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Vielschichtig. Psychologisch. Grauenerregend. Ein Thriller über einen gnadenlosen Kampf ums Überleben in den undurchdringlichen Wäldern Norwegens unter ständiger Beobachtung eines Reality TV-Teams. Auf sich gestellt und rund um die Uhr von Kameras überwacht, sollen sechs Angestellte einer Hamburger Werbeagentur ihre Teamfähigkeit unter Beweis stellen. Für eine neue TV-Reality-Show müssen sie drei Tage und Nächte in einem abgelegenen Camp im Norden Norwegens einen hinterhältigen und zum Teil lebensgefährlichen Parcours bewältigen, aber die schikanösen Aufgaben sind das kleinste Problem der Gruppe. Denn in den Wäldern lauert ein uraltes Grauen, eine tödliche Bedrohung, die die sechs vernichten will ... »Dark Wood« von Thomas Finn ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!
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Seitenzahl: 564
Thomas Finn
Dark Wood
Horrorthriller
Knaur e-books
Ein gnadenloser Kampf ums Überleben in Norwegens Wäldern
Für eine neuartige TV-Reality-Show begeben sich sechs Angestellte einer Hamburger Werbeagentur auf einen Business-Trip der anderen Art: Drei Tage und Nächte lang müssen sie ihre Teamfähigkeit unter Beweis stellen. Rasch zeigt sich, dass sich die Kollegen nicht grün sind. Für zusätzlichen Zündstoff sorgt der von der Produktionsfirma organisierte hinterhältige und lebensgefährliche Parcours, den die Gruppe bewältigen muss.
Doch persönliche Animositäten und schikanöse Aufgaben sind nur die kleinsten Probleme der Gruppe. Denn in den Wäldern lauert in unmittelbarer Nähe ein uraltes Grauen, das die Gruppe nur gemeinsam besiegen kann. Aber einer in ihrer Mitte ist ein Verräter …
Für Rita und Lucienne,
die den Wald überlebten.
»Lupus est homo homini.«
Übersetzt: »Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen.«
Asinaria, Plautus (römischer Dichter)
Survive! Kämpft um euer Überleben!«
Dagmar sah auf dem kleinen Monitor im Backstage-Bereich des Aufnahmestudios, wie der Moderator in Siegerpose das Mikrofon in die Höhe reckte, während hinter ihm auf einer riesigen Videoleinwand ein schäumender und von bewaldeten Hängen gesäumter Wildwasserbach in den Fokus rückte. Auf ihm kämpften drei Zweier-Kajaks mit den Fluten. Ihre Insassen trugen rote Schwimmwesten und Helme und waren so trotz der aufspritzenden Gischt gut zu erkennen. Rasant jagten die Boote auf eine Stelle zu, an der sich der Bach durch umgestürzte Bäume zu einem Flaschenhals verengte.
Im Aufnahmestudio schwollen nun die Anfeuerungsrufe der Zuschauer zu lustvollem Kreischen an. Auch Dagmar konnte sehen, dass es den beiden ersten Kajaks nur mit Mühe gelang, die Engstelle zu passieren. Das dritte der Boote jedoch brach trotz verzweifelter Paddelschläge seiner Insassen aus, schob sich quer zur Strömung und wurde von den Wellen umgerissen. Ein Missgeschick, das im Studio Laute des Bedauerns hervorrief.
Dagmar hielt gespannt den Atem an. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie den Wettkampf nur über den kleinen Monitor mitverfolgen konnte, den die Produktionsfirma der TV-Show backstage zwischen den Strahlern unter der Decke angebracht hatte. Der winzige Bildausschnitt verriet nichts über das Schicksal der Insassen. Hatten sie sich in Sicherheit bringen können? Dann, endlich, zog die Kamera auf, und das verunglückte Kajak kam wieder in Sicht. Es war von der Strömung mitgerissen worden und trieb nun kieloben auf den Fluten. Ein weiterer Schwenk, und auch die beiden Kajakfahrer waren wieder zu sehen. Einer von ihnen zog sich an einem der umspülten Bäume zum Uferrand, der andere hielt noch immer sein Paddel umfasst und tanzte, einem roten Korken gleich, bachabwärts auf den Wellenbergen.
»Sieht ganz so aus, als würden unsere Spediteure ihren drohenden Untergang etwas wörtlich nehmen«, spottete der Moderator. »Oder sollte es sich bei den beiden gar um die Verursacher ihres Firmentiefs handeln? Schließlich heißt es nicht umsonst: Beim Paddeln zeigt sich, wie gut ein Team zusammenarbeitet.« Zuschauergelächter.
Dagmar blickte zweifelnd zu ihren Kollegen. Ebenso wie sie selbst hockten ihre fünf Schicksalsgenossen auf billigen Leinen-Klappstühlen. Die Mitarbeiter von Zerberus-Film hatten sie auf den letzten Drücker organisiert, damit sie sich bis zu ihrem Auftritt keine Löcher in den Bauch stehen mussten. Sie, und Bernd, Lars, Katja, Gunnar und Sören. Auch ihre Kollegen verfolgten die Szenen auf dem Monitor, wenngleich mit unterschiedlichem Interesse. Bernd und Lars wirkten weitestgehend unbeeindruckt. Natürlich. Soweit Dagmar wusste, trieben die beiden oft zusammen Sport und waren vermutlich viel zu abgeklärt, um sich von der inszenierten Dramatik des Senders unnötig ins Bockshorn jagen zu lassen. Bernd war mit seinen 52 Lebensjahren der Älteste ihres Teams. Dennoch wirkte er trainiert und erinnerte sie mit seinen dunklen Haaren und dem graumelierten Bart stets ein wenig an den Schauspieler Christoph Waltz – bloß, dass Bernd massiger war und der Schauspieler seine Rolex vermutlich nicht so demonstrativ zur Schau stellte, wie Bernd es tat. Wenn Christoph Waltz denn überhaupt eine Rolex besaß.
Lars wirkte mit seinem athletischen Oberkörper, flachen Bauch und markanten Kinn noch sportlicher als sein Kollege. Die dunkelbraunen Haare trug der Endzwanziger modisch kurzgeschnitten, und Dagmar betrachtete einmal mehr fasziniert seine strahlend blauen Augen.
Katja hingegen, die in gewohnt schickem Outfit direkt neben den Männern saß, war weniger auf den Monitor als auf ihre schlanken Finger mit den knallroten Nägeln konzentriert. Die Farbe passte zu ihrem flauschig roten Kaschmirpullover, der wiederum wunderbar mit ihren halblangen blonden Haaren und der beigefarbenen Leinenhose harmonierte.
Die Einzigen, die im Angesicht des Wettkampfes auf dem Monitor ähnlich angespannt wie sie selbst wirkten, waren Sören und Gunnar. Kein Wunder, Sören war ziemlich übergewichtig und brachte bei einer Körpergröße von knapp 1,70 Metern sicher 130 Kilogramm Körpergewicht auf die Waage. Nicht einmal jetzt sorgte er sich um sein Äußeres. Seine Haare waren viel zu lang, die Jeans ausgewaschen, und der Aufdruck seines schlabbrigen T-Shirts – Sport ist Mord – war vermutlich nicht bloß Lebensmotto, sondern Ausdruck ernster Besorgnis. Bei ihrem Kollegen Gunnar hingegen wusste Dagmar nicht, wie fit sie ihn einschätzen sollte. Ihr stets vornehm in hanseatisch blauem Zwirn auftretender Kollege rauchte zwar, wirkte aber sonst recht agil. Vielleicht rührte der Eindruck auch daher, dass er sie mit seinen buschigen Augenbrauen über den ausdrucksstarken braunen Augen an ihren Vater erinnerte. Und der war alles andere als unsportlich gewesen. Gunnars Nase war zwar etwas schiefer, sein Kinn hingegen ebenso markant. Mit seinen über 1,90 Metern Größe hätte der Endvierziger in einem Kajak aber vermutlich dennoch Probleme gehabt.
Dagmar bereute es inzwischen, dass sie sich zur Teilnahme an der Show hatte überreden lassen. Sicher, sie waren freiwillig hier. Aber wenn sie die Wahl gehabt hätten, hätten sie die verdammte Sendung vermutlich alle lieber gemütlich vor dem Fernseher verfolgt. Wenn überhaupt.
Nur hatten sie keine Wahl.
SURVIVE – KÄMPFT UM EUER ÜBERLEBEN! war der einzige Weg, um sie alle vor der drohenden Arbeitslosigkeit zu bewahren. Das Show-Konzept war leicht erklärt: Mitarbeiter von kurz vor der Insolvenz stehenden Firmen traten gegeneinander zum sportlichen Wettkampf an und konnten so mit Glück eine kräftige Finanzspritze für ihren Arbeitgeber erstreiten. Die Sendung war in der deutschen Fernsehlandschaft eingeschlagen wie eine Bombe. Offenbar hatte das Publikum genug von dritt- und viertklassigen Promis, die in Wahrheit keiner kannte und die sich nur zum Dschungelaffen machten, um ihr gesellschaftliches Unvermögen oder ihre Silikonbrüste zur Schau zu stellen. Ebenso wie von den ewig gleichen Doku-Soaps und Versager-Contests des Hartz-IV-TVs, bei denen die Chantal-Galadriels und Horst-Kevins der Republik zum Gespött gemacht wurden.
SURVIVE hingegen rückte arbeitswillige Verzweifelte in den Mittelpunkt. Das war zwar unter moralischen Gesichtspunkten nicht viel besser, kam aber gut an in einem Land, in dem jeder Arbeitslose dem Generalverdacht ausgesetzt war, faul und träge zu sein.
