Dark and Dangerous Love - Molly Night - E-Book
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Molly Night

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Beschreibung

Im Jahr 2440 sind die Vampire aus den Schatten gekommen und haben die Herrschaft an sich gerissen. Es ist eine düstere Welt, eine gefährliche Welt. Vor allem für die junge und unschuldige Schönheit Evelyn Blackburn. Eines Abends erregt sie auf einem Ball am Hofe des ebenso attraktiven wie skrupellosen Vampirkönigs versehentlich seine Aufmerksamkeit und mit einem Mal ist ihr Leben nicht mehr wie es vorher war. Denn der Vampirkönig will sie – um jeden Preis ...

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MOLLY NIGHT

DARK &

DANGEROUS

LOVE

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt

von Melike Karamustafa

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2440, und unsere Welt ist nicht mehr die, die sie einmal war: Vor vierhundert Jahren sind die Vampire aus den Schatten gekommen und haben die Herrschaft an sich gerissen. Seither gelten Menschen als Lebewesen zweiter Klasse. Es ist eine düstere, eine gefährliche Welt. Vor allem für die junge und unschuldige Schönheit Evelyn Blackburn. Eines Abends erregt sie versehentlich die Aufmerksamkeit des Vampirkönigs Atticus Nocturne Lamia, und für den mächtigen Fürsten ist vom ersten Augenblick an klar, dass er Evelyn will – um jeden Preis. Nach ihrem zwanzigsten Geburtstag soll sie bei ihm am Hofe leben, dafür verspricht er ihr jeden Luxus, den sie sich nur wünschen kann. Von dem ebenso attraktiven wie reichen Atticus begehrt zu werden, ist eigentlich der Traum einer jeden Frau, doch Evelyn liebt einen anderen. Um das Schicksal ihrer Familie nicht zu gefährden, geht sie widerwillig auf Atticus’ Angebot ein. Lieben wird sie ihn jedoch niemals, das hat sie sich geschworen. Aber dann beginnt Atticus ein Spiel aus Sinnlichkeit und dunkler Verführung mit Evelyn zu spielen, und ihre Vorsätze geraten ins Wanken …

Die Autorin

Molly Night wurde in Harbin, China, geboren und kam im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter nach England. Mithilfe eines guten Wörterbuches, purer Willenskraft und der Twilight-Romane lernte sie innerhalb von kürzester Zeit Englisch. Ihre neu erwachte Begeisterung für die englische Sprache und Literatur, lebte sie aus, indem sie eigene Texte schrieb. Mit ihrem Roman Dark and Dangerous Love gelang ihr 2015 der Durchbruch auf Wattpad.

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Titel der Originalausgabe:

DARK AND DAGEROUS LOVE (Part 1)

Deutsche Erstausgabe 10/2018

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2018 by Molly Night

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Tuzemka/Shutterstock

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-22442-4V002

www.heyne.de

Prolog

Jahr 2440

Vorsichtig öffnete Evelyn die doppelflügelige Eisentür zu ihrem Zimmer. Manchmal fragte sie sich, ob Atticus die schweren Türen mit Absicht hatte einbauen lassen, damit man nachts nicht so leicht heimlich durch den Palast schleichen konnte. Immerhin gab es kaum etwas, das ihm so sehr gefiel, wie sie in seiner Hand zu wissen. Sie war sein Spielzeug, sein Schmuckstück, eine hübsche Zierde.

Sobald sie die eiserne Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss gezogen hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Langsam beruhigte sich ihr wild klopfendes menschliches Herz in dem Glauben, in Sicherheit zu sein. Doch als sie eine Sekunde später die Stimme hörte, die sie bis in ihre Albträume verfolgte – die Stimme des Mannes, der ihr alles genommen hatte –, begann ihr Puls aufs Neue zu rasen. Wie ein entzündetes Streichholz, das man in eine Lache Benzin warf, schoss ihr Adrenalinspiegel in die Höhe, und sie stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus. Eiskalte Schauer der Angst jagten ihr durch den Körper. Rasch versteckte sie die Hände auf dem Rücken, damit er ihr Zittern nicht bemerkte.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Atticus wie beiläufig, aber sein Tonfall war hart und kalt.

Langsam sah sie auf. Ängstlich, was als Nächstes geschehen würde, und unsicher, welche möglichst plausible Antwort ihn zufriedenstellen könnte. Sie versuchte in seiner Miene zu entdecken, was in ihm vorging. War er zornig? Enttäuscht? Bis auf eine kaum sichtbare Falte zwischen den Augenbrauen, hinter der er etwas zu verbergen schien, verriet sein Gesichtsausdruck nicht die geringste Gefühlsregung. Selbst nach all der Zeit war er noch immer ein Buch mit sieben Siegeln für sie. Er hatte eine Mauer um sich errichtet, die sie einfach nicht in der Lage war zu durchbrechen, so sehr sie sich auch bemühte.

Mit einem tiefen Atemzug sammelte sie Mut, um seinem Blick zu begegnen, bevor sie einen Schritt vortrat. Hinein in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers, das nur schwach von der schmalen Mondsichel, die durch die Fenster zu sehen war, erleuchtet wurde. In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr die Szenerie, die sich ihr bot, einem Bild aus einer Horrorgeschichte glich.

Atticus stand am anderen Ende des Zimmers gegen eines der großen, hohen Fenster gelehnt. Das Mondlicht hob seine Silhouette vor der Scheibe scharf hervor und warf seinen Schatten auf den glänzenden schwarzen Holzboden. Auch wenn das schummrige Licht seine Züge weitestgehend verbarg, wusste sie, dass er eine finstere Miene machte.

»I-Ich …« Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Wimmern.

»Lüg mich nicht an. Ich will die Wahrheit hören, Evelyn.«

Um der Versuchung zu widerstehen, sich auf der Stelle umzudrehen und davonzulaufen, presste sie den Rücken gegen die Wand. Auch wenn ihr Instinkt das Gegenteil verlangte, war ihr klar, dass es keinen Sinn machte zu versuchen, vor einem Vampir wegzurennen. Nicht nur dass er ohnehin schneller war als sie; in ihrem momentanen Zustand, vor Angst zitternd, wäre sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen, die schweren Eisentüren zu öffnen.

Nach einem langen Moment des Schweigens schien Atticus offenbar überzeugt, dass Evelyn ihm ohnehin keine Antwort würde geben können, die er nicht bereits kannte. Mit wenigen langen Schritten durchquerte er den Raum und blieb vor ihr stehen. Zärtlich strich er mit dem Zeigefinger über ihre errötete Wange. »Du fühlst dich kalt an.«

»Ich war im Garten … spazieren. Um einen klaren Kopf zu bekommen.«

Er begann zu lachen. Ein sanfter Laut, der bei jedem anderen angenehm geklungen hätte, nur aus seinem Mund nicht.

»Ich habe dir gesagt, dass du mich nicht anlügen sollst.« Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er die Hand ausgestreckt. Eisern schlossen sich seine Finger um ihren Kiefer.

Instinktiv setzte sich Evelyn gegen seinen rohen Griff zur Wehr, aber die Kräfteverhältnisse zwischen einem Menschen und einem Vampir waren so gewaltig, dass er vermutlich nicht mal ein Zucken von ihrer Seite spürte. Ihr unbändiges Bedürfnis zu fliehen wurde mit jeder Sekunde stärker.

»Ich weiß, wo du warst, und ich weiß auch, mit wem!«, zischte er ihr barsch ins Ohr. »Du wagst es, mich für dumm verkaufen zu wollen?« Er bemühte sich nicht einmal, den Zorn, der in ihm wütete, vor ihr zu verbergen, während er seinen Körper hart gegen ihren presste.

Sie konnte beinahe spüren, wie sich die Dunkelheit in ihm ausbreitete und die Kontrolle über seinen Verstand übernahm. Das Gift, das aus seiner Unsterblichkeit geboren wurde. Als er zum Vampir geworden war, hatte er seine Seele Mächten und Kräften geöffnet, die jenseits jeglicher menschlicher Vorstellungskraft lagen, ihn jedoch auch schwach gegenüber dem Bösen werden ließ, das in den Schatten nur darauf wartete, in ihn einzudringen. Und über die Jahrhunderte hinweg schien dieses Böse so etwas wie ein Eigenleben angenommen zu haben.

Für sie existierten zwei Atticus. Derjenige, der ihr seine freundliche und mitfühlende Seite zeigte, und derjenige, der sie in Todesangst versetzte.

»Sich in Atticus’ Nähe aufzuhalten, ist so, als ob man sich in Gesellschaft eines hungrigen Löwen befindet. Bleibe stets wachsam, bei allem, was du tust. Er hat die Fähigkeit, mit einem Fingerschnippen alles zu zerstören, was du liebst.«

Der Rat ihres lieben Freundes Hansel hallte in ihren Ohren nach, und Evelyn biss sich auf die Zunge, um ihre Widerworte herunterzuschlucken. Sie wusste ganz genau, dass eine hitzige Reaktion im Streit mit Atticus bedeutete, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Und das konnte nur zur Folge haben, ein Inferno zu entfachen. Eine Gefahr, der sie sich nicht noch einmal aussetzen wollte, denn zu diesem speziellen Zeitpunkt hatte sie zu viel zu verlieren. Falls Atticus die Wahrheit sagte und tatsächlich wusste, wo sie gewesen war und mit wem sie sich getroffen hatte, wusste er auch über ihren Plan Bescheid.

