Dare to hope - Stefanie Scholtysek - E-Book

Dare to hope E-Book

Stefanie Scholtysek

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Beschreibung

Dare To Hope - Die zwei Leben des Gabriel Evans erzählt die Geschichte von einem jungen Mann, der ein Leben im Schatten seiner düsteren Vergangenheit führt. Gabriel und Jenna nehmen uns mit auf eine Reise voller Geheimnisse und zeigen uns dabei, wie wichtig es ist, die Hoffnung und den Glauben auf eine zweite Chance niemals zu verlieren.

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Seitenzahl: 730

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Für Oma Christine

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

14 Monate zuvor

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1. Advent

Kapitel 26

2. Advent

Kapitel 27

3. Advent

Kapitel 28

Kapitel 29

4. Advent

Kapitel 30

Weihnachten

Kapitel 31

Silvester

Kapitel 32

Neujahr

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 1

Mornington Crecent, 02:30 Uhr

Garett gab sein bestes sich nicht von dem stetigen Klopfen seiner Schwester gegen das Lenkrad ihres Wagens in den Wahnsinn treiben zu lassen. Sie war wütend, das wusste er. Nicht nur durch das aggressive Klopfen, welches in keiner Weise zu dem Rhythmus des Studio 54 Remix im Radio passte, welche gerne nach Mitternacht gespielt wurden, wenn keiner zuhörte. Ihr Gesicht war angespannt.

Ihre Körperhaltung steif, obwohl sie sich bereits in den Autositz ihres Wagens sinken gelassen hatte.

„Du kannst mich an der Ecke dort vorne herauslassen“, brach Garett sein Schweigen.

„Vergiss es, ich werde dich bis vor die Tür bringen. Wenn nicht sogar bis in dein Bett, damit ich sicher gehen muss, dass du nicht wieder durch die Nacht spazierst.“

„Ich bin kein kleines Kind mehr, Denise.“

„Wirklich nicht? Dafür benimmst du dich aber wie eins.

Ich kann nicht glauben, dass du so etwas tust, Gary. Das ist…mir fehlen wirklich die Worte.“

„Du verstehst es nicht.“

„Ich? Ich verstehe es nicht? Oh, dann bitte erklär mir doch, kleiner Bruder was es daran zu verstehen gibt! Ich weiß, dass diese Zeiten…“ Mit einem spöttischen Lachen schüttelte Gary seinen Kopf. Trotz ihres Gestammels hatte Denise den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Diese Zeiten, ja? Dann fühl dich doch frei mir zu erklären was für Zeiten das sind.“

Denise hielt an der nächsten roten Ampel und sah nachdenklich zu ihm herüber. Es war das erste Mal seitdem sie das Revier verlassen hatten, dass sie ihn gezielt anschaute.

„Ich weiß, dass es für dich nicht gerade rosig aussieht und ich verstehe, dass du dich verloren fühlst, Gary. Aber jeden Abend in Gefahr zu bringen nur um das Gefühl zu haben gebraucht zu werden ist nicht der richtige Weg. Du bist seit drei Monaten wieder da. Stände kein Bett in deiner Wohnung und eine halbwegs vernünftige Küche könnte man sie noch immer mit dem reinsten Rohbau vergleichen. Mum und Dad…“

„Bitte erspar mir das. Mum und Dad haben nichts getan und das weißt du.“

Die Ampel vor ihnen sprang auf grün um und Denise fuhr los. Garys Blick wanderte durch die schwach beleuchteten Straßen Camdens. Bei diesem Anblick war es kaum zu glauben, dass es hier auch einmal still sein konnte in Anbetracht das Getümmel an Touristen am Tag.

„Wenn du nicht willst, dass ich mich wieder von Bier und Toast mit Organgenmarmelade ernähre, dann lass mich hier raus. Ich muss einkaufen.“

„Ich bin erstaunt, dass du überhaupt etwas im Kühlschrank hast, aber ja lass uns einkaufen gehen um viertel vor Drei nachts.“

„Du musst nicht mitkommen.“

„Doch, das muss ich“, murmelte sie als sie den Blinker setzte und ihren Wagen in der nächsten Seitenstraße parkte.

Gemeinsam betraten die beiden den 24 Stunden lang geöffneten Laden. Gary griff nach einem der kleinen Körbe und warf die ersten Sachen hinein. Milch, Cornflakes, Cola.

„Geht es auch etwas gesünder?“, seufzte Denise und verdrehte ihre Augen. Gary lies ihre Frage unkommentiert, was sie jedoch nicht daran hinderte den beinahe ganzen Einkauf über hinter ihm her zu trotten und ihm letzten Endes selbst halbwegs gesunde Sachen in den Korb zu werfen. An der Kasse angekommen scannte der junge Mann Artikel für Artikel, als ob er alle Zeit der Welt hätte.

Genervt trat Denise von einem Fuß auf den anderen. Warf immer wieder und wieder einen Blick auf die Uhr und staunte, dass es bereits halb vier war. So hatte sie sich ihren freien Tag eigentlich nicht vorgestellt und hätte sie nicht die Möglichkeit morgen oder heute, wie man es auch nimmt ausschlafen zu können, dann hätte sie ihren Bruder schon längst ohne Wenn und Aber nach Hause gebracht, auch wenn es bedeutete, dass sein Frühstück aus Bier und halb vertrocknetem Toast mit Organgenmarmelade bestehen würde. Dass es jedoch so weit niemals kommen würde, wusste Denise nicht. Dass sie zwar einschlafen, aber niemals aufwachen würde als die Glocke über der Eingangstür des Ladens klingelte und ein maskierter Mann zu ihnen an die Kasse stürmte.

„Hände hoch!“, brüllte er. Instinktiv taten die Drei was er sagte.

„Pack das Geld in eine Tüte und her damit“, wies er den Kassierer an, der mit zittrigen Händen die wenigen Scheine aus der Kasse herauszog und diese in eine grüne Plastiktüte steckte. Garys Blick wanderte langsam zu Denise herüber, die bereits zu ahnen schien, was er vorhatte und lediglich ihren Kopf schüttelte.

„Hören Sie, Sie müssen das nicht tun. Drehen Sie sich einfach um und…“ Vorsichtig trat Denise einen Schritt vor. Die Hände noch immer erhoben als ihre Jacke ein Stück zur Seite rutschte und ihre Dienstwaffe entblößte. Und dann fiel der Schuss.

***

Mit zittrigen Fingern fischte Gary die halb leere Packung Zigaretten aus der Innentasche seines Jacketts heraus.

Eine normale zwanziger Packung Marlboro, welche innerhalb der letzten Stunde auf dem Weg zum Friedhof bereits halb leer geraucht war. Vielleicht hätte er das Bier zum Frühstück weglassen sollen, denn sobald seine Lippen nur einen Tropfen Alkohol berührten, schien sein Suchtdrang nach Nikotin noch größer zu werden als er schon teilweise war. Der Regen half ihm nicht gerade dabei die Zigarette zwischen seinen Lippen mit der schwachen Flamme des billigen Feuerzeugs anzuzünden.

„Du bist der einzige Engländer, den ich kenne, der sich diese Touristen Feuerzeuge holt“, ertönte eine Stimme neben ihn. Bevor er reagieren konnte, schob sich ein weiteres Feuerzeug in sein Sichtfeld. Überrascht sah er zu der Frau herüber. Gabriella Pérez, Denise ehemalige Partnerin und in gewissermaßen Garys kleiner Launen Sack.

Zu mindestens hatte er sie so seid ihrer ersten Begegnung genannt. Er kannte niemanden, der seine Stimmungen so schnell wechseln konnte wie Gabriella. Ihre langen braunen Haare waren zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug kaum Make-Up. Warum auch?

Warum machten Frauen sich überhaupt die Mühe sich für eine Beerdigung so zu schminken, als ob sie mit ihren Freundinnen zum Brunch verabredet waren?

„Du siehst grauenhaft aus, Gary.“

„Danke, es ist auch schön dich wiederzusehen“, hustete er und fuhr sich mit einer Hand über seine dichten Locken.

Gabriella schüttelte ihren Kopf und trat mit ihrem Regenschirm ein wenig näher an ihn heran, damit er nicht allzu sehr im Regen stand. Ihr Blick folgt seinem und schweifte durch die sich kleinen gebildeten Gruppen vor der Kirche.

„Hätte nicht gedacht, dass so viele Leute kommen.“

„Naja du kennst meine Eltern. Je mehr Leute, desto besser. Als ob wir hier auf eine ihrer versnobten Veranstaltungen sind. Ich habe schon mindestens drei Leute gesehen, die sich ihre Visitenkarten zugesteckt haben.“

„Nun das Geschäft schläft anscheinend nie, hm? Apropos wo sind deine Eltern?“

„Keine Ahnung, ich habe seitdem nicht mit ihnen geredet.“

Stumm nickte Gabriella ihm zu als zwei Kollegen des Polizeipräsidiums sich zu ihnen gesellten. Sie kondolierten und schüttelten Gary die Hand, der ihnen nur stumm zu nickte, ehe sie sich aus dem Regen in die Kirche zurückzogen.