Die authentischste Reality-Show seit Jahren titelte kürzlich erst eine bekannte Boulevardzeitung. Das war natürlich Unsinn. Aber die Einschaltquoten ließen dennoch keinen Zweifel daran, dass es das Publikum mochte, wenn sich ein paar Unglückliche abrackerten, um die weitere Existenz ihrer Brötchengeber zu sichern. Dabei war es letztlich völlig egal, ob die Showteilnehmer unter unfähigen Chefs litten oder selbst für die Missstände in ihren Unternehmen verantwortlich waren – die 500000 Euro, die sie durch die Teilnahme an der Show erstreiten konnten, retteten die meisten mittelständischen Unternehmen zumindest eine Weile vor der Insolvenz. Natürlich war das Showkonzept nicht neu: eine Art Mischung aus Big-Brother-Container und dem uralten »Spiel ohne Grenzen«, nur in freier Natur und an außergewöhnlichen Orten. Kameras behielten die Teams rund um die Uhr im Auge und machten später jede private Regung öffentlich. Drei Tage hatte jedes Team Zeit, um einen Parcours unterschiedlicher Aufgaben ohne fremde Hilfe zu bewältigen – und die Produktionsfirma legte großen Wert darauf, die bekannten Abläufe von Ausstrahlung zu Ausstrahlung zu verändern. Nur eines änderte sich nie: Die Herausforderungen führten die Teilnehmer jedes Mal an ihre körperlichen und seelischen Grenzen.
Von den drei Firmenteams, die bis dato bei SURVIVE angetreten waren, war bislang nur die Crew einer Düsseldorfer Boutiquenkette gescheitert – und das lag Dagmars Einschätzung nach eher an deren internen Streitereien als an den Prüfungen, die die Zankhähne hatten absolvieren müssen. Die Chancen auf die 500000 Euro Preisgeld standen dementsprechend hoch, zumindest, wenn sie und ihre Kollegen sich nicht allzu dämlich anstellten. Hinzu kamen das Millionenpublikum und der damit einhergehende Werbeeffekt für das betreffende Unternehmen – und den wusste auch Dagmar zu würdigen. Und doch war die Sorge der Crews um ihren Arbeitsplatz lediglich der Aufhänger, mit dem das Konzept gut zu vermarkten war. Vermutlich noch entscheidender war, dass SURVIVE auch noch 50000 Euro für »das beste Teammitglied« auslobte – und dieser Betrag floss auf das Privatkonto des oder der Glücklichen.
50000 Euro. Dagmar schwindelte angesichts der Summe. Einen solchen Batzen Bargeld hatte sie noch nie besessen. Völlig abgesehen von den schlimmen finanziellen Folgen, die ihr Fauxpas vor zwei Monaten gehabt hatte. Wenn sie jetzt noch ihren Arbeitsplatz verlor, würde sie das in die Privatinsolvenz treiben.
Auf dem Monitor fuhren die beiden verbliebenen Kajaks mittlerweile Kopf an Kopf auf das nächste Hindernis zu. Diesmal handelte es sich um einen wuchtigen Felsen, der wie der Buckel einer Schildkröte aus dem aufgewühlten Wasser ragte. Fünfzig Meter weiter war bereits die Zielmarkierung zu erkennen. Zur Erfüllung der Parcours-Aufgabe reichte es, wenn eines der Boote ins Ziel gelangte. Das schien auch den beiden Teilnehmern in dem rechten Kajak auszureichen, denn unvermittelt zog einer von ihnen das Paddel aus dem Wasser und rammte es gegen den Kopf eines der Konkurrenten im Nachbarkajak. Ein langgezogenes »Uuuuuh!« ertönte aus dem Zuschauerraum, dem ein Raunen folgte, als das sabotierte Zweiergespann frontal gegen den Felsen prallte. Das im Zweikampf siegreich gebliebene Kajak jedoch schoss seitlich an dem Hindernis vorbei und jagte im Wildwasser auf die Zielmarkierung zu. Kaum hatte es diese erreicht, brandete im Aufnahmestudio Applaus auf.
»Nett war das nicht gerade. Doch wann hat man je davon gehört, dass die Netten gewinnen?«, kommentierte der Moderator. »Oder wie es Darwin wohl gesagt hätte: SURVIVE … el of the fittest!« Gelächter. »Obwohl zwei Drittel des Teams baden gegangen sind, haben Thomas und Maike die Aufgabe mit Bravour bestanden. Gratulation!«
Dagmar verdrehte die Augen. Um die 50000 Euro einzustreichen, benötigte man persönliche Siegpunkte. Die siegreichsten Teilnehmer bekamen automatisch welche, die meisten aber vergab das TV-Publikum. Und das belohnte nicht echte Teamplayer, sondern jene, die für die größte Unterhaltung sorgten. Dagmar ging jede Wette ein, dass das Gewinnergespann mit dem unsportlichen Verhalten auch Großteile des Publikums für sich eingenommen hatte. Diese Maike etwa hatte sich bereits am ersten Tag ganz zufällig oben ohne beim Umziehen ablichten lassen, während ihr Begleiter Thomas keinen Zweifel daran ließ, dass ein Mann wie er jederzeit auch woanders einen neuen Job finden würde und ein Teamerfolg ihm im Zweifelsfall am Allerwertesten vorbeiging. Die Wahrheit war vermutlich auch bei ihm eine gänzlich andere …
Natürlich war der Kerl zu clever, um es direkt auszusprechen, dennoch deutete er immer wieder an, dass sich seine Firma bislang bloß seinetwegen über Wasser gehalten hatte. Kurz gesagt: Der Typ war ein Arschloch, wie er im Buche stand – und bot deshalb eine Menge erzählerischen Sprengstoff, denn genau das war das Salz in der Suppe der Show. Und die Producer beflügelten solch unsportliches Verhalten, indem sie Leuten wie Maike und Thomas besonders viel Sendezeit einräumten. Allen voran durch die vor der Show geführten Interviews mit den einzelnen Teammitgliedern, bei denen diese mehr oder minder verdeckt dazu aufgefordert wurden, herzlich über die Kollegen herzuziehen. Je mehr Peinlichkeiten da ans Licht gelangten, desto größer das Vergnügen der Fernsehzuschauer.
Natürlich wurden die Teilnehmer mit den sensiblen Interviews erst während der Show konfrontiert, was dann regelmäßig zu Streitereien führte. Dagmar musste unwillkürlich an das gescheiterte Boutiquenteam denken, das wie die Hyänen übereinander hergefallen war. Klamottendiebstähle im eigenen Unternehmen waren ebenso ans Licht gelangt wie heimlicher Sex in den Umkleidekabinen. Als die Mitarbeiter sich schließlich gegenseitig bezichtigt hatten, Geld aus der Firmenkasse entwendet zu haben, war der Gruppenzusammenhalt noch vor dem Lösen der letzten Parcours-Aufgabe zerbrochen.
Als hätte der Sender ihre Gedanken gelesen, wurde nun das Interview mit dem siegreichen Thomas eingeblendet. Der blonde Spediteur präsentierte sich als lässiger Musterkollege. Doch kaum, dass er zu seinen Kameraden befragt wurde, fiel die joviale Maske. Als er einen seiner Mitstreiter als »faule Sau« bezeichnete, beschloss Dagmar, innerlich abzuschalten. Hoffentlich wurde er für sein arrogantes Verhalten abgestraft. Nur hatte sie da wenig Hoffnung.
Auch sie und die anderen würden noch privat vor der Kamera Rede und Antwort stehen müssen. Und natürlich gab es auch bei ihnen Unregelmäßigkeiten und Animositäten. Die gab es vermutlich in jeder Firma. Trotzdem: Sie und ihre Kollegen würden cleverer sein als die bisherigen Teams, denn sie hatten einvernehmlich beschlossen, keine Firmeninterna nach außen dringen zu lassen. Das beruhigte Dagmar ein wenig, nahm ihr jedoch nicht ihre größte Sorge: Am Ende würden die Zuschauer über Wohl und Wehe eines jeden von ihnen entscheiden. Und sie war einfach nicht der Typ, der sich öffentlich in Szene zu setzen vermochte. Bereits in der Schule war sie gemobbt worden, und der damals etablierte Spottname »Vogelscheuche« hing ihr bis heute an. Die Leute sagten es vielleicht nicht mehr, aber sie dachten es. Dagmar spürte das.
Wie gern wäre sie ein wenig wie Katja gewesen. Ihre 32-jährige Kollegin war intelligent, hübsch und hielt ihre Bombenfigur im Fitnessstudio in Form. Angeblich zeugten ihre blonden Haare von skandinavischen Wurzeln. Und natürlich war Katja auch Männern gegenüber nicht auf den Mund gefallen. Dagmar war etwa in Katjas Alter, aber außer einer Schulliebe, die sie direkt nach der Entjungferung verlassen hatte, gab es da nichts – und erst recht keine Beziehung, die den Namen wert gewesen wäre. Oft überlegte sie, wie es wohl wäre, einen Partner an ihrer Seite zu haben, und fragte sich gleichzeitig, ob man überhaupt etwas vermissen konnte, was man nie erlebt hatte.
Dagmar seufzte, was Gunnar fragend aufblicken ließ. Sie zwang sich zu einem Lächeln und strich ihren Hosenanzug glatt. Das Publikum würde Katja jedenfalls lieben. Und Lars natürlich. Abermals beäugte sie ihn unauffällig. Ihr jüngerer Kollege hätte vermutlich mit Katja gemeinsam modeln können. Frauen wie sie selbst konnten von so einem Mann wie Lars nur träumen. Und da draußen dürfte es genügend Frauen wie sie geben.
Kurz, die 50000 Euro konnte sie in den Wind schreiben. Sie sollte sich mit der Hoffnung zufriedengeben, durch ihren Einsatz vielleicht dazu beizutragen, ihrer aller Job zu erhalten.
»So, los geht es. In einer Minute ist euer Auftritt!« Eine kraushaarige Produktionsassistentin mit Headset und geschäftig unter den Arm geklemmtem Tablet-Computer tauchte unvermittelt im Backstage-Bereich auf. Die junge Frau lauschte auf eine Stimme in ihren Kopfhörern und brachte nun auch Sören dazu, sich von seinem Klappstuhl zu erheben.