Zu viele Leben standen auf dem Spiel – das war Evelyn mehr als bewusst. Um der Menschen willen, die sie liebte, widerstand sie dem Bedürfnis zu kämpfen. Sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, als er seinen Kopf neigte, die Lippen an ihrem Hals, wo er tief ihren Duft einsaugte, bevor sein zitternder Atem über ihre Haut strich.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es dir nicht erlaubt ist, ihn zu berühren? Überhaupt an ihn zu denken? Du gehörst mir, Evelyn. Akzeptiere es. Du bist mein. Mein ganz allein.«

Bei seinen Worten schauderte sie. Sie wollte nicht die Seine sein.

1

Evelyn Blackburns Stammbaum war in keiner Hinsicht ungewöhnlich oder herausragend. Die Blackburns waren niemals eine besonders reiche oder mächtige Familie gewesen. Auch nicht vor der Apokalypse von 2020, dem Jahr, in dem die Vampire sich den Menschen offenbart und sie zum Kampf um die Vorherrschaft auf der Erde herausgefordert hatten. Vor der Apokalypse war die Welt von normalen Menschen bevölkert gewesen. Büromitarbeitern. Profanen Angestellten. Menschen, bei denen an Weihnachten die obligatorische Weihnachtsgans auf den Tisch kam und die sich mit Champagner zuprosteten, wenn es hin und wieder sonst etwas zu feiern gab. Und wie so viele wurden sie Opfer des gewalttätigen und blutigen jahrzehntelangen Kriegs zwischen Vampiren und Menschen.

Ihre Leben wurden zerstört. Ohne einen Cent in der Tasche wurden sie aus ihren Häusern in die kalten, unerbittlichen Straßen getrieben, wo sie von den Überresten lebten, die sie in Mülltonnen und an den Knochen verendeter Tieren fanden. Die Jahre zwischen 2020 und 2031 waren die dunkelste Zeit, die den kleinen, damals grau-blauen Planeten jemals heimgesucht hatte.

Die vormals korrupten und selbstsüchtigen Anführer der Menschen waren gezwungen, sich zu vereinigen, um ihre Familien und sich selbst zu schützen. Das Leiden der anderen ging sie nichts an. Alles, was sie interessierte, war ihr eigenes Leben und was sie tun mussten, um den Zorn der Vampire zu überleben. Das Ausmaß der Zerstörung, das unendliche Leid und die Qual der unschuldigen Seelen machten das Jahrzehnt zu einem der dunkelsten in der Geschichte der Erde.

Doch das alles liegt in der Vergangenheit: Unsere Geschichte beginnt nach dem Krieg, nach der Zerstörung und dem Wiederaufbau der Erde. Eine Geschichte der Hoffnung und darüber, wie ein junges Mädchen sich selbst zum Wohle der Welt opferte …

Evelyn Blackburn wurde am 1. September 2420 geboren – vierhundert Jahre nach dem Ende der Herrschaft der Menschen über die Erde.

Sie gehörte zu den Glücklichen. Eine Tatsache, der sie sich immer bewusst gewesen und für die sie dankbar war. Obwohl menschlich, war sie in eine angesehene Familie hineingeboren worden. Eine Familie, der angemessene Wertschätzung entgegengebracht wurde und die über einen gewissen Wohlstand verfügte – auch wenn dieser von Jahr zu Jahr schwand.

Die Familienmitglieder des Hauses Blackburn gehörten zu der Minderheit an Menschen – weniger als 0,01 Prozent der fünf Milliarden Menschen, die im 25. Jahrhundert auf der Erde lebten –, die nicht von den Herrschenden versklavt worden waren. Evelyns Vater hatte ihr nie erklärt, warum sie anders waren als die meisten. Warum sie im Gegensatz zum Rest ihrer Spezies so viel Glück hatten. Immer wenn sie ihn danach hatte fragen wollen, hatte sie irgendetwas zurückgehalten. Ein Teil von ihr fürchtete sich vor der Antwort.

Die Vampire kontrollierten die Wirtschaft und jeden Winkel der Erde mit eiserner Hand – zumindest behaupteten sie das. Die Welt gehörte ihnen. Jedes Unternehmen, jede Schule, jedes Krankenhaus, jede Fabrik und Institution. Einfach alles. Sie beherrschten die Welt, indem sie die eine Sache kontrollierten, um die sich alles drehte: Geld.

So schrecklich es klang, war es doch wahr. Geld war das, was die Welt am Laufen hielt, und jeder Vampir wusste dies, genauso wie jeder Mensch und alle Angehörigen anderer unterdrückter Spezies das wussten. Sie selbst waren es gewesen, die zugelassen hatten, dass Wohlstand und die Hoffnung auf ein Vermögen ihre Lebenswelt bestimmten und alles in den Schatten stellten, was wirklich zählte.

In Evelyns Kindheit hatte es Zeiten gegeben, in denen ihr Vater hart darum hatte kämpfen müssen, ihren Lebensstandard zu finanzieren, aber sie hatten niemals hungern müssen wie die meisten anderen ihrer Art.

Evelyns Mutter und ihre Schwester Nora verschlossen die Augen vor dem Leid, das tagtäglich um sie herum zu sehen war und die Gesellschaft, in der sie lebten, formte. Evelyn dagegen kam nach ihrem Vater. Von ihm hatte sie nicht nur das Gewissen, sondern auch das Mitgefühl für andere geerbt. Sie sah, was um sie herum geschah, und weigerte sich, sich blind und taub zu stellen. Der Zustand der Welt, so wie sie war, brach ihr das Herz. Die Vampire und deren Grausamkeit ließen es bluten. Und sie hasste sie dafür. Dafür, dass sie so viele Menschen auf der Welt ein unausweichliches Schicksal voller Armut und Ungerechtigkeit erdulden ließen. Sie hasste sie dafür, dass sie die Menschheit so unglaublich hilflos dastehen ließen.

Ihr Vater hatte versucht, sie und Nora so gut es ging von der Außenwelt abzuschirmen, indem er sie zu Hause hatte unterrichten lassen. Er wollte seinen Töchtern den Anblick der grausamen Realität ersparen, sie in einer Blase der Unschuld erziehen. Aber er konnte die Wahrheit nicht für immer vor ihnen verbergen. Evelyn musste lernen, dass es in einer Welt, in der Menschen kaum mehr waren als wandelnde Büfettstationen, schwerfiel, den Respekt vor sich selbst nicht zu verlieren und sich seine Existenz zu bewahren, ohne dass sich die Regierung der Vampire einmischte und Restriktionen aussprach. Selbst wenn man aus einer Familie mit einem Status wie der ihren stammte.

Das war aus der Welt geworden. Eine Welt, die auf Hierarchien, Angst und Vorurteilen beruhte. Die Menschen hatten keinerlei Kontrolle über ihr Leben oder ihr Schicksal. Aber wer hatte die schon?

Die Blackburns wurden sich endgültig bewusst, über wie wenig Freiheiten und Macht sie tatsächlich verfügten, als Lord Marcus Valerio, einer der mächtigsten adeligen Vampire des 25. Jahrhunderts, Alice Blackburn – Jonathan Blackburns Nichte und damit Evelyns und Noras Cousine – bat, seine Frau zu werden.

Alice wollte ihn nicht heiraten. Aber als Mensch blieb ihr kaum etwas anderes übrig.

2

Wie in einem Märchen beginnt diese Geschichte mit einer königlichen Einladung.

Die meisten Menschen hätten ihre Seele für die Möglichkeit verkauft, zu einem Fest eingeladen zu werden, das von einem Gastgeber übernatürlicher Natur ausgerichtet wurde. Sie hätten alles für die Chance gegeben – selbst das wenige, das sie überhaupt noch besaßen –, um die Aufmerksamkeit eines Mitglieds der königlichen Familie zu erregen. Eines Vampirs, der nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie von ihrer Sterblichkeit erlösen könnte. Aber Evelyn Blackburn war nicht wie die meisten Menschen. Ihr Interesse an Vampiren war gleich null.

Einladungen von der königlichen Familie hatten selbst für Evelyns Familie nicht zum Standard gehört, doch seit Alices Heirat mit Marcus hatten sie im gesellschaftlichen Aufstieg die nächste Stufe erklommen. Sie waren die engsten lebenden Verwandten einer der mächtigsten Lords im gesamten Königreich, der eine ganze Stadt mit einem Fingerschnippen dem Erdboden hätte gleichmachen können, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte. Die Einladung war aus diesem Grund auch eher eine Verpflichtung, der man besser nachkam.

Natürlich hielt diese Tatsache Evelyns Eltern trotzdem nicht davon ab, deswegen miteinander zu streiten.

»Wir sollten uns geehrt fühlen, auf der Gästeliste zu stehen«, sagte ihre Mutter.

