Dark and Dangerous Love – Ewig verbunden - Molly Night - E-Book

Dark and Dangerous Love – Ewig verbunden E-Book

Molly Night

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Beschreibung

Nach ihrem vergeblichen Fluchtversuch und einer ersten leidenschaftlichen Nacht mit dem ebenso schönen wie skrupellosen Vampirkönig Atticus ist Evelyn Blackburn an dessen Hof zurückgekehrt. Evelyn fühlt sich hin und hergerissen, denn eigentlich gehört ihr Herz seit Kindertagen ihrem Freund Ethan, den sie nicht mehr lieben darf, seit sie dem Vampirkönig versprochen wurde. Und doch kann sie die Liebensnacht mit Atticus nicht vergessen – zumal dieser fest entschlossen ist, alles zu tun, um Evelyn endgültig für sich zu gewinnen ...

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MOLLY NIGHT

DARK &

DANGEROUS

LOVE

Ewig verbunden

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt

von Melike Karamustafa

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Nach ihrem vergeblichen Fluchtversuch und einer ersten leidenschaftlichen Nacht mit dem ebenso schönen wie skrupellosen Vampirkönig Atticus ist Evelyn Blackburn an dessen Hof zurückgekehrt. Evelyn fühlt sich hin- und hergerissen, denn eigentlich gehört ihr Herz seit Kindertagen ihrem Freund Ethan, den sie nicht mehr lieben darf, seit sie dem Vampirkönig versprochen wurde. Und doch kann sie die Liebensnacht mit Atticus nicht vergessen – zumal dieser fest entschlossen ist, alles zu tun, um Evelyn endgültig für sich zu gewinnen. Doch als Evelyn herausfindet, dass Atticus hinter ihrem Rücken eine heimtückische Intrige geschmiedet hat, um sie endgültig an sich zu binden, versteht sie die Welt nicht mehr. Wer ist Atticus wirklich? Der grausame Vampirkönig oder der leidenschaftliche Liebhaber …

Die Autorin

Molly Night wurde in Harbin, China, geboren und kam im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter nach England. Mithilfe eines guten Wörterbuches, purer Willenskraft und der Twilight-Romane lernte sie innerhalb von kürzester Zeit Englisch. Ihre neu erwachte Begeisterung für die englische Sprache und Literatur lebte sie aus, indem sie eigene Texte schrieb. Mit ihrer Geschichte um den Vampirkönig Atticus und seiner großen Liebe Evelyn gelang ihr 2015 der Durchbruch auf Wattpad.

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Titel der Originalausgabe:

DARK AND DANGEROUS LOVE (Part 2)

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2018 by Molly Night

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock/Tuzemka

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-23978-7V001

www.heyne.de

1

»Ich kann immer noch nicht richtig fassen, dass ich meine Familie wiedersehen werde«, sagte Evelyn erstaunt, während sie aus dem Fenster starrte. Die Aussicht auf den Highway war in keiner Weise mit der auf die wunderschöne Landschaft in den unterschiedlichsten Grünschattierungen zu vergleichen, an die sie sich während der wenigen Tage, die sie mit Ethan gereist war, gewöhnt hatte.

Es war ein seltsames Gefühl, über all die Leute in den Autos um sie herum nachzudenken, jeder von ihnen unterwegs zu seinem eigenen Ziel und jeder einzelne hatte seine ganz individuelle Geschichte zu erzählen. Evelyn heftete den Blick auf eine Frau, die gerade mal ein paar Jahre älter als sie selbst zu sein schien. Der elegante Hosenanzug, den sie trug, ließ keinen Zweifel daran, dass sie auf dem Weg in irgendein Büro war, wo sie vermutlich bis zum Einbruch der Dunkelheit arbeiten würde. Einen Moment lang versuchte Evelyn sich vorzustellen, wie das Leben dieser Frau wohl aussah. Ob sie einen Ehemann, einen Liebhaber, einen Partner oder Kinder hatte. Welche Entbehrungen hatte sie in ihrem Leben bereits ertragen müssen? War sie menschlich oder anderer Natur?

»Es ist schon lange her, dass du deine Familie gesehen hast, oder?« Hansel sah sie mit einem Lächeln an, doch Evelyn hatte den Blick weiterhin auf die Frau in dem Wagen neben ihnen gerichtet. »Auf wen freust du dich am meisten?«

»Hm?«, murmelte sie, noch immer in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen. Doch es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Hansel richtete. »Na ja, ich würde sagen Nora, auch wenn sie mir gegenüber sehr kalt und abweisend war, als ich an meinem Geburtstag von zu Hause wegmusste. Trotzdem ist sie meine Schwester, meine engste Freundin und die Person, die mich schon immer am besten kannte. Es spielt keine Rolle, was geschehen ist oder vielleicht noch geschehen wird, ich werde sie immer lieben.«

»Das überrascht mich.« Hansel lachte leise. »Auf Nora hätte ich keinen Cent gesetzt. Ich hätte gedacht, dass du deinen Vater am meisten vermisst hast.«

»Wie kommst du darauf?«

»Nur ein Gefühl, denke ich. Ihr zwei scheint euch sehr nahezustehen, oder zumindest ist es das, was ich gehört habe. Atti…« Hansel schloss den Mund, bevor der Name über seine Lippen kommen konnte. Glücklicherweise schien Evelyn die letzte Silbe überhört zu haben.

»Ja, wahrscheinlich stimmt das.« Evelyn starrte mit dem glücklichsten Lächeln, das Hansel jemals bei ihr gesehen hatte, auf ihre Hände hinab. »Mein Dad und ich sind uns sehr ähnlich. Wir sind beide sehr willensstark und stur. Genau wie Nora, wenn ich genauer darüber nachdenke. Doch die Nähe, die ich zu meinem Vater verspüre, rührt vor allem von seinem Willen her, alles für mich, Nora und meine Mutter zu riskieren. Er weigert sich, uns gegenüber auch nur die kleinste Schwäche zu zeigen, und er hat mir immer das Gefühl gegeben, er habe alles im Griff.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als eine Erinnerung ihre Gedanken kreuzte.

Hansel lächelte ebenfalls. Es machte ihn glücklich, Evelyn so zu sehen, ihr dabei zuzuhören, wie sie bereitwillig über ihre Familie sprach. Etwas, das sie in der Königsstadt nur selten getan hatte, weil sie gewusst hatte, welche Schmerzen die Erinnerungen mit sich brachten. Sein Lächeln schwand, und er presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, als er an das große Geheimnis dachte, das er – und Atticus – vor ihr bewahrt hatten.

»Bring es ihr schonend bei. Ich möchte nicht, dass sie deswegen die Zeit mit ihrer Familie nicht genießen kann. Aber warte auch nicht zu lange. Sie muss wissen, dass ich noch immer derjenige bin, der die Macht über sie hat«, gingen ihm Atticus’ Worte durch den Kopf.

In jenem Moment hatte Hansel seinen Schöpfer nicht nur wegen seiner manipulativen Grausamkeit gehasst, sondern vor allem dafür, dass er Hansel auch noch zum Überbringer der Nachricht machte. Er war derjenige, der Evelyn beibringen musste, dass Atticus Alice und Aaran festnehmen hatte lassen und sie seitdem gefangen hielt.

Während Evelyn weiter von ihrer Familie erzählte, schüttelte Hansel stumm den Kopf. Wann wirst du endlich lernen, dass du sie mit deinen Erpressungsversuchen niemals dazu bringen wirst, dich so zu lieben, wie du es dir wünschst?, dachte Hansel.

»Ich hoffe, dass ich sie ändern kann.« Evelyns sanfte Stimme riss Hansel aus seinen Gedanken.

»Was ändern kannst?«, fragte er.

»Die Welt. Findest du nicht, dass es absolut grausam ist, dass so viele Menschen auf der Straße leben und betteln müssen? Dass sie von Ort zu Ort ziehen müssen, um Arbeit zu finden und ihr Blut verkaufen, um zu überleben? Diese gesellschaftliche Hierarchie macht mich ganz krank.«

Als Evelyn ihn aus tränenverschleierten blauen Augen ansah, erkannte Hansel den Ernst darin. Evelyn wollte etwas ändern. Sie wollte dafür sorgen, dass jeder Ort auf der Welt ein »guter« wurde, so wie Australien.

»Du musst wissen, dass es den Menschen, die auf der Straße leben, nicht am schlechtesten geht. Es gibt Menschen auf dieser Erde, die sehr viel ärmer dran sind als die Bettler. Hast du schon mal von den Gefangenenstädten gehört?«, fragte Hansel. Auch wenn diese Orte ein Staatsgeheimnis waren, bezweifelte er, dass Ethan Redfern nichts davon wusste – und wenn er etwas davon wusste, hatte er Evelyn mit Sicherheit davon erzählt. Als eine der angesehensten menschlichen Familien in der Nation der Vampire, gehörten die Redferns zu den wenigen Menschen, die über diese Städte Bescheid wussten, die weit entfernt von jeglicher Zivilisation an abgelegenen Orten existierten.

