräumt, ihn einfach in den Graben geschmissen, und war noch einmal zurückgekommen und wieder über sie hergefallen.
Es war so ziemlich das Scheußlichste, was Jarosch seit langem zu hören bekam, und er war einiges gewöhnt. Eine weniger robuste Person als Isa Matuschek hätte er wahrscheinlich am Krankenbett vernehmen müssen, ohne je so genau zu erfahren, was da vorgefallen war.
Wenn es vorgefallen war. Der Gedanke, dass jemand, der ihm auf dem Stuhl gegenübersaß, einfach log, dieser Gedanke war in Jaroschs großem Kopf immer wach. Dann bliebe zu klären, weshalb sie ihm eine solche haarsträubende Geschichte auftischte, fast ohne emotionale Regung und mit Einzelheiten, von denen kaum vorstellbar war, dass sie sie nur erfunden hatte. Außerdem beschuldigte sie keine bekannte Person. Und von ihrer äußeren Gelassenheit ließ er sich nicht täuschen. Es gab keine Regel, wie sich Opfer eines Sexualverbrechens zu verhalten hatten. Gerade durch ihre Unbefangenheit erschien ihm Isa Matuschek glaubwürdig.
"Bleiben wir bei dem Täter", sagte Jarosch behutsam. "Versuchen Sie sich genau zu erinnern, wie er aussah. Wie er bekleidet war."
Sie schüttelte den Kopf. "Es war wirklich stockdunkel", versicherte sie. "Kein Mondschein. Nichts. Es fing ein bisschen an zu nieseln, als er weg war..."
"Wohin ist er gegangen?"
"Ich weiß nicht. Ich hatte nur Angst, dass er noch mal zurückkommt. Dann ist irgendwo ein Auto angefahren. Ziemlich weit entfernt."
"Wie weit? Wie viele Minuten ungefähr waren inzwischen vergangen? Fünf... oder zehn?"
Sie sah ihn wütend an: "Liegen Sie da mal auf der Erde, nach so einer Sauerei, gefesselt mit Ihrem eigenen Schal, und dann fragt einer, wie viele Minuten vergangen waren! Ich habe mich erstmal ein Stück weiter ins Gebüsch geschleppt, damit der mich nicht wieder findet!"
Es war nicht Jaroschs Art, Anteilnahme zu zeigen. Isa Matuschek konnte nicht ahnen, wie ungewohnt mitfühlend seine Stimme klang. "Ich verstehe Sie ja, Frau Matuschek. Und ich will den Täter fassen und überführen. Dazu muss ich auch wissen, auf welche Weise er vom Tatort verschwunden ist. Haben Sie eventuell den Autotyp am Klang erkannt?"
"Sie meinen, Viertakter oder so? Da hätte Fredo dabeisein müssen. Der könnte Ihnen das Baujahr nennen."
"Einen Trabant erkennt man beim Starten. Ein Lada klingt ganz anders."
Isa Matuschek schien in sich hineinzuhören. "Beides nicht...", sagte sie schließlich zögernd, "'n Lada brummt so, wenn er fährt. Vielleicht war es gar nicht der Wagen des Kerls. Es war ja still, kaum ein bisschen Wind. Und unheimlich duster auf dem ollen Acker..."
O ja, Werner Jarosch verstand sie gut. Oft genug hatte er selbst irgendwo im nächtlichen Dunkel gehockt, irgendjemanden beobachtet, auf irgendein Ereignis gelauert. Unheimlich war es immer, wenn das Licht fehlte, das dann die gesamte Zivilisation auszumachen schien. Wie musste ihr erst zumute gewesen sein, mutterseelenallein, nach einem solchen Erlebnis.