Evelyn war sich ziemlich sicher, dass sie sich in Wirklichkeit jedes Mal heimlich freute, wenn sie eine Einladung zu einem Event wie diesem erhielten. Weniger aus dem Grund, dass Vampire sie besonders faszinierten, als aufgrund des besonderen Status, den ihr Einladungen wie diese verliehen.

Ganz im Gegensatz zu Evelyns Vater. »Ich kann nicht glauben, dass du Nora und Evelyn zwingen willst, da hinzugehen«, sagte er wütend. Und als ihre Mutter daraufhin schwieg, fügte er hinzu: »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele hochrangige Blutsauger heute Abend da rumlaufen werden?«

Evelyn konnte die Angst hören, die in der Stimme ihres Vaters mitschwang. Seine Hände zitterten leicht. Sie wusste, dass er sich Sorgen machte – allerdings nicht um seine eigene Sicherheit. Er fürchtete um seine Töchter. Dass sie dasselbe schreckliche Schicksal erwartete, das bereits ihre Cousine Alice ereilt hatte. Er hatte Angst, dass eines der Monster der Nacht Anspruch auf eine seiner Töchter erheben könnte. Er hatte bereits eine Nichte verloren. Auch noch eine seiner Töchter zu verlieren – die Vorstellung war ihm unerträglich. Was Evelyn jedoch nicht wusste, war, dass seine Angst durchaus berechtigt war.

»Was haben wir denn für eine Wahl?«, fragte ihre Mutter, während sie Noras dunkle Haare zu Locken aufdrehte. »Es ist der Geburtstag des Königs. Wir befinden uns nicht in der Position, die Einladung abzulehnen. Also versuch nicht, mir dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben.«

Mit einem Seufzen wandte Jonathan sich ab und lehnte sich gegen die breite Fensterfront ihrer Suite im Shangri-La. Tief unter ihnen erstreckten sich die Straßen der Königsstadt, der Hauptstadt des Königreichs der Vampire. Die Fußgänger und der Verkehr wirkten heute noch dichter und hektischer als sonst. Denn es war der Tag, an dem die ganze Welt den Geburtstag ihres Königs feierte: Atticus Nocturne Lamia.

Ballons und Banner schmückten jede Straßenecke, und selbst bis hier oben, in den sechsundfünfzigsten Stock, meinte Jonathan noch die festliche Musik zu hören, die überall gespielt wurde.

»Was, wenn …« Er ließ den Satz unvollendet und schüttelte den Kopf, für einen Moment nicht in der Lage, seine größte Angst laut auszusprechen. »Ich habe schon einmal mein Versprechen gebrochen. Das Versprechen, das ich meiner Schwester gegeben habe, nachdem klar war, dass Marcus ein Auge auf sie geworfen hatte. Ich weiß nicht, wie ich es ertragen sollte, wenn …«

»Beruhig dich, Dad.« Nora schenkte ihm ein Lächeln. »Eve und mir wird nichts passieren. Ich bin schon zwanzig und sie fast neunzehn. Wir sind inzwischen doch keine kleinen Mädchen mehr, um die du und Mum sich Sorgen machen müssen. Außerdem verstehe ich auch gar nicht, was so schlimm daran sein sollte, die Aufmerksamkeit eines attraktiven Vampirs auf sich zu ziehen …« Sie kicherte.

Jonathan stieß ein weiteres tiefes Seufzen aus. »Ich verstehe, dass die Vorstellung, sich in ein so mächtiges und außergewöhnliches Wesen zu verlieben, vielleicht verlockend wirkt. Aber du musst begreifen, dass es dabei nicht nur um Spaß geht. Vampire sind gefährlich. Sehr gefährlich.«

»Dein Vater hat recht, Nora«, bemerkte Lynette, während sie eine weitere schwarze Locke feststeckte. »Vampire sind gefährlich und darüber hinaus äußerst besitzergreifende Liebhaber. Muss ich dich daran erinnern, was Alice letzten Sommer passiert ist? Lord Marcus hat einen Jungen umgebracht. Nur um ihr zu gefallen.«

Nora verdrehte die Augen. »Das war eine Verschwörung, Mum. Und davon mal abgesehen, ist Alice die Frau eines Lords. Einer der mächtigsten Lords der Welt, um genau zu sein. Wir sollten sie deswegen nicht bedauern, sondern beneiden.«

Bei Noras Worten biss Evelyn wütend die Zähne zusammen. »Eine Ehe ohne Liebe ist nichts, worum man jemanden beneiden muss. Alice verdient etwas Besseres. Zumindest eine Wahl.«

Jonathan nickte zustimmend. »Die beiden lieben sich nicht. Vielleicht hat Lord Marcus gewisse Gefühle für Alice, aber der eigentliche Beweggrund für seine Hochzeit mit ihr war reine Besitzgier. Das ist keine Liebe, und vor allem ist das nichts, was ich mir für euch wünsche.«

»Aber …« Doch bevor Nora etwas einwenden konnte, wechselte Evelyn schnell das Thema.

»Lasst uns über etwas anderes reden«, warf sie ein und stellte sich neben ihre Mutter vor den Schminktisch. Mit einem Lächeln betrachtete sie das Gesicht ihrer Schwester im Spiegel. »Du wirst heute Abend wunderschön aussehen, Nora.«

Die ältere der beiden Blackburn-Schwestern lächelte. »Das will ich doch hoffen. Vielleicht wirft ja der ein oder andere Adelige einen zweiten Blick auf mich. Oder sogar der König …« Bei der Vorstellung, dem berüchtigten Vampir-König persönlich zu begegnen, färbten sich ihre Wangen rosa.

Evelyn und ihre Schwester kannten die Legenden, die sich um ihn rankten. Die Erzählungen über seinen Mut und seine Attraktivität. Wie er scheinbar mühelos das größte Reich geschaffen hatte, das die Erde jemals gekannt hatte. Für Nora war der Gedanke, ihn zu treffen, vielleicht sogar vor ihm niederzuknien, ihm ihren zarten, zerbrechlichen menschlichen Körper darzubieten, viel zu aufregend und verlockend, als dass ihre Vorfreude vom missbilligenden Blick ihres Vaters gedämpft hätte werden können.

»Ich wünsche es dir …«, log Evelyn.

In Wirklichkeit wäre es ihr sehr viel lieber gewesen, wenn ihre Schwester sich in einen Menschen verlieben würde. Alice’ Schicksal brachte sie bereits um den Schlaf. Der Gedanke, dieselben Ängste um Nora ausstehen zu müssen, war ihr unerträglich. Genau wie ihre Schwester war Evelyn mit all den Geschichten aufgewachsen, die sich um die Grausamkeit und Herzlosigkeit der Vampire rankten. Doch im Gegensatz zu Nora empfand Evelyn Gefahr nicht als besonders anziehend.

»Es wird mir nicht schwerfallen, die Aufmerksamkeit eines der Adeligen auf mich zu ziehen. Jedenfalls solange du mir nicht in die Quere kommst«, scherzte Nora. Doch ihr angestrengtes Lächeln verriet, wie ernst sie das in Wirklichkeit meinte.

»Keine Sorge. Wegen mir musst du dir garantiert keine Gedanken machen.« Evelyn lächelte, unfähig zu verbergen, wessen Blicke sie heute Abend auf sich zu lenken hoffte.

»Ich weiß, an wen du denkst«, bemerkte ihre Mutter mit dem Anflug eines Lachens in der Stimme.

Augenblicklich errötete Evelyn, doch ihr Lächeln wurde dabei noch breiter.

»Ich verstehe einfach nicht, warum du ausgerechnet in diesen Redfern-Jungen verschossen bist. Er mag ja ganz gut aussehen, aber du verdienst etwas Besseres«, sagte Nora. »Du musst dich nicht mit einem Menschen zufriedengeben.«

Bei ihren Worten warf Jonathan verzweifelt die Hände in die Luft. Trotz der Tatsache, dass sie Evelyn und Nora gleich erzogen hatten, hätten die beiden nicht verschiedener sein können.

Die Schwestern waren zusammen mit Ethan und Natalia Redfern aufgewachsen, und Evelyn war in Ethan verliebt, seit sie denken konnte. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass sie jemals von ihm getrennt gewesen wäre.

»Du solltest dich für deine Schwester freuen, dass sie die wahre Liebe gefunden hat«, wandte sich Jonathan streng an Nora.

Mit einem Lächeln gesellte sich Evelyn zu ihm, um den atemberaubenden Ausblick über die Königsstadt zu genießen. Sie wusste, dass einige ihrer Vorfahren in dieser Stadt gelebt hatten, bevor der Große Krieg – auch der Dritte Weltkrieg genannt – zwischen den Vampiren und den Menschen ausgebrochen war. Und sie hatte Bilder von der Königsstadt, die damals noch Utopia City geheißen hatte, aus dem Jahr 2015 gesehen, auf dem Höhepunkt der menschlichen Zivilisation. Nur fünf Jahre vor der Invasion der Vampire. Seitdem waren Jahrhunderte vergangen, und sie konnte die Unterschiede zwischen den Bildern und der Realität, die sich unter ihr ausbreitete, deutlich sehen.