»Daniel ist wirklich ein ganz Netter«, pries sie den Moderator drüben im Studio an, während sie rasch den Sitz aller Ansteckmikrofone überprüfte. »Aber ihr habt ihn ja schon kennengelernt. Bleibt einfach, wie ihr seid.«
»Fast arbeitslos?«, witzelte Lars. »Eigentlich sind wir hier, um das zu verhindern.«
Die Rothaarige schenkte ihm ein müdes Lächeln und spähte durch einen Vorhang ins Aufnahmestudio. Dort forderte Moderator Daniel soeben das TV-Publikum auf, eine von sechs eingeblendeten Telefonnummern zu wählen, um so den heutigen Publikumsliebling zu ermitteln. »Ich weiß es, Sie wissen es«, rief er. »Auch nach dem heutigen Auftritt ist bei unseren Spediteuren noch nichts entschieden. Zwei Parcours-Aufgaben warten noch auf sie, und das Team hat dafür lediglich einen weiteren Tag Zeit. Und dennoch … während Sie zu Hause Ihre Punkte vergeben«, er deutete theatralisch auf den Vorhang, »werden wir einen kurzen Blick in die Zukunft wagen. Denn heute stellen wir Ihnen die Kandidaten des nächsten Teams vor, das schon bald um das Überleben ihrer Firma kämpfen wird. Ich bitte um Applaus füüür – Lars Becker, Dagmar Burdorf, Bernd Göbel, Gunnar Meyberger, Sören Meier uuund Katja Riemeyer!«
Die Show-Melodie erklang, und Dagmar fuhr sich rasch noch einmal über ihren braunen Bubikopf, bevor sie Lars durch den Vorhang ins Aufnahmestudio folgte. Lautes Klatschen und begeisterte Pfiffe brandeten ihnen entgegen, und sie kniff geblendet die Augen zusammen, als sie das Scheinwerferlicht erfasste.
Himmel. Als sie vorhin herumgeführt worden waren, hatte das Studio noch so klein gewirkt. Doch jetzt, da sie im grellen Licht schemenhaft fast zweihundert Zuschauer ausmachen konnte, fühlte sie sich wie in einer Arena. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch.
Gleich zwei Kameras nahmen sie ins Visier, und verzweifelt versuchte sie, nicht daran zu denken, dass sie da draußen vor den Bildschirmen ein Millionenpublikum anstarrte. Zu spät. Dagmar spürte, wie ihr der Mund vor Aufregung trocken wurde.
»Na, nicht so schüchtern. Setzt euch.« Moderator Daniel kam ihnen lächelnd entgegen und bat Dagmar und die anderen, auf sechs gepolsterten Stühlen Platz zu nehmen. Nervös folgte Dagmar der Aufforderung, und erst jetzt fiel ihr auf, wie lächerlich der quittegelbe Anzug aussah, in dem Moderator Daniel steckte. Der wartete ab, bis sich das Publikum beruhigt hatte, stellte demonstrativ einen Fuß auf einen Hocker und beugte sich mit dem Mikrofon in der Hand vor.
»Um euch vorzustellen, scheint mir ein Zitat von Henry Ford angebracht: ›Wer nicht wirbt, der stirbt!‹ Ford hat das zwar auf Unternehmen gemünzt, die nichts für ihre Werbung tun, aber auf euch trifft das sogar in zweierlei Hinsicht zu. Ihr arbeitet alle für die Hamburger Werbeagentur STUDIO Alsterblick«, er sah kurz zu dem Standbild des schäumenden Gewässers auf, »nur geht die gerade den Bach runter. Ist doch so, oder, Gunnar?«
»Na ja«, Gunnar nestelte an seiner Krawatte. »Dieses Jahr hat sich unser größter Kunde dazu entschlossen, eine neue Ausschreibung vorzunehmen. Und die haben wir an eine andere Agentur verloren. Damit haben wir, ehrlich gesagt, nicht gerechnet.«
»Ach. Ich dachte, gerade Rechnen gehöre zu deinen Stärken?« Daniel blickte auffordernd in Richtung Publikum, das den billigen Scherz mit leisem Gelächter goutierte. »Aber immerhin: Verlieren scheint für euch keine Option zu sein.«
»Deswegen sind wir hier.«
»Du warst es auch, der die Kollegen dazu überredet hat, sich hier zu bewerben?«
»Stimmt. Die Stellung in Hamburg halten so lange unser Chef Max und unsere Grafikerin Bianca.«
»Prima. Da sind wir auch schon bei meiner ersten Frage.« Daniel deutete auf Gunnars hanseatisch blauen Anzug. »Du siehst zwar aus wie der Boss, bist es aber nicht.«
Gunnar lächelte reserviert. »Ich bin Buchhalter. Außerdem Prokurist. Die Agentur gehört meinem alten Studienfreund Maximilian. Wir beide haben damals einige Jahre lang zusammen in einer WG gewohnt. Allerdings hat Max gerade einen Sturz hinter sich und läuft an Krücken. Sonst wäre er jetzt selbst hier. Aber wir genießen seine volle Unterstützung.«
»Kann ich mir denken. Geht ja auch um seine Existenz.« Daniel warf einen Blick auf ein Kärtchen. »Auf deiner schicken Visitenkarte steht aber nicht Buchhalter, sondern ›Event-Organisator‹. Das heißt, du bist mehr mit hippen Werber-Partys als mit Finanzen beschäftigt?«
»Schön wär’s.« Gunnar schürzte die Lippen. »STUDIO Alsterblick ist eine Full-Service-Agentur. Also Media, Kreativbereich, Public Relation. Wir übernehmen gemeinsam mit unseren Partnern alle Kommunikations- und Werbeaufgaben der von uns betreuten Unternehmen. Dazu gehören hin und wieder auch größere Events. Wenn es dazu kommt, dann organisiere tatsächlich ich die.«
»Traut man einem Zahlenfuzzi wie dir aber nicht gerade zu.«
Das Publikum lachte.
»Besser, du lässt dich nicht vom äußeren Schein täuschen.« Gunnar zwinkerte. »Ich habe früher in einer Punkrock-Band gespielt. Und Max und ich sind während des Studiums leidenschaftliche Szenegänger gewesen. Ich kenne Locations, von denen hast du vermutlich noch nie gehört.« Wieder zwinkerte Gunnar dem Publikum zu. Er machte das gar nicht schlecht, fand Dagmar.
Aber der Moderator ließ Gunnar nicht so leicht von der Angel: »Was war das größte Firmenevent, das du je organisiert hast?«
»Das war für unseren ehemaligen Großkunden. Ein PR-Auftritt im CCH, im Hamburger Congress-Zentrum.«
»Falsch, Gunnar!« Daniel deutete auf ihn, als habe er ihn beim Schummeln erwischt. »Das größte von dir organisierte Firmenevent ist ja wohl eindeutig SURVIVE!« Mit ausgebreiteten Armen forderte der Moderator das Publikum zum Applaus auf, das der Bitte allzu gerne nachkam. »Aber macht nichts, nächste Woche kannst du dich ja noch einmal ins Zeug legen. Und wenn wir irgendwann mal Werbung nötig haben, kommen wir gern auf euch zurück … wenn ihr dann noch existiert.« Daniel grinste und starrte jetzt das T-Shirt mit dem Aufdruck Sport ist Mord an, das sich über Sörens dicken Bauch spannte. »Kommen wir zu dir, Sören. Wenn man dein Feinkostgewölbe so sieht, könnte man denken, du arbeitest bei euch in der Firmenkantine. Die habt ihr aber gar nicht, oder?«
Einige im Publikum glucksten, doch Sören ignorierte die Provokation. »Nö, alles privat angefuttert.« Er zog das Shirt mit der Aufschrift lang, so dass der Aufdruck besonders gut zur Geltung kam. »Ich sag mal so: Lieber ’ne Wampe als gar nichts Herausragendes.« Das Publikum lachte. Nicht über, sondern mit Sören. Dagmar hob anerkennend eine Augenbraue, während ihr Kollege fortfuhr: »Ich bin bei uns Online- und Netzwerk-Administrator. Chef über Bits und Bytes, sozusagen. Nicht zu verwechseln mit Bites.« Er lachte etwas zu schrill. Der Moderator starrte ihn irritiert an, und auch das Publikum wusste offenbar nicht so recht, was sie von der Lautäußerung halten sollte. »Na, du weißt schon«, erklärte Sören hilflos seinen Scherz. »Bites … wie Bisse! Wie ein Vampir.« Er deutete auf seine Zähne. »Nie Blood Rayne gezockt? Oder wenigstens Castlevania - Lords of Shadow 2?«
»Ehrlich gesagt … nein.«
Sören wurde rot. »Na ja, war ja auch bloß ein Spaß. Bei uns in der Community – also ich meine jetzt online – gelte ich als Fachmann für Blutsauger.«
»Oha, einer … Community … gehörst du also an. Vermutlich ebenfalls alles so androgyne Vampire wie du, was?«, amüsierte sich der Moderator und griff gleich sein eigenes Stichwort auf: »Ich will jetzt mal nicht hoffen, dass du der Blutsauger bist, der eure Agentur zur Ader gelassen hat. Vielleicht durch heimliches PC-Spielen während der Arbeitszeit?«
Sören begann unbehaglich auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen. »Nein, natürlich nicht. Dafür, äh, ist ja gar keine Zeit. Also, das Firmennetzwerk … Also irgendwas ist da eigentlich immer. Und ich kümmere mich auch um die Webseiten, die wir designen. Ohne mich würde der Laden vermutlich gar nicht laufen.«
»Ach, und ich dachte, gerade das tut er nicht? Na, dann hoffe ich mal, dass du das mit dem Laufen auch nächste Woche hinbekommst.« Daniel wandte sich Bernd und Lars zu. »Kommen wir zu den Kreativen unter euch, nämlich eurem Art-Direktor Bernd und eurem Texter Lars. Ihr beide arbeitet nicht bloß für STUDIO Alsterblick, ihr seid auch privat befreundet, wie ich hörte?«
»So ist es«, erklärte Bernd. Er rückte das Sakko zurecht, und im Scheinwerferlicht blitzte eine blau-silberne Nadel am Revers auf, die man auf den ersten Blick für das Emblem der Rotarier halten konnte. Nach allem, was Dagmar wusste, war es aber lediglich das Abzeichen für einen Sport-Club. »Lars und ich haben einander vor drei Jahren beim Sport kennengelernt. Ich war es auch, der Lars den Weg in die Agentur geebnet hat.«
»Wir sind im gleichen Segelclub«, ergänzte Lars und setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. »Wasser hat es mir schon immer angetan. Früher habe ich eine Weile als Tauchlehrer gearbeitet. Aber das war vor meiner Karriere als Texter. Dafür bleibt inzwischen keine Zeit mehr. Jetzt geht es mehr darum, sich für den Agenturalltag fit zu halten. Da hat ein Tag schon mal 16 Stunden.«
Der Moderator lächelte süffisant. »Und vom Sprücheklopfen kann man leben?«
»Wieso, kannst du doch auch«, konterte Lars. Das Publikum lachte, und Daniel lächelte die Spitze ebenfalls weg.