„Da sind sie“, sagte Gabriella.

Gary schnalzte mit der Zunge. Warf seine Zigarette auf den Boden und drückte sie mit der Spitze seiner bereits ausgelaufenen Boots aus.

„Immerhin haben sie sich für die kleine Limousine entschieden, großartig.“

Seine Hand wanderte erneut zu der Innentasche seines Jacketts und als ob Gabriella es bereits geahnt hatte, kam sie ihm zuvor. Mit einem Ruck riss sie ihm den Flachmann aus der Hand und versteckte ihn in der Tasche ihres Mantels.

„Gib das her“, zischte er.

„Vergiss es. Ist das dein Ernst, Gary? Verdammt, ich weiß, dass es dir nicht gut geht, wenn nicht sogar miserabel, aber das ist ihre Beerdigung. Meinst du wirklich Denise würde das wollen, hm? Dich betrunken auf ihrer Beisetzung? Eine wandelnde Zeitbombe auf zwei Beinen, die jeden Moment hochgehen könnte. Reiß dich zusammen, wenn nicht für dich selbst, dann für sie!“

Es war Gary schon immer egal gewesen, was die Leute von ihm dachten. In der Schule, im Freundes- oder Familienkreis. Er war schon immer sein eigener Herr und entweder kamen die Leute damit klar oder nicht. Doch das war in seinen Augen nicht sein Problem. Gabriella begrüßte mit ihm gemeinsam noch weitere Gäste als sie sich auf ihren Absatz umdrehte und ebenfalls in die Kirche verschwand.

„Großartig“, murmelte Gary und zog eine weitere Zigarette aus der Packung.

Richard und Judy Rutherford galt als das mächtigste Paar in der Londoner Immobilien-Branche. Wenn nicht sogar in großen Teilen Europas. Mit ihrem Hauptsitz in der englischen Hauptstadt und unzähligen Besitztümern auf der ganzen Welt verteilt, spielten sie in der ganz großen Liga mit. Zwei mehr als vornehmende Leute, die viel Wert auf die britische Etikette legten. Der traditionelle Fascinator bedeckte heute einen Großteil von Judy Rutherfords Gesicht, während ihr Mann Richard lediglich eine schwarze Sonnenbrille trug. Viel weniger wegen des Wetters, welches nicht weiter entfernt sein konnte vom Nötigen Tragen einer Sonnenbrille und auch nicht um die angeblich rotgeweinten Augen zu verstecken. Gary wusste wie wichtig ihnen das Image war. Eine Farse, welche lediglich den Anschein machen sollte, wie sehr die beiden unter dem Verlust ihrer Tochter litten in Garys Augen. Auf dem Weg zu ihm herüber, begrüßten sie eine Gruppe von Menschen. Stets an ihrer Seite: Jonathan Rutherford. Mit seinen gerade mal 24 Jahren Garys jüngster Bruder, welcher jedoch jetzt schon einen viel zu großen Teil des Egos ihres Vaters besaß.

„Garett, Liebling“, begrüßte seine Mutter ihn mit einem kleinen Lächeln und drückte ihre Lippen auf seine Wange.

„Mutter“, erwiderte Gary kalt und sah zu den beiden Männern herüber.

„Vater, Jonathan.“

„Ich hätte es bevorzugt dich unter anderen Umständen wiederzusehen, Garett und vielleicht auch in passender Kleidung. Dir ist das vielleicht nicht bewusst, aber du repräsentierst heute unsere Familie“, stieß sein Vater unter zusammen gepressten Lippen hervor.

„Ich habe einen Anzug an.“

„Du siehst aus, als ob dich ein Auto die letzten Straßen hier her geschleift hätte, Bruder. Was sollen die Leute denken?“

„Was die Leute denken sollen? Hörst du dir eigentlich jemals selbst zu? Das ist eine verdammte Beerdigung! Keiner verlangt, dass ich wie der letzte Lackaffe aussehe und all diese fremden Leute, die ihr anscheinend als eure engsten Freunde oder Geschäftspartner bezeichnet mit einem strahlenden Lächeln begrüße. Im Gegensatz zu euch zeige ich wie es mir geht! Denise…Denise war…“, Gary ließ seinen Satz in der Luft hängen und schüttelte mit einem spöttischen Lachen seinen Kopf.

„Wisst ihr was? Vergisst es. Bringen wir es hinter uns, okay.“

„Dann benimm dich gefälligst, Garett. Nur einmal in deinem Leben. Du und ich, wir haben einen Deal, wenn du dich erinnerst.“

„Wie könnte ich das jemals vergessen.“

Gary entriss Richard seinen Arm, stellte sich genau wie Jonathan an die Seite seiner Familie und betrat gemeinsam mit ihnen die Kirche.

Die Vier gingen zum Altar herüber, neben welchem der Sarg erstaunlicherweise noch immer geöffnet war. Während Richard, Judy und Jonathan die zwei Stufen zum Sarg ihrer Tochter hinaufgingen, blieb Gary für einen Moment stehen. Er schloss seine Augen und atmete einige Male tief durch, ehe auch er einen letzten Blick auf seine Schwester wagte. Direkt in der ersten Reihe neben ihren Plätzen saß ein kleiner Teil des Polizeipräsidiums. Er konnte Denise ehemaligen Vorgesetzen erkennen und Gabriella. Beinahe alle von ihnen trugen ihre Uniform.

Ihre Körperhaltung stramm, wenn nicht schon sogar steif, während ihr Blick auf den Sarg gerichtet war. Gabriellas Blick traf seinen und Gary sah wie viel Kraft es sie kostete ihre Gefühle in Zaum zu halten. Nachdem seine Eltern und Jonathan vom Sarg zurückgetreten waren und in der ersten Reihe Platz nahmen, trat nun Gary an den Sarg heran. Es war das dritte Mal, dass er sie sah. Friedlich schlafend und ein wenig blass. Denise trug ihre Uniform und für einen Moment kam es Gary erst, wie gestern vor, dass Sie ihren Abschluss von der Polizeischule gefeiert hatte. Er spürte wie seine Hände erneut anfingen zu zittern als er in seine Manteltasche griff und ein kleines in die Jahre gekommene Spielzeugauto herauszog. Aus Angst, dass jemand das Spielzeug aus ihrem Sarg entfernen würde, hatte Gary beschlossen sein letztes Geschenk an sie ihr erst heute mitzugeben. Denise war knappe vier Jahre älter als er. Das Auto, welches sogar noch ein Polizeiauto war, hatte sie ihm geschenkt als er acht war. Seit er denken konnte wollte sie schon immer zur Polizei gehen. Natürlich waren ihre Eltern nicht gerade begeistert über den Berufswunsch ihrer Tochter gewesen. Hatten immer wieder gehofft, dass es nur eine Phase war und dass sie einen für eine Frau angemessenen Beruf erlernen und letzten Endes für das Familienunternehmen arbeiten würde. Das hatten sie von allen ihren Kindern erwartet, doch letzten Endes war Jonathan der Einzige, der sich dafür entschieden hatte.

Seine Lippen fingen an zu beben als er vorsichtig seine Hand hob und das Spielzeugauto zwischen ihre zusammengefalteten Hände schob, ehe auch er vom Sarg zurücktrat und ohne ein weiteres Wort seinen Platz neben seiner Mutter einnahm.

Es war eine schöne Messe gewesen. Die Worte des Pastors hätten nichtzutreffender sein können und zu Garys Überraschung schienen seine Worte zu mindestens seine Mutter nicht kalt zu lassen. Immer wieder tupfte sie sich mit ihrem Taschentuche über ihre rotgeweinten Augen. Der Chief Superintendent des New Scotland Yards war nach vorne getreten und hatte per Funk das offiziellen Dienstende von Detective Inspector Denise Rutherford bekannt gegeben, während ihre Kollegen und Kolleginnen ihr salutierten. Somit wurde der Sarg nach den letzten Worten des Priesters geschlossen und von den Grab Trägern aus der Kirche zum Friedhof gebracht. Die Trauergäste folgten ihnen und versammelten sich einige Minuten später an ihrem Grab. Der Geistige sprach das letzte Gebet, der Sarg wurde heruntergelassen und in diesem Moment schienen auch Garys Kräfte ihn vollkommen zu verlassen.

Erneut ließ er seinen Tränen freien Lauf. Murmelte immer wieder für sich selbst wie leid es ihm tat und trat schließlich nach seinem Vater, seiner Mutter und seinem Bruder ans Grab. Gary warf eine einzelne weiße Rose hinein, ehe er nach dem Spaten griff und auch etwas Erde ins Grab warf.

Gabriella war die Erste, die zu ihm herüberkam und ihre Arme um seinen Hals schlang. Ihre Augen ebenfalls rotgeweint, denn genau wie ein großer Teil ihrer Kollegen konnte sie ihre Gefühle nicht mehr länger zurückhalten.

„Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid“, schluchzte Gary immer wieder. Gabriella hingegen schüttelte nur ihren Kopf, strich ihm über sein zerzaustes Haar und sah ihn an.

„Das ist nicht deine Schuld, hörst du? Du bist nicht schuld an ihrem Tod, Gary“, flüsterte sie als sie ihm seine Tränen wegwischte und schließlich seinen Flachmann aus der Tasche ihres Mantels herauszog und ihm diesen in die Hand drückte.

***

Es war kurz nach halb zwölf abends als Gary die Treppen zu seiner Wohnung hinauf stolperte und die Tür öffnete.

Die letzten zwei Biere, welche ihm der Barkeeper noch eingeschenkt hatte, bevor er ihn schließlich nach Hause schickte, um auch rechtzeitig in den Feierabend zu gehen, schienen doch zu viel gewesen zu sein. Gary rülpste laut auf und taumelte in seine provisorische Küche, wo er den Kühlschrank öffnete und sich ein weiteres Bier herauszog.

Er griff nach seinem Feuerzeug und benutzte dieses als Ersatz für seinen fehlenden Flaschenöffner. Der Lattenrost seines Klappbetts quietschte unter dem Aufprall seines Gewichts und Gary schloss mit einem erschöpften stöhnen einen Moment seine Augen. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Eine ewiglange Fahrt, welche einfach nicht aufhören wollte. Aus Angst sich übergeben zu müssen, lies Gary seine Augen einfach geschlossen und sank irgendwann in den Schlaf.

Als er das nächste Mal seine Augen öffnete war es noch immer dunkel. Der Schwindel hatte zwar aufgehört, doch dafür brummte ihm nun der Schädel. Trotz alledem griff Gary erneut nach seinem Bier und beschloss seinen Kater einfach mit einem Konterbier ein wenig nach hinten zu schieben. Er brauchte knapp fünf Anläufe bis er es schaffte sich von der alten Matratze zu erheben und seinen schmerzenden Rücken durchzustrecken. Sein Blick wanderte durch seine Wohnung, welche lediglich von dem kleinen Licht in der Küche etwas erhellt wurde. Seine Finger fingen erneut an zu zittern als er den Knoten seines Schlipps öffnete und ihn gemeinsam mit seinem Jackett auf den Boden warf. Das war es also. Er hatte den Tag halbwegs vernünftig überstanden. Sich nicht danebenbenommen oder Denise Beerdigung ruiniert in dem er einen weiteren Streit mit seiner Familie angefangen hatte. Während seine Eltern und sein Bruder sich nach der Beisetzung mit einigen Gästen auf den Weg zu einem gemieteten Saal gemacht hatten, um wohlmöglich noch ein Profit mit ihrer Trauer herauszuschlagen, hatte Gary sich in seinen Stamm Pub zurückgezogen. Seinen Kummer in Scotch und Bier ertränkt, ehe es ihn wenn auch etwas widerwillig nach Hause verschlagen hatte.

„Was für eine Bruchbude“, murmelte er und schoss eine leere Dose zur Seite. Sein Blick blieb, an den noch immer nicht ausgepackten Kisten hängen. Seit drei Monaten war er wieder da und hatte praktisch nichts zu Stande gebracht. Nichts Vernünftiges. Denise hatte Recht. Er befand sich auf einer stetigen Achterbahn welche ihn jeden Tag durch seine Einsamkeit, Verzweiflung, seinen Leichtsinn und seine Wut führte. Er war wütend. Auf alles und jeden, doch zum größten Teil auf sich selbst. Gary leerte das Bier in wenigen Zügen und bückte sich nach seinem Jackett, wo er eine der letzten drei verbliebenen Zigaretten herauszog. Die leere Flasche benutzte er nun als Aschenbecher und stellte sie neben den Umzugskisten auf den Boden hin.

„Dann schauen wir mal“, murmelte er und riss mit einer Bewegung die oberste Kiste auf.

Klamotten. Ein Haufen Klamotten, welche nicht mehr allzu frisch rochen. Dazwischen ein Paar alter Sneakers und viel Kleinkram. Stifte, Blöcke. CDs und Schallplatten, welche er in das eingebaute Wandregal stellte. Seine Wäsche schmiss er einfach in die Badewanne. Drückte die Hälfte seines Duschgels drüber und ließ das Wasser laufen. Da er noch keine Waschmaschine hatte, müsste das fürs erste genügen. Ansonsten würde er sie morgen einfach in den nächsten Waschsalon bringen. Er besaß nicht viele Sachen. Da sein unfreiwilliger Auszug schnell gehen musste, hatte er vorerst das nötigste in die Kisten geworfen und einen großen umgedeuteten Teil einfach zurückgelassen. Die Kisten hatte er in einem gemieteten Lagerraum verstaut, bis er sich sicher war, wo seine Reise hingehen würde. Die dritte Kiste enthielt neben seiner Konsole und einigen Spielen jedoch einige persönliche Dinge.

Alte Notizbücher. Briefe und Postkarten und zu guter Letzt: Bilder. Er war nie sentimental gewesen, doch für ihn gab es ungefähr eine Handvoll Erinnerungen, welche er nie wegwerfen könnte. Seine Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln als er das erste Bild sah. Der Rahmen war ein wenig eingestaubt, doch das tat nichts zu Sache, es war heile. Auf dem Foto waren Denise und er zu sehen. Es war ihre Abschlusszeremonie gewesen. Der Tag, an dem sie ihre Marke bekam und offiziell Polizistin wurde. Dazu war sie noch die beste ihres Jahrgangs. Wie zu erwarten war er damals als einziger aus seiner Familie zur Feier eingereist, obwohl er derjenige war, der auf einem anderen Kontinent lebte und nicht gerade mal wie seine Eltern eine Stunde entfernt war. Gary spürte wie das Bild ihm erneut die Tränen in die Augen schießen lies und es nicht lange dauerte, bis diese stumm über seine Wange liefen. Das nächste Foto, welches er herauszog, drehte den Spieß jedoch um. Diesmal war er derjenige, der etwas zu feiern hatte: Seinen Abschluss. Wie zu erwarten waren Denise und er auch hier die einzigen auf dem Bild. Denn auch sein Berufswunsch wurde von seinen Eltern früh boykottiert. Eigentlich war es zu erwarten, dass auch sie es nicht für nötig hielten an seiner Abschlussfeier teilzunehmen. In gewisser weiße gab es schon immer nur Denise und ihn. Sie waren die einzige Familie, die sie brauchten. Unterstützen sich gegenseitig, bauten sich nach jedem Tiefschlag aufs Neue auf und standen jedes noch so bizarre und nervenauftreibende Familienfest gemeinsam durch. Man sagt immer das Blut dicker sei als Wasser oder das Freunde, die Familie sind, die man sich aussucht. Denise und Gary waren jedoch mehr. Mehr als einfach nur eine Familie. Mehr als ihre besten Freunde.

Bis heute hatte er nie wirklich verstanden wie stark das Band zwischen ihnen war, bis es schließlich endgültig gerissen ist. Auf einmal war sie weg. Einfach weg. Aus dem Leben gerissen, ohne sich wirklich verabschieden zu können. Sie war einfach weg und mit ihr war auch ein Teil von Gary gestorben. Ein Teil, von dem er nie wusste, wie groß er war oder dass er überhaupt existierte, bis er letzten Endes nicht mehr da war. Gary spürte wie sein Herz sich immer mehr zusammenzog. Ihm die Kehle zuschnürte und die Luft ihm Stück für Stück entzogen wurde. Er ließ die Bilderrahmen zurück in die Kiste fallen, riss die Tür seines Kühlschranks schon beinahe auf und stürmte die Treppen zu dem eigentlich gedachten Schlafzimmer hinauf. Einer der Gründe, warum er sich für diese Wohnung entschieden hatte, war die private Dachterrasse. Genau wie die Wohnung sah auch die Terrasse mehr als mitgenommen aus. Oben angekommen atmete er sofort die kühle Nachtluft ein. Dabei erschauerte er als er realisierte, wie kalt es tatsächlich war. Es war gerade mal kurz nach vier morgens. Doch nach wenigen Minuten schien ihn die Kälte nicht mehr zu stören. Ganz im Gegenteil, sie hatte sogar etwas vertrautes und irgendwann ließ sie ihn auch nicht mehr erschauern. So nahm er mit seinem Bier auf einem alten umgedrehten Blumentopf Platz. Zündete sich eine weitere Zigarette an und schloss wie zuvor seine Augen.

Es war ruhig. Erstaunlich ruhig und für einen Moment fragte er sich: Fühlt es sich so an tot zu sein? Erging es Denise gerade genauso? Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Tod warm war oder gemütlich. Dass es kein schöner Ort war, aber dass dieser Ort eine gewisse Ruhe mit sich brachte. Wenn der Tod sich so anfühlen sollte, steif, kalt und trotz der Ruhe einsam, dann tat ihm Denise umso mehr leid. Er war hier und sie war es nicht. Und doch waren beide letzten Endes allein.

