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Ein frostiger Winter hat Einzug gehalten in der kleinen Berchtesgadener Ortschaft Perchtal. Es herrscht eine besinnliche vorweihnachtliche Stimmung und alle