Bernd boxte Lars kumpelhaft gegen die Schulter, was dieser mit einem verschnupften Blick quittierte: »Seit ich Lars unter meine Fittiche genommen habe«, dröhnte er, »hat er erst richtig aufgedreht. Gemeinsam haben wir schon so manche Werbekampagne gestemmt. Du kennst die Black-Horse-Powerriegel von Kreuper-Kekse?«
Daniel nickte.
»Dann kennst du auch den Slogan Black Horse. Beiß dich durch! Der stammt von uns.«
Vielsagend schürzte der Moderator die Lippen. »Sieh an. Aber euer Agentur-Blutsauger hat dabei nicht mitgeholfen?« Bernd und Lars blickten zu Sören hinüber und lachten. Der saß steif neben ihnen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Dagmar tat ihr dicker ITler leid. Sicher, er war ein echter Nerd, und es gab wohl niemanden in der Firma, der ohne triftigen Grund zu viel Zeit mit ihm verbrachte. Doch sich in aller Öffentlichkeit über ihn lustig zu machen, das war unfair.
»Dann will ich mal hoffen, dass ihr nächste Woche ein paar Powerriegel dabeihabt«, sagte Daniel. »Auf jeden Fall wirkt zumindest ihr beide so, als wäret ihr fit für den Ring. Apropos Ring.« Daniel wandte sich noch einmal Bernd zu. »Der mögliche Jobverlust muss gerade dir ziemlich zu schaffen machen. Wie ich erfahren habe, bist du als Einziger von euch verheiratet. Und das nicht mit irgendwem, sondern mit der ehemaligen Hamburger Schönheitskönigin Alexandra Fischer.« Die Regie spielte auf dem riesigen Monitor mehrere Fotos einer wunderschönen schlanken Schwarzhaarigen auf, die in einem enganliegenden Abendkleid in die Kamera lächelte. Dagmar merkte Bernd an, dass es ihm gar nicht recht war, dass die Produktionsfirma sein Privatleben ausbreitete. Doch als im Publikum anerkennende Pfiffe zu hören waren, lächelte er selbstgefällig.
»Sieh an, was für euch nicht alles interessant ist«, brummte er. »Stimmt. Alexa und ich sind jetzt seit acht Jahren zusammen, davon vier verheiratet.«
»Gratulation. Dabei trennt euch ein stolzer Altersunterschied von fast zwanzig Jahren.«
»Na und? Alter ist eben nicht alles«, wiegelte Bernd ab. »Wir haben die gleichen Hobbys, gehen gern ins Theater und lieben die gleichen Urlaubsländer. Außerdem segelt meine Frau ebenso gern wie ich. Eine Leidenschaft, für die ich sie damals während unserer Hochzeitsreise auf den Seychellen begeistern konnte. Inzwischen kreuzt sie sogar Lars aus. Ach, was sage ich: Auf dem Wasser schlägt sie den halben Segelclub. Aber ich gestehe, dass mich unser kleines Firmentief zur ungünstigsten Zeit erwischt.« Er atmete tief ein und schien kurz mit sich zu hadern. »Meine Frau hat mich nämlich gestern mit der Nachricht überrascht, dass wir unser erstes Kind erwarten.«
Es ertönten begeisterte Pfiffe. Bernd winkte verlegen ab, während ihn die Kollegen überrascht ansahen. Dagmar wusste nicht viel über Bernds Privatleben, doch wenn das mit dem Kind stimmte, gab es hier noch mindestens einen mehr, der einen Show-Erfolg dringend benötigte. Falls nicht, war das eben ein verdammt cleverer Schachzug, um sich beim Publikum Sympathiewerte für die 50000-Euro-Prämie zu sichern. War Bernd so etwas zuzutrauen?
»Wow.« Daniel tat gerührt. »Dann wünsche ich dir erst recht Erfolg. Mit über fünfzig dürfte es schließlich nicht so leicht sein, etwas Neues zu finden.«
Bernd lächelte verkniffen. »Ach, komm. Berufserfahrung zählt schließlich auch«, er nestelte an seiner Rolex, »und wir treten hier ja nicht umsonst an.«
»Bernd gehört nicht zum alten Eisen, er ist ein alter Hase!«, sprang Lars seinem Freund und Kollegen zwinkernd bei, doch Bernd musterte ihn argwöhnisch. Der Moderator hingegen ging darüber hinweg und zum nächsten Thema über: »Nun, hübsche Frauen. Das ist doch die ideale Überleitung, um die Damen in unserer Runde vorzustellen.« Zu Dagmars Erleichterung wandte er sich zunächst Katja zu, die ihre langen Beine übereinanderschlug und sich so plazierte, dass ihr das blonde Haar keck über die Schultern fiel.
»Katja, du arbeitest bei STUDIO Alsterblick als sogenannte Kontakterin.« Daniel betrachtete sie eine Spur zu anzüglich. »Was darf man sich denn darunter vorstellen? Eine Vermittlerin wie auf einem Kontakt-Hof?«
»Offenbar treibst du dich zu häufig auf der Reeperbahn herum«, gab sie trocken zurück.
»Aber nicht doch, Amüsierviertel gibt es auch hier in Köln.«
»Sprechen wir jetzt über deine Hobbys?« Katja wartete die Lacher aus dem Publikum ab, bevor sie fortfuhr. »Nein, im Wesentlichen halte ich den Kontakt zum Kunden, berate ihn und erläutere ihm unsere Werbestrategien. Außerdem sorge ich dafür, dass die Vorstellungen der Marketingabteilungen bei unseren Kreativen ankommen.«
»Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, warum sich euer Hauptkunde eine andere Agentur gesucht hat.« Daniel wandte sich dem Publikum zu. »Oder würdet ihr die Aussicht aufgeben, eine Schönheit mit solchen Beinen regelmäßig zum Rapport zu laden?« Abermals Gelächter, vor allem unter den Männern im Publikum. Katja schürzte die Lippen. »Wenn unsere Kunden lediglich aus Männern bestehen würden, die so denken wie du … wer weiß. Zumindest versuche ich, auf einen gewissen Stil zu achten.«
»Oha, sag bloß, dir gefällt mein Stil nicht?«, gab sich Daniel empört.
»Ganz ehrlich?« Katja betrachtete ihn aufmerksam. »Würde ich dich beraten, würde ich dich zunächst einmal in einen anderen Anzug stecken. Mit deinem quittegelben Outfit siehst du aus wie einer der Minions aus Ich – Einfach unverbesserlich.«
Das Publikum brüllte vor Lachen, und für einen kurzen Moment lang wirkte es so, als würde Daniel seine Contenance verlieren. Doch sofort hatte er sich wieder im Griff und betrachtete seinen Anzug halb empört, als habe sich dieser völlig unbemerkt an ihn herangeschlichen. »Püh, das war jetzt eine ziemlich fiese Retourkutsche. Ist das typisch für euch Werber? Dass sich alles immer bloß um den schönen Schein dreht?«
Katja musterte den Moderator ungerührt und zog dann die akkurat geschwungenen Brauen in die hohe, faltenfreie Stirn: »Nein, wäre es so einfach, wie du dir das vorstellst, hätte ich nicht Kommunikationswissenschaften studieren müssen«, gab sie ungerührt zurück. »Aber tröste dich: Andere Männer stehen ohne hilfreiche weibliche Beratung modisch auch auf dem Schlauch.«
Spätestens jetzt hatte sie auch die weiblichen Zuschauer auf ihrer Seite. Einige unter ihnen standen sogar auf, um ihr laut Applaus zu spenden. Dagmar beneidete Katja einmal mehr für ihre Schlagfertigkeit.
»Touché!« Moderator Daniel zeigte sich reumütig, schoss aber direkt im Anschluss einen letzten Pfeil ab. »Auf jeden Fall siehst du toll aus. Aber das, was du trägst, ist ja auch nicht gerade billig. Finanziell scheint es dir also nicht gerade schlechtzugehen.«
»Ich sagte doch, dass ich auf Stil stehe.« Katja blinzelte nicht einmal. »Aber wenn es dich tröstet: Mein Outfit verdanke ich zu einem Großteil Gunnar.«
Katja hielt kurz inne, und Dagmar sah, wie dem Moderator bereits die nächste anzügliche Bemerkung auf den Lippen lag. Doch sie kam ihm zuvor: »Glücklicherweise unterhält Gunnar gute Kontakte zu Einkäufern – und da ist dann manchmal auch für uns ein Schnäppchen drin. Frag ihn, dann hilft er vielleicht auch dir.«
»Ach?« Der Moderator wandte sich wieder an Gunnar. »Buchhalter. Event-Organisator … und jetzt stellt sich heraus, dass du deine Finger auch noch in der Modeszene hast? Ganz schön umtriebig.«
Gunnar strich sich fahrig über den blauen Zwirn. Dagmar sah ihm an, dass ihm das Thema unangenehm war. »Man hilft eben, wo man kann. Und was Katja betrifft«, er nickte ihr zu, »sie ist ja gewissermaßen unser Aushängeschild.«
»Du, Dagmar, lässt dir bei der Kleiderauswahl aber nicht von Gunnar helfen?«, wandte sich der Moderator jetzt überraschend an Dagmar selbst. Das strahlende Lächeln, das sie den Kameras hatte präsentieren wollen, zerfaserte vor Aufregung.