Er öffnete die linke Seite seines Schreibtischs. Ganz unten befand sich die Mappe mit den alten Messtischblättern, die zehnmal genauer waren als alles, was im Zeitalter der Satellitenerkundung als Karte galt. Die Südostecke des Kreisgebietes. Die Dörfer jenseits der Kreisgrenze gab es längst nicht mehr. Bartz, Launitz und Großpöhlow bildeten die Eckpunkte eines annähernd gleichseitigen Dreiecks mit Großpöhlow an der Nordspitze.
Jarosch drehte das Blatt und schob es zu ihr. "Sehen Sie mal hier, Frau Matuschek. Auf diesem Weg müssten Sie gefahren sein."
"Sagen Sie nicht immer Frau Matuschek zu mir. Das klingt, als würden Sie mit meiner Mutter reden!"
Für einen Moment schaute Jarosch sie hilflos an. "Entschuldigen Sie - Fräulein Matuschek..."
"Ist ja auch egal. Ich mache es jedenfalls zur Bedingung, dass meine Mutter nichts von der ganzen Sache erfährt. Kein Sterbenswort. Verstehen wir uns?" Sie sah ihn herausfordernd an.
Die Bemerkung, dass man dem Untersuchungsorgan keine Bedingungen zu stellen habe, schien Jarosch fehl am Platz. Ihre Forderung war ebenso einleuchtend wie leicht einzuhalten. Vorläufig jedenfalls. Also ging er nicht darauf ein und deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf einen Punkt des Fahrwegs, der Bartz und Großpöhlow gewiss seit undenklichen Zeiten miteinander verband. "Hier etwa verläuft die neue Fernverkehrsstraße."
Isa Matuschek beugte sich über das Blatt. "Es war weit davor. Ungefähr auf der Hälfte zwischen Bartz und der Straße. Das ist der Pfuhl in der Senke." Lebhaft stieß ihr Finger auf den winzigen blauen Fleck. "Auf der Anhöhe davor ist es gewesen. Hier ungefähr." Ihr lackierter Fingernagel markierte die Stelle.
"Und wo fuhr das Auto ab?"
Das Mädchen blickte Jarosch einen Moment an und dann wieder auf die Karte. "Das könnte da unten gewesen sein", sagte sie nachdenklich. "Aus dieser Richtung müsste das Geräusch gekommen sein."
"Nehmen wir an, der Täter hatte dort ein Fahrzeug abgestellt und erwartete Sie gut vierhundert Meter davon entfernt. Der Weg wird zu dieser Zeit kaum befahren, oder?"
Sie nickte.
"Und während der ganzen Zeit ist niemand vorbeigekommen? Ich meine, auch nicht danach, während Sie sich befreiten?"
"Keine Menschenseele. Mir ist bis Großpöhlow niemand begegnet. Ich hätte auch gar keinen gesehen bei der Dunkelheit."
"Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet dort und zu der Zeit mit Erfolg einer einzelnen Frau aufzulauern, war demnach für den Täter äußerst gering."
Sie verstand sofort, worauf er hinauswollte. "Das habe ich mir schon selber überlegt. Es konnte keiner wissen, dass ich da entlangfahre. Ich habe es ja zehn Minuten vorher selbst noch nicht gewusst. Oder zwanzig Minuten. Es war ein ganz spontaner Entschluss. Plötzlich hatte ich es satt, und das habe ich Fredo gesagt und bin abgehauen."
"Fredo hat es also gewusst", stellte Jarosch fest.
Sie ließ sich nicht beirren. "Natürlich! Er war ja schuld an dem ganzen Theater. Wir haben uns gestritten. Nicht, was Sie gleich denken. Ich habe mit ihm gestritten. Er war zu betrunken, um Streit mit mir anzufangen. So einer ist er nicht. Er wird gemütlich und manchmal auch weinerlich. Streitsüchtig nie."
Da sie schwieg, sagte Jarosch: "Sie haben ihm Vorwürfe gemacht, wegen seines Zustands."
"Er war ziemlich voll, na ja. Das hätte ich ihm noch verziehen. Aber denken Sie, der hätte ein einziges Mal mit mir getanzt? Weshalb geht man denn zur Disko?"