»Ja, Ethan hat mir davon erzählt. Städte, in denen Vampire Menschen züchten wie Tiere. Doch statt sie zu schlachten, wird ihr Blut geerntet«, murmelte Evelyn, während ihr ein kalter Schauer den Rücken hinablief. Allein der Gedanke daran, dass es einen so schrecklichen Ort gab … Die Vorstellung, dass Atticus die Existenz solcher Städte zuließ, drehte ihr den Magen um. Wahrscheinlich war das Ganze sogar seine eigene Idee.

Hansel nickte. »Es wäre die erste Sache, die ich ändern würde, wenn ich Herrscher dieser Welt wäre. Die Menschen, die an diesen Orten leben, sind sehr viel schlimmer dran als die Obdachlosen auf den Straßen. Sie haben nichts und niemanden. Sie leben zu Hunderten eingepfercht in Häusern mitten in ihren eigenen Exkrementen. Ohne Bildung, Freiheit oder auch nur die geringste Perspektive im Leben.« Er stieß ein tiefes Seufzen aus und ließ sich gegen das glatte schwarze Leder des Rücksitzes sinken.

»Es ist absolut empörend, dass es Menschen gibt, die gezwungen werden, unter diesen Bedingungen zu existieren«, schimpfte Evelyn. »Ahnen sie denn überhaupt, dass es eine andere Welt gibt?«

Hansel schüttelte den Kopf. »Nur die wenigsten von ihnen. Generation nach Generation wird dort gefangen gehalten, ohne jemals einen Blick auf die Welt hinter die Mauern zu werfen, die sie umgeben. Ein paar von ihnen haben vielleicht von ihren Vorfahren etwas über die Welt außerhalb der Gefangenenstädte erfahren. Aber ich bezweifle, dass sich nach dreihundert Jahren auch nur einer von ihnen noch daran erinnert oder überhaupt daran glauben würde, dass eine solche Welt existiert.«

»Warum besteht Atticus darauf, dass diese Orte bestehen bleiben? Warum lässt er sie nicht einfach schließen und die Menschen gehen? Es ist so grausam und unfair, dass ihnen vom Moment ihrer Geburt an all ihre Rechte genommen werden.« Eine weitere Träne löste sich aus Evelyns Augenwinkel.

Hansels Herz zog sich zusammen. Die Luft um sie herum schien auf einmal kühler geworden zu sein. »Das geerntete Blut wird an Vampire verkauft. Es ist besser für sie, ihre Nahrung in einem Laden zu kaufen, anstatt sich auf der Straße danach auf die Jagd zu machen. So werden, zumindest auf lange Sicht gesehen, mehr Menschen gerettet.« Hansel sah zu Evelyn hinüber. Seine Argumentation schien sie nur noch mehr anzuwidern. Ihr Gesichtsausdruck drückte Abscheu und Hass aus – dieselben Gefühle, die er tief in seinem Herzen verborgen hielt.

»Warum können Vampire und Menschen nicht gleichgestellt sein?«, fragte sie. »Oder, noch besser, warum können die Vampire nicht einfach wieder in ihre Verstecke zurückkriechen so wie vor dem Großen Krieg?«

Hansel kräuselte die Lippen. Die Versuchung eines Lächelns zerrte daran, so rot wie der verbotene Apfel, glasiert mit Belustigung. »Weil die Welt vor die Hunde gehen würde, wenn die Vampire sich verkriechen und zulassen würden, dass die Menschen sich so verhalten wie vor dem Großen Krieg«, erklärte er. »Hast du nichts über die Gründe für den Krieg zwischen den Vampiren und den Menschen gelesen? Die Bösen waren nicht wir, Evelyn. Wir waren diejenigen, die die Erde vor dem Untergang bewahrt haben. Ohne uns bestünde die Welt aus nichts als Ödland. Tatsächlich würde wahrscheinlich niemand von uns allen mehr existieren.«

Sie runzelte die Stirn. »Stell deine Art nicht mächtiger hin, als sie in Wirklichkeit ist, Hansel. Du bist voreingenommen.«

Ihre Wortwahl ließ ihn auflachen. »Das ist etwas, von dem ich erwartet hätte, dass du es zu Atticus sagst, aber nicht zu mir, meine süße Evelyn.« Er verpasste ihr einen zärtlichen Klaps auf den Arm.

Evelyn kicherte. Es stimmte, Hansel war das genaue Gegenteil seines Schöpfers. Weder war er so eingebildet wie er noch nutzte er die Tatsache, dass er ein Vampir war, aus, um sich zu nehmen, was er wollte.

»Hat man euch in der Schule nicht erklärt, wie meine Leute die Welt vor dem Untergang bewahrt haben?«

Evelyn nickte widerwillig. »Doch. Aber ich habe nie zugehört.«

»Weil du es nicht geglaubt hast.«

»Ich habe es geglaubt, aber ich bin der Überzeugung, dass noch mehr dahintersteckt.«

»Bist du an einer Geschichtsstunde von jemandem interessiert, der dabei war?«, fragte Hansel. Und als Evelyn ihm keine Antwort gab, fuhr er fort: »Durch Umweltverschmutzung, Waldrodung, viel zu stark vorangetriebenen Bergbau und die Zerstörung sämtlicher Ökosysteme waren die Menschen drauf und dran den Planeten, den wir alle teilen, zu zerstören. Und abgesehen von Klimawandel und Umweltkatastrophen war auch die Bedrohung durch Nuklearwaffen riesig. Hast du schon mal was von Atomwaffen gehört und wozu sie in der Lage sind?«

Evelyn runzelte konzentriert die Stirn, während sie versuchte, sich zu erinnern.

Als sie nichts sagte, fuhr Hansel fort: »Die meisten Leute wissen nichts über diese nuklearen Waffen. Nachdem wir den Krieg gewonnen hatten, hat Atticus sie konfiszieren und zerstören lassen. Ich bezweifle, dass selbst eine Familie wie die der Redferns schon einmal etwas darüber gehört hat. Es handelt sich dabei um riesige Raketen, mit denen ganze Landstriche zerstört und darüber hinaus Hunderte Meilen Natur kontaminiert werden können, sodass alles Leben entweder stirbt oder mutiert«, erklärte Hansel. »Kurz vor 2020 herrschten große politische Spannungen zwischen den Ländern der Erde. Sämtliche europäischen Volkswirtschaften, bis auf die deutsche, waren zusammengebrochen. Durch den immensen Wettbewerbskampf mit Süd- und Ostasien befanden sich die anderen Länder in einem katastrophalen Zustand. Chinas Wirtschaft wuchs ins Unermessliche, und es dauerte nicht lange, bis sie ihre Wettbewerber sowohl hinsichtlich der Qualität als auch des Preises von Gütern nahezu von allen Märkten verdrängt hatten. Die Redewendung ›Geld regiert die Welt‹ trifft zu. Jeder, der dich etwas anderes glauben machen will, lügt. Geld regiert tatsächlich die Welt.«

»Dann haben die Länder in Europa Geld an China verloren?«

Hansel nickte. »Genau wie Amerika. Damals standen die USA kurz vor dem Staatsbankrott. Angesichts der extremen Armutszahlen hatte sich das Land quasi zu einem Dritte-Welt-Staat entwickelt. Nichts funktionierte mehr. Schulen und Krankenhäuser wurden geschlossen, und das wohlhabende oberste Prozent kontrollierte die Regierung. Schon bald schlossen sich Hunderte Rebellen zusammen, um die Regierung zu stürzen.«

»Waren sie erfolgreich?«

Hansel schüttelte den Kopf. »Nein. Auch wenn das Land im Chaos versank und bankrott war, an den militärischen Ausgaben war nie gespart worden. Gegen die amerikanische Armee konnten die Rebellen nichts ausrichten; doch zu dem Zeitpunkt hatte die moralische Ordnung ihren Tiefpunkt erreicht und die Menschen sehnten sich nach Hoffnung und Einigkeit. Deswegen taten die Regierenden, was sie immer tun, wenn das Volk beginnt, an ihrer Macht zu zweifeln: Sie schoben jemand anderem die Schuld in die Schuhe, um einen gemeinsamen Feind heraufzubeschwören. Und da alle anderen Nationen neidisch auf Deutschland und China waren, beschloss man, dass eines der beiden Länder untergehen muss. Da Deutschland der Europäischen Union angehörte und damit als Verbündeter Amerikas galt, fiel die Wahl automatisch auf China.«

»Und dann haben sie China angegriffen?«, fragte Evelyn eifrig. In ihre Augen war ein neugieriges Funkeln getreten.

Hansel lächelte. »Möchtest du mich jetzt nach jedem Satz unterbrechen, um deine Vermutungen loszuwerden?«

»Genau das hatte ich vor.« Sie erwiderte sein Lächeln, beschloss dabei aber, Hansel ab sofort ausreden zu lassen.