»Ich? Nein. Ich meine … Hin und wieder. Normalerweise habe ich nicht so viel Geld für Klamotten übrig. Ich meine, ich trage ja schon gern schöne Kleider, aber bei mir gibt es nicht so viele Gelegenheiten, als dass ich …« Hilflos sah sie zu ihren Mitstreitern. Gott, war sie blöde. Sie klang wie eine alte Jungfer.
Zu ihrer Überraschung stand ihr ausgerechnet Katja bei. »Dagmar ist unser guter Engel im Hintergrund. Ist ja nicht jedermanns Sache, an vorderster Front zu arbeiten. Ohne sie würden wir jedenfalls alle ziemlich dumm dastehen.«
Dagmar schenkte ihrer Kollegin einen dankbaren Blick, während Daniel weiter ihren Hosenanzug anstarrte. »Trotzdem, eine PR-Beraterin habe ich mir immer etwas anders vorgestellt. Du bist eher der praktische Typ?«
»Äh … nein«, korrigierte Dagmar ihn.
»Also eher die Intellektuelle?«
»Nein, auch nicht. Ich meine, ich bin bei uns nicht für die PR zuständig, sondern für die Media-Planung und -abwicklung.« Wieso hatte die Produktionsfirma ausgerechnet bei ihr die falsche Tätigkeit vermerkt? »Ich schalte Anzeigen, arbeite gemeinsam mit Max und Katja die Media-Pläne aus, berechne Ranking und Reichweiten und …«
»Ach Gott, hör auf. Das klingt ja fast so langweilig wie Gunnars Buchhaltung.« Daniel verzog das Gesicht. »Erzähl uns lieber etwas über dein Privatleben.« Dagmar wäre am liebsten im Boden versunken. Da gab es nichts zu erzählen.
»Wir haben ehemalige Mitschüler von dir ausfindig gemacht«, fuhr der Moderator ungerührt fort. »Und von denen war zu erfahren, dass du damals schon eine Einzelgängerin gewesen bist.«
Sie hatten Mitschüler nach ihr befragt? Dagmar sah, dass sich aus irgendeinem Grund auch Katjas Körperhaltung anspannte. »Ich habe halt lieber etwas mit meinem Vater unternommen«, antwortete Dagmar vorsichtig. »Er war bei der Bundeswehr und deswegen häufig unterwegs. Wenn er dann mal da war, war ich lieber mit ihm wandern, oder wir haben an seinem Motorrad geschraubt oder zusammen Sport gemacht.«
»Also doch der praktische Typ?«
Dagmar wusste nicht, was sie antworten sollte. »Er hat mich eben wie den Sohn erzogen, den er nie hatte. Ich habe das aber gern gemacht«, setzte sie rasch nach.
»Tröste dich, es gibt bestimmt viele Frauen, die darunter leiden, dass ihre Väter lieber einen Sohn gehabt hätten«, sagte der Moderator in jovialem Tonfall und musterte sie einmal mehr von Kopf bis Fuß.
»Aber das stimmt doch …«, versuchte Dagmar einzulenken, doch Daniel fiel ihr einfach ins Wort: »Bastelst du denn heute noch gern an Motorrädern?«
»Mein Vater starb, als ich 18 Jahre alt war«, gab sie leise zurück. »Ein Autounfall. Seitdem … ist vieles anders geworden.«
»Ja, auch davon habe ich gehört. Deine Mutter hat den Unfall nicht so gut verkraftet, was?«
»Sie erlitt nach dem Tod meines Vaters einen Schlaganfall.« Dagmar schluckte. »Sie ist jetzt pflegebedürftig. Sprechen kann sie zwar wieder, aber sie ist halbseitig gelähmt. Leider reichen die Pensionsbezüge meines Vaters nicht für ein gutes Pflegeheim aus. Aber das lehnt sie eh ab. Deshalb kümmere ich mich um sie. Neben der Arbeit.«
»Mann, das muss wirklich hart sein.« Daniel musterte sie mit gespielter Betroffenheit, während er bereits das nächste Moderationskärtchen aus dem kleinen Stapel in seinen Händen zog. Vermutlich noch mehr Zeug aus ihrem Privatleben. Dagmar saß da wie versteinert. Sie hatte aus gutem Grund niemandem von ihren häuslichen Problemen erzählt. Weder davon, dass ihre Mutter sie nahezu komplett in Beschlag nahm, noch davon, wie verbittert diese war – und wie sehr sie ihr das Leben zur Hölle machte. Das ging niemanden etwas an. Außerdem wollte sie kein Mitleid. Es reichte schon, dass sich diese Kreditkarten-Sache vor zwei Monaten bei den Kollegen herumgesprochen hatte.
»Ja, ist nicht immer einfach«, antwortete sie tonlos.
»Und jetzt ist auch noch dein Arbeitsplatz in Gefahr. Das Leben ist manchmal verdammt unfair.« Dagmar nickte stumm, obschon sein Tonfall ihr mehr als eindeutig verriet, was er wirklich dachte: Du bemitleidenswerte Vogelscheuche bist genau das, was wir für die Show brauchen. »Aber genau dafür sind wir ja da!«, rief der Moderator in diesem Augenblick wie ausgewechselt und stellte sich nun wieder vor die Kamera. »Um Ungerechtigkeiten wie diese auszugleichen und Menschen wie Dagmar eine zweite Chance zu geben. Also, lassen wir das Schicksal erneut die Karten mischen. Schauen wir nach, wohin es unsere sechs Werber verschlägt!«
Die Show-Melodie ertönte ein weiteres Mal, und eine hübsche Hostess stöckelte von links mit einem silbernen Tablett auf ihn zu. Auf diesem lag ein rotes Kuvert. Daniel machte es spannend. Er präsentierte den Umschlag pathetisch dem Publikum und zog dann umständlich eine Karte hervor, dessen Inhalt ihn scheinbar in größte Verzückung versetzte.
»Norwegen!«, rief er begeistert, während hinter ihm auf der großen Videoleinwand berauschend schöne Landschaftsbilder des skandinavischen Landes eingespielt wurden. Stolze Meeresbuchten wechselten sich mit Aufnahmen von rauschenden Wäldern, einsamen Küsteninseln und pittoresken Bildern bunter Holzhäuser ab.
»Es geht also ins Land des Nordlichts, der Fjorde und der großen Bergklippen. Aber auch ins Land der Sümpfe, der unermesslichen Weiten und der Mittsommernächte. Und das ist nicht alles, denn für euren Auftritt haben wir ein ganz besonders lauschiges Plätzchen ausgewählt: die abgeschiedene Gebirgsregion Trollheimen!« Daniel rollte das »r« unheilvoll. »Dort könnt ihr zeigen, was in euch steckt. Fortan also keine hippen Partys mehr. Keine Sportwagen, kein Alkohol, ja, nicht einmal mehr Schnee. Zumindest müsstet ihr dafür erst einmal auf die Gipfel rauf …«
Einige im Publikum lachten.
»Nur ihr – und die Unbilden der Natur. Also, noch könnt ihr kneifen. Wollt ihr das?«
Dagmar und ihre Kollegen wechselten Blicke. »Auf gar keinen Fall!«, erklärte Bernd mit Nachdruck.
»Dann gilt es auch für euch.« Daniel wandte sich den Kameras zu: »Survive! Kämpft um euer Überleben!«
Schade, dass unser Aufenthalt in Trondheim so kurz war«, rief Sören gegen den Motorlärm des Kleinbusses an und riss Gunnar so aus seinen Gedanken. »Da gibt es einen Lift für Fahrradfahrer. Außerdem hätte ich mir gern die bunten Speicherhäuser am Fluss und das Stadtviertel Bakklandet mit seinen verschachtelten Häusern angesehen. Und natürlich das Wissenschaftsmuseum mit den Wikingerfunden. Als Deutsche wäre es wohl auch unsere Pflicht gewesen, der Festung Kristiansten einen Besuch abzustatten. Hier steht, dass man von da oben aus einen ziemlich guten Blick über die Stadt hat.«
»Was, bitte, wäre als Deutsche unsere Pflicht gewesen?« Gunnar blies den Rauch seiner Zigarette aus dem Seitenfenster des klapprigen Ford Transit, mit dem die Produktionsfirma sie schon seit eineinhalb Stunden in Richtung Südwesten kutschieren ließ. Angesichts des leichten Fahrtwindes, der in den Wagen zog, fröstelte es ihn. Obwohl sie erst Anfang September hatten, war es draußen kaum 15°C warm. Sören schien das nicht zu stören, denn er fuhr angeregt fort: »Na, die Nazis hatten Norwegen doch bis zum Ende des Krieges besetzt. Die haben in der Festung norwegische Widerstandskämpfer hingerichtet.« Eingezwängt in seinen alten Bundeswehrparka, blätterte er weiter seinen Touristenführer durch. »Mal sehen, vielleicht bleibe ich einfach noch ein paar Tage, wenn die Show durch ist. Oben in Harstad steht nämlich auch noch die Adolf-Kanone. Die war Teil der alten Küsterbatterie. Ebenfalls von den Nazis gebaut – aber das verrät ja schon der Name. Die ist noch heute eine der weltweit größten Kanonen ihrer Art. Rohrlänge über einundzwanzig Meter. Kaliber 40,6 cm. Und … wow … eine Reichweite von 56 Kilometern. Das wirklich Coole an ihr aber ist, dass man da reinkriechen und sich so fotografieren lassen kann.«
»Reinkriechen? Du?« Gunnar sah kopfschüttelnd einem Straßenschild nach. Leider hatte er sich zu lange von Sörens Gerede ablenken lassen, als dass er die Ortsangabe darauf hatte erkennen können. Aber er wusste dennoch, dass sie ihr Ziel bald erreicht haben sollten: Skyggehus.