"Hat er mit einem anderen Mädchen getanzt?"
"Der doch nicht! Die ganze Bande hat gesessen wie angeleimt und nur geschluckt und gequasselt, soweit man das bei der Lautstärke kann. Über ihren dämlichen Fußball und über Autos - worüber Männer eben so reden. Ich saß da wie bestellt und nicht abgeholt."
"Sie haben kein einziges Mal getanzt?"
"Das schon. Da haben sie dann mit blöden Bemerkungen nicht gespart und so rumgeätzt, dass dem Dieter die Lust vergangen ist. Der ist sowieso einen halben Kopf kleiner als ich."
Allmählich vermochte Jarosch sich die gemütliche Atmosphäre der Sonnabend-Disko in der Gaststätte "Zur Sonne" vorzustellen. Als besonders friedfertig galten die Einwohner der Ortschaften in jener Gegend ohnehin nicht. "Und der Dieter - war der noch da, als Sie das Lokal verließen?"
"Der ist lange vorher abgehauen. Hat wahrscheinlich befürchtet, dass die Bartzer noch Stunk mit ihm anfangen." Sie lachte auf. "Sie denken, Dieter...? Nein, es war keiner, den ich kannte. Mit Dieter bin ich zusammen zur Schule gegangen. Dieser Kerl - der war viel älter, das habe ich gemerkt. Vielleicht so um die Vierzig..."
"Sind Sie sicher?", fragte Jarosch. Bisher hatte sie eine Altersangabe für den Täter vermieden.
"Nein", antwortete sie denn auch sofort und wirkte plötzlich niedergeschlagen. "Ich bin überhaupt nicht sicher. Er war größer als ich. Und sehr kräftig, mit ganz harten Pfoten. Nicht so ein Milchbart wie der Dieter..."
Sie schien erneut über das Aussehen des Täters naczugrübeln. Der Oberleutnant ließ ihr Zeit. Schließlich wiederholte sie: "Ich bin sicher, ich würde ihn wieder erkennen." Das half Jarosch aber auch nicht weiter.
"Sie haben also den Fredo zur Rede gestellt und ihm erklärt, dass Sie gehen werden."
"Als er zum Klo musste, da habe ich ihn mir geschnappt. Heut wird 's nichts, Mäuschen, hat er gesagt, und das hat mich richtig hochgebracht. Wenn der mich schon Mäuschen nennt! Immerhin war ich seinetwegen rüber nach Bartz gefahren."
"Auf dem gleichen Weg wie zurück?"
"Ich benutze nie die Umgehungsstraße. Das wäre ein Riesenumweg."
Aber vielleicht ein bisschen sicherer, dachte Jarosch.
"Ich wollte eigentlich gar nicht zurückfahren. Das wusste Fredo aber nicht. Ich habe ihm nicht gleich auf die Nase gebunden, dass ich meiner Mutter erzählt hatte, ich würde bei meiner Freundin Nina übernachten, damit mir nichts passiert. Mutter hat immer furchtbare Angst um mich. Und deshalb darf sie es auch nicht erfahren."
"Ja, ja", beruhigte Jarosch sie. "Was haben Sie denn zu Fredo gesagt? Ich meine, bezüglich Ihrer Absicht, die "Sonne" vorzeitig zu verlassen."
Sie zuckte die Achseln. "Was Sie alles wissen wollen. Mein Roller findet den Weg auch alleine oder so was. Und dass es mir reicht und ich nicht länger bleibe."
"Und das haben alle Umstehenden gehört."