Kapitel 2

Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die dichten Wolken, welche über London hingen. Für einen Moment schien sich ein guter Tag anzukündigen. Ein sonniger. Doch das Wetter in London war zu wechselhaft, um sich zu früh auf sowas banales wie gutes Wetter zu freuen. Als Gary das nächste Mal seinen Kopf hob, stand er mitten auf der Westminster Bridge. Den Blick geradewegs auf den Big Ben gerichtet. Verwirrt ließ er seinen Blick durch die Gegend schweifen, um wirklich sicherzugehen, dass er tatsächlich so weit gelaufen war. Am anderen Ende der Brücke schien er sein Ziel jedoch erreicht zu haben. Ein kleiner Laden welcher nun endlich zu öffnen schien. Es war mittlerweile viertel nach sechs morgens und Gary sah wie bereits die ersten Leute den kleinen Laden betrat. Wenn auch etwas schleifend machte auch er sich auf den Weg, betrat den Laden und wurde bereits vom Geruch frisch aufgebackener Croissants begrüßt.

Sein Magen knurrte so laut auf, dass er befürchtete die anderen Kunden würden es hören. Gary konnte sich nicht erinnern wann er das letzte Mal etwas gegessen und seinem Körper etwas anderes als Alkohol und Nikotin zugefügt hatte. Die Karte war klein, aber mehr als ausreichend.

Eine junge Frau, welche eine viel zu große Brille trug, begrüßte ihn direkt, kaum war er an die Kasse getreten. Gary bestellte einen extra starken Kaffee im möglichst größten Becher. Dazu ein Croissant, einen Triple Choc Muffin und zog sich aus der Selbstbedienungstheke eine Packung Salt and Vinegar Chips heraus. Die junge Frau, welche laut ihrem Namenschild Mandy hieß, schien schnell zu merken, dass Gary kein allzu besonnener Kunde war und wechselte schließlich nur die nötigsten Worte mit ihm. Sie nannte ihm den Betrag, bedankte sich für das Trinkgeld, welches er gab und wünschte ihm schließlich einen schönen Tag. Vor dem Laden ließ er seinen Blick ein weiteres Mal durch die Gegend schweifen. Er wusste ganz genau, wo er war. Unsicher darüber, ob es von Anfang sein Ziel gewesen war oder seine Gedanken für einen Moment überhand gegriffen und ihm in seinem Unterbewusstsein hergeführt hatte. Seufzend nippte Gary an seinem Kaffee und ging die Straße Victoria Embankment herauf, wo er sich auf eine alte Mauer direkt gegenüber der Metropolitan Police hinsetzte. Den Kopf in seinen steifen Nacken gelegt sah er dem Gebäude hochragend in den Himmel hinauf. Spürte wie die Tränen sich erneut in seinen Augen sammelten. Seine zittrigen Hände griffen nach dem Croissant und er biss ein kleines Stück ab. Ob sein Magen das Essen überhaupt annehmen würde, war in diesem Moment eine ganz andere Frage. Zu seiner Überraschung schien sein Magen sich nach der Hälfte des Croissants nur allzu gerne zu bedanken. Immerhin hatte in den letzten Stunden nichts anderes als Alkohol seinem Körper zugeführt. Umso dankbarer schien er ihm jetzt für das Gebäck.

Immer wieder nippte Gary an seinem Kaffee und spürte an seinen Lippen förmlich, wie er von Minute zu Minute immer mehr abkühlte. Je klarer sein Kopf und somit auch seine Gedanken wurden, erwischte Gary sich selbst dabei, wie er sich nach seinem Flachmann abtastete, um dem Heißgetränk einen kleinen Schuss zu verpassen.

„Hey“, begrüßte ihn eine vertraute Stimme. Bevor Gary wirklich reagieren konnte nahm zu seiner Überraschung Gabriella neben ihm Platz. Ihre Haare waren offen und fielen in leichten Locken über ihre Schulter. Sie trug denselben schwarzen Mantel wie gestern. Mit ihrem MakeUp hatte sie auch heute offensichtlich gespart. Wahrscheinlich für den Fall, dass ihre Gefühle sie bei der Arbeit übermahnen würden und auch sie den Kampf gegen ihre Tränen verlieren würde. So professionell sie auch bei ihrer Arbeit schien, war der Tag für sie nicht leichter als für Gary zu sein.

„Ich hätte nicht gedacht dich hier zu treffen“, fuhr sie trotz seines Schweigens fort. Gary zuckte mit den Schultern.

Riss sich nun ein Stück seines Muffins ab und schob es sich in den Mund, ehe er Gabriella etwas anbot. Dankend schüttelte sie den Kopf.

„Warst du überhaupt zu Hause oder…“

„Ich bin nicht betrunken in einer Gosse eingeschlafen, falls du dir darüber Sorgen machst.“

„Nun deinem Aussehen zu folge scheinst du dich…“

„Hör auf mich zu analysieren“, unterbrach Gary sie forsch. Gabriella zuckte unter seinem lauten Ton zusammen, während er fortfuhr:

„Ich bin keiner deiner Verdächtigen und nur weil Denise nicht mehr da ist, musst du dich jetzt verpflichtet fühlen sich um mich zu kümmern!“

„Muss ich das nicht, ja? Hätte ich es nicht getan, dann wärst du gestern wahrscheinlich Sturz betrunken in die Kirche gegangen. Du hättest dich auf dem Friedhof übergeben oder viel schlimmer eine Schlägerei auf Denise Beerdigung angefangen! Verdammt nochmal, Gary, wird endlich erwachsen. Sie ist nicht mehr da und meinst du mir geht es anders? Sie war meine beste Freundin, meine Partnerin! Auch ich muss damit klarkommen und du warst ihr so wichtig. Weißt du überhaupt nur ansatzweise zu schätzen was sie für dich getan hat?!“

„Natürlich weiß ich das! Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie wegen mir nicht mehr da ist.“

Seine Stimme wurde zum Ende hin immer brüchiger und er presste seine Lippen fest aufeinander, um halbwegs etwas Kontrolle über sich zu haben. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr wie auch Gabriella sich ihre stummen Tränen von der Wange wischte und sich ein wenig aufbürstete um ihr Auftreten als Gesetzhüterin auf der Straße wenigstes ein wenig beizubehalten.

„Geh nach Hause. Ruh dich aus und verarbeite den gestrigen Tag. Wenn du reden willst…“

„Ich komme klar“, unterbrach er sie erneut, sprang von der Mauer herunter und sammelte seine Sachen zusammen, ehe er den Kaffeebecher wütend in die Mülltonne neben sich warf und die Straße hinauf verschwand. Seine Tränen hatten sich mittlerweile ihren Weg nach draußen gebahnt und liefen stumm über Garys Wangen. Wütend wischte er sie sich immer wieder aufs Neue weg, doch es schien einfach kein Ende zu nehmen. Er ignorierte die Flüche der Passanten, gegen welche er rannte. Den Blick auf den Boden gerichtet. Weg. Er wollte einfach nur weg, egal wohin seine Beine ihn trugen, Hauptsache sie trugen ihn nur so weit weg, wie sie konnten vom Revier. Bei der nächsten Gelegenheit stürmte er in den erst besten Laden.

Zog sich ein Bier aus dem Kühlschrank und einen großen Kaffee aus dem Kaffeeautomaten. An der nächsten Ecke jedoch schüttete er den Kaffee aus, öffnete das Bier und füllte es in den Kaffeebecher. Er war nicht stolz darauf, doch im Moment schien es das einzige zu sein was er brauchte, um nicht komplett durchzudrehen. Um halbwegs zur Ruhe zu kommen. Abwechselnd zog er an der nächsten Zigarette und nippte an seinem Becher. In der Hoffnung, dass seine Füße ihn noch wenigstens zur nächsten U-Bahn-Station tragen würde, damit er sich auf den Weg nach Hause machen konnte. Stumm liefen ihm erneut die nächsten Tränen über seine Wange. Liesen seine Sicht verschwimmen und als Gary für einen kurzen Moment blind schien, übersah er den nächsten Bordstein, stolperte und fiel zu Boden. Beim Sturz öffnete sich auch sein Kaffeebecher und er spürte wie das Bier sich unter ihm in seine Klamotten saugte. Seufzend rollte er sich auf seinen Rücken als die nächsten Passanten sich über ihn und sein Auftreten beschwerten. Es dauerte einen Moment, bis er die Tränen aus seinen Augen wegblinzeln konnte und in den überraschend blauen Himmel über sich starrte. Wage nahm er neben sich das Geräusch eines kehrenden Besens wahr als sich ein weiteres Gesicht in sein Sichtfeld schob.