Die kleine Ortschaft lag am Rande des Landschaftsschutzgebietes Trollheimen, in dem die Aufnahmen stattfanden. Wie sie erfahren hatten, mittels einer Sondergenehmigung. Vielleicht würden sie dort endlich einigen Verantwortlichen des Drehteams begegnen. Zumindest hatte er in den letzten Tagen genug Zeit gehabt, sich über die Berglandschaft zu informieren. Ein beliebter Wanderweg querte das unwirtliche Gebiet, doch davon ab sagten sich dort angeblich Elche und Wölfe gute Nacht. Nur Berge, Wälder und Seen. Und das, soweit das Auge reichte. Vermutlich die ideale Kulisse für die Show. Allerdings verhagelte ihm bereits der Gedanke an eine solche Überdosis an Natur die Laune. Ganz abgesehen von seinen anderen Problemen, die dazu beitrugen, dass er das übermotivierte Geschwätz ihres dicken ITlers im Augenblick nicht ertrug. Auf der anderen Seite: Was konnte Sören schon für seine Privatprobleme? Gar nichts, genau genommen. »Schlaf lieber etwas«, fügte er daher, an Sören gewandt, versöhnlicher hinzu. »Die nächsten Tage werden anstrengend genug.«
Sören ließ sich wieder zurück in den Sitz fallen. »Das mit dem Rohr war nicht nett«, brummte er gekränkt. »Ich passe da vielleicht nicht rein. Aber andere. Außerdem kann ich in dieser altersschwachen Karre eh nicht schlafen.«
Wie aufs Stichwort sorgte ein Straßenloch dafür, dass sie gehörig durchgerüttelt wurden. Gunnar stieß sich den Kopf an der Wagendecke, verbiss sich aber einen weiteren Kommentar. Der Bus war vermutlich irgendwann in den späten 70ern gebaut worden, und dementsprechend stand es auch um seine Ausstattung: Sitze mit einfachen Schaumstoffbezügen, karierte Vorhänge vor den Scheiben, und ihr Gepäck türmte sich lieblos im Heck des Fahrzeugs. Dazwischen hockten er und seine fünf Kollegen. Weitestgehend schweigend, denn der Motorenlärm des Oldtimers erschwerte jede Unterhaltung mit den anderen. Wenn die Produktionsfirma diese Schrottkarre gebucht hatte, um ihr Team bereits vor der Ankunft zu zermürben, war ihnen das jedenfalls in seinem Fall bereits jetzt bestens gelungen.
Gunnar starrte wieder aus dem Fenster und betrachtete die prächtige Landschaft mit den Birken- und Kiefernwäldern, die an dem Fahrzeug vorüberzogen. Kontrastreicher hätte der Anblick nicht sein können. Im Osten thronten durch die Eiszeit entstandene Hügel, im Süden erstreckten sich unter einem blau bewölkten Himmel Berge, Wälder und steile Formationen, die von einem türkisfarbenen See aufgelockert wurden.
Nachdem sie einige Zeit auf einer Mautstraße gefahren waren, befanden sie sich jetzt auf einer einsamen Landstraße, der alte Steinmauern und lange Reihen an Prellsteinen einen historischen Schleier überzuwerfen schienen. Dennoch konnte die hübsche Aussicht nicht darüber hinwegtäuschen, dass er und seine Kollegen bald auf jeden Komfort würden verzichten müssen. Auf der anderen Seite, so dachte Gunnar, konnte von Komfort, bei Licht betrachtet, bereits seit ihrer Ankunft in Norwegen keine Rede mehr sein. Nach dem gestrigen fast sechsstündigen Flug von Hamburg nach Trondheim waren sie todmüde gewesen und hatten im Stillen auf ein weiches Hotelbett gehofft. Stattdessen hatten sie am Flughafen Trondheim-Værnes nicht etwa Mitglieder des Filmteams abgeholt, sondern ein einheimischer Taxifahrer. Und der hatte sie auch nicht in ein Hotel, sondern in eine billige Studentenabsteige östlich der Technischen Universität kutschiert, deren Gemeinschaftstoiletten und -bäder im Hotelflur sowie deren ausgeleierte Betten in muffigen Zimmern vermutlich das letzte Mal in den 80ern gelüftet worden waren. Das sogenannte Frühstück heute Morgen hatte er bereits verdrängt. Gunnar hätte einen seiner blauen Anzüge darauf verwettet, dass all das bewusste Schikane der Produktionsfirma war.
Der gestrige Fahrer jedenfalls war der gleiche, der sie auch jetzt kutschierte. Und anders als fast alle anderen Norweger, denen sie begegnet waren, sprach er leider in etwa so gut Englisch wie Gunnar Suaheli. Von Deutsch ganz zu schweigen. Dabei war Trondheim Universitätsstadt und nach Oslo und Bergen die drittgrößte Kommune des Landes. Auch das hielt er also für reine Bosheit.
Zu ihrem Glück war Katja als Dolmetscherin eingesprungen. Gunnar hatte völlig vergessen gehabt, dass Katjas Mutter Norwegerin war und sie mehr als nur Englisch und Französisch sprach. Vor der miesen Absteige hatte sie das aber trotzdem nicht bewahrt, und auch jetzt zeigte sich ihr Fahrer wenig gesprächig. Vermutlich verstand er in Wahrheit jedes Wort, und die Schrottkarre war verwanzt. Damit sie sich hier ungestört fühlten und dann irgendwelche Dinge auspackten, die man dann wiederum hervorragend zu irgendwelchen Kurzfilmen zusammenschneiden konnte. Gunnar seufzte. Hoffentlich sah er bloß Gespenster. SURVIVE war einfach ein Trash-Format. Wo die Kamera nicht war, sparte man vermutlich schlicht an allen Ecken und Enden. Er selbst hätte es als Event-Manager wahrscheinlich nicht anders gemacht. Und die Produktionsfirma hatte schließlich nicht die Order, Kandidaten wie ihn und seine Kollegen auf Rosen zu betten. Zermürben, aushöhlen. An den Nerven zerren, bis die Masken fallen; das war die Devise. Nur durften sie sich nicht darauf einlassen.
Gunnar nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette, sah einem forstwirtschaftlichen Fahrzeug hinterher, das mit Baumstämmen beladen an ihnen vorbeidonnerte, und vergrub beiläufig die Linke in der Tasche seiner orangefarbenen Regenjacke, die er über einem Kapuzenpulli trug. Seine Fingerkuppen strichen unwirsch über den zusammengefalteten Zettel, den er dort verborgen hatte. Das Stück Papier war ihm erst heute Morgen unter der Zimmertür hindurchgeschoben worden. Es handelte sich um einen Monopoly-Geldschein, und die darauf befindliche Nachricht war an das bekannte Spiel angelehnt: Gehen Sie direkt ins Gefängnis, gehen Sie nicht über Los. Ziehen Sie nicht 50000 € ein.
Ein weiterer Erpressungsversuch. Und das ausgerechnet jetzt.
Er und Max hatten schon dreimal in den letzten Monaten nahezu gleichlautende Schreiben erhalten. Nur, dass die bisherigen mit konkreten Geldforderungen verknüpft waren. Zahlbar in bar und zu deponieren in Umschlägen an öffentlichen Plätzen. Bislang hatte der oder die Unbekannte ihnen fast 10000 Euro abgeknöpft, und es war Max und ihm bislang nicht einmal mit Hilfe eines Privatdetektivs gelungen herauszufinden, wer dahintersteckte. Gott, warum hatte er sich bloß in diese Sache mit hineinziehen lassen? Gunnar schüttelte unwirsch den Kopf, denn er kannte die Antwort. Weil er sich von Max hatte beschwatzen lassen. So wie er sich von ihm ständig beschwatzen ließ.
Alles hatte vor zwei Jahren mit empfindlichen Kürzungen im Werbeetat ihres Hauptkunden angefangen. Eigentlich hätten Max und er daraufhin zwei Stellen streichen müssen, doch sie hatten stattdessen bei der Bundesagentur für Arbeit Kurzarbeitergeld beantragt, um die Agentur so weiter am Laufen zu halten. Zwei Monate später war der Etat überraschend wieder aufgestockt worden – nur hatten Max und er versäumt, die Behörden darauf aufmerksam zu machen. Die Bezuschussung floss seitdem weiter – doch jetzt eben in die eigenen Taschen.
Auf welche Weise der Betrug aufgeflogen war? Gunnar wusste es nicht. Er jedenfalls sorgte dafür, dass niemand Einblick in die Finanzlage der Agentur erhielt. Und Max saß mit ihm im selben Boot: Auch er konnte für den Betrug mehrere Jahre in den Bau wandern.
Und das wusste auch ihr Erpresser.