»Amerika hat China nicht angegriffen. Den Regierenden war klar, dass sie das Land nur vereinen würden, indem sie dafür sorgten, dass sich die Menschen alle von demselben Feind bedroht fühlten, also haben sie eine Atomrakete auf Florida abgeworfen. Millionen wurden getötet. Und über Nacht wurde China zum Staatsfeind Nummer eins für Amerika, das sich jedoch entschied im ›Namen des Friedens‹ China nicht anzugreifen. Doch sie warnten ihren Feind, dass beim nächsten Angriff auf eine amerikanische Stadt ein Vergeltungsschlag folgen würde.«

»Was haben die Chinesen gemacht?«

»Was blieb ihnen groß übrig?« Hansel lachte. »Sie haben versucht, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, aber die amerikanischen Medien stellten China als verschlagenes und gnadenloses Land hin, das mithilfe von Gehirnwäsche jeden auf seine Seite zieht. Sofort nahmen die Spannungen zwischen den Ländern noch weiter zu.« Hansel stieß ein tiefes Seufzen aus, als würde er in diesem Moment noch einmal die damalige Zeit durchleben. »Alle hatten Angst. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Vampire. Auch wenn die USA damals geschwächt waren, hatten sie viele Verbündete, die durch verschiedene Abkommen verpflichtet waren, die Amerikaner zu unterstützen. Ab da hat es nicht mehr lange gedauert, bis sich alle vor einem Dritten Weltkrieg zu fürchten begannen.«

»Und, ist er ausgebrochen?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Atticus hatte die Folgen eines solchen Krieges vorausgesehen. Ihm war klar, dass beide Seiten schon in Schutt und Asche liegen würden, noch bevor der Krieg auch nur zur Hälfte entschieden wäre. Er hätte Milliarden das Leben gekostet. Nach und nach wären mehr und mehr Länder in den Konflikt hineingezogen worden, und im Jahr 2033 wären mehr als neunzig Prozent der Erde zerstört und achtzig Prozent der Weltbevölkerung tot gewesen. Babys wären mit Deformationen auf die Welt gekommen, mit denen ihre Überlebenschancen bei gerade mal bei ein paar Jahren gelegen hätten. Die Menschheit wäre langsam ausgestorben, und angesichts des Mangels an Nahrungsquellen hätte den Vampiren und Werwölfen dasselbe Schicksal gedroht. Die Einzigen, die überlebt hätten, wären eine Handvoll Hexen gewesen. Aber selbst sie hätten in der kontaminierten Umgebung nicht lange existieren können. Früher oder später wäre die ganze Welt ausgestorben. Wenn du die Erde, wie sie heute ist, für eine schlechte hältst, dann war die in Atticus Vision vollkommen leergefegt.«

Evelyn keuchte entsetzt.

»Und genau das ist der Grund, aus dem wir Atticus dankbar sein müssen. Er hat die Sache in die Hände genommen und den Aufstand gegen die Menschen gewagt. Deswegen sind wir immer noch hier und versuchen, einen besseren Ort aus dieser Welt zu machen.«

»Aber hat der Krieg nicht schon 2020 begonnen?«

»Wie gesagt wollte Amerika nicht gegen China kämpfen. In Atticus’ Vision wäre der dritte Weltkrieg nicht vor 2025 ausgebrochen.«

»Aber warum hat Atticus nicht schon viel früher eine Rebellion angezettelt? Wenn er gewusst hat, dass die Atomwaffen den Planeten zerstören würden, warum hat er dann nicht bereits vor der Eskalation zwischen Amerika und China eingegriffen?«

»Weil er es nicht wollte. Seine Visionen haben sich nicht immer bewahrheitet. Er hat gehofft, dass sich die Geschichte wie jedes Mal zuvor selbst korrigieren würde. Erst als es absolut unvermeidbar war, ist er eingeschritten.«

»Ich verstehe trotzdem nicht …«

»Atticus war nicht daran interessiert, Herrscher über diese Welt zu werden. Macht war nie etwas, das ihn besonders gereizt hat. Wäre er nicht der Einzige gewesen, der in der Lage war, eine so mächtige Armee zusammenzustellen, bevor der dritte Weltkrieg ausbrechen konnte, hätte er den Job jemand anderem überlassen. Doch da er und Venice die einzigen beiden Vampire auf der Welt waren, die Menschen verwandeln konnten und dabei zu hundert Prozent erfolgreich waren, und da der Großteil der Vampir-Population auf ihn zurückgeht, war er der Einzige, der den Krieg verhindern konnte. Er war der Einzige, der mächtig genug war, eine ganze Spezies gegen die menschlichen Regierungen anzuführen.«

»Inzwischen scheint er mit seiner Macht weniger Probleme zu haben«, bemerkte Evelyn. Es stand außer Zweifel, dass Atticus jederzeit bereit war, seine Stellung als König zu nutzen, egal wie viel Schmerz und Leid er damit verursachte.

Hansel schüttelte den Kopf. »Ich glaube eher, dass er auf der Stelle als Anführer der Nation zurücktreten würde, wenn er sich sicher sein könnte, dass der Schritt keine negativen Auswirkungen hätte. Vermutlich wäre er dann sehr viel glücklicher. Aber das ist nicht möglich. Er ist der Einzige, der stark genug ist, Machtkämpfe innerhalb der Spezies der Vampire zu verhindern. Er ist der Einzige, der den Frieden wahren kann, weil er unsterblich ist. Niemand ist dumm genug, gegen jemanden den Aufstand zu wagen, der beinahe unmöglich zu töten ist.«

Zumindest fast niemand.

2

Evelyn hatte damit gerechnet, dass es ein komisches Gefühl sein würde, nach so vielen Monaten, in denen sie in der Königsstadt gefangen gehalten worden war, in ihr altes Zuhause zurückzukehren. Aber das war es gar nicht. In dem Moment, in dem sie durch die Eichentüren trat, fühlte es sich genauso an wie immer. Da war derselbe polierte Marmor unter ihren Stiefeln und der gleiche süße, heimelige Geruch nach Vanille. Überlagert vom Duft nach Entenbraten, der aus der Küche Richtung Eingangstür zog und ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Es war überwältigend, nach all den schlaflosen Nächten an den Ort zurückzukehren, an den sie gehörte, von dem sie geträumt hatte. An den Ort, den sie ihr Zuhause nannte, zu ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Schwester.

»Eve!«, rief Nora, die in diesem Moment vom ersten Stock langsam die geschwungene Treppe hinunterschritt.

Nora war genauso wunderschön, wie Evelyn sie in Erinnerung hatte. Sie trug eine schwarze Lederhose und einen kuscheligen roten Pullover. Ihre leicht gebräunte Haut war makellos, ihre dunklen Haare schimmerten seidig und die großen blauen Augen ähnelten Evelyns, nur dass die ihrer Schwester noch viel schöner waren.

Als Evelyn einen Blick in den Spiegel warf, der am Ende der Treppe an der Wand hing, fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr war nicht klar gewesen, wie schrecklich sie aussah. Andererseits überraschte es die jüngere der beiden Blackburn-Schwestern nicht. Während ihrer Zeit in der Königsstadt hatte sie sich gehen lassen, ihr Aussehen hatte ihr nichts mehr bedeutet. Wenn ihre Schönheit das Einzige war, das anziehend auf Atticus wirkte, verzichtete sie gerne darauf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal ihr Spiegelbild betrachtet hatte, doch es musste sehr lange her sein, denn das Mädchen, das ihr in diesem Augenblick aus dem Spiegel entgegenstarrte, erschien ihr vollkommen fremd. Allein an Hansel, der schützend hinter ihr stand, erkannte sie sich selbst darin.

Ihre Wangen wirkten eingefallen, die Haut bleich wie Knochen, und ihre Haare mussten schon vor langer Zeit jeglichen Glanz verloren haben. Das helle Tageslicht, das durch die großen Fenster im Dach der Eingangshalle fiel, offenbarte, wie krank sie aussah. Sie war nicht mehr als ein Schatten des Mädchens, das vor ein paar Monaten dieses Haus verlassen hatte. Seitdem hatte sie viel Gewicht verloren – durch ihren Kampf gegen den König und das mentale und physische Trauma, das er ihr zugefügt hatte. In diesem Augenblick schien sie aus nicht viel mehr als Haut und Knochen zu bestehen.

»Oh …« Der keuchende Laut brach die Stille und damit Evelyns und Noras stummen Blickwechsel. »Mein kleines Mädchen!«

Es war Lynette Blackburn, Evelyns Mutter, die im Gegensatz zu Nora überglücklich war, Evelyn nach der langen Zeit wiederzusehen. Vor Überraschung ließ sie die antike Schale fallen, die sie am Morgen gekauft hatte, sodass das wunderschöne Apfelblütenmuster auf dem harten Marmorboden in zahllose kleine Scherben zersprang. Doch Lynette schenkte dem zerbrochenen Porzellan keine Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem zierlichen Mädchen, das vor ihr stand.

Mit langen Schritten durchquerte Lynette die Eingangshalle und vergrub das Gesicht in Evelyns Haaren. »Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist«, flüsterte sie, während sie ihre geliebte Tochter in die Arme schloss. »Wenn dies ein Traum ist, dann versprich mir bitte, mich niemals zu wecken.«

Mit einem Lächeln vergrub Evelyn den Kopf in der Mulde zwischen Schulter und Hals ihrer Mutter. »Ich bin es wirklich, Mum. Ich bin zurück … zu Besuch.« Evelyn schlang die Arme um Lynettes Taille und stellte fest, dass ihre Mutter ebenfalls abgenommen hatte. Von ihrer fülligen Figur war kaum noch etwas übrig.