Die Königsstadt im Jahr 2439 war schön, weniger dicht bewohnt, zivilisiert und sehr viel sauberer, und das alles dank Atticus Lamias Regentschaft. Evelyn war bereit, ihm das zuzugestehen. Aber die neue Ordnung und der Frieden hatten ihren Preis. Milliarden Menschen wurden gezwungen, ein Leben als Blutbeutel zu fristen, zusammengepfercht in Städten, die nur die Farmen genannt wurden. Sie besaßen weder Rechte noch Privilegien. Im 25. Jahrhundert erhielten weniger als drei Prozent der fünf Milliarden Menschen auf der Welt eine angemessene Ausbildung. Und nur ein Bruchteil von ihnen verfügte über einen anständig bezahlten Job, der sie davor bewahrte, für die Kreaturen der Nacht arbeiten zu müssen, damit sie nicht auf ewig gezwungen waren, sich vor ihren »Meistern« zu verneigen.

»Wird Ethan heute Abend da sein?«, fragte Jonathan nach einer Weile und wandte sich ihr zu.

»Natürlich wird er das«, antwortete Nora für ihre Schwester, bevor die auch nur die Chance hatte, den Mund zu öffnen. »Er ist ein Redfern. Die sind überall. Ich bezweifle stark, dass er sich die Gelegenheit entgehen lassen würde, mit einem anderen Mann um Eves Aufmerksamkeit zu buhlen.« Nora zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu, die genervt die Augen verdrehte.

Ihr Vater lächelte. »Gut so«, murmelte er und nickte zufrieden.

Als ob irgendein Mann jemals eine Chance gegen Ethan hätte haben können. Er war der attraktive Erbe einer wohlhabenden Familie, deren Vermögen groß genug war, um sich mit dem der meisten Vampire messen lassen zu können. Und er liebte sie, von ganzem Herzen, genauso wie Evelyn ihn liebte. Eine Liebe wie die ihre war selten, rein und für die Ewigkeit bestimmt.

Als Evelyn ihrer Schwester einen kurzen Blick zuwarf, spürte sie einen plötzlichen Anflug von Sorge. Nora war wunderschön, und sie hatte eine Schwäche für Macht und Reichtum. Schon seit sie klein gewesen war, hatte sie immer nur das Beste für sich gewollt, und sie war bereit, alles dafür zu tun, es zu bekommen. Ihre Entschlossenheit war sowohl ihre beste als auch ihre verhängnisvollste Eigenschaft. Evelyn konnte nicht anders als sich automatisch Gedanken zu machen, was für eine Art Mann – oder Vampir – Nora wohl anziehen würde und was das für sie bedeuten könnte. Vampire konnten ihr Reichtümer und materielle Besitztümer bieten, doch in den meisten Fällen bezahlte man für diese Dinge einen hohen Preis. Evelyn wollte nicht, dass ihre Schwester in einer Beziehung endete, die von Missbrauch und Besessenheit geprägt war – so wie die ihrer Cousine Alice.

Doch was Evelyn noch nicht wusste, war, dass sie selbst diejenige war, um die sie sich am meisten Sorgen hätte machen müssen.

3

Freiheit.

Ein Gut, nach dem jeder strebt, das jedoch nur wenigen vergönnt ist. Freiheit bedeutet, das tun zu können, was man möchte, ohne sich um die Konsequenzen Gedanken machen zu müssen. Freiheit bedeutet, Kontrolle über das eigene Leben zu haben und seine Meinung äußern zu dürfen.

Evelyn war im Besitz dieser Freiheit – bis zu dem Moment, in dem sie mit ihrer Familie den Ballsaal des Shangri-La betrat und Atticus auf sie aufmerksam wurde.

»Es ist absolut umwerfend«, flüsterte Nora neben ihr.

Die beiden Schwestern betraten den Saal ein paar Schritte hinter ihren Eltern. Evelyn richtete den Blick nach oben zu der gewaltigen vergoldeten Decke. Um genau zu sein, war es nicht nur die Decke, sondern der gesamte Raum, der golden und mit Edelsteinen besetzt glänzte und schimmerte. So hell, dass man blinzeln musste. Als würde man direkt in die Sonne schauen. Wohin sie den Blick auch richtete, sah sie Männer in teuren Anzügen und junge Frauen in Kleidern aller nur vorstellbaren Farben und Schnitte. Wenn der Ballsaal die Krone war, so bildeten die Vampire ihre diamantene Verzierung. Jeder Einzelne von ihnen das Zentrum seines eigenen Universums, in dessen Umlaufbahn Dutzende bewundernder menschlicher Verehrer kreisten.

»Ich kann nicht glauben, dass wir tatsächlich hier sind!«, quietschte Nora begeistert.

»Mhmmm«, murmelte Evelyn, während sie nach Ethan Ausschau hielt.

Im Gegensatz zu ihrer Schwester hasste sie diese Art Veranstaltungen, bei denen ein Haufen blutdürstiger Monster um sie herumschwirrte, alle auf der Suche nach ihrem nächsten »Drink«. Jeder in diesem Raum war nur aus einem Grund hier – weil er etwas von einem anderen wollte. Am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt, um den gierigen Blicken der Vampire zu entkommen. Alles, was sie sich wünschte, war, Ethan zu finden. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie wollte sein strahlendes Lächeln sehen, sein charmantes Lachen und seine humorvollen Bemerkungen hören.

»Ich verstehe wirklich nicht, was du in ihm siehst«, bemerkte Nora, die ihre Gedanken zu lesen schien. »Er ist so furchtbar alltäglich. Du könntest was Besseres haben.« Sie sah an sich herab, um den Sitz ihres eleganten, eng anliegenden, langen Kleids zu überprüfen, dessen Ausschnitt eine wahre Versuchung darstellte. Ganz im Gegensatz zu Evelyns zurückhaltender weißer Robe. »Du bist schön, Evelyn. Und außerdem meine Schwester.«

Evelyn presste die Lippen zusammen und schloss für einen Moment die Augen. Sie konnte das Flackern hinter ihren Lidern spüren, als würde ihre innere Wut in kleinen Sternschnuppen dort explodieren. Wie satt sie diesen Streit, Noras Worte hatte. An Ethan war absolut nichts alltäglich oder profan. Er war ruhig, strahlte Geborgenheit und Sicherheit aus. Vielleicht nicht das, was Nora wollte, aber Evelyn wusste seine verlässliche Art zu schätzen. Warum konnte ihre Schwester das nicht einfach akzeptieren, auch wenn sie ganz offensichtlich nicht in der Lage war, es zu verstehen?

»Ich liebe Ethan. Und nichts könnte jemals etwas daran ändern«, antwortete sie schließlich mit leiser, aber fester Stimme, während sie gemeinsam ihren Eltern folgten, die sich einen Weg durch die Menge bahnten, wobei ihr Vater den ein oder anderen alten Freund begrüßte. »Warum kannst du dich nicht einfach für mich freuen?«

Die Schwestern blieben für einen kurzen Moment stehen und sahen sich in die Augen. »Du bist zu gut für einen Menschen«, sagte Nora kalt, drehte sich um und ließ Evelyn stehen.

Sofort löste sich Evelyns Wut in Luft auf und hinterließ dieselbe schmerzvolle Leere und das nagende Schuldgefühl, das sie jedes Mal verspürte, wenn Nora und sie aneinandergerieten. Ein kleiner Teil von ihr wollte ihr nachlaufen. Ihr erklären, dass auch sie Menschen waren. Dass in ihrer Welt nicht sie zu gut für Ethan, sondern er zu gut für sie war.

»Was ist mit ihr los?«, fragte ihre Mutter, die sich zu ihr umdrehte und Nora nachsah.

»Ich weiß es nicht. Würdest du mich kurz entschuldigen?«, murmelte Evelyn und tauchte in der Menge unter, bevor ihre Mutter eine Chance hatte, etwas zu erwidern. Sie musste hier weg. Raus, an die frische Luft. Die Enge im Ballsaal schien sie zu ersticken. Ihr war auf einmal unglaublich heiß.

Evelyn ging in die entgegengesetzte Richtung, in die ihre Schwester verschwunden war. Als sie die großen Terrassentüren erreichte, die auf einen Balkon hinausführten, brannten Tränen in ihren Augen. Es fehlte nicht viel und sie würde anfangen zu weinen, womit ihr Make-up ruiniert wäre. Sie konnte sich die wütende Reaktion ihrer Mutter gut vorstellen, wenn sie mit verschmierter Wimperntusche zurückkehrte. Also schluckte sie tapfer ihren Kummer hinunter – so wie sie es immer tat. Ein ihr inzwischen nur allzu vertrauter, gut eingeübter Akt der Selbstbeherrschung.

Sie liebte Nora. Immerhin waren sie Schwestern. Aber Nora hatte die schlechte Eigenschaft, Menschen sowohl unbeabsichtigt als auch oft genug in vollem Bewusstsein zu verletzen. Jeden einzelnen Tag bekam Evelyn von ihr einen Kommentar bezüglich Ethan zu hören, bei dem sie die Zähne zusammenbeißen musste. Ungefiltert prasselten Beleidigungen und Kritik auf sie ein, und es kostete sie all ihre Kraft, den Funken des Zorns zu unterdrücken, der jedes Mal aufs Neue einen Flächenbrand auszulösen drohte. Doch unter all der Wut verbarg sich eine ewig züngelnde, schwache Flamme des Kummers. Eine tiefe Traurigkeit darüber, dass sich ihre Schwester, ihre beste Freundin, nicht über ihr Glück freuen konnte.