„Guten Morgen, junger Mann“, begrüßte ihn ein älterer Herr. Sein freundliches Lächeln von unzähligen Lachfalten umgeben, als ob er den ganzen Tag nichts anderes tun würde als zu Lächeln. Es kostete Gary einige Sekunden seinen Fokus auf das Gesicht des Mannes zu legen. Erst dann nahm er erst wahr, dass dieser ihm seine Hand hinhielt.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Verwirrt nickte Gary dem Mann zu, griff dankend nach seiner Hand und ließ sich zurück auf seine Beine helfen.

„Sie sollten das nächste Mal lieber nach oben schauen, mein Sohn. Keiner sollte mit gesenktem Kopf durch die Welt gehen“, lachte der Mann erneut, während Gary ihn mit einem skeptischen Blick musterte. Unter seinem halbgeöffneten Mantel nahm er den Kollar des alten Mannes wahr und die schwarze Tracht was Gary sofort dazu brachte seinen Blick erneut durch die Gegend schweifen zu lassen, um festzustellen wo sein Weg ihn hingeführt hatte.

„Nun für mich gibt es zurzeit nicht wirklich einen Grund aufzuschauen, Pater“, antwortete Gary. Lachend griff der Pfarrer erneut nach seinem Besen.

„Ich dachte, die Zeiten, dass junge Leute ihren Alkohol in der Öffentlichkeit verstecken müssen, sind vorbei. Aber ein Kaffeebecher…kreativ“, scherzte er und hob den zerdrückten Becher vom Boden auf, um ihn weg zu werfen.

„Sollte man meinen ja, aber ich trinke normalerweise nicht in der Öffentlichkeit.“

„Warum dann heute?“

„Ich habe meine Gründe.“

Nachdenklich trat der Priester von einem Fuß auf den anderen. Ließ seinen Blick neugierig über Garys zerzaustes Erscheinungsbild wandern, ehe er stumm vor sich her nickte.

„Sie wirken verloren und ich rede nicht von ihrem Äußeren.“

„Nicht?“

„Nein, ich sehe es viel mehr in ihren Augen. Ich bin ziemlich gut darin Menschen zu lesen wissen Sie.“

Mit einem spöttischen Lachen schüttelte Gary seinen Kopf und fischte die ebenfalls halbzerdrückte Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche heraus.

„Auch eine?“, bot er dem Geistlichen an, um nicht unhöflich zu erscheinen.

„Nein danke.“

„Ist Rauchen für Sie eine Sünde?“

„Nein, ich rauche einfach nur nicht.“

Hustend zündete Gary sich seine Zigarette an, während er den Blick des Pfarrers noch immer auf sich spürte. Ohne ein weiteres Wort trat der geistliche von ihm zurück, ging die wenigen Treppen zum Kircheneingang hinauf und öffnete stumm die Tür.

„Begleiten Sie mich.“

Die Aufforderung war trotz seiner sanften Stimme nicht zu überhören. Erneut schüttelte Gary nur seinen Kopf, warf die Zigarette auf den Boden und drückte sie mit der Spitze seines Stiefels aus, ehe er den Priester schließlich entschuldigend ansah.

„Danke für das Angebot, aber ich passe.“

„Nun das können Sie von mir aus gerne tun, aber ich bin eine Verpflichtung eingegangen. Eine Verpflichtung, die besagt, dass ich jedem Menschen helfen werde, der sie braucht. Ob Sie sie letzten Endes wollen oder nicht ist ihre Sache, aber alles was ich Ihnen jetzt anbiete ist ein Gespräch. Ein einfaches Gespräch, denn das scheinen Sie im Moment wirklich nötig zu haben. Und einen richtigen Kaffee.“

„Viel mehr hätte ich eine Dusche nötig“, spottete Gary.

Der stechende Blick des Priesters wich jedoch erneut keine Sekunde von Garys Gesicht. Je länger er schließlich stehen blieb und über die Worte des geistlichen nachdachte, desto mehr hatte Gary das Gefühl, dass genau das der Kampf war, den er nicht gewinnen konnte. Er konnte sich zwar umdrehen und gehen, einfach nur gehen. Sich auf dem Rückweg wahrscheinlich ein neues Bier besorgen oder beim nächsten Pub anhalten, doch letzten Endes, egal wie er die Dinge versuchte, sich schön zu reden: Er würde verlieren. Mit einem geschlagenen Seufzen nickte er dem Priester zu. Machte gerade mal einen Schritt nach vorne als der Mann plötzlich seine Hand hob.

„Möchten Sie davor vielleicht nicht ihren Zigarettenstummel aufheben?“

Kapitel 3

5 Monate zuvor

Bei der Arbeit gab es für Denise eine Regel: Privat und berufliches voneinander zu trennen. Seit ihrem ersten Tag im Dienst bei der Metropolitan Police hatte sie sich selbst geschworen, dass ihre privaten Probleme sie bei ihrer Arbeit nicht beeinflussen würden. Weder ein Ex-Freund, der sie mitten in der Nacht verlassen hatte, noch die stetige Streiterei mit ihren Eltern. Schon gar nicht ließ sie sich von der Meinung ihrer Eltern bezüglich ihres Jobs nicht beeinflussen. Sie wusste was für einem Risiko sie sich tagtäglich aussetzte. Sie wusste, dass das Leben eigentlich viel zu kurz war. Umso mehr genoss sie jeden Tag aufs Neue die Zusammenarbeit mit ihrer Partnerin und mittlerweile auch besten Freundin Gabriella Pérez. In einem Beruf wie diesen, war es wichtig jemanden an seiner Seite zu haben, denn man bedingungslos vertraute. Es war ein Vertrauen, welches zunächst über Jahre aufgebaut werden musste, doch wenn es einmal da war, war es gegen nichts in der Welt einzutauschen. Letzten Endes legte man seinem Partner das eigene Leben in die Hände und bekam im Gegenzug seins. Während ihres Dienstes unterhielten Denise und Gabriella sich über schwierige Fälle, tauschten Theorien und Ideen aus und hielten sich Gegenseitig den Rücken frei. Nach Feierabend hingegen wechselten ihr Gespräche zu Themen wie Familie, das Liebesleben und den letzten Klatsch und Tratsch. Besonders Denise Familie war ein großes Gesprächsthema zwischen ihnen. Gabriella hatte schon oft mitbekommen wie Denises Familie sich ihr gegenüber verhielten. Sie praktisch mit Anrufen durch ihr Personal terrorisieren ließen, nur weil sie zu einer ihrer Veranstaltungen abgesagt hatte.

Auch wenn es hinter verschlossenen Türen anders aussah, legten ihre Eltern viel Wert auf ein Gepflegtes Familienbild in der Öffentlichkeit. Was jedoch auch nicht immer so gut funktionierte, wie sie es sich vorstellten. Garett, Denise jüngerer Bruder war schon immer in gewisser weiße das schwarze Schaf der Familie gewesen. Seit dem Tag seiner Volljährigkeit hatte er beschlossen dem größten Teil seiner Familie den Rücken zu zukehren. Seine Sachen gepackt und war soweit es ging vor ihnen geflohen, um schließlich am anderen Ende der Welt zu studieren, um sich seinen Traum zu erfüllen ein Arzt zu werden.

Trotz seiner angesehenen Berufswahl schien auch das seinen Eltern ein Dorn im Auge zu sein. Welch eine Enttäuschung es für die beiden gewesen sein musste, dass sowohl die erstgeborene Tochter als auch der erstgeborene Sohn ihrem Familienunternehmen und letzten Endes ihrem Vermächtnis den Rücken zukehrten. Ein weiterer Grund wieso Denise sich oftmals weigerte die Veranstaltungen ihrer Eltern zu besuchen war, dass diese sich in der Öffentlichkeit mit den Lorbeeren ihrer Tochter schmückten. Jedes Mal aufs Neue vor Stolz zu platzen schienen, lächelten und sie für ihren täglichen Einsatz auf den Straßen Londons lobten, war es hinter ihrem Rücken jedoch nur eins: Heuchelei. Eine Zeit lange hatte Denise das Ganze mitgemacht, doch als sie vor einigen Jahren schließlich zum Detective wurde, hatte auch sie sich dazu entschlossen bis auf eine jährliche Veranstaltung alle weiteren zu boykottieren.

An wenigen Tagen passierte es jedoch, dass Denise ihre eigene Regel brach und ihr privates Leben sie bei der Arbeit einholte. Seit einer geschlagenen Stunde saß sie bereits an ihrem Abschlussbericht. Es war ein offensichtlicher Fall gewesen. Schnell zu klären, also müsste ihr Bericht nicht allzu viel Zeit in Anspruch zu nehmen.

„Noch immer nichts?“, riss Gabriella Denise aus ihren Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen und merkte erst jetzt, wie lange sie tatsächlich auf ihr Handy geschaut hatte.

„Nein, noch immer nichts“, antwortete sie seufzend und massierte sich ihre pochenden Schläfen.