Dass der Zettel heute Morgen unter seiner Tür hindurchgeschoben worden war, hatte Max’ und seine schlimmsten Vermutungen bestätigt: Der Erpresser saß hier unter ihnen. Und diesmal schien es ihm oder ihr um die 50000 Euro Showprämie für das »beste Teammitglied« zu gehen. Gunnar ließ seinen Blick über seine Mitstreiter gleiten. Aber welcher seiner Kollegen spielte hier ein doppeltes Spiel? Und: Was genau erwartete er oder sie denn jetzt von ihm? Sollte er sich in den kommenden Tagen zugunsten eines der anderen Teammitglieder zurückhalten? Oder war dem Unbekannten daran gelegen, dass er ihn während der Show irgendwie unterstützte? Aber wie, ohne aufzufliegen? Der Versuch, ihn ausgerechnet hier in Norwegen erneut anzugehen, war nicht bloß dreist, sondern dumm. Denn diesmal konnte sich ihr Erpresser nicht vor ihm verstecken. Er würde Fehler machen. Und dann …
Gunnar schnippte die Zigarettenasche wütend aus dem Kippfenster und beäugte die kleine Gruppe unauffällig. Sören? Ihr Netzwerkadministrator blätterte noch immer in seinem Touristenführer. Irgendwie traute er ihm so eine Sache nicht zu. Sören war ohne Zweifel ein As in seinem Job, doch davon ab lebte er in Phantasiewelten. Dagmar? Ihre unscheinbare Mediaplanerin saß still da, blickte aus dem Wagenfenster und hörte mp3s via Kopfhörer. Sie war eines dieser späten Mädchen, die es allen recht machen wollten und dabei den Anschluss ans wahre Leben verpasst hatten. Irgendwie tat sie ihm dafür leid. Raffiniert war sie ebenfalls nicht. Das zeigte der erst zwei Monate zurückliegende Zwischenfall, als sie nach einem Geschäftsessen die Firmenkreditkarte samt der zugehörigen PIN in ihrem Wagen liegengelassen hatte. Natürlich war die Kreditkarte gestohlen worden, und jemand hatte das Firmenkonto noch am gleichen Tag mit fast 7000 Euro belastet. Max war ausgeflippt und hatte Dagmar für den abgehobenen Betrag in voller Höhe haftbar gemacht. Jeder andere hätte den Fehler vermutlich abzustreiten versucht.
Sie nicht.
Gunnar konnte bloß mutmaßen, wie sehr die Summe bei ihr ins Kontor geschlagen war. Insbesondere seit ihrem TV-Auftritt, der auch ihm erstmals ihre häuslichen Belastungen offengelegt hatte. Nein, Dagmar fehlte für eine Erpressung die kriminelle Energie.
Bernd? Ihr bärtiger Kreativ-Direktor saß in seiner sportlich dunklen Jack-Wolfskin-Jacke schräg vor ihm und verspeiste im Augenblick tatsächlich einen dieser Black-Horse-Powerriegel. Ihm traute er eine Erpressung schon eher zu. Anders als Max, der sehr von Bernd eingenommen war, hielt Gunnar ihn für einen Blender und Aufschneider. Doch Gunnar hatte nicht die Entscheidungsgewalt, und irgendwie schaffte Bernd es stets, sich im rechten Augenblick unentbehrlich zu machen. Sogar einen ihrer kleineren Kunden hatten sie ihm zu verdanken. Außerdem kannte er Gott und die Welt, wovon die Agentur schon manches Mal profitiert hatte. Und was war mit Lars? Gunnar fixierte den Texter, der unmittelbar hinter ihrem Fahrer saß und angespannt auf sein Handy starrte. Bereits seit Fahrtbeginn verschickte er irgendwelche Kurznachrichten. Lars war ohne Zweifel ein kreativer Kopf, der vermutlich nicht einmal ahnte, welches Potential wirklich in ihm steckte. Dennoch war auch er ihm für seinen Geschmack etwas zu selbstverliebt. Die Art und Weise, wie die Erpresserschreiben verfasst waren, passten zu ihm. Er würde beide Männer im Auge behalten. Allein Katja schloss er aus. Dafür kannten sie beide einander zu lange. Außerdem wusste er von ihrem kleinen Geheimnis. Sollte sie tatsächlich etwas mit der Sache zu tun haben, würde er sie mit Pauken und Trompeten auffliegen lassen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie dieses Risiko einging.
Gunnar löste seinen Blick von ihr, da Katja in diesem Moment von ihrem Tablet aufsah und Bernd ansah. »Nicht schlecht, du werdender Vater. Dein Auftritt letzte Woche hat dir in den Foren einige Sympathien verschafft.«
Bernd zerknüllte die Hülle seines Powerriegels und lehnte sich entspannt zurück. »Jeder eben so, wie er kann. Ich habe bloß das Beste aus der Situation gemacht. Dein Auftritt war ja auch nicht ohne. Die Feministinnen hast du in jedem Fall auf deiner Seite.«
Dagmar nahm die Kopfhörer ab, und Gunnar vernahm die beruhigende Musik von Loreena McKennitt. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte sie. Leise und etwas verunsichert wie immer.
»Allerdings.« Katja hielt ihr ihr Tablet hin. »Ich checke gerade die SURVIVE-Foren auf unser bisheriges Ranking.«
»Aber die Show hat doch noch gar nicht angefangen.«
»Schätzchen, das glaubst auch bloß du. Daniel hat dir übrigens einen großen Gefallen getan: Du liegst derzeit ganz vorn.«
»Was?!« Dagmar und Bernd beugten sich gleichermaßen vor.
»Sieh an.« Bernd berührte missmutig seine Rolex. »Vor unserem Abflug sah das noch anders aus.«
Dagmar betrachtete die User-Kommentare auf dem Bildschirm mit einem Gesichtsausdruck, der Gunnar verriet, dass sie nicht recht wusste, was sie davon zu halten hatte.
»Warum hast du uns eigentlich nie etwas von deiner Mutter erzählt?«, wollte Katja von ihr wissen.
Dagmar zuckte resigniert mit den Schultern. Die Sache war ihr sichtlich unangenehm. »Warum hätte ich euch davon erzählen sollen? Hätte doch eh nichts geändert.«
»Wer weiß. Vielleicht wäre dir Max bei den Arbeitszeiten etwas entgegengekommen?« Katja warf Gunnar einen kurzen Blick zu, und er lächelte unverbindlich. Dass Max Dagmar entgegengekommen wäre, war höchst unwahrscheinlich. So gern er Max mochte; sein alter Mitbewohner war höchstens an sich selbst interessiert.
Katja beachtete ihn nicht weiter und fuhr fort: »Auf jeden Fall ist das deine Chance, Dagmar! 50000 Euro. Ich würde dir die Summe gönnen.«
»Und wo stehe ich?«, mischte sich Lars ein und schaltete endlich sein Handy aus.
»Du bist Vorletzter«, erklärte Katja kühl.
Gunnar sah Lars die Enttäuschung an.
»Aber immerhin liegst du noch vor Gunnar.« Sie sah abermals zu ihm herüber. »Ich hatte dich noch gewarnt: Krawattenträger kommen bei den Leuten nicht so gut an.«
»Ist mir egal«, knurrte Gunnar. »Ich sehe nicht ein, warum ich mich für die Show verbiegen soll. Mir geht es um die Firma und nicht um die Prämie. Um die dürft ihr euch gern streiten.«
»Sieh an, wie nobel.« Lars grinste Gunnar eine Spur zu überheblich an. »Sonnt ihr euch ruhig in euren bisherigen Umfragewerten. Ich werde schon noch während der Show aufdrehen.«
»Und wie steht es bei mir?«, meldete sich Sören im Heck des Fahrzeugs zu Wort.
»Du stehst im Mittelfeld. Direkt hinter mir.« Katja hielt auch ihm das Tablet hin. »Wenn Daniel dich runtermachen wollte, hat er genau das Gegenteil erreicht.«
Sörens speckiges Gesicht erstrahlte.
»Wenn da mal nicht deine tolle Spiele-Community dran gedreht hat«, murrte Bernd. »Ist für deine internetaffinen Freunde sicher nicht schwer, die Foren zu trollen.«
»Wieso unterstellst du mir so etwas?« Sören wirkte gleichermaßen böse wie ertappt.
Gunnar warf missgelaunt seine Kippe aus dem Fenster. »Hört auf mit der Streiterei. Das ist doch genau das, was die wollen.« Vor ihnen kamen jetzt bewaldete Hügelkuppen in Sicht, zwischen denen eingeklemmt eine kleine, aus Holzhäusern und Baracken bestehende Ortschaft lag. Gunnar entdeckte ein lärmendes Baufahrzeug, das an einem Sägewerk vorbei in Richtung einer Hügelkette brauste, deren mit Baumstümpfen übersäte Schrägen wie abrasiert wirkten. Am Ortsrand konnte er sogar einen Hubschrauber ausmachen, nur, dass ihm die Sicht auf ihn gleich darauf von aufgestapelten Baumstämmen am Straßenrand wieder genommen wurde.
»Har vi nådd Skyggehus?«, wandte sich Katja an ihren norwegischen Fahrer.
Der Lockenkopf drehte sich zu ihr um und nickte. Es folgten Ausführungen in der Landessprache, während sie in den Ort hineinfuhren.
Gunnar und Dagmar wechselten befremdete Blicke, denn Skyggehus spottete jedem norwegischen Touristenführer. Einige der Häuser am Straßenrand schienen leer zu stehen, bei anderen waren Türen und Fenster schon lange nicht mehr gestrichen worden. Dazwischen erstreckten sich enge und dunkle Gassen. Anders als in den übrigen Ortschaften, durch die sie gekommen waren, konnten sie hier recht wenige der so landestypisch buntgestrichenen Häuser entdecken. Jene aber, die am Straßenrand auftauchten, wirkten vernachlässigt, und teilweise blätterte der farbige Verputz von ihren Fronten ab. Selbst das Kopfsteinpflaster der Straße, die sich durch den Ort schlängelte, wies an einigen Stellen Löcher auf. Der Ort wirkte verarmt.
Katja kommentierte die Erklärungen ihres Fahrers hin und wieder, während Gunnar und die anderen weiter aus den Fenstern spähten.
Viel war hier nicht los. Eine Frau schob ihren Kinderwagen in eine Auffahrt, aus einem Vorgarten starrte ihnen ein älteres Pärchen hinterher, und Gunnar konnte nicht einen einzigen Gatekjøkken ausmachen. Schnellimbisse, wie sie das Straßenbild Trondheims bestimmt hatten und in denen es Hamburger, Pommes und Hot Dogs gab. Dabei knurrte ihm bereits seit einer Weile der Magen.
Interessant war lediglich eine Gruppe Arbeiter am Straßenrand, die von einem Pritschenwagen aufgesammelt wurde. Die Männer trugen rote und gelbe Signalwesten und waren mit Schutzhelmen, Äxten und Motorsägen ausgestattet.