"Kaum. Das war etwas, was nur uns beide anging. Draußen im Flur, vor den Toiletten, war ja auch keiner außer uns. Jedenfalls bin ich voller Wut rausgestürzt und gleich losgefahren. Die Schlüssel hatte ich in meiner Umhängetasche. Erst unterwegs wurde mir bewusst, dass ich nicht mal meine Jacke mitgenommen hatte. Also musste ich umkehren und noch mal zurück in den Saal. Ich war stinksauer. Und ausgerechnet in dem Moment fordert mich einer zum Tanzen auf. Ich habe nicht mal gleich gemerkt, dass der mindestens soviel getrunken hatte wie Fredo. Er fing an, dämliches Zeug zu reden und mich zu betatschen. Ich dachte, Fredo müsste jeden Augenblick zurück sein vom Klo, und der Anblick wird ihn vielleicht ernüchtern, aber der kam und kam nicht. Erst als ich den Kerl mitten auf der Tanzfläche stehenließ, da tauchte er plötzlich auf. Mit zwei Martini in der Hand! Was Besseres war ihm nicht eingefallen. Da war bei mir endgültig Feierabend. Ich habe ihm den Spießer mit der Zitronenscheibe und der klebrigen Kirsche ins Hemd gesteckt, meinen Beutel vom Haken genommen und bin raus. Draußen habe ich die Jacke angezogen, und die flachen Schuhe natürlich."
"Und dann sind Sie losgefahren? Trugen Sie keinen Helm?"
"Den hatte ich hinten drauf. Nach der Räucherei im Saal brauchte ich frische Luft. Soll ich jetzt etwa zehn Mark Strafe zahlen?" Sie guckte herausfordernd.
Jarosch winkte ab. "Ich versuche, mir ein Bild von der Situation zu machen", sagte er ruhig. "Haben Sie jemanden bemerkt, der in der Zeit zwischen Ihrem Gespräch mit Fredo und Ihrem zweiten Aufbruch die Gaststätte verlassen hat?"
"Das sieht man vom Saal aus nicht. Mir ist keiner aufgefallen."
"Und der Angetrunkene, der mit Ihnen getanzt hat? Wo ist der geblieben?"
"Da, wo alle Männer bleiben, die sich trösten wollen: an der Theke. Nehme ich jedenfalls an." Ihr Ton war zunehmend unfreundlicher geworden. "Der war es auch nicht. Das müssen Sie mir schon glauben. Der Kerl auf dem Acker roch nicht nach Alkohol. Nach Zigaretten, das ja. Und nach Schweiß und..." Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. "Ich will nicht mehr daran denken!", sagte sie heftig. "Auf diese Weise finden Sie den nie. Ich hätte mir den Weg sparen können."
Jarosch zögerte einen Augenblick, bevor er seine massige Gestalt vom Stuhl hievte und um den Schreibtisch herumging. Isa Matuschek hielt ihre Fingerspitzen an die rechte Wange gepresst, genau da, wo das Hämatom bereits einen gelben Rand zeigte. Er blieb dicht neben ihr stehen, unterließ es jedoch, sie in irgendeiner Weise zu berühren.
"Wir werden ihn fassen", versprach er. Und ein Versprechen hatte er noch niemals leichtfertig abgegeben. "Es war Ihre Pflicht, diese Anzeige zu erstatten."
Sie blickte voll ungewisser Erwartung zu ihm auf. "Aber ich muss ihn identifizieren. Ja?"
Jarosch nickte.
"Und dann erfährt es meine Mutter doch! Sie kennen sie nicht. Die ist schon verrückt genug, weil Fredo die ganze Nacht bei mir verbracht hat."
Erstaunt hob Jarosch die Augenbrauen. "In welcher Nacht war Fredo bei Ihnen?"
"Von Sonnabend zu Sonntag. Ich war vielleicht zwanzig Minuten im Bett, nach dem Duschen, da schmiss er Steinchen an mein Fenster. Ich habe mich fast zu Tode erschreckt."
Gemessenen Schritts begab Jarosch sich zurück hinter seinen monströsen Schreibtisch und ließ sich wieder auf den Stuhl nieder.