„Es wird schon nichts sein. Er ist wie er ist.“

„Und genau das macht mir solche Sorgen, Gabriella. Du hast ihn nicht gesehen, er war so anders.“

„Jeder ist nach einer Therapie anders, Denise. Er wird ein wenig Zeit brauchen, aber das war dir doch bewusst.“

„War es auch, aber ich will ihm helfen, bevor er etwas dummes macht.“

Gabriella ließ sich auf den kleinen Stuhl neben Denise Schreibtisch nieder. Den Blick auf das Bild von Denise und ihrem Bruder vor sich gerichtet. Als Denise ein weiteres Mal tief durchatmete und ihre müden Augen öffnete, folgte sie dem Blick ihrer Freundin. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln bei der Erinnerung an den Moment wie das Foto erstanden war.

„Was ist jetzt eigentlich bei der Verhandlung rausgekommen?“

Erneut konnte Denise nichts anderes tun als ungläubig ihren Kopf zu schütteln. Ihre Finger spielten nervös mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand herum. Auf der Suche nach einer halbwegs vernünftigen Antwort ließ sie ihren Blick durch das Revier schweifen.

„Er hatte Glück. Großes Glück und einen verdammt guten Anwalt.“

„Den deine Eltern besorgt haben“, stellte ihre Partnerin sofort fest.

„Du glaubst doch nicht, dass die beiden sich ausgerechnet bei dieser Sache nicht einmischen. Das wäre der wohl möglichst größte Skandal, den diese Firma gehabt hätte, auch wenn Garett sich aus dem Geschäft zurückgezogen hat.“

„Was hat er dazu gesagt?“

„Was soll er sagen? Er wusste, dass er Mist gebaut hat und so ungerne ich es auch zugebe, aber ohne unsere Eltern wäre er aufgeschmissen. Dann wäre es nicht nur bei einer entzogenen Zulassung, Therapie und einer Geldstrafe geblieben.“

„Wie viele Jahre hätte er bekommen?“

„Keine Ahnung“, murmelte Denise und sah wieder zu ihrem Handy herüber.

„Ich hoffe er weiß, was du für ihn tust.“

Somit wand Gabriella sich von ihrer Partnerin ab. Drückte ihr ein letztes Mal die Schulter, ehe sie an ihren eigenen Schreibtisch verschwand.

Kapitel 4

Gegenwart

Sein Blick huschte immer wieder zwischen dem Bildschirm und seinen handgeschriebenen Notizen hin und her. Lediglich eine Schreibtischlampe schenkte ihm neben dem Computerbildschirm ein wenig Licht, wofür seine Augen ihm auch nicht gerade dankten. Eigentlich hatte Gabriel bereits seit fast zwei Stunden Feierabend, doch ans nach Hause gehen schien er noch lange nicht zu denken.

„Sie sind ja noch immer da“, riss die Stimme einer jungen Frau aus den Gedanken. Seine Lippen verzogen sich zu einem halbherzigen Lächeln, während er dankend den Kaffee annahm, welchen sie ihm hinhielt.

„Danke schön. Ja, ich wollte mich um den Dienstplan für nächste Woche kümmern.“

„Sie wissen schon, dass Sie uns auch einfach sagen können, dass Sie sich in ihrer Schicht ein wenig zurückziehen, um den Plan zu erstellen, oder?“

„Und du weißt, dass ich euch schon oft gebeten habe mich ebenfalls zu duzen.“

„Tut mir leid, Gabe.“

„Geht doch“, grinste er und nippte an seinem Kaffee.

Stumm beobachtete die junge Krankenschwester ihn einen Moment lang als Gabriel erneut durch seine Notizen ging und diese ein letztes Mal mit dem druckfertigen Plan verglich.

„Okay, weil du so nett warst und mir einen Kaffee gebracht hast, gebe ich dir jetzt ein letztes Mal die Chance einen Wunsch zu äußern für den kommenden Dienstplan, Jessica.“

Sie stimmte in sein Lachen mit ein und schüttelte ihren Kopf als im selben Moment der Schwesternruf ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Danke, aber ich habe keine Wünsche. Auch wenn Sie unser Boss sind, sollten Sie sich langsam auf den Heimweg machen. Wie lange sind Sie schon hier? 11 Stunden?“

„So in der Art ja.“

Der Schwesternruf ertönte ein weiteres Mal. Sein Blick huschte zu der Anzeige herüber, ehe er erneut an Jessica hängen blieb.

„Ich schaue mal nach Mrs. Clarke.“

„Nein, nein ich mach das. Ich wollte so oder so nochmal vorbeischauen, bevor ich gehe.“

„Okay“, ein weiteres kleines Lächeln und Jessica war verschwunden. Mit einem mehr als erschöpften Seufzen ließ er seinen Kopf in die Hände fallen. Rieb über seine müden Augen und fuhr sich mit seiner Hand schließlich durch die dichten Locken, ehe er das Programm auf dem Computer schloss und aufstand.

Gabriel tat sein Bestes ein halbwegs vernünftiges Lächeln aufzusetzen, auch wenn er wusste, dass dieser Besuch alles andere als schön war.

„Geben Sie es zu, Susan. Sie können sich einfach nicht von mir trennen“, begrüßte er die alte Dame, welche in den unzähligen Kissen in ihrem Bett nur leicht zu übersehen war. Ihre Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, während sie ihr bestes tat ihre müden Augen offen zu halten.

„Was machen Sie noch hier? Ich dachte, ich habe mich schon vor Stunden verabschiedet.“

„Autsch, wollen Sie mich etwa so schnell loswerden?“

„Eigentlich nicht, aber ich denke die Wahl habe ich bald nicht mehr.“

Stumm nickte Gary ihr zu und warf einen Blick auf einen der Monitore, welche Susans Werte anzeigten.

„Brauchen Sie wieder etwas gegen die Schmerzen?“

„Das wäre schön.“

„Na schön, ich schaue mal, ob ich ihnen noch was geben kann.“

„Und eine Decke, mein Lieber. Das wäre schön, mir ist nämlich ziemlich kalt“, fügte Sie noch hinzu.

„Alles klar, ich bin gleich wieder da.“

Es wunderte keine der Nachtschwestern das Gabriel noch lange nach seinem Feierabend über die Gänge des Krankenhausflures huschte. Er warf einen Blick in die Krankenakte und wies eine seiner Kolleginnen an die Medikamente vorzubereiten, während er sich in der Zwischenzeit auf die Suche nach einer weiteren Decke machte.

Eine gute Viertelstunde später betrat er schließlich erneut Susans Zimmer, welche beim Klang der Tür sofort ihre schwachen Augen öffnete.

„Keine Sorge, ich bin es nur und bringe Geschenke mit.“

„Sie verwöhnen mich seit meinem ersten Tag hier, Gabriel“, lachte Susan schwach. Doch schon das kleinste Lachen brachte sie erneut zum Husten. Entschuldigend hielt sie sich die Hand vor dem Mund.

„Wie wäre es mit etwas Sauerstoff?“

Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, denn selbst die wurde von einem weiteren Hustenanfall verschluckt. Also griff er nach dem dünnen Schlauch, welcher über der Sauerstoffanlage hing, drehte diese auf und befestigte ihr den Schlauch unter ihre Nase.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Gehen Sie nach Hause, mein Lieber. Wie lange sind Sie schon hier?“

„Ich bin erstaunt, dass meine Arbeitszeiten heute so ein großes Thema sind.“

„Wissen Sie, ich weiß bereits seit Tagen, das es jeden Moment vorbei sein könnte. Deshalb bin ich doch hier. Sie können mir meine letzten Tage, Stunden, Minuten oder Sekunden so angenehm machen, wie Sie können, aber Sie können es nicht aufhalten, Gabriel.“

„Ich wünschte, ich könnte es.“

Seufzend nahm er auf der Bettkante Platz und griff nach Susans blasser Hand. Sein Daumen strich sanft über die verfärbte Stelle, wo einst eine ihrer Infusionsnadeln steckte.

„Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich. Ich werde meinen Mann wiedersehen, meinen Sohn, ich habe die beiden so sehr vermisst. Denken Sie sie werden auf mich warten?“

„Nachdem was Sie mir alles über ihren Mann erzählt haben, wäre ich erstaunt, wenn er nicht mit einem großen Blumenstrauß oben auf Sie warten würde.“

Schwach stimmte Sie in sein Lachen mit ein und hielt sich erneut die Hand vor dem Mund.

„Ich habe was für sie, Susan“, sagte er, griff dabei in die linke Tasche seines Kittels und zog einen Rosenkranz heraus, den er ihr führsorglich ums Handgelenk band.

„Das ist wunderschön.“

„Mein Bekannter hat es für mich gesegnet. Ich kann zwar nichts versprechen, aber mich würde es wundern, wenn Sie nicht in den Himmel kommen würden.“

Gerührt sah Susan von dem Schmuckstück um ihr Handgelenk ab, befreite ihren Griff aus Garys Hand und strich nun mit ihrem Daumen über seinen Handrücken.