»O mein Schatz, lass dich ansehen.« Zögernd trat Lynette einen Schritt zurück, um Evelyn ins Gesicht sehen zu können. »Mein Gott, geben dir diese Vampire in der Königsstadt nichts zu essen?«

Als Lynette zärtlich mit dem Zeigefinger über Evelyns Wange strich, in den dunklen blauen Augen ein Ausdruck voller Liebe, löste sich Träne um Träne aus Evelyns Augenwinkeln. »Mum«, flüsterte sie. Sie traute ihren Augen kaum – ihre Mutter stand hier, direkt vor ihr. Als sie das Haus ihrer Eltern vor Monaten verlassen hatte, hatte sie nicht daran geglaubt, lange genug zu überleben, um noch einmal durch diese Tür zu treten und ihre Mutter wiederzusehen.

»Evelyn?« Beim Klang der dunklen Stimme, die vom obersten Treppenabsatz erscholl, lösten sich Mutter und Tochter aus ihrer liebevollen Umarmung.

Es war Jonathan Blackburn.

»Dad?« Schockiert sah Evelyn zu ihrem Vater hinauf. Beim Anblick des Mannes auf der Treppe schien ihr der welkende Körper ihrer Mutter auf einmal kaum erwähnenswert.

Als Evelyn Anfang September das Haus ihrer Eltern verlassen hatte, hatte ihr Vater gesund und stark und für sein Alter jung gewirkt. Doch jetzt? Er sah wie ein komplett anderer Mann aus. Innerhalb weniger Monate schien er um mindestens ein Jahrzehnt gealtert zu sein. Graue Strähnen durchzogen sein Haar, seine Wangen waren eingefallen, und er hatte mehr Gewicht verloren als seine Frau und Tochter zusammen.

»Ich kann es nicht glauben.« Jonathan Blackburns Stimme zitterte, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich war mir sicher, dass sich der König nur einen schlechten Scherz erlaubt. Niemals hätte ich geglaubt, dass …« Anstatt den Satz zu beenden, stürzte er die Treppe hinunter, um seine Tochter zu begrüßen. So eilig, dass er beinahe über die letzte Stufe gestolpert wäre, hätte Nora ihn nicht am Arm gehalten, bevor er hinfallen konnte.

»Dad.« Evelyn streckte ihm die Arme entgegen.

Ohne Nora auch nur einen Blick zu schenken, ging Jonathan auf seine jüngere Tochter zu. Seine Augen glänzten vor Freude. Noch immer rannen ihm Tränen über die Wangen, während er sein kleines Mädchen in Augenschein nahm. »Ich hätte niemals geglaubt, dich noch einmal wiederzusehen«, wisperte er, bevor er sie in eine Umarmung zog. »Mein kleines Mädchen, du ahnst nicht mal, was für Sorgen deine Mutter und ich uns um dich gemacht haben.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Haare. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen beobachtete Hansel die Wiedervereinigung der Blackburns. Er konnte sich nicht erinnern, wann er Evelyn zum letzten Mal so glücklich gesehen hatte, außer wenn sie mit Ethan zusammen gewesen war. Doch ihr Glück würde nicht von langer Dauer sein. Die Nachricht, die Atticus ihn zu überbringen beauftragt hatte, lag ihm auf der Seele.

»Warte nicht zu lange«, hatte Atticus ihn gewarnt.

Hansel wusste, dass er Evelyn schon bald erzählen musste, was mit Alice und Aaran geschehen war, aber er konnte es nicht ertragen, die wunderschöne Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, zu stören. Morgen, sagte er zu sich selbst. Ich werde es ihr morgen sagen. Heute braucht sie ein wenig Frieden. Zeit mit ihrer Familie.

In diesem Moment fiel sein Blick auf Nora, die noch immer am Fuß der Treppe stand. Sie wirkte nicht einmal halb so bewegt von Evelyns Rückkehr wie ihre Eltern, noch schien sie ebenso viele schlaflose Nächte um ihre Schwester gehabt zu haben. Für eine Sekunde sah Hansel Neid, Wut und Verärgerung in ihrem Blick.

Leute wie Nora waren ihm nicht fremd. In dieser Hinsicht waren sich Vampire und Menschen ähnlicher, als man es auf den ersten Blick vielleicht vermutet hätte. Sie sehnten sich nach Aufmerksamkeit und ertrugen es nicht, wenn sie jemand anderem zuteilwurde. Er ballte die Hände zu Fäusten, während er darüber nachdachte, wie es möglich war, dass Jonathan und Lynette gleichzeitig eine so sanfte Tochter wie Evelyn und eine so unversöhnliche und herzlose wie Nora hatten großziehen können. Ihm fiel wieder ein, dass Evelyn ihm erzählt hatte, wie sehr sie ihre Schwester liebte und wie nah sie und Nora sich gewesen waren, bevor Atticus in ihr Leben getreten war. Es hatte beinahe schon etwas Ironisches, wie Eifersucht einen Menschen zerstören konnte.

»Lord Hansel?« Jonathan Blackburns strenge Stimme riss Hansel aus seinen Gedanken. Evelyns Vater hatte sich von seiner Tochter und seiner Frau gelöst und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den königlichen Vampir, der nahe der Eingangstür stand. »Mein Lord, es tut mir leid, ich habe gar nicht gesehen, dass Sie …« Noch bevor Hansel etwas sagen konnte, fiel Jonathan auf die Knie, um ihn seinem Status angemessen zu begrüßen.

Doch Hansel weigerte sich, eine solch erniedrigende Begrüßung von Evelyns Vater hinzunehmen, vor allem angesichts des geschwächten Zustands, in dem sich Jonathan Blackburn ganz offensichtlich befand. »Bitte, Mr. Blackburn, das ist wirklich nicht nötig.« Hansel trat auf Jonathan zu und half ihm auf. »Ich bin nicht gerade ein großer Verfechter dieser Art Traditionen.«

Als Hansel ihm stattdessen zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte, war Jonathan für einen Augenblick zu geschockt, um zu reagieren. Doch schon einen Moment später breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er schüttelte Hansels Hand. »Es ist uns eine Freude, Sie bei uns willkommen zu heißen, Lord Hansel.«

»Bitte nennen Sie mich einfach Hansel – wie gesagt bin ich kein besonders formeller Typ.« Er sah zu Evelyn hinüber, die mit strahlendem Blick abwechselnd ihren Vater und ihre Mutter ansah. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich Sie alleine lasse, damit Sie ein wenig Zeit für sich haben.« Er boxte Evelyn spielerisch gegen den Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Benimm dich, du kleine Unruhestifterin, und stell bis morgen früh nichts Dummes an. Wenn dir irgendetwas zustößt, bringt Atticus mich um.«

Sie runzelte die Stirn. »Wo gehst du hin?«

Hansel wandte sich mit einem Schulterzucken ab. »Marcus hat nicht weit von hier ein Anwesen, oder? Da er nach wie vor in Australien ist, werde ich heute Nacht dortbleiben. Es wird ihn nicht stören.«

»Nein, warte!«, rief Evelyn ihm hinterher. »Bitte bleib, zumindest noch eine Weile.« Sie griff nach seiner Hand, um ihn aufzuhalten.

Als Evelyn seine Hand berührte, spürte Hansel, wie seine Seele von einem seltsamen Gefühl ergriffen wurde.

»Evelyn hat recht, es wäre sehr unhöflich von uns, Sie nicht wenigstens zum Abendessen einzuladen. Wir haben Ihnen noch immer nicht richtig dafür gedankt, dass Sie Evelyns Leben gerettet haben«, sagte Jonathan, doch Hansel wusste, dass seine Einladung nur von der verpflichtenden Höflichkeit herrührte, die man von Menschen gegenüber Vampiren erwartete.

»Vielleicht morgen. Evelyn wird eine Woche hierbleiben. Ihnen bleibt also genug Zeit, mich zum Abendessen einzuladen. Ich denke, für heute ist es besser, wenn ich gehe. Dies ist seit langer Zeit der erste Abend, den Sie wieder alle zusammen als Familie verbringen. Da möchte ich nicht stören.« Hansel lächelte höflich in die Runde, auch wenn ein Teil von ihm gerne der Versuchung nachgegeben hätte zu bleiben. Ein verräterischer Teil, der Evelyns Hand nehmen und sie nie wieder loslassen wollte. Er wollte bei ihr bleiben, sie beschützen. Vor allem und jedem.

Schnell trat er einen Schritt zurück. Das hier ist ihre Familie, rief er sich in Erinnerung. Sie verdiente einen unbeschwerten freien Abend mit ihr. Er wäre dabei nur im Weg, und ihr Vater war zu höflich, um ihn zu bitten zu gehen.

Hansel wandte sich Evelyn zu, die noch immer seine Hand hielt. Zärtlich stupste er mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. »Benimm dich, Unruhestifterin. Wir sehen uns morgen.« Und mit diesen letzten Worten wandte er sich ab und ging.