»Holzfäller«, kommentierte Bernd die Sichtung trocken. »Hier liegt offenbar der Hund begraben.«
»Na ja, durchaus passend zum Namen.« Katja wandte sich ihnen wieder zu. »Skyggehus heißt übersetzt so viel wie Schattenhaus. So im Sinne von ›Burg‹, auch wenn die wohl längst verschwunden ist. Der Ort zählt zu den ältesten Siedlungen Norwegens. War nur leider seit einigen Jahrzehnten ohne wirtschaftliche Perspektive, so dass die Jugend in Scharen in die Umgebung abgewandert ist.«
»Ich wäre hier auch nicht versauert«, schnaubte Lars.
Katja ließ sich nicht beirren. »Seit letztem Jahr ist hier aber eine Holzfirma tätig. Die Älteren im Ort haben sich wohl ziemlich gegen sie gesträubt. Seitdem sie hier ist, geht es aber wirtschaftlich wieder bergauf.«
»Bergauf?« Sören starrte befremdet die abgeholzten Hügel an, die jenseits der Ortschaft aufragten. »Ich sag mal so: Ein Landschaftsschutzgebiet habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.«
Ihr Kleinbus fuhr in einen dunklen Straßenzug mit schiefen Häusern und kleinen, verwahrlosten Gärten ein, um schließlich vor einem beeindruckenden Holzbau mit markantem Satteldach zu parken, das im alten norwegischen Stil errichtet worden war. Das komplette Gebäude ruhte auf einem eigens errichteten Sockel, der die Unebenheit des Untergrundes ausglich, während das obere Geschoss rechts und links weit über das Erdgeschoss hinauskragte. Faszinierend muteten die vielen Schnitzereien unter dem Dach und an der Fassade an. Darunter befanden sich Tiersymbole sowie Ornamente, die an die Wikingerzeit gemahnten. Über der Treppe, die zur hölzernen Veranda hinaufführte, baumelte ein gusseisernes Schild mit der Aufschrift Eddas Handverkerstuene. Offensichtlich ein Wirtshaus.
»Der erste Hoffnungsschimmer«, seufzte Gunnar. »Vielleicht bekommen wir hier noch etwas zu essen, bevor es losgeht.«
Ihr Fahrer hupte zweimal, und noch bevor sie den Kleinbus verlassen konnten, öffnete sich die Tür des Lokals. Zwei Männer traten ins Freie, die augenscheinlich zum Filmteam gehörten. Das wurde auch Zeit. Einer der beiden, ein schlanker blonder Kerl mit Norwegerpulli und Jeans, richtete eine Kamera auf sie. Der andere war mit Khaki-Hose, Fransenjacke und Westernstiefeln bekleidet. Zu allem Überfluss trug er einen klassischen braunen Filzhut, der verdächtig jenem der Indiana-Jones-Filme ähnelte.
»Denkt dran, immer schön lächeln!« Gunnar öffnete die Seitentür des Kleinbusses, und schon wurden sie von dem Hutträger in Empfang genommen.
»Welcome in Norway, Freunde.« Dem breiten Akzent nach hatten sie es mit einem Deutsch-Amerikaner zu tun. Der Indie-Imitator begrüßte sie allesamt mit Namen und schüttelte ihnen der Reihe nach die Hände. »Ich bin Roy Jenkins und werde euch die kommenden Tage über als Aufnahmeleiter begleiten. Wir sind ja bereits einige Tage hier und haben euch schon sehnlichst erwartet. Ich hoffe, ihr habt eure Anreise genossen?«
Dagmar murmelte etwas Höfliches, doch von ihr abgesehen, blickte Jenkins in abwartende Gesichter. Sein Kameramann beschrieb einen Schwenk, um sie alle ins Bild zu bekommen, während sich drüben, vor einem Lebensmittelladen auf der anderen Straßenseite, einige Dörfler versammelten, die die Versammlung misstrauisch beäugten.
»Wir gönnen euch jetzt noch eine kleine Pause, bevor es losgeht«, fuhr Jenkins in seinem amerikanischen Slang fort. »Allerdings wird die nicht allzu lange dauern, da wir mit den Dreharbeiten noch heute Nachmittag beginnen.«
»Hier?« Sören blickte sich fragend um, während aus der Ferne das Schrillen einer Motorsäge ertönte.
»Natürlich nicht.« Jenkins rückte sich den Hut zurecht. »Der Ort, an dem die Aufnahmen stattfinden, liegt ziemlich weitab vom Schuss. Querfeldein, gute drei Tagesmärsche südlich von hier.« Wolken schoben sich vor die Sonne, und es wurde unvermittelt kühler. »Aber keine Angst, wir haben etwas Besonderes vorbereitet. Wir werden euch nämlich mit einem Hubschrauber zum Drehort bringen. Das dauert keine zwanzig Minuten. Anschließend werde ich euch einweisen – und dann geht es los.« Jenkins lächelte breit und machte auf der Treppe Platz. »Aber kommt erst einmal rein.«
Schweigend kramten sie ihre Taschen und Rucksäcke aus dem Wagen, während ihr Aufnahmeleiter mit dem Fahrer sprach. Dann marschierten sie über die knarrende Treppe hinein ins Lokal. Dort erwartete sie eine rustikale Wirtsstube mit schmalen Fenstern, durch die dämmriges Licht auf Holztische und -stühle fiel. Der dunklen Patina nach zu urteilen, waren die Möbel schon einige Jahrzehnte im Gebrauch, und alles war in typisch norwegischem Stil gehalten. An den Wänden hingen Geweihe sowie ein halbes Dutzend Bilder mit alten Schwarzweißfotografien von ernst dreinblickenden Männern und Frauen. Auf einer Bank rechts von ihnen lagen bestickte Kissen, und in der Luft lag ein feiner Essensgeruch, der Gunnars Magen erneut zum Knurren brachte. Sein Blick fiel auf den langgezogenen Tresen und die Regale dahinter, auf denen zahllose Flaschen mit Alkoholika standen. Sie sparten lediglich eine Fläche an der Wand aus, die für ein Porträt des norwegischen Königs Harald V. reserviert war. Auf dem Tresen lockten, sorgsam unter Glas gestapelt, Pfannkuchen.
Ebenso wie seine Kollegen stellte Gunnar sein Gepäck an der Wand neben der Eingangstür ab; dann setzten sie sich und warteten darauf, dass Jenkins ihre Aufmerksamkeit wieder in Anspruch nahm. Der Kameramann filmte sie weiter, und hinter dem Tresen trat jetzt ein glatzköpfiger Mittvierziger mit rotem Vollbart durch einen Vorhang, der ihnen kurz zunickte. Der Wirt.
»Also.« Roy Jenkins präsentierte eine protzige Armbanduhr, die allerdings nicht mit Bernds Rolex mithalten konnte. »Ihr habt von jetzt an noch eine Dreiviertelstunde Zeit, um eure Angelegenheiten zu regeln und euch zum letzten Mal frisch zu machen. Schräg gegenüber des Lokals«, er deutete auf die Straße, »gibt es einen Laden, wo ihr noch etwas einkaufen könnt. Toiletten findet ihr dahinten.« Er wies auf einen schmalen Gang, der von dem Wirtsraum abzweigte. »Punkt sechzehn Uhr hole ich euch hier ab, dann geht es zum Hubschrauber. Jeder von euch darf bloß einen Rucksack mit Gepäck mitnehmen. Ich rate euch schon jetzt, euch auf wechselhaftes Wetter einzustellen. Norwegen ist dafür berüchtigt.«
»Bloß einen Rucksack?« Katja starrte ihr Gepäck an, das neben dem Rucksack noch zwei weitere Taschen umfasste. Auch Dagmar und Bernd wirkten nicht glücklich, denn sie hatten ebenfalls weitere Taschen dabei.
»Sorry, das hier ist nicht das Ritz.« Jenkins hob bedauernd die Schultern. »Den Rest eures Gepäcks verwahren wir natürlich bis zu eurer Rückkehr sicher auf.«
»Wie steht es eigentlich um ärztliche Versorgung?«, fragte Sören, während er seinen Parka öffnete, als würde ihm die Wirtsstube just in diesem Augenblick zu warm. »Ich meine, falls uns während der Show was passiert.«
»Darum musst du dir keine Sorgen machen«, beruhigte ihn der Aufnahmeleiter. »Vor Ort sind bereits unsere Techniker, und unter denen ist einer ausgebildeter Sanitäter. Und wenn wirklich mal etwas sein sollte, dann rufen wir den Hubschrauber. Aber so gefährlich wird es nicht. Dafür aber anstrengend.«
Sören erweckte nicht den Eindruck, als würde ihn die Antwort beruhigen. Gunnar meldete sich.
»Ja, Gunnar?«
»Kriegt man hier noch etwas zu essen?«
Alle im Raum lachten, und Jenkins wechselte auf Norwegisch ein paar Worte mit dem Wirt. Der zuckte bedauernd mit den Schultern. »Die Küche hier ist zwar bekannt für ihre Lachs-, Rentier- und Hirschgerichte«, meinte Jenkins, »aber leider nur abends und zur Mittagszeit. Aber es gibt noch kalte Pfannkuchen.« Er deutete zum Tresen.
Gunnar hätte darauf gewettet, dass auch das reine Schikane war. Dennoch gab er sich betont gleichmütig, da die Kamera auf ihn gerichtet war. »Na gut, dann ordere ich gleich mal zwei«, meldete er sich.
»Und ich vier.« Sören grinste.
Jenkins gab die Order an den Wirt weiter.
»Wie steht es um unsere Unterkünfte vor Ort?«, wollte Lars wissen, während er eine rote Softshell-Jacke vom Rucksack löste und sie sich lässig überstreifte.
»Zelte und Schlafsäcke werden gestellt.« Roy Jenkins grinste vielsagend. »Noch weitere Fragen?«
Die Kollegen schwiegen.