"Fredo hat nichts damit zu tun!", erklärte Isa Matuschek. "Der dachte erst, ich spinne, als ich ihm erzählt habe, was mir seinetwegen passiert ist. Und dann wollte er los und den Kerl umbringen. Ich konnte ihn nur mit Mühe zurückhalten. Er war inzwischen fast nüchtern nach dem langen Weg, vielleicht auch von dem Schock, den ihm die Geschichte verpasst hat. Er hat gleich gesagt, ich muss zur Polizei gehen. Aber nicht mehr in dieser Nacht. Danach war mir nicht."
"Wenn Fredo Ihnen auf demselben Weg gefolgt ist - hat er da nicht Ihren Roller bemerkt?"
Sie sah ihn verständnislos an. "Denken Sie, den habe ich im Graben liegenlassen? Das war das einzige, woran ich mich festhalten konnte in meinem Zustand. Fahren konnte ich nicht. Der Zündschlüssel war ja weg. Und auf Latschen stand er auch fast. Das habe ich beim Schieben gemerkt."
Jaroschs Vorstellungsvermögen reichte aus, um zu ermessen, was für eine Tortur der Heimweg für die junge Frau gewesen sein musste. "Wir schreiben den Rest jetzt mal genau auf", sagte er zurückhaltend. "Und dann fahren wir gemeinsam zu der Stelle, wo sich der Überfall zugetragen hat."
Isa Matuschek riss ihre Augen unnatürlich weit auf und sagte entsetzt: "Ich dachte, ich bin jetzt fertig!"
Jarosch kratzte sich sorgenvoll über dem Ohr. "Eine ärztliche Untersuchung wird sich nicht umgehen lassen..."
"Was sollen denn die jetzt noch feststellen!", fuhr die junge Frau ihn an.
"Wenigstens mit einem Psychologen sollten Sie sprechen. Die können aus dem, was vorgefallen ist, bestimmte Schlüsse auf den Typ des Täters ziehen."
"Es war ein absolut widerlicher Typ", sagte Isa Matuschek abweisend. "Das ist alles, was ich denen sagen kann."
Die Kerchower Schule bestand aus zwei schmucklosen, durch einen verglasten Gang miteinander verbundenen Plattenbauten. Swetlana Schildhauer empfand die nach Süden gewandte Fensterfront als den besten Einfall des Architekten, besonders an einem Nachmittag wie diesem, an dem die Maisonne endlich einmal über den Pappeln vor dem Schulgelände schimmerte. Von ihrem einsamen Platz an der Stirnseite des langen Tischs im Lehrerzimmer blickte sie sehnsüchtig durch die offene Tür bis hinüber zum Wartehäuschen, wo der Bus mit den Kindern gerade abgefahren war.
Swetlana liebte die Sonne. Daran vermochten Meldungen über die Gefährlichkeit des Ozonlochs und die Zunahme von Hautkrebs unter Sonneneinstrahlung nichts zu ändern. Nach sieben Stunden Schulmief sehnte sie sich nach der frischen Luft auf ihrer Terrasse. Die Schule war noch nicht alt und roch dennoch wie alle Schulen riechen: nach Bohnerwachs und feuchter Kreide, Schulspeisung und Staub. Ein Geruch, an den Swetlana seit ihrem siebenten Lebensjahr gewöhnt war und den sie sonst kaum wahrnahm. Seit dreißig Jahren, dachte sie. Weshalb fiel er ihr heute auf? Weil draußen endlich der Frühling in der Luft lag?
Im linken Gebäudeteil lärmten die Hortkinder. Ein Nachzügler aus der Oberstufe tappte den Flur entlang, musterte sie erstaunt durch die offen stehende Tür und hielt es nicht für nötig zu grüßen.