Ein leises Lächeln trat auf Jonathans Lippen, als er Hansel hinterhersah. Auch wenn er den Lord nicht auf die gleiche Art verabscheute wie Atticus, beunruhigte ihn die Vorstellung, einen Vampir im Haus zu haben. In seinen Augen waren alle Vampire gleich: grausam, unbarmherzig und rücksichtslos. Selbst wenn Hansel einer der wenigen unter ihnen war, der sich etwas aus Menschen machte, war er trotz allem ein mörderisches, blutsaugendes Monster.

»Komm, Eve.« Mit einem strahlenden Lächeln legte Lynette ihrer jüngeren Tochter einen Arm um die Schultern. »Es wird Zeit, dass du etwas isst. Du siehst aus, als hättest du seit Wochen nichts in den Magen bekommen.«

Evelyn nickte begeistert und schlang den Arm um die Taille ihrer Mutter. Gemeinsam gingen sie in Richtung Küche, um wie früher ein wenig Mutter-Tochter-Zeit zu verbringen.

Nachdem Lynette und Evelyn verschwunden waren, richtete Jonathan seine Aufmerksamkeit auf Nora, der in den letzten Minuten niemand viel Beachtung geschenkt hatte. Als er den bitteren Zug um ihren Mund bemerkte, seufzte er tief. »Sei deiner Schwester gegenüber nicht so kalt, Nora. Sie liebt dich, das weißt du. Wie lange willst du dieses Theater noch aufführen?« Er ging näher auf sie zu. »Lächle. Freu dich, dass deine Schwester wenigstens für eine kurze Weile wieder zu Hause ist. Du solltest die Zeit genießen. Immerhin wissen wir nicht, wann wir sie das nächste Mal wiedersehen werden.«

»Du hast mir nicht gesagt, dass sie zurückkommt«, antwortete Nora kühl.

»Ich habe es selbst erst gestern Abend erfahren. Der König hat mir mitgeteilt, dass es eine sehr kurzfristige Entscheidung war. Evelyn brauche ein wenig Zeit mit uns, um wieder zu Kräften und auf gute Gedanken zu kommen. Und angesichts ihres Aussehens habe ich absolut keinen Zweifel, dass sie ein wenig Glück im Leben bitter nötig hat. Hast du bemerkt, wie dünn sie geworden ist? Sie sieht nicht gut aus.« Tröstend legte Jonathan Nora eine Hand auf die Schulter.

»Warum meint jeder, sich als ihr Anwalt aufspielen zu müssen?«, zischte Nora wütend. »Es geht immer nur um sie. Jeder macht sich Sorgen. Ständig machen alle einen Riesenaufstand um sie. Sie lebt in der Königsstadt, Dad! Der König sieht sie an, als wäre sie auf der ganzen Welt das absolut Wichtigste für ihn. Hör endlich auf, sie als Opfer darzustellen, denn das ist sie nicht.«

Jonathan seufzte. Manchmal wünschte er sich, Nora und Evelyn könnten Plätze tauschen. Wenn Nora tatsächlich imstande war, glücklich mit dem König der Vampire zu werden, hätte er damit leben können, sie gehen zu lassen.

»Es stimmt, dass Atticus deine Schwester als das Wichtigste auf der Welt ansieht, aber Vampire können grausam sein. Du kennst deine Schwester genauso gut wie ich. Wir alle wissen, wie stur und unabhängig Evelyn ist und sein möchte. Für sie gibt es nichts Schlimmeres, als in der Königsstadt als Spielzeug des Königs gefangen gehalten zu werden. Selbst wenn er Gefühle für sie hat, habe ich absolut keinen Zweifel, dass er seine Macht über sie ausnutzt.« Jonathan zuckte bei seinen eigenen Worten erschrocken zusammen. Dies war die Realität, die er seit Monaten ausgeblendet hatte. Das Wissen darum, dass seinem kleinen Mädchen wehgetan wurde und er nichts dagegen tun konnte, brachte ihn beinahe um. In diesem Moment hätte er nichts lieber getan, als Evelyn an einen sicheren Ort zu bringen, an dem Atticus sie nicht finden konnte. Aber das war nicht möglich, da ein solcher Ort nicht existierte. Selbst wenn es Evelyn gelingen sollte zu flüchten, würde der König alles dafür tun, sie zurückzuholen.

»Und ich habe absolut keinen Zweifel, dass sie jede Sekunde, in der sie im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, in der sich alle um sie sorgen, genießt. Du stellst es so dar, als wäre es etwas Schlimmes, dass sich der König Hals über Kopf in sie verliebt hat, dabei würde ich wetten, dass sie es genau so geplant hat.« Nora kicherte spöttisch. »Ja, wirklich, arme Evelyn.«

»Nora!«, zischte Jonathan. »Ich habe keine Ahnung, wie du so etwas im Ernst glauben kannst, aber ich bitte dich um eins: Trag nicht dazu bei, dass es ihr in der kurzen Zeit, die sie hier ist, noch schlechter geht, als es sowieso bereits der Fall ist. Ich erwarte, dass du sie in den nächsten Tagen so behandelst wie in der Zeit, bevor der König in unser Leben getreten ist. Bitte.«

»Wie du meinst, Dad.«

3

Während des Abendessens hatte Nora stumm und voller Abneigung beobachtet, wie ihre Eltern um ihre jüngere und – in Noras Augen – glücklichere Schwester herumscharwenzelten. Blind vor Eifersucht und Neid entging Nora, wie gebrochen und schwach ihre früher so lebhafte Schwester geworden war. Die Evelyn Blackburn, die ihr an dem kleinen Teetisch gegenübersaß, mochte vielleicht noch dieselben physischen Merkmale haben wie die Evelyn, die an jenem Morgen im vergangenen September Blackburn Manor verlassen hatte, doch in dieser körperlichen Hülle war nicht mehr dasselbe Mädchen. In der Königsstadt hatte Evelyn eine geistige Reife erlangt, als wären Jahrzehnte und nicht nur Monate vergangen. Nora dagegen litt noch immer an derselben Engstirnigkeit und klammerte sich mit aller Gewalt an ihre kindischen Ambitionen.

Evelyns Zeit in der Königsstadt und was zwischen ihr und dem König vorgefallen war, wurde nicht angesprochen, und außer Nora schien auch niemand ein Interesse daran zu haben. Während sich Evelyn und ihre Eltern über die irrelevanten Ereignisse innerhalb ihrer eigenen Familie und der ihrer Freunde unterhielten, juckte es Nora in den Fingern dahinterzukommen, was zwischen Evelyn und dem König passiert war. Doch ihr Vater hatte sie gewarnt, irgendwelche Themen anzusprechen, die etwas mit Vampiren zu tun hatten, und Nora hatte zu viel Respekt vor ihren Eltern, als dass sie sich ihren Wünschen widersetzt hätte. Zumindest solange sie in der Nähe waren. Nora wäre nicht Nora gewesen, hätte sie sich auch nur im Geringsten für Evelyns geistige oder physische Gesundheit interessiert. Alles was sie wollte, war, mehr über den König zu erfahren. Und darüber, wie sie sich selbst einen einflussreichen Vampir angeln konnte.

Um das Bild der perfekten, liebenden Schwester vor ihren Eltern aufrechtzuerhalten und eine Chance zu bekommen, Evelyn mehr Einzelheiten zu entlocken, fasste Nora deshalb einen anderen Plan. »Möchtest du heute Nacht in meinem Zimmer schlafen, Eve?«, erkundigte sie sich freundlich und mit einem engelsgleichen Lächeln, das nicht nur Evelyns, sondern auch das Herz ihrer Mutter vor Freude höherschlagen ließ. »Es wäre doch schön, wenn wir ein bisschen Zeit für uns haben. Nur wir Schwestern. Es ist so lange her, dass wir uns gesehen haben … Wir haben einiges aufzuholen.«

Es war ein Angebot, das Evelyn unmöglich ablehnen konnte. Trotz Noras offensichtlicher Abneigung ihr gegenüber, konnte die diesbezüglich naive jüngere der beiden Blackburn-Schwestern einfach nicht glauben, dass die wunderbare Verbindung, die die Schwestern früher einmal gehabt hatten, für immer der Vergangenheit angehören sollte. Entgegen aller Anzeichen glaubte sie an den Grundsatz, dass Familie nun mal Familie war und blieb, und dass das Blut, das durch ihre Adern floss, sie für immer miteinander verband. Sie glaubte daran, dass Nora ihr vergeben würde, was auch immer sie getan hatte und was auch immer ihr angetan worden war.

Der Einzige, der angesichts Noras plötzlicher Freundlichkeit hellhörig wurde, war Jonathan. Besorgt beobachtete er seine beiden Töchter, schwieg jedoch. Auch wenn ihn der allzu plötzliche Gemütswechsel seiner älteren Tochter misstrauisch machte, musste er im Zweifelsfall zu ihren Gunsten entscheiden – immerhin war sie seine Tochter. Nora und Evelyn waren zusammen aufgewachsen, deswegen fiel es ihm schwer zu glauben, dass eine von ihnen tatsächlich so kaltherzig sein konnte, wenn die andere doch voller Mitgefühl für ihre Mitmenschen war.