„Sie werden mir fehlen.“

„Sie mir auch, ich meine mit wem soll ich denn jetzt Rommee spielen, wenn die Nachtdienste viel zu ruhig sind, hm?“

„Vielleicht mit jemanden, der Sie mal aus Mitleid gewinnen lässt.“

„Wow, selbst jetzt noch schlagfertig wie am ersten Tag, das bewundere ich“, schmunzelte Gabriel. Es hieß immer, dass man Patienten nicht zu nah an sich heranlassen sollte. Keine Bindung zu ihnen aufbauen sollte und schon gar nicht zu Patienten, welchen nicht mehr viel Zeit blieb.

Doch da war Gary schon immer anderer Meinung gewesen. Er hielt seine Beziehungen zu den Patienten auf einem ganz anderen Level. Er ließ Sie weder zu nah an sich herankommen, noch behandelte er sie wie eine Art Kunde. Er hatte sich schon immer Zeit für seine Patienten genommen.

„Tun Sie mir einen Gefallen?“, riss Susan ihn aus seinen Gedanken.

„Natürlich.“

„Sagen Sie mir ihren echten Namen? Ich würde ihn gerne wissen, damit ich oben ein gutes Wort für Sie einlegen kann.“

„Das ist jetzt mein Name.“

„Es ist der Name, den Sie sich ausgesucht haben und nicht der, den Sie bekommen haben.“

„Spielt das eine Rolle?“

„Sie hatten ihre Gründe und das verstehe ich, aber ich würde es trotzdem gerne wissen.“

Eine Weile lang tat Gabriel nichts anderes als Susan anzuschauen. Sich jede einzelne ihrer Lachfalten einzuprägen.

Das Leuchten in ihren Augen, welches ihn jeden Morgen für die letzten 6 Wochen aufs Neue begrüßt hatten. Ihm jedes Mal Trost spendeten und welche oftmals hinter seine Fassade, hinter die Maske, welche er aufgesetzt hatte, blicken konnten.

„Ich heiße Garett, aber meine Freunde haben mich immer Gary genannt.“

„Garett. Garett. Garett“, immer wieder ließ Susan seinen Namen über ihre Lippen rollen, während ihre Augen nun ihn musterten und das kleine Lächeln auf seinen Lippen wahrnahm.

„Er passt zu ihnen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mit sowas in der Art gerechnet.“

„Wirklich?“

„Nun ja, Gabriel und Garett? Ich sehe eine Ähnlichkeit, wenn auch nur eine kleine.“

„Da muss ich leider widersprechen, Susan.“

„Warum haben Sie ihren Namen geändert? Ist ihre Familie wirklich der einzige Grund?“

„Nicht der einzige, aber es hat sich falsch angefühlt. Garett zu sein tat weh. Garett war kein guter Mensch, wissen Sie.“

„Ein anderer Name macht aus einem aber keinen anderen Menschen, mein Lieber. Solange Sie sich ändern wollen, es richtig wollen, dann spielt es keine Rolle wie Sie heißen.“

„Das mag sein, aber ich bin jetzt Gabriel.“

„Sie sind ein guter Mann, Gary.“

Stumm nickte er ihr zu und wechselte die Positionen ihrer Hände aufs Neue. Ihre Hände waren nun deutlich kälter als zuvor. Ihr Lächeln langsam verblasste, während ihre schweren Augenlider weiterkämpften, um wach zu bleiben.

Kapitel 5

In der Nähe des Notting Hill Gate saß Jenna Walker in ihrem Stammpub. Den Blick auf die goldene Flüssigkeit in dem Glas zwischen ihren Händen gerichtet. Jenna hob das Glas zu ihren Lippen und nippte kurz daran, ehe sie bereits beim ersten Schluck ihr Gesicht verzog. Der Barkeeper neben ihr sah von der Zapfanlage auf. Schüttelte lachend seinen Kopf und ersetzte das Glas Scotch gegen ein einfaches Bier.

„Danke“, hustete Jenna und hielt sich entschuldigend die Hand vor den Mund.

„Es wundert mich, dass du dir das immer wieder aufs Neue antust.“

„Hey, es ist unsere Tradition und das weißt du.“

„Das weiß ich, aber allein? Komm schon Jenna, keine Frau sollte allein trinken.“

„Scheint dich in den letzten Monaten auch nicht gestört zu haben, Bob.“

Bob verstummte unter ihrem Argument und nickte ihr stumm zu.

„Du hast Recht, aber du weißt auch, dass ich mir immer Sorgen um dich machen werde, Kleines.“

„Ich weiß und das ist auch echt süß von dir, aber was soll ich machen? Irgendjemand von uns muss die Tradition ja aufrechterhalten.“

„Dann Cheers“, lachte Bob als er zu seinem eigenen Glas griff und gemeinsam mit ihr anstieß.

„Auf was trinken wir? Deinen Sieg oder auf…“

„Beides würde ich sagen“, unterbrach Sie ihn, wenn auch ungewollt harsch und nahm einen mehr als großen Schluck von ihrem Bier.

„Schon komisch, findest du nicht? Genau an Lisas Todestag gewinne ich einen meiner größten Fälle. Und was mach ich hier?“

Mit einem spöttischen Lachen schüttelte sie ihren Kopf.

Fuhr sich mit beiden Händen durch ihr langes Haar und band es zu einem lockeren Dutt zusammen.

„Ich sitze in diesem Pub und versuche mich halbwegs darüber zu freuen. Ich sollte mich freuen, oder? Ich sollte mich freuen, dass ich nach all diesen Monaten wenigstens der Familie des Mädchens ein klein wenig Gerechtigkeit schenken konnte.“

„Das solltest du ja. Genauso solltest du wissen, dass auch Lisa stolz auf dich gewesen wäre.“

„Ich weiß ja, aber trotzdem, Bob. Ich kann mich nicht freuen. Nicht so wie ich es sollte.“

Er stimmte ihr mit einem kleinen nachdenklichen Lächeln zu. Leerte den letzten Inhalt seines Glases mit einem Schluck und verschwand schließlich für einen Moment in der kleinen Küche. In der zwischen Zeit schweifte Jennas Blick über die Pinnwand am anderen Ende des Tresens. Sie hatte noch nie verstanden, warum Bob sie nicht schon längst gegen eine größere ausgetauscht hatte, statt dass die Fotos sich mittlerweile doppelt und dreifach überlappten. Unter all den unzähligen Bildern und den Erinnerungen, gab es zwei Bilder, die Jennas Herz sich immer wieder zusammenziehen ließ. Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass Sie noch nicht einmal mitbekam, wie Bob sich wieder zu ihr gesellte und ihr eine kleine Portion Pommes Frites vor die Nase stellte. Sein Blick folgte automatisch ihren. Er musste nicht großartig überlegen, was sie sich genau anschaute, er wusste es.

Denn letzten Endes war er derjenige gewesen, der die Bilder sowohl geschossen als auch aufgehängt hatte.

„Manchmal kommt es mir vor wie gestern als Lisa und du hier hereinspaziert seid“, seufzte er in Erinnerungen schwelgend als er die Stecknadel herauszog und das Polaroid in die Hand nahm.

„Kaum zu glauben, huh? Man konnte euch förmlich ansehen wie aufgeregt ihr wart.“

„Lisa war aufgeregt, ich nicht.“

„Komm schon, wenn eine von euch aufgeregt war, war es die andere automatisch auch. Du hattest viel über sie erzählt und kaum war sie auch 21 geworden, konnte sie nicht erwarten mal mit dir herzukommen.“

„Das stimmt ja. Ihr erster Pub-Besuch im wahrsten Sinne des Wortes“, lachte Jenna und nahm das Bild in ihre Hände. Vorsichtig strich sie mit ihrem Finger über das Gesicht ihrer Schwester.

„Fünf Jahre ist es jetzt her und es fühlt sich an, als ob es erst gestern gewesen wäre, dass ihr nach der Beerdigung hergekommen seid.“

„Vielleicht weil wir es vor nicht allzu langer Zeit wieder waren.“

„Ja, kann sein“, murmelte Bob und zog das nächste Foto von der Pinnwand herunter, um es sich anzuschauen.

Jenna spürte, wie ihr die ersten Tränen in die Augen stiegen und versuchten sich ihren Weg nach draußen zu bahnen. In der Hoffnung das zu verhindern, setzte sie sich ein klein wenig auf und atmete tief durch.

„Sie wäre heute dagewesen, da bin ich mir sicher. Denise wäre heute sowas von im Gericht gewesen und ich meine du hättest mein Schlussplädoyer hören sollen. Ich konnte es förmlich sehen wie Denise sich zusammengerissen hätte, um nicht klatschend aufzuspringen.“

„Das glaube ich gerne“, stimmte Bob in ihr kleines Lachen mit ein. Mit seinen Gedanken war jedoch auch er ganz woanders. Eine Weile lang saßen die beiden einfach nur still da. Jenna aß ihre Pommes weiter, was in gewisser weiße das erste war, was sie heute überhaupt aß neben der Banane, die sie zum Frühstück hatte. Vor einem Prozess aß sie in der Regel meistens nichts. Lebte von Kaffee, Wasser und Traubenzuckerdrops, welche sie sich in den Pausen in den Mund schob. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Bob zwei Shotgläser aus dem Regal hinter sich und platzierte diese hinter den Bildern von Jenna und ihrer Schwester.