Sie nahm ein Heft von dem vor ihr liegenden Stapel, schlug es auf. Die Buchstaben strebten in alle Richtungen auseinander. Was sie las, verriet ihr, dass es von einem ihrer Sorgenkinder stammen musste: Lars oder Nicole oder Silvio. Die Kaze hat junge gekrikt es wahren Fümf vir hat papa toht-gemagd...
Silvio Ney stand auf dem Umschlag, der spurengezeichnet war wie eine zu lange benutzte Tischdecke. Für einen Augenblick sah sie die hellgrauen Augen des Jungen auf sich gerichtet. Ohne sichtbare Gefühlsregung würde er ihre Kritik hinnehmen, sich höchstens drohend nach einem allzu lauten Lacher in der Klasse umdrehen. Was sollte aus ihm werden? Mit der Mutter, einer drallen, ein wenig schielenden, aber nicht einmal hässlichen Frau, hatte sie zwei Gespräche geführt. Es mangelte ihr nicht an Willen, wohl aber an den Fähigkeiten, Silvios Leistungen zu beeinflussen. Sie arbeitete als Köchin in dem Ferienheim, in dem ihr Mann Hausmeister war. Rede mal mit dem, hatte Hannelore Griebenow ihr geraten. Swetlana hatte darauf verzichtet. Sie kannte Reinhold Ney bereits durch Hannelores Vermittlung. Der hatte er eine Bauerntruhe zum Kauf angeboten. Swetlana war mit ihr nach Hahnshof hinausgefahren, um das eichene Ungetüm in Augenschein zu nehmen. Ein prächtiges Geburtstagsgeschenk für Arne, wenn auch ein bisschen gewaltig für ihr Wohnzimmer.
Der Hausmeister Reinhold Ney, ein schmalschultriger, kräftiger Mann mit hoher Stirn, die blonden Haare über die Kopfblöße zur Seite gekämmt, schien sich in seinem Reich wohl zu fühlen, einer Mischung aus Werkstatt, Garage und Trödellager. Zäh handelte er um den Preis der Truhe und bot ihnen noch etliche andere Gegenstände an.
Swetlana gefiel sein Blick nicht. Sie zahlte schließlich hundert Mark mehr, als sie sich als Höchstgrenze gesetzt hatte, und schaute ihm ungeduldig zu, wie er den Deckel demontierte, damit die Truhe in ihren Trabant passte.
Arne hatte sich sehr gefreut über das Prachtstück und sich nicht einmal nach der Herkunft erkundigt. Aber irgendwann im Winter war Ney plötzlich bei ihnen in Kerchow aufgetaucht. Er musste schon eine Weile im Flur mit Arne verhandelt haben, bevor sie seine Anwesenheit überhaupt bemerkte. Er bot einen kompletten bäuerlichen Türstock an, mit gut erhaltener Schnitzerei. Arne lehnte schroff ab. Sie hatte dazu geschwiegen. Sie wusste, wie schwierig es war, Arne umzustimmen, wenn es ums Geldausgeben ging.
Mit solchen Leuten macht man keine Geschäfte, hatte er gesagt, als Ney verschwunden war. Der hatte anscheinend gleichmütig auf die Absage reagiert. Nur der Blick aus seinen grauen Augen war wieder unangenehm gewesen.
Die gleichen Augen wie Silvio?
Da schien ihr Vorsicht geboten. Gleich nach der Übernahme der Klasse war sie tief ins Fettnäpfchen getreten, als sie den Vater von Lars Pritzlaff gewissermaßen ermunternd auf die Ähnlichkeit des Sohns mit ihm hingewiesen und gemeint hatte, dass die sich irgendwo doch auch in den intellektuellen Fähigkeiten zeigen müsste. Pritzlaff hatte ihr geduldig und, wie sie hoffte, einsichtig zugehört, ein schwaches Lächeln um den Mund. Mal sehen, was sich machen lässt, hatte er schließlich gesagt - wenn ich auch nicht Lars' leiblicher Vater bin...