Während die Familie um den Kamin saß, in Erinnerungen schwelgte, scherzte und Gesellschaftsspiele spielte, begannen sich Jonathans Zweifel langsam zu zerstreuen. Nora schien Evelyn gegenüber merklich aufzutauen, und Jonathan hegte sogar die vage Hoffnung, dass die beiden ihre enge Bindung wiederaufleben lassen konnten.

Doch wenn Jonathan geahnt hätte, was als Nächstes passieren würde, hätte er Nora auf der Stelle verboten, auch nur in Evelyns Nähe zu kommen.

»Ich habe dich vermisst, Nora«, sagte Evelyn, während sie ihrer Schwester den schwach beleuchteten Korridor entlang folgte, der zu ihrem Zimmer führte. Auch wenn Blackburn Manor bei Weitem nicht so luxuriös, groß und weitläufig war wie der Königliche Palast und nicht mal annähernd so viele teure Möbelstücke beherbergte, hätte Evelyn das Haus ihrer Eltern zu jedem Zeitpunkt vorgezogen. Im Gegensatz zum Palast fühlte sie sich hier geborgen, beschützt, umgeben von Menschen, die sie liebten.

»Ich habe dich auch vermisst«, gab Nora halbherzig zurück, während sie ihre Schwester zu ihrem Zimmer im zweiten Stock führte.

Es handelte sich um einen der großzügigsten Räume von Blackburn Manor, von dem aus man den besten Blick auf den Garten und die umliegende Landschaft hatte. Als Kind hatte Evelyn das Zimmer mit dem wunderschönen Holzboden, der hohen Decke, den großen Fenstern und dem Gefühl von Freiheit und Platz, das es vermittelte, geradezu verehrt. Doch da Nora schon immer ziemlich viel an ihrer Privatsphäre gelegen hatte, hatte Evelyn nie viel Zeit darin verbracht, und in diesem Moment fiel es ihr schwer, sich im Detail zu erinnern, wie der Raum genau aussah.

»Oh«, entfuhr Evelyn ein erstaunter Laut, als sie Noras Zimmer betraten. Auch wenn es eine ganze Weile her war, dass sie hier gewesen war, war ihr klar, dass der Raum in keiner Weise mehr dem von vor ein paar Monaten ähnelte.

Er war so prachtvoll eingerichtet, dass er es ohne Weiteres mit einem der Zimmer im Palast hätte aufnehmen können. Viele der Möbelstücke – wie das elegante Himmelbett, den glänzenden neuen Kleiderschrank mit den verspiegelten Schiebetüren, den riesigen Flachbildfernseher und einige der Dekorationsgegenstände – hatte sie noch nie gesehen.

»Hast du renoviert?«, fragte Evelyn, die Augen vor Erstaunen noch immer weit aufgerissen, während sie sich umsah, um all die Schönheit in sich aufzunehmen.

»Ach, ja, hab ich«, antwortete Nora, beinahe gelangweilt. »Nachdem du ausgezogen bist, hat Atticus weitere Geschenke hergeschickt. Mum und Dad wollten sie nicht, also habe ich sie verkauft, um neue Möbel für mein Zimmer zu kaufen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

»Nein, es macht mir nichts aus«, antwortete Evelyn aufrichtig. »Solange du glücklich bist, ist mir vollkommen egal, was aus den Geschenken geworden ist. Ich hätte sie ohnehin nicht behalten.«

»Gut.« Nora ging zu ihrem Bett hinüber und hob ein Kissen vom Boden auf. »Das wird lustig. Du und ich und jede Menge Klatsch und Tratsch. Genau wie früher, bevor du ausgezogen bist, um dein vornehmes Leben mit dem König im Palast zu teilen.«

Evelyn entging die Grausamkeit hinter Noras Worten nicht; sie hatte sie genauso gemeint, wie sie sie gesagt hatte. Sie hasste Evelyn – für etwas, um das diese niemals gebeten hatte.

»Du weißt, dass ich keine Wahl hatte, Nora. Ich wollte nicht in den Palast ziehen«, erklärte sie. »Hätte ich eine Wahl gehabt, wäre ich hiergeblieben. Aber hätte sich Dad dem Befehl des Königs widersetzt, wäre er bestraft worden, und Ethan …« Evelyn spürte einen Kloß im Hals und ihr stockte der Atem, als sie den Namen der Liebe ihres Lebens aussprach und sich an Atticus’ Erpressung erinnerte und wie er sein Versprechen gebrochen hatte. Ethan war gefoltert worden, und nun wusste Evelyn nicht einmal mehr, wo er sich befand. Ob er noch am Leben war. Beim Gedanken daran wurde sie von einem Zittern erfasst.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf, als könnte sie die Angst damit abschütteln. Seit sie aufgewacht war, hatte sie sich bemüht, möglichst nicht an Ethan zu denken. Hansel hatte ihr versichert, dass Ethan lebte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Sie musste daran glauben. Sie musste ihm vertrauen. Sie wusste nicht, ob Ethan hilflos Atticus’ Zorn ausgeliefert oder ob er in Freiheit war, doch sie hoffte auf Letzteres und darauf, dass Atticus ihm nichts antun würde.

Nora verdrehte die Augen. »Erzähl mir jetzt nicht, dass du immer noch Gefühle für diesen Redfern hast. Ich meine, komm schon, der Junge mag ja ganz süß sein, und ihr beide seid damals vielleicht ein nettes Pärchen gewesen, aber dann ist der König aufgetaucht. Du willst doch nicht im Ernst an dieser lächerlichen Romanze festhalten. Im Vergleich mit dem König ist Ethan nichts. Atticus hat mehr Macht und mehr Geld, und wenn du mal ehrlich bist, ist er der attraktivste Mann, dem du jemals begegnet bist.«

Evelyn antwortete nicht gleich, sondern setzte sich auf Noras Bett, nahm eines der kuscheligen Kissen und drückte es an ihre Brust. »In der Liebe geht es nicht um das, was jemand besitzt. Macht, Geld und Aussehen haben keinerlei Bedeutung, solange man die Person nicht liebt. Du bist nicht die Einzige, die der Ansicht ist, dass ich mich von Ethan trennen und Atticus in die Arme werfen sollte. Und vielleicht könnte ich das sogar, wenn ich Ethan nicht schon so lange lieben würde.«

Einen Moment lang starrte Nora ihre jüngere Schwester an, als würde es ihr schwer fallen zu entscheiden, ob sie Evelyn glauben sollte oder nicht. »Aber warum solltest du einen Menschen wie Ethan einem König vorziehen? Was kann Ethan dir schon bieten, das der König dir nicht bieten kann?«

Evelyn lächelte. Doch es war kein glückliches Lächeln, sondern eines voller Traurigkeit. »Du verstehst es noch immer nicht, Nora. Vampire sind nicht so, wie sie in den Medien dargestellt werden. Sie sind viel grausamer und herzloser, als du denkst.« Als ihr ein Bild aus jener Nacht im Motel durch den Kopf schoss, zuckte Evelyn unwillkürlich zusammen. Sie wollte für sich behalten, wie furchtbar diese Gewalttätigkeit war, wie sehr jenseits von Noras Vorstellungen. Sie wollte ihrer Schwester keine Angst einjagen.

»Lüg mich nicht an«, entgegnete Nora kühl. In ihrer Stimme war nichts von der Zärtlichkeit, mit der Evelyn mit ihrer Schwester sprach. »Du kannst so lange das Opfer spielen, wie du willst, ich werde nicht auf deinen Trick hereinfallen und dich bemitleiden. Der König hat sich in dich verliebt, Evelyn. Das ist etwas, von dem Mädchen wie ich nur träumen können. Ich habe die Gerüchte aus dem Palast gehört. Am liebsten würde er dich auf ein Podest stellen und wie eine Göttin verehren. Hör auf, so zu tun, als wärst du unglücklich.«

Für einen Moment war Evelyn angesichts der puren Aggression in Noras Ton so perplex, dass sie kein Wort herausbrachte. Im Gegensatz zu der liebenden Schwester von vor ein paar Minuten hatte Nora eine Hundertachtziggradwende vollzogen; ihre blauen Augen wirkten vor Wut viel dunkler als sonst.

»Was muss ich tun, um dich zu überzeugen, dass ich nichts von alledem wollte? Ich liebe Atticus nicht. Es gab vielleicht eine Zeit, in der ich ihn kurz als einen Freund betrachtet habe und sogar Mitleid mit ihm hatte, weil er so einsam wirkte, aber ich habe ihn niemals geliebt. Und ich könnte ihn auch niemals lieben, nicht nachdem er…« Evelyn beendet den Satz nicht.

»Nachdem er was?«, bohrte Nora nach.

Doch Evelyn schwieg beharrlich. Sie wollte die schreckliche Erfahrung, die sie gemacht hatte, auf keinen Fall mit Nora teilen.