Ethan und sie kannten sich bereits ihr Leben lang, und was sie füreinander empfanden, war nichts, was man mit Worten zugrunde richten konnte. Wahre Liebe. Etwas, das man im Leben nur sehr selten fand. Seine Art, sich um diejenigen zu kümmern, die ihm nahestanden, und die liebevolle Zuneigung, die er ihr entgegenbrachte, hatten sie zu einem besseren Menschen gemacht. Seine Freundlichkeit und sein Mitgefühl färbten auf sie ab.

Evelyn holte tief Luft und ließ den überfüllten Ballsaal hinter sich, indem sie auf die großzügige Terrasse hinaustrat. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen die Brüstung und lauschte der wirren, niemals endenden Melodie aus Geräuschen, welche die Königsstadt umwehte. Etwas, an das sie nicht gewöhnt war. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie weit weg von großen Städten, Politik und Industrie verbracht. Um genau zu sein, war das einzige Mitglied ihrer Familie, das mit geschäftigen, großen Städten wie der Königsstadt vertraut war, ihr Vater, dessen Job es mit sich brachte, dass er tagtäglich mit Hunderten Vampiren und Menschen zu tun hatte. Normalerweise verabscheute Evelyn den Lärm und die Schroffheit der Stadt, doch in diesem Moment genoss sie die Abwechslung zu ihrem sonst so friedlichen, gewöhnlichen Leben. Ein Ausflug in die Stadt bedeutete Abenteuer für sie.

»Eine schöne, junge menschliche Frau wie du sollte an einem gefährlichen Ort wie diesem nicht alleine sein«, durchbrach eine Stimme Evelyns Gedanken.

Als sie erschrocken herumfuhr, begegnete sie dem durchdringenden Blick eines Mannes mit dunkelbraunen Augen, der nur Zentimeter von ihr entfernt stand. »Oh«, keuchte sie erschrocken, überrascht von seiner Nähe. »Es tut mir leid. Ich dachte, hier wäre niemand.«

Der Mann lachte leise und lehnte sich neben Evelyn gegen die Balkonbrüstung. »Das dachte ich auch«, flüsterte er. »Um ehrlich zu sein, war ich anfangs ganz schön verärgert, dass du meine Ruhe gestört hast. Die Balkone bieten mir die einzige Fluchtmöglichkeit vor dieser Art Partys.«

Mit einem Lächeln musterte Evelyn den Mann von oben bis unten. Er trug einen teuren Anzug. Nichts besonders Außergewöhnliches, aber etwas an ihm, vielleicht die Art, wie er sich hielt, schien absolute Macht auszustrahlen. Er war groß und muskulös gebaut mit einem scharf gemeißelten Kiefer und den perfektesten Wangenknochen, die man sich vorstellen konnte. Seine Haut schimmerte dunkel, gebräunt. Er sah jung aus – wie Anfang zwanzig –, aber in einer Welt, in der Unsterblichkeit alltäglich war, konnte einen das Äußere nur allzu leicht täuschen.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe. Ich werde gehen«, bot Evelyn an, während sie bereits einen Schritt rückwärts machte.

Er war eindeutig ein Vampir. Selbst wenn er sie nicht als menschlich bezeichnet hätte, hätte Evelyn es an seiner Haltung erkannt. Vampire hatten eine gewisse Regungslosigkeit an sich, die sie unverwechselbar machte.

Sie hatte ihn verärgert. Und sie kannte genug Fälle, in denen Menschen für weit profanere Vergehen mit ihrem Leben hatten bezahlen müssen. Das Beste, was sie tun konnte, war, sich zurückzuziehen, bevor sie riskierte, ihn noch weiter zu beleidigen. Nicht nur sie, auch ihre Familie konnte dadurch in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

»Nein. Ich sagte doch ›anfangs‹. Bleib.«

Evelyn zögerte. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongerannt, aber das letzte Wort hatte zu sehr nach einem Befehl geklungen.

»Veranstaltungen wie diese langweilen mich«, sagte er mit einer unbestimmten Geste in Richtung des Ballsaals. »Aber um ehrlich zu sein, wird nach fast zweitausend Jahren alles irgendwann ziemlich langweilig«, fügte er ernst hinzu.

Langsam trat Evelyn vor und lehnte sich abermals gegen die Balkonbrüstung. Nach fast zweitausend Jahren. Seine Worte hallten in ihren Ohren nach. Nicht einmal in ihren wildesten Fantasien hätte sie sich ausmalen können, wie es sich anfühlen musste, für so lange Zeit zu existieren. Was er alles erlebt, was er gesehen haben musste. Beim Gedanken daran, was er in den Jahrhunderten, die er bereits auf der Erde wandelte, vielleicht alles getan hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus, und Evelyn begann sich zu fragen, ob sie etwas sagen oder doch lieber still sein sollte. Er war auf den Balkon gekommen, um alleine zu sein. Trotzdem hatte er ihr befohlen zu bleiben, als wünschte er sich jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte.

Leicht verärgert verzog sie das Gesicht. Genau das war der Grund, weshalb sie die Gesellschaft von Vampiren mied. Es war unmöglich, ihnen anzusehen, was sie dachten oder wollten. Ihre Wünsche und Bedürfnisse zu deuten glich einem Spiel um Leben und Tod. Sie war nichts weiter als ein Mensch. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und sie wäre tot, noch bevor ihr klar sein würde, was sie falsch gemacht hatte.

»Auf wie vielen solcher Bälle waren Sie denn schon?«, fragte sie zögerlich.

»Hunderttausendsiebenhundertzweiundvierzig.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. Diese präzise Zahl. War es tatsächlich möglich, dass er jede einzelne Party dieser Art noch im Kopf und mitgezählt hatte? Doch dann bemerkte sie das leichte Lächeln, das seine Lippen umspielte.

»Ich erinnere mich nicht. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich den Überblick verloren habe«, bemerkte er.

Es war ein Scherz gewesen. Er hatte sie aufziehen wollen. Die Absurdität seiner Worte gepaart mit der Tatsache, dass sie ihm beinahe geglaubt hatte, entlockten ihr ein überraschtes Lachen. Amüsiert verdrehte sie die Augen.

Atticus entging kein noch so kleines Zucken ihrer Gesichtsmuskeln, weder das Blut, das ihre Wangen im selben Moment rosig färbte, noch die Art, wie ihr Lachen Besitz von ihrem ganzen Körper zu ergreifen schien. Aufmerksam studierte er ihre Züge. Porzellanblasse Haut, dunkle Haare und Augen so blau wie der Sommerhimmel. Sie strahlte eine natürliche Eleganz aus, und eine seltene Aura aus Licht umgab sie. Er spürte, wie sich bei ihrem Anblick ein Funken in ihm entzündete. Ein Gefühl, das ihm schon vor sehr langer Zeit fremd geworden war.

»Es muss wirklich cool sein, so eine lange Zeit zu existieren und so viel von der Welt gesehen zu haben«, sagte sie in diesem Moment.

Es fühlte sich an, als würde der Funken in seinem Innern von einem eiskalten Wasserstrahl gelöscht. »›Cool‹ ist nicht das richtige Wort dafür.«

Er sah auf den Ring mit dem Rubin an seinem Finger hinab und strich sanft mit der Fingerkuppe seines Daumens darüber. Folter traf es weit besser. Nach so vielen Jahrhunderten fühlte sich die Unsterblichkeit mehr nach einem Fluch an als nach dem Geschenk, das er einmal darin gesehen hatte. Die Ewigkeit war eine lange Zeit. Und für immer mit einem gebrochenen Herzen und einsam zu leben glich weit mehr einer Strafe als irgendetwas sonst. Eine Strafe, die er verdiente.

»Wenn man bereits so lange existiert wie ich, verliert man sowohl die Begeisterung als auch die Zufriedenheit. Jeder Tag fühlt sich gleich an.« Damit hatte er im Grunde zugegeben, dass es ihm inzwischen unmöglich geworden war, Freude zu empfinden. Alles, was er spürte, glich einer dumpfen Taubheit. Vielleicht war Leere das bessere Wort. Aber aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass sie erfuhr, wie er sich fühlte. Stattdessen fügte er hinzu: »Nach so vielen Jahren gibt es abgesehen von den Verpflichtungen keinen Grund mehr zu existieren.«

Sie hörte ihm aufmerksam zu, und er beobachtete ihren Gesichtsausdruck, während sie sich seine Worte durch den Kopf gehen ließ. Nach einer Weile sagte sie: »Sie haben das Gefühl, dass das Leben nichts mehr wert ist, sondern ganz im Gegenteil eine Strafe, weil es nichts mehr darin gibt, auf das Sie sich freuen können.« Sie hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. »Habe ich recht?« Sie schenkte ihm ein wunderschönes Lächeln, das die Grübchen in ihren Wangen zum Vorschein brachte. Ein Lächeln, so unschuldig, süß und voller Licht, dass der Funken, den er seit so vielen Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte, tief in seinem Innern wieder aufflackerte.