Nein, Swetlana verspürte wenig Lust zu einem Gespräch mit dem Mann, der den Wurf Katzen auf die in Kerchow übliche Weise beseitigt hatte. Sie schloss das Heft und schob den ganzen Stapel ein Stück von sich. Während sie sich eine Zigarette anzündete, merkte sie wieder einmal, wie stark der Gestank von Ulbergs Pfeifentabak in dem Raum vorherrschte. Gegen die Gewohnheit des Zeichenlehrers kämpfte das Kollegium seit Jahren vergeblich. Kein Wunder, wo auch der Direktor in stillen Stunden an so einem übel riechenden Knösel zutschte. Davon wusste Swetlana ein Lied zu singen. Sie war schließlich mit ihm verheiratet, und das seit fünfzehn Jahren. An einem Tag wie heute erschien es ihr, als bedeute das: schon immer.
Wieder tappten Schritte auf dem Linoleum, leichtfüßig und ohne Eile. Swetlana wartete, wer von den Großen da wohl auftauchen würde. Wie lange blieb der neben der Tür stehen? Dort hing keine Wandzeitung.
Gerade wollte sie zu einem scharfen: Was soll der Unsinn? ansetzen, da tauchte im Türausschnitt, kaum einen Meter über dem Boden ein Gesicht mit einem Bärtchen auf. Unwillkürlich musste Swetlana lachen.
"Was hätten sie getan, wenn Ulberg hier gesessen hätte? Oder mein Mann?"
Carsten Ederlein, von den Kerchower Schülern "Federbein" getauft, richtete sich auf und griente. Er wusste nur zu genau, wie gut ihm das stand.
"Oder Frau Rosner. Na so ein Schreck!", spöttelte er. Elfriede Rosner war die älteste und verdienstvollste der Kerchower Pädagogen, stellvertretende Direktorin, DFD-Vorsitzende und Vertrauensfrau der Gewerkschaftsgruppe. Keiner hätte gewagt, sie nicht zu wählen.
"Ulberg ist dienstags nur zwei Stunden anwesend." Ederlein blickte finster und zog die Mundwinkel herunter, als schmauche er eine Pfeife. "Und der Herr Direktor ist mit wehenden Rockschößen zur Konferenz in die Hauptstadt abgeflogen..."
Deswegen saß sie jetzt hier und nicht zu Hause auf der Terrasse. Jemand musste da sein, falls das Telefon klingelte. Wenigstens bis fünfzehn Uhr. Bevor Arne eine der Kolleginnen darum bat, sprach er lieber gleich mit ihr. Auf sie wartete niemand. Nicht einmal eine hilfsbedürftige Mutter wie auf Hannelore Griebenow.
"Also hatten Sie es auf mich abgesehen", stellte Swetlana amüsiert fest.
"Ich wollte lediglich ergründen, wer hier im Dienst die Frühlingssonne genießt." Er lächelte, setzte sich nahe zu ihrer Linken auf einen Stuhl und betrachtete sie ungeniert. "Wie könnte ich es denn auf Sie abgesehen haben", sagte er mit gespielter Melancholie. "Ausgerechnet auf die Frau Direktor..." Seine Augen funkelten.
"Noch dazu, wo Sie im Vogtländischen so gut wie verheiratet sind."
Ederlein zog einen Flunsch. "Das dürften Sie gar nicht wissen. Ich habe es dem Herrn Direktor vertraulich mitgeteilt."
Er meinte das nicht ernst. Swetlana fühlte sich dennoch verpflichtet, Arne zu verteidigen. "Wenn ich mich recht erinnere, sprach nicht mein Mann, sondern Hannelore Griebenow davon."
"Das ist eine dumme Gans!", entfuhr es Ederlein. Er sah sie aus seinen samtbraunen Augen an. "Entschuldigen Sie. Mit irgendwem muss man ja mal reden. Schließlich wollen auch die Kolleginnen Gesprächsstoff haben, nicht?"