Nora war anders als sie, schon immer gewesen. Ihre Schwester wollte sich in einen Vampir verlieben, bis in alle Ewigkeit leben, und Evelyn wollte sie nicht verängstigen, indem sie ihr davon erzählte, was zwischen ihr und Atticus vorgefallen war. Nur für den Fall, dass eines Tages eventuell doch ein Vampir ihres Weges kommen und sie sich in ihn verlieben würde. Nur für den Fall, dass Atticus eines Tages, wenn er sich mit ihr zu langweilen begann, realisierte, dass er sich die falsche Schwester ausgesucht hatte und mit Nora viel glücklicher wäre.

»Evelyn, was hat Atticus getan?«, fragte Nora noch einmal, verärgert über Evelyns Schweigen.

Doch Evelyn blieb bei ihrer Entscheidung. »Ich glaube, ich schlafe heute Nacht doch lieber in meinem eigenen Zimmer«, sagte sie und rutschte vom Bett. In ihren Augen brannten Tränen, die jeden Moment ihre Wangen hinunterzukullern drohten.

»Nein!«, schrie Nora und riss ihre Schwester am Arm zurück. »Du wirst diesen Raum erst verlassen, nachdem du mir verraten hast, wie du Atticus dazu gebracht hast, sich in dich zu verlieben. Du musst es mir erzählen!«

»Lass los!«, schrie Evelyn und versuchte sich von Nora loszumachen. »Ich habe gar nichts getan.«

»Doch, du musst etwas getan haben«, brüllte Nora. »Was hast du für ihn gemacht? Hattest du auf seinem Ball Sex mit ihm? Hast du ihm einen geblasen? Hast du ihn von deinem Blut trinken lassen? Oder alles drei? Sag es mir, Eve…«

Ein lautes Klatschen hallte von den vier makellos gestrichenen Wänden wider.

Es kostete Evelyn nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde zu realisieren, was sie getan hatte. »O mein Gott, Nora, ich … Es tut mir so leid. Ich …« Hilflos sah Evelyn mit an, wie ein roter Handumriss auf Noras Wange erschien.

Im nächsten Augenblick revanchierte sich Nora, indem sie mit einem markerschütternden Schrei ausholte und Evelyn mit aller Kraft eine Ohrfeige verpasste, die sie von den Füßen riss, sodass sie hart auf den Holzfußboden aufschlug. »Verschwinde aus meinem Zimmer, du Hure!«, zischte Nora. »Alles, woran du denkst, bist du selbst. Du schaffst es nicht mal dann, ehrlich zu sein, wenn du weißt, dass mein Glück und meine Zukunft davon abhängen. Du hast den König verführt, und jetzt spielst du das Opfer. Du solltest dich schämen!«

Evelyn kam keine Antwort über die Lippen. Sie konnte nur weinen. Jedes einzelne von Noras Worten war wie eine Rasierklinge, mit der sie schmerzhaft Evelyns bereits gebrochenes Herz malträtierte.

»Raus!« Nora packte Evelyn bei den Haaren und zerrte sie zur Tür.

»Nora!«, schrie Evelyn, als ihre Schwester ihr die Tür vor der Nase zuschlug. »Es ist nicht so, wie du denkst, Nora. I-Ich ha-habe nicht … Er…«, brachte sie unter Schluchzern hervor.

4

Als Evelyn das Haus ihrer Eltern betreten hatte, hatte sie sich vorgestellt, wie sie die Nacht in ihrem warmen Bett verbringen – ihre alten Stofftiere im Arm und den Duft der Kerzen in der Nase, die ihre Mutter ihr zu jedem Geburtstag geschenkt hatte – und einfach nur zufrieden sein würde.

Ihr Zuhause war der einzige Ort, an dem sie sich noch hatte vorstellen können, glücklich zu sein. Doch das war jetzt vorbei. Noras Worte hatten jeden Funken Glück, den sie in den vergangenen Stunden gespürt hatte, in Luft aufgelöst.

Anstatt in ihrem warmen Bett zu liegen, behütet von all ihren Lieblingssachen, befand sich Evelyn allein auf der Lichtung nicht weit entfernt vom Haus, die einst Ethans und ihr geheimer Treffpunkt gewesen war. Ihr Paradies, in dem sie Stunde um Stunde zusammen verbracht hatten.

Doch auch das gehörte der Vergangenheit an. Seit Atticus in ihr Leben getreten war, hatte sich alles verändert. Sogar dieser früher so glückliche Ort, an den sie nun nur noch zum Weinen kam. Doch selbst mitten in der Nacht und bei der Kälte war sie lieber hier als in ihrem Zuhause … Weil dies der einzige Ort war, an dem sie allein sein konnte, ohne dass ihre Eltern sie fragten, weswegen sie weinte.

Evelyn konnte unmöglich darüber sprechen, was Nora gesagt hatte. Erstens, weil sie nicht wollte, dass ihre Schwester die Worte wiederholte – dass ihre Eltern zu Ohren bekamen, was Nora von ihr hielt und was sie glaubte, dass Evelyn getan hatte … Zwar entsprach nichts davon der Wahrheit, doch Evelyn wollte auf keinen Fall, dass irgendetwas davon auch nur im Entferntesten zu ihren Eltern durchdrang. Und sie wollte nicht, dass ihre Eltern ihr Fragen darüber stellten, was zwischen Atticus und ihr vorgefallen war, ob sie Sex mit ihm gehabt hatte. Sie war nicht in der Lage, ihre Eltern anzulügen, aber sie wollte ihnen auf keinen Fall davon erzählen, was vor ein paar Tagen zwischen ihnen passiert war.

Und zweitens wollte Evelyn ganz einfach nicht, dass ihre Eltern wussten, was Nora zu ihr gesagt hatte. Sie sollten nicht erfahren, was für eine herzlose Tochter sie hatten, die es noch nicht einmal schaffte, ihrer Schwester gegenüber ein wenig Mitleid zu empfinden. Nora war die einzige Tochter, die ihnen noch geblieben war. Ob es ihnen gefiel oder nicht, nach dieser Woche standen die Chancen, dass sie Evelyn jemals wiedersehen würden, beinahe gleich null. Und aus ihrem goldenen Käfig innerhalb der Mauern der Königsstadt heraus würde Evelyn keine Möglichkeit haben, sich um ihre Eltern zu kümmern. Nora war also die einzige Tochter, auf die sie sich im Alter stützen konnten.

Drittens schließlich fragte sich Evelyn, ob Nora mit einigen der Dinge, die sie gesagt hatte, nicht doch recht gehabt hatte. Was wenn sie Atticus tatsächlich verführt hatte, wenn auch ohne Absicht? Was wenn dies alles ihre eigene Schuld war? In jener ersten Nacht, als sie sich kennenglernt hatten, hatte sie ihm ein wenig Wärme und Nähe schenken wollen, damit er sich weniger einsam fühlte. Sie hatte ihn an all die Gründe erinnern wollen, aus denen es sich lohnte weiterzuleben. Was wenn sie ihm mit ihrer Freundlichkeit ein vermeintliches Signal gegeben hatte, das er als Einladung missverstand, ihr weiterhin nachzustellen?

»Was wenn ich an alledem die Schuld trage?«, wisperte sie so leise, dass es beinahe wie ein Seufzen klang. Mit einem weiteren stummen Schluchzen schlang Evelyn die Arme fester um ihre Beine und vergrub den Kopf an ihren Knien.

»Es ist nicht deine Schuld«, hörte sie eine vertraute Stimme ein paar Schritte neben sich. Eine Stimme, die Evelyn unwillkürlich zusammenzucken ließ.

»Diese Stimme … Ich habe sie schon mal gehört, in dem Hotel, als ich beinahe gestorben wäre …«

Langsam hob Evelyn den Kopf. Einen Moment lang verschleierten ihr die Tränen den Blick, doch dann schärften sich die Umrisse und sie sah zu einer Frau mit langen weißen Haaren auf, die über ihr stand. Sie schien auf sie hinabzusehen, gleichzeitig wirkte ihr Blick jedoch seltsam unfokussiert. »W-Wer sind Sie?«, flüsterte Evelyn. Die Frau war ihr vollkommen fremd, doch diese Stimme … Es war die Stimme, die sie vor wenigen Tagen zurück ins Leben geholt hatte.

»Mein Name ist Venice«, erklärte die Frau und reichte Evelyn die Hand. »Du solltest nicht auf dem Rasen sitzen, der Boden ist nass und kalt. Ich möchte nicht, dass du krank wirst.«

»Venice …«, wiederholte Evelyn den Namen stumm in ihrem Kopf. Obwohl sie der Frau, die nun vor ihr stand, noch niemals begegnet war – zumindest nicht bewusst –, entschied Evelyn, dass es nicht schaden konnte, die ihr angebotene Hand anzunehmen. Immerhin hatte sie nicht wirklich viel zu verlieren.

Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, konnte sie das Gesicht der Frau von Nahem betrachten. Als Kind hatte sich Evelyn immer gewünscht, eine Zwillingsschwester zu haben, eine Kopie ihrer selbst, jemanden, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Die Vorstellung hatte sie niemals wirklich verlassen, und in diesem Moment, als sie Venice’ Gesicht studierte, hatte sie das Gefühl, in einen dieser Kindheitsträume zurückversetzt worden zu sein.