„Auf Lisa“, sagte er und füllte die Gläser bis zur Markierung mit Vodka. Kaum hatte Jenna das Glas abgestellt, füllte Bob es genau wie seins wieder auf und zog nun das Bild von Jenna, Gabriella und Denise hervor.

„Und der hier geht auf unsere Denise. Mögen beide in Frieden ruhen und stolz auf dich sein.“

„Auf Denise“, erwiderte Jenna mit einem kleinen Lächeln und kippte somit ihren zweiten Shot herunter.

Um kurz nach zehn betrat Jenna nun schließlich ihr Appartement. Es war eine zwei- Zimmer große Wohnung in der Nähe des Holland Parks. Hell und offen und im Gegensatz zu den wenigsten Wohnungen in London, hatte diese hier sogar einen kleinen Balkon. Einen sehr kleinen, wenn man es genau nimmt, doch er war groß genug, um sich an einem Sonntagmorgen mit einem Kaffee und einem guten Buch hinzusetzen. Jennas Kopf sackte nach vorn in ihre Hände. So langsam spürte sie wie der Alkohol sich bemerkbar machte und sie im wahrsten Sinne des Wortes in die Richtung ihres Bettes zog. Eine Portion halb abgekühlter Pommes Frites und drei Schalen voller Erdnüsse waren nun mal kein starker Kontrahent zu den Shots und Pins, welche sie mit Bob getrunken hatte. Im Gegensatz zu ihr, war er auch kein Fliegengewicht und trank solche Mengen bestimmt öfters als sie. Es dauerte zwar einige Minuten bis sie ihren leichten Schwindel in den Griff bekommen hatte, doch sie hatte es irgendwie hinbekommen nach dem Telefon zu greifen und die Nummer ihrer Mutter zu wählen. Auch wenn Jenna nicht gerade Lust hatte, dieses Gespräch zu führen, war es ihr noch immer viel lieber jetzt darüber zu reden als morgen im nüchternen Zustand.

„Hey Mum, ich bin es.“, begrüßte sie die vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Lippen nun doch zu einem kleinen Lächeln verzogen als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee sie heute noch zurückgerufen, denn auf einmal spürte Jenna wie ihr sämtlicher Druck von den Schultern fiel und sie sich langsam und entspannt in ihren Sessel nachhinten sinken ließ.

„Ja, ich weiß, wie spät es ist. Tut mir leid, ich war weg, aber weißt du was? Ausgerechnet heute, habe ich diesen Fall gewonnen.“

***

Als Gabriel am nächsten Tag zu seiner Schicht antrat, war das erste was er tat nach Susan zu sehen. Er wusste, dass es schlecht um sie stand. Das ihre Zeit gekommen war und doch gab es in ihm einen winzigen Teil, der darauf hoffte sie heute noch zu sehen. Das Susan ihn wie jeden Tag in den vergangenen Wochen mit ihrem üblichen Lächeln begrüßte. Es gehörte zwar nie wirklich zu seinen Aufgaben, doch ab und zu hatte sie ihn gebeten ihr einige Zeitschriften zu besorgen. Jedes Mal aufs Neue hatte sie ihn so lieb und nett darum gebeten, dass er selbst an stressigen Tagen immer wieder einen Weg fand ihr ihre Zeitschriften zu besorgen. Und jedes Mal bat sie ihn ebenfalls darum auch eine Packung Schokolade mitzubringen, welche sie ihm am Ende seiner Schicht aufs Neue zusteckte. Doch heute war alles anders. Gabriel trat aus der Umkleide. Befestigte seinen Ausweis an der Brusttasche und legte sich sein Stethoskop um den Hals. Keiner tat das außer er.

Noch nicht mal die Ärzte, doch es war etwas, was er sich in seiner Zeit als Assistenzarzt angewöhnt hatte. Außerdem war das Stethoskop ein Geschenk von Denise zu seinem Abschluss gewesen. Es war kaum zu sehen, doch es enthielt auch eine kleine Gravur. Auf dem Weg zu Susans Zimmer begrüßte er einige Kollegen, die ihm stumm zu nickten. Mit jedem weiteren Schritt wurde Gabriels Gefühl immer schlechter. Er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog und genau wie es sein Gefühl ihm bereits angekündigt hatte, war Susans Zimmer leer. Das Bett bereits gemacht und es sah so aus, als ob nie jemand in diesem Zimmer gelegen hätte. Dass es seit Wochen bereits so steril aussah, wie es gerade tat. Keine unzähligen Decken, welche auf dem kleinen Stuhl in der Ecke aufeinandergestapelt waren. Keine Blumen, welche Susan jede Woche von ihrem Karten-Club bekommen hatte. Keine Karten, keine Stricknadeln und kein Korb, welcher mit den kunterbunten Wollknäulen gefüllt war.

„Gabe“, ertönte es hinter ihm. Es dauerte jedoch einen Moment, bis er sich aus seiner Starre löste und Jessica hinter sich ansah. Ihr schien es nicht anders als ihm zu gehen.

„Wann?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Heute Morgen bei der Visite. Sie muss in der Nacht einfach eingeschlafen sein.“

Gabriel senkte seinen Blick. Kniff sich seufzend in den Nasenrücken und atmete einige Male tief durch als er plötzlich eine Hand auf seinem Oberarm spürte.

„Hey, du warst für sie da, okay? Als sie niemanden hatte, warst du für sie da. Uns geht es allen so. Sie war…“

„Etwas Besonderes. Sie war etwas Besonderes.“

„Ja, das war sie. Aber komm mal mit, sie hat uns was dagelassen.“

Verwirrt hob Gabriel eine Augenbraue. Warf einen letzten Blick auf das leere Bett, wo somit auch das letzte Bild von Susan vor seinem inneren Auge verblasste. Im Schwesternzimmer angekommen, reichte Jessica ihm eine dunkelbraue Papiertüte, auf welcher in schwarzen Druckbuchstaben sein Name stand.

„Was ist das?“

„Schau rein. Jeder von uns hat so eine Tüte bekommen.“

„Jeder?!“, fragte Gabriel ungläubig.

„Naja du weißt schon. Du, ich, Lorelai, Christina und Emma. Jetzt schau endlich rein.“

Vorsichtig schüttelte er die Tüte ein wenig vor sich her, ehe er seinem Finger in das kleine Loch an der zugeklebten Stelle schob und die Tüte aufriss. Kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen.

„Was ist das?“, hakte Jessica neugierig nach.

„Eine Mütze und so wie es aussieht selbst gestrickt“, lachte er und ließ seine Hand über die dicke Wolle streichen.

„Nun Emma und ich haben einen Schal bekommen und Süßigkeiten. Hey, ist bei dir auch noch ein Zettel drinnen?“

Gabriel warf erneut einen Blick in die Tüte und zog neben einigen Bonbons tatsächlich einen weißen Umschlag heraus. Stumm nickte er seiner Kollegin zu, die sich kurz darauf von ihm verabschiedete. Er packte die Mütze zusammen mit den Süßigkeiten in die Tüte und nahm mit dem Brief auf einem der Stühle Platz. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Umschlag und zog ein Stück Papier heraus.

Lieber Gabriel, wir beide wissen, dass für mich jeder Tag mein letzter sein kann. Ich war schon in vielen Krankenhäusern und bei unzähligen Ärzten, doch noch nie wurde sich um mich so gut gekümmert wie in den letzten Wochen. Ein Krankenhaus kann langweilig sein, wenn man nicht dort arbeitet, also habe ich mir die Zeit ein wenig mit Stricken vertrieben. Da mein Enkelsohn mit seinen Kindern nicht in der Nähe wohnen, dachte ich mir, dass ich ihnen und ihren Kolleginnen eine kleine Freude mache. Ich habe versucht die Größe ihres Kopfes so gut es ging zu schätzen, es kann aber sein, dass Sie die Mütze ein wenig eintragen müssen. Ich hoffe sehr, dass sie ihnen passt und an kalten Tagen vor kalten und roten Ohren beschützt.

Besonders, wenn Sie wieder meinen mit dem Fahrrad, statt der Bahn zu kommen.

Sie sind ein guter Mann, Gabriel. Jeder macht mal Fehler, aber letzten Endes geht es nicht darum, dass uns irgendjemand verzeiht, sondern dass wir uns selbst verzeihen. Ich bin mir sicher, dass Sie irgendwann ihren Weg wiederfinden und genau da sein werden, wo sie hingehören.

Bis dahin machen Sie einfach das Beste draus. Ich bin mir sicher, dass wir uns irgendwann wieder sehen werden.

Susan

Kapitel 6