»Richtig«, sagte er leise, noch immer verblüfft, wie schnell sie ihn durchschaut hatte. Es war ihr gelungen, seine Gefühle in Worte zu fassen. Besser, als es ihm selbst jemals möglich gewesen wäre.

»Sie brauchen etwas, für das es sich lohnt zu leben«, fügte sie hinzu. »Eine Leidenschaft, ein Projekt oder vielleicht sogar jemanden, den Sie lieben können.«

Rasch senkte sie den Blick und stieß ein leises Seufzen aus, das in ihm das Bedürfnis weckte, die Hand nach ihr auszustrecken, um sie zu berühren. Trotzdem sie ihm als Mensch in jeder Hinsicht unterlegen war, hatte sie etwas an sich, dem sich Atticus nicht entziehen konnte. Im schwachen Mondlicht glänzte ihre Haut, als würde sie von innen erleuchtet. Da war ein Licht in ihr, das die Macht hatte, ihn zu erlösen oder für immer in den Abgrund tiefster Dunkelheit zu stürzen.

»Sie starren mich an …«, flüsterte sie, während sie sich verunsichert unter seinem Blick wand.

Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er ihr die Antwort schuldig geblieben war.

»Wie alt bist du?«

»Achtzehn.«

»So jung …«

»Wie alt sind Sie?«, gab sie seine Frage aus purer Neugier zurück.

Er lächelte nur, ohne ihren Blick loszulassen. Auf keinen Fall würde er ihr das verraten. Es würde sie nur in die Flucht schlagen.

Doch sie wandte sich ohnehin ab. »Ich sollte jetzt gehen«, sagte sie und machte Anstalten, auf die Terrassentüren zuzugehen.

Dieses Mal streckte er die Hand nach ihr aus und legte sie ihr auf die Schulter. Sein Griff war sanft. Trotzdem blieb sie augenblicklich vollkommen regungslos stehen. »Ich habe dir nicht die Erlaubnis gegeben, dich zu entfernen«, sagte er und bereute noch im selben Moment seine Wortwahl.

Den Blick auf ihre Füße gerichtet, die Schultern nach vorn gekrümmt, schien sie in sich zusammenzusacken. Natürlich wusste sie es besser, als seinen Befehl zu ignorieren. Doch noch vor wenigen Augenblicken schien sie dagegen ganz sie selbst gewesen zu sein. Sie hatte ein Selbstbewusstsein ausgestrahlt, das sich mit seinen Worten in Luft aufgelöst hatte.

Er drehte sie an der Schulter zu sich herum, studierte ihr Gesicht, doch sie hielt den Blick weiter gesenkt.

»Du bist eine alte Seele«, stellte er fest. Vorsichtig legte er eine Hand an ihre Wange, um sie zu ermutigen, ihn anzusehen, aber stattdessen zuckte sie unter seiner Berührung zurück. Ihre Haltung verriet, wie groß ihre Angst war. »Ich werde dir nicht wehtun«, versprach er und ließ wie zum Beweis beide Hände sinken.

Schweigend standen sie voreinander mit nichts als der Furcht zwischen sich, die wie die Hitze einer zitternden Flamme von ihr ausstrahlte.

Schließlich hob er den Blick, um in den sternenklaren Himmel hinaufzusehen. »Würdest du mit mir aufs Dach kommen? Für einen Spaziergang? Die Königsstadt kann von dort oben wunderschön aussehen. Ich würde es dir gerne zeigen.«

Nun hob sie doch den Kopf. Die Panik in ihren Augen war einem schockierten, beinahe überraschten Ausdruck gewichen. Atticus war sich nicht ganz sicher, woher genau er rührte – ob von seiner Aufforderung, ihm aufs Dach zu folgen, oder ganz einfach daher, dass er so viel Interesse an ihr zeigte.

»Ich würde dich gerne besser kennenlernen«, fügte er hinzu. »Du interessierst mich. Und es gibt nicht viele Dinge auf dieser Welt, die mein Interesse wecken …« Wieder zuckte sie zusammen, und er konnte ihr ansehen, dass sie nach einer Entschuldigung suchte. Nach einem Grund, seine Bitte ablehnen zu können. Und obwohl er sie nicht weiter verängstigen wollte, konnte er sich nicht beherrschen hinzuzufügen: »Ich bin kein Mann, der ein Nein als Antwort akzeptiert.«

Er beobachtete, wie sie schwer schluckte. »Ich muss jetzt wirklich gehen«, wiederholte sie. »Es tut mir leid, aber ich mache mir Sorgen, dass meine Familie anfängt, nach mir zu suchen. Meine Schwester und ich haben uns gestritten, weswegen ich überhaupt auf den Balkon gegangen bin. Aber ich bin inzwischen schon eine ganze Weile weg, und keiner von ihnen weiß, wo ich bin.« Sie hielt inne und starrte wieder auf ihre Füße.

Und außerdem machen Sie mir Angst. Sie sprach es nicht laut aus, aber das war auch nicht nötig. Die Furcht stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Sie sah auf. »Vielleicht ein anderes Mal?«

In ihrer Stimme schwang ein hoffungsvoller Unterton mit, doch Atticus war sich nicht sicher, ob sich die Hoffnung darauf bezog, dass sie sich wünschte, es gäbe ein anderes Mal, oder darauf, dass er sie würde gehen lassen. Es spielte ohnehin keine Rolle für ihn. Er wusste, dass es ein anderes Mal geben würde. Viele andere Male. Denn als er sie ansah, konnte er sie beide in einem ihrer Augen sehen, wie sie eine Existenz voller Freude und Glück teilten. Doch in dem anderen spiegelte sich ein Leben voller Schmerz, Kummer, Tränen und Blutvergießen.

Zwei Wege.

Zwei Möglichkeiten.

Zwei Schicksale, die nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Beide waren möglich, doch die Würfel waren bereits gefallen. Der Weg in die Zukunft war geebnet. Ihre Schicksale waren untrennbar miteinander verknüpft.

»Nun gut«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sie entließ.

»Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Sir.«

Sie hatte es nicht gewagt, ihn nach seinem Namen zu fragen. Sie war sich ihrer Position als untergeordneter Mensch zu sehr bewusst, als dass sie jemals einen solch schwerwiegenden Fehler hätte begehen können. Doch im Gegensatz zu ihr war er keinen gesellschaftlichen Barrieren unterworfen.

»Wie heißt du?«

»Evelyn Blackburn«, brachte sie beinahe widerwillig über die Lippen, bevor sie floh.

4

Widerstrebend.

Nicht willig oder nicht darauf vorbereitet sein, etwas zu tun.

Eine Form des Widerstands, der Abscheu, der Aversion und Opposition zu etwas. Gefühle, die den Menschen des 25. Jahrhunderts nur allzu vertraut waren. In einer Welt, in der sie so wenige Rechte besaßen wie Hunde und andere Tiere, die sie früher als Haustiere gehalten hatten. In der sie nicht mehr als lebende Wesen, sondern nur noch als Objekte betrachtet wurden. In einer Welt, in der die Vampire die Macht in den Händen hielten und Menschen gezwungen wurden, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. In einer Welt, in der selbst die wenigen Auserwählten, denen noch ein Stück Kontrolle über ihr eigenes Leben gewährt wurde und die nicht als Sklaven von einem Meister gehalten wurden, Dinge tun mussten, die sie nicht tun wollten. Sich von etwas trennen mussten, das sie nur widerstrebend hergaben.

Zwei Wochen.

Zwei Wochen waren seit dem Ball zum Geburtstag des Königs vergangen, und alles war wie immer; nichts Dramatisches war seitdem geschehen.

Die Feier zu Ehren des Königs war ohne Probleme für die Blackburns verlaufen. Kurz nachdem sie den merkwürdigen Vampir auf dem Balkon zurückgelassen hatte, war Evelyn auf Ethan getroffen. Ein Teil von ihr hatte sich gewünscht, ihm anzuvertrauen, was sie gerade erlebt hatte, aber gleichzeitig hatte sie nicht gewollt, dass er sich Sorgen machte. Nora hatte die ganze Nacht mit verschiedenen Vampiren getanzt, die allesamt eine hohe Position innerhalb der Stadt bekleideten. Jeder Einzelne von ihnen hatte Nora die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie sich wünschte, aber das Interesse von keinem von ihnen hatte über ihre Haut, ihr Fleisch und vielleicht noch das Blut, das durch ihre Adern pulsierte, hinausgereicht. Evelyn hatte den Rest des Abends mit Ethan verbracht. Eine Weile hatten sie sich unter die Tanzenden gemischt, doch die meiste Zeit blieben sie unter sich am Rande der Menge, wo er ihr Geschichten über die Gäste – Menschen wie Vampire, die er kannte – ins Ohr flüsterte. Sie hatten sich auch über das Leben, das sie sich gemeinsam aufbauen wollten, unterhalten. Was sie unternehmen, welche Orte sie besuchen wollten.

Zwei Wochen später, zu Hause, hatte Evelyn die merkwürdige Unterhaltung mit dem Vampir auf dem Balkon beinahe wieder vergessen, als die Klingel der Haustür ihr Echo durch die Räume von Blackburn Manor schickte.

Evelyn sah vom Klavier auf, an dem sie gerade saß und geübt hatte, und begegnete dem Blick ihrer Eltern, die zuerst sich gegenseitig und dann Nora und ihre Schwester überrascht anstarrten.

»Könntest du bitte nachsehen, wer es ist, Margaret?«, bat Lynette Blackburn das Dienstmädchen.

Draußen regnete es. Wassertropfen glitzerten auf den Mänteln und Stiefeln der Vampire, die kurz darauf ins Wohnzimmer geführt wurden.

Evelyns Eltern und ihre Schwester sprangen erschrocken auf. Auch wenn Jonathan Blackburn einer der wenigen Menschen war, dem in der Welt noch ein gewisses Maß an Respekt entgegengebracht wurde, kam es nur äußerst selten vor, dass Vampire ihn in seinem Haus aufsuchten. Vor allem keine, die dem königlichen Hof angehörten.

Evelyn war bewusst, dass sie ebenfalls hätte aufstehen sollen, aber irgendetwas sagte ihr, dass sich nun alles ändern würde. Und auf einmal fühlte sich ihr Körper tonnenschwer an. Ihre Gliedmaßen schienen ihr nicht mehr zu gehorchen.

»Sieh an, sieh an, Jonathan Blackburn. So sieht man sich wieder.« Der Mann, der als Erster durch die Tür getreten war, war niemand, den die Familie Blackburn zu Besuch bei sich erwartet hätte. Nicht nachdem Jonathan sich mit seinem Widerstand gegen die Hochzeit seiner Nichte so weit aus dem Fenster gelehnt hatte. »Wie es aussieht, ist dein Ego in der Zwischenzeit noch größer geworden«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte erwartet, dass anstelle eines einfachen menschlichen Dienstmädchens deine gesamte Familie zur Tür kommen würde, um einen Vampir-Lord in ihrem Zuhause willkommen zu heißen.« Er strafte die Frau, die ihm geöffnet hatte, mit einem verachtungsvollen Blick.

Die Fünfzigjährige stand im Türrahmen, den Kopf tief geneigt.

»Lord Marcus!«, stieß Jonathan keuchend hervor. Er hatte den Vampir seit Monaten nicht gesehen. Nicht mehr, seit Alice zum letzten Mal davongelaufen war. »Wir haben Sie nicht erwartet. Andernfalls hätten wir Sie natürlich an der Tür willkommen geheißen. Was führt Sie zu uns?« Das plötzliche Auftauchen des Vampir-Lords alarmierte ihn aufs Höchste. »Geht es Alice gut?«

Marcus gluckste amüsiert. »Aber sicher doch, meiner lieben Alice geht es hervorragend. Wir sind sehr glücklich miteinander.« Eine gezielt platzierte Spitze gegen die Blackburns, die sich mit aller Macht gegen die Hochzeit gestemmt hatten. Sie hatten sogar geholfen, sie zu sabotieren, indem sie Alice bei ihrer Flucht unterstützt hatten. Ihrer erfolglosen Flucht.

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, mein Lord, aber warum sind Sie dann hier? Und warum haben Sie so viele Freunde mitgebracht?« Jonathan machte eine vage Handbewegung in Richtung der vier Vampire in teuren Anzügen, die schön symmetrisch Aufstellung hinter Marcus genommen hatten.

Als Evelyn genauer hinsah, wurde ihr klar, dass sie alle zum Hof des Königs gehörten. Sie trugen ein Siegel am Revers – eine Mondsichel –, das königliche Wappen.

Marcus verzog die Lippen zu einem düsteren Grinsen. »Interessant, dass du mich das fragst …« Dann nickte er kaum merklich mit dem Kopf. Ein Zeichen für den Vampir, der schräg links hinter ihm stand, vorzutreten. Er trug eine goldene Schriftrolle in der Hand. Jeder wusste, dass die goldenen Schriftrollen etwas Besonderes waren. Alleine Gesetze und Befehle, die direkt aus der Feder des Königs stammten, wurden auf ihnen verkündet.

Sofort fielen alle anwesenden Menschen im Raum auf die Knie und senkten den Kopf als Zeichen des Respekts. Evelyn folgte nur widerwillig und langsam dem Beispiel ihrer Eltern und Schwester, doch sie zwang sich zu tun, was die gesellschaftlichen Regeln von ihr verlangten.

»Ein Befehl seiner königlichen Hoheit, Atticus Nocturne Lamia«, begann der Vampir laut und in arrogantem Tonfall vorzulesen. »Hiermit wird Evelyn Maria Blackburn, Tochter Jonathan Henry Blackburns und Lynette Helen Blackburns, mit Erreichen ihres zwanzigsten Lebensjahrs die Ehre erteilt, als Teil des königlichen Rats der Vampire und als einer der menschlichen Mitarbeiter des Königs den königlichen Palast zu beziehen, um Seine Königliche Hoheit in Fragen der Menschenrechte zu beraten.«

»Wie bitte?« Evelyn kam mit einem entsetzten Keuchen auf die Beine und stürzte zu dem Vampir hinüber, der die Schriftrolle hielt, um einen Blick drauf zu werfen. Es musste sich um einen Fehler handeln. Ein Missverständnis. »Evelyn Blackburn? Ich, Evelyn Blackburn? Ich soll dem königlichen Hof als menschliche Mitarbeiterin beitreten?«

Marcus lachte auf. »Wenn sie die Tochter ist, die du an den Hof schickst, solltest du ihr vorher besser ein paar Manieren beibringen, Jonathan. Wenn sie sich dort genauso aufführt wie hier, bezweifle ich, dass sie lange überleben wird.«

Wütend biss Jonathan die Zähne zusammen, ohne auf Marcus Provokation einzugehen.

»Evelyn?« Nora runzelte irritiert die Stirn. »Warum wünscht sich der König ausgerechnet Evelyn am Hof?«

»Das muss ein Fehler sein«, sagte Evelyn. Das hier konnte unmöglich ein Resultat der Unterhaltung sein, die sie beim Ball des Königs auf dem Balkon geführt hatte. Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass der Vampir, mit dem sie gesprochen hatte, alt genug war, um eine wichtige Rolle am Hof einzunehmen, aber ganz bestimmt hatte er sie nicht dem König empfohlen.

Der Vampir mit der goldenen Schriftrolle verlas noch einmal den Befehl des Königs, und diesmal sah Evelyn ihm dabei über die Schulter. Jedes einzelne Wort stimmte. Dort stand es, schwarz auf weiß.

»Aber warum ausgerechnet Evelyn?«, wiederholte Nora, und Evelyn hörte den eifersüchtigen Unterton, der in ihrer Frage mitschwang. Genauso gut hätte ihre Schwester »Warum nicht ich?« fragen können.

Marcus stieß abermals ein kurzes amüsiertes Lachen aus, bevor er nach der goldenen Schriftrolle griff. »Akzeptierst du, Jonathan Blackburn, als Oberhaupt der Familie Blackburn und als Vormund von Evelyn Blackburn, diese große Ehre als ein Zeichen des Mitgefühls und der Liebe des Königs für die Familie Blackburn, und bist du bereit, die Zukunft deiner Tochter in die Hände des Königs zu legen?« Selbstgefälligkeit spiegelte sich in Marcus Zügen, als er auf Jonathan Blackburn hinabblickte, der noch immer zu seinen Füßen kniete, den Kopf tief gebeugt.

»Nein«, stieß Evelyn entsetzt aus und schlug die Hände vor den Mund.

Ihr Vater sah sie nicht an. Und in diesem Moment, in dem sich die Stille im Raum unendlich auszudehnen schien, hätte sie es auch nicht ertragen. Hätte er den Blick gehoben, hätte er vielleicht etwas Dummes getan. Doch stattdessen hielt er den Blick fest auf den Boden gerichtet und presste schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ich akzeptiere die Ehre.«

Keinem der Anwesenden entging, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen, mit denen er das Schicksal seiner Tochter für immer in die Hände eines Monsters legte.

»Schön.« Mit einem abfälligen Grinsen streckte Marcus Jonathan die goldene Rolle entgegen.

Doch bevor ihr Vater sie entgegennehmen konnte, trat Evelyn einen Schritt vor und riss sie dem Vampir-Lord aus der Hand, nur um sie im nächsten Augenblick voller Wut auf den Marmorfußboden zu schleudern. »Das mag sein, aber ich akzeptiere die Ehre nicht!«, schrie sie, die Wangen rot vor Zorn. Sie spürte, wie eine ungeahnte Energie in ihr hochkochte, die unbedingt ausbrechen wollte. Sie hatte andere Pläne. Niemals würde sie an den königlichen Hof gehen, um dort wie ein beliebiges Besitzstück behandelt zu werden. »Ich will keine Mitarbeiterin des Hofs sein. Ich weiß nichts über Politik, und ich …« Bevor Evelyn den Satz beenden konnte, wurde sie von einer harten Hand unterbrochen, die mit Wucht auf ihre Wange traf.

»Unsinn!«, brüllte ihr Vater, als die Kraft des Schlags sie auf den Boden schleuderte. »So wirst du dich nicht in Anwesenheit eines Adeligen wie Lord Marcus benehmen. Du wirst keine königlichen goldenen Schriftrollen auf den Boden werfen, als handelte es sich um irgendwelchen Müll, und erst recht wirst du dich nicht noch einmal über die Ehre beklagen, die uns Seine Königliche Hoheit zuteilwerden lässt. In den königlichen Palast berufen zu werden ist eine Auszeichnung, für die Millionen anderer alles geben würden.«

»Dann sollen die sich doch um die Ehre prügeln«, schrie Evelyn, während sie sich aufrichtete. Sie spürte, wie ihr die Tränen die Wangen hinabliefen. »Ich will sie nicht. Auf keinen Fall werde ich in diesen Palast ziehen.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer.

Nora war schockiert wie nie zuvor. Ihr war wohl bewusst, dass ihr der Mund offen stand und sie so mit Sicherheit alles andere als vorteilhaft aussah, aber sie hätte in diesem Moment beim besten Willen nichts daran ändern können. Ihr Vater, der liebevolle, fürsorgliche Jonathan Blackburn, hatte gerade seine Lieblingstochter geschlagen.

»Ich bitte um Verzeihung für meine fehlende Disziplin in der Erziehung meiner Tochter. Bitte seien Sie versichert, dass ich ihr den Ungehorsam austreiben werde, bevor sie ihren Dienst am Hof antritt«, versprach Jonathan und bückte sich, um die goldene Schriftrolle mit beiden Händen aufzuheben.

Lord Marcus nickte nur knapp, bevor er sich den vier ihm unterstellten Vampiren des königlichen Rats zuwandte. »Wartet draußen«, befahl er ihnen, woraufhin sie wie trainierte Hunde umgehend das Wohnzimmer verließen, sodass Marcus mit den verbleibenden drei Mitgliedern der Familie Blackburn alleine zurückblieb.

»Kein schlechter Schachzug, Jonathan«, begann Marcus nach kurzem Schweigen, während dem er sich versichert hatte, dass die vier anderen Vampire inzwischen außer Hörweite waren. »Ich werde den vier dort draußen einen Schwur abnehmen, mit keinem über Evelyns Widerstand zu sprechen. Wenn ihr drei mir das Versprechen gebt, dass Evelyn bei ihrer Einführung am Hof fügsamer ist.«

Jetzt verstand Nora. Ihr Vater hatte das alles nur getan, um Evelyn zu schützen. Wer konnte schon sagen, wie der König reagieren würde, wenn er jemals erfuhr, wie energisch Evelyn sich seinem Befehl widersetzt hatte. Nora war dem König niemals begegnet, aber wenn die Gerüchte stimmten, die man sich über ihn erzählte, zögerte er nicht, jeden Menschen, der ihm nicht gehorchte, zu töten.

»Was ich da gerade getan habe, war keine Schauspielerei, mein Lord«, sagte ihr Vater. »Das Verhalten meiner Tochter tut mir sehr leid. Sie ist ganz einfach zu ignorant, um zu verstehen, was für ein Geschenk es ist, an den königlichen Hof berufen zu werden. Eine Ehre, von der Millionen nur träumen können.«

Ein Lächeln umspielte Lord Marcus’ Lippen, als er sich in einen der edlen Sessel fallen ließ, die dem Klavier gegenüber in einem Halbrund angeordnet waren. »Sehr richtig, es handelt sich tatsächlich um ein Geschenk. Hunderttausende wären bereit, dafür zu töten, dass ihre Tochter vom König selbst in den Palast beordert wird. Aber du gehörst nicht dazu, nicht wahr, Jonathan?«

Als Jonathan sich merklich versteifte, wusste Marcus, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »I-Ich …«

Lord Marcus stieß ein knappes Lachen aus. »Kein Grund für weitere Erklärungen, Jonathan. Vielleicht magst du mich nicht sonderlich, aber du bist noch immer Alices Lieblingsonkel. Ihr einziger Onkel. Deine Familie ist alles, was ihr auf dieser Welt noch geblieben ist. Wenn ich dem König verrate, dass du nach wie vor nach den Grundsätzen der alten Zeiten lebst und meiner Spezies den Respekt verweigerst, würde sie mir niemals vergeben. Also mach dir keine Sorgen, mein guter Mensch, deine Geheimnisse sind bei mir sicher.«

Mit einem gönnerhaften Lächeln ließ Marcus den Blick von Jonathan zu Nora und ihrer Mutter wandern, die noch immer auf dem kalten, harten Boden knieten. Niemals hätten sie es gewagt, sich ohne ausdrückliche Erlaubnis wieder zu erheben.

Mit einem knappen Wink bedeutete Marcus ihnen aufzustehen.

»Ich weiß, was du deine Töchter und Alice gelehrt hast. Du hast ihnen von den Horrorgeschichten berichtet, die sich um meine Art und den Großen Krieg von 2020 ranken. Ich kenne den Grund, aus dem du und deine Frau Nora und Evelyn gerne von Partys wie der in der Königsstadt vor ein paar Wochen fernhalten. Weil ihr nicht wollt, dass irgendwelche Vampire auf sie aufmerksam werden. Vor allem keine adeligen. Habe ich recht, Jonathan?« Marcus grinste abfällig, und als Jonathan schwieg, fügte er hinzu: »Schon bevor ich Alice getroffen habe, wusste ich Bescheid. Ihre Eltern haben versucht, sie mit einem Sohn der Graysons zu verkuppeln. Eine weitere berühmte menschliche Familie …« Er lachte.

»Evelyn hegt echte Gefühle für Ethan Redfern«, sagte Jonathan. »Sie sind nicht nur zusammen, weil ihre Eltern sich das wünschen.«

»Dann sorg dafür, dass diese Gefühle weggehen«, erwiderte Marcus barsch. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Evelyn ist seit Jahrhunderten der erste Mensch, den der König persönlich an den Hof beruft. Ich denke, es ist offensichtlich, dass der König nicht an ihren Qualitäten als Beraterin in Menschenrechtsfragen interessiert ist, sondern sie zu seinem persönlichen Vergnügen in den Palast beordert.«

Nora ließ die Worte auf sich wirken. Nicht nur dass Evelyn die Ehre zuteilwurde, eine wichtige Position am Hof einzunehmen, der König selbst hatte ein Auge auf sie geworfen. Aber wann hatte er sie getroffen?

Ihr Vater ballte die Hände zu Fäusten. Das einzige Anzeichen für den Zorn, der ganz bestimmt in ihm kochte. Vielleicht gingen ihm gerade dieselben Gedanken wie ihr durch den Kopf. Von Evelyn, seiner Lieblingstochter, alleine mit dem König in der Dunkelheit, nur beschienen vom fahlen Mondlicht. Vielleicht machte er sich in diesem Moment die schlimmsten Vorwürfe, dass er nicht stark genug gewesen war, um seine Tochter vor diesem Schicksal zu bewahren.

»Sie wollen, dass ich Ethan Redfern loswerde, damit der König keine Konkurrenz mehr hat?«, fragte Jonathan. Seine Miene wirkte beinahe ausdruckslos. Ein starker Kontrast zu den Hassgefühlen, die in seinem Herzen wüteten.

Marcus lachte amüsiert auf. »O nein, ganz bestimmt nicht. Tu, was immer du willst. Du solltest dir nur im Klaren darüber sein, dass der König, sollte er jemals herausfinden, dass Evelyns Herz einem anderen Mann gehört, diesen mit Freuden umbringen und den Hunden zum Fraß vorwerfen wird. Und niemand kann voraussehen, was er anschließend mit Evelyn anstellen würde.«

Lynette runzelte die Stirn. »Warum warnen Sie uns? Ich dachte, Sie hassen unsere Familie.«

»Wegen der engen Beziehung zwischen Evelyn und Alice. Und weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Herz der Frau, die man liebt, für einen anderen schlägt …« Für einen Moment senkte er den Blick, bevor er zugab: »Eifersucht ist ein sehr starkes Gefühl. Und ein Vampir, der von diesem Gefühl kontrolliert wird, ist in der Lage, anderen schreckliche Dinge anzutun. Selbst der Frau, die er über alles liebt …«

»Gibt es irgendeinen Weg, auf dem Sie verhindern könnten, dass Evelyn an den Hof gehen muss?« Lynettes Stimme hatte einen flehenden Ton angenommen. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Um Alice’ willen. Bitte!«

»Ich könnte an ihrer Stelle gehen«, warf Nora ein. Es schien ihr die einfachste Lösung für das Problem. Evelyn wollte nicht an den Hof. Nora schon. Sie war sich sicher, dass der König ihre Schwester nicht aus dem Grund ausgesucht hatte, dass er sie schon einmal gesehen, geschweige denn sie kennengelernt hatte.

Marcus seufzte. »Es tut mir leid. Wirklich. Aber dies ist der Wunsch des Königs. Er hat vier seiner engsten Berater und mich geschickt, um euch den Befehl zu überbringen. Ich denke, es besteht kein Zweifel, dass er fest entschlossen ist, Evelyn an den Hof zu holen. Und zwar nur sie.«