»Hab keine Angst.« Venice legte ihre andere Hand auf Evelyns. »Ich bin keine Feindin, versprochen.«

»Und wer sind Sie dann?«, flüsterte Evelyn. Ihr Herz raste. Das alles fühlte sich vollkommen … irreal an. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Venice war frappierend, wenn man von der Farbe ihrer Augen und Haare absah. Ihre Gesichtszüge schienen beinahe identisch. Nicht einmal Nora sah ihr so ähnlich.

»Keine Angst, meine Liebe, ich bin eine Freundin, keine Feindin«, wiederholte Venice mit so sanfter Stimme, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen. »Ich bin davon ausgegangen, dass Ethan oder Hansel dir von mir erzählt haben.«

»Hansel … Ethan?«, murmelte Evelyn die Namen der beiden wichtigsten Personen in ihrem Leben vor sich hin. Erst einen Moment später erinnerte sie sich, dass Ethan ihr von der Anführerin Australiens erzählt hatte. »Sie sind Lady Venice?«

Die weißhaarige Frau nickte mit einem freundlichen Lächeln, doch statt Evelyn in die Augen zu sehen, hatte sie den Blick auf einen Punkt hinter ihr gerichtet.

Für einen Moment glaubte Evelyn, jemand stünde hinter ihr, und sie drehte sich rasch um. Doch sie waren allein.

Venice entging Evelyns Anspannung nicht. Beruhigend legte sie ihr eine Hand an die Wange. »Da ist niemand hinter dir, Liebes, wir sind allein. Ich richte meinen Blick in die Ferne, weil ich dein Gesicht nicht sehen kann.«

Evelyn runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?« Doch im selben Moment bemerkte sie, wie blass Venice’ Augen waren, wie kalte Gletscher, in denen sich nicht die geringste Emotion spiegelte. Leer und verhangen durch einen undurchdringlichen Nebel.

»Ja, ich bin blind«, beantwortete Venice Evelyns unausgesprochene Frage.

»D-Das tut mir leid. W-Wie …«, stotterte Evelyn, nicht sicher, was sie in einer solchen Situation sagen sollte.

»Das muss es nicht. Mein Augenlicht war der Preis für das, was ich vor all den Jahren in Atlantis getan habe. Ich habe die bösesten und gefährlichsten Kreaturen in diese Welt gebracht, eine Sünde, für die ich bezahlen musste. Für die wir alle bezahlen mussten.«

»Wir?«

»Ja, die Sieben. Die Erste Generation. Die Ursprünglichen. Die Götter. Über die Jahrhunderte hinweg hat man uns viele Namen gegeben, aber ich denke, die Sieben sollte dir am geläufigsten sein. Es ist der Titel, mit dem man mich und meine alten Freunde in den vergangenen Jahren am häufigsten in Verbindung gebracht hat.«

Evelyn nickte, bevor sie sich in Gedanken eine Ohrfeige dafür verpasste – natürlich konnte Venice das Nicken nicht sehen. »Ja, Ethan hat mir von den Sieben erzählt. Ihr wart die ersten Vampire.«

»Kennst du die ganze Geschichte?«

»Nein.«

»Ich werde sie dir irgendwann erzählen, aber jetzt gibt es wichtigere Dinge, über die wir uns unterhalten müssen, Liebes.« Venice zog an Evelyns Hand, um ihr zu bedeuten, ihr zu folgen. »Lass uns ein wenig spazieren gehen, damit dir wieder warm wird. Ich hasse es stillzustehen.«

»Und worüber möchten Sie mit mir sprechen, Lady Venice?«, fragte Evelyn. In der Begleitung einer solch wichtigen Person wie der unsterblichen Hexe neben sich fühlte sie sich seltsam eingeschüchtert. Eingeschüchtert, ängstlich und neugierig angesichts der Tatsache, wie ähnlich sie und Venice sich sahen. Nach allem, was sie gehört hatte, war Venice – neben Atticus – eines der mächtigsten Wesen, das jemals auf der Erde gewandelt war.

»Bitte nenn mich einfach Venice. Der Titel ›Lady‹ hat mir noch nie gefallen. Damit fühle ich mich schrecklich alt.« Mit einem Kichern wandte sie den leeren Blick in Evelyns Richtung. Die beiden Frauen waren beinahe identisch groß. »Ich bin hier, um die vielen Fragen zu beantworten, die du wahrscheinlich hast. Fragen zu deiner Vergangenheit und deiner Zukunft. Und auf die meisten habe ich Antworten für dich.«

Evelyn schnappte überrascht nach Luft. »Du kannst in die Zukunft sehen?«

Venice nickte. »Eines meiner vielen Talente. Mit meinem schwindenden Augenlicht wurde meine Sicht auf das Kommende gestärkt. Ich kann Ausschnitte aus der Zukunft eines jeden Wesens sehen, auch aus deiner.«

Evelyn spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Wie sehr hatte sie sich in all den vergangenen Monaten nach Antworten gesehnt. Antworten darauf, wie ihre Zukunft, ihr Schicksal, aussah. »Kannst du mir sagen, wie meine Zukunft aussieht? Wird mich Atticus jemals gehen lassen? Wird Nora mir vergeben? Wird …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie sah, wie Venice bedauernd den Kopf schüttelte.

»Die Naturgesetze verbieten es mir, dir diese Fragen zu beantworten.« Ihr Tonfall klang wie der einer Mutter, die ihrem Kind erklärt, dass sie sich das Geschenk, dass es sich seit einem Jahr wünscht, nicht leisten kann.

Evelyns Miene verschloss sich, und sie kämpfte tapfer gegen die Tränen an. »Schon okay, ich verstehe.«

»Aber ich bin nicht gerade bekannt dafür, die Regeln zu befolgen.« Venice verpasste Evelyn einen spielerischen Klaps gegen den Arm und lächelte. »So viel kann ich dir verraten, der schwerste Teil des Sturms liegt noch vor dir, aber er naht. Nicht mehr lang und all deine Überzeugungen, alles, an das du glaubst, werden auf die Probe gestellt werden. Die Dinge werden sich zum Schlechten wenden, aber wenn du es schaffst, dem Sturm die Stirn zu bieten, dann stehen dir glücklichere Tage bevor. Eines kann ich dir versprechen, Evelyn, wenn du stark bleibst und weiterkämpfst, wirst du schon bald die süßen Früchte deiner Entbehrungen ernten können.«

»Dann gibt es also ein Happy End für mich?«, fragte Evelyn atemlos. Die Aussicht darauf, dass sie möglicherweise schon bald wieder glücklich sein würde, beflügelte ihre Gedanken.

»Die Zukunft hält wahres Glück für dich bereit, doch deine Entbehrungen werden überwältigend sein und du wirst alles aufs Spiel setzen müssen, um es ans andere Ende des Tunnels zu schaffen.« Venice drückte sanft Evelyns Hand. »Ich beobachte dich schon sehr lange, und ich weiß, wie sehr du in den vergangenen Monaten gereift bist. Du kannst es schaffen.«

»Danke.« Evelyn erwiderte Venice’ zärtlichen Händedruck. »Die Stimme, die ich vor ein paar Tagen in dem Hotel gehört habe, das war deine, oder?«

Venice nickte. »Es tut mir leid, dir das so direkt sagen zu müssen, aber es war ziemlich dumm und leichtsinnig von dir, auf diese Weise dein Leben zu riskieren. Du hast beinahe eine Stunde lang unter kochend heißem Wasser gesessen. Als mir klar geworden ist, was du dir gerade antust, warst du beinahe gar. Wenn ich Atticus auch nur eine Minute später alarmiert hätte, wärst du jetzt tot.«

Evelyn keuchte auf. »Du hast es ihm gesagt? Warum?«

»Weil ich dich nicht sterben lassen konnte. Dein Tod würde in vielerlei Hinsicht Schreckliches bedeuten.« Venice hielt für einen Moment inne, bevor sie fortfuhr: »Du hättest die Zukunft sehen sollen, die ich gesehen habe, diese Welt … Wenn du ihn jetzt schon für einen grausamen König hältst, hättest du den Blick in die Zukunft nach deinem Tod nicht ertragen …« Venice schüttelte traurig den Kopf.

»Atticus interessiert sich für nichts und niemanden außer sich selbst«, sagte Evelyn leise, aus Angst, sie könne Venice beleidigen. Trotzdem konnte sie die Worte nicht für sich behalten.

»Aber ohne dich würde er ein noch schlimmerer Tyrann werden, Evelyn. Schon bald wirst du eine Entscheidung treffen müssen. Darüber, was du tun sollst – und was du tun willst. Und um der Welt zuliebe hoffe ich, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.« Venice seufzte und legte einen Arm um Evelyns Schultern. »Es tut mir leid, dass du diese Last tragen musst, aber so sieht es das Schicksal vor.«

»Warum liebt er mich?«, wimmerte Evelyn, während kalte Tränen, von denen sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie die ganze Zeit über zurückgehalten hatte, ihre Wangen hinabliefen. »Warum ausgerechnet ich? Ist es wirklich meine Bestimmung, alle Ewigkeit mit jemandem zu verbringen, den ich niemals lieben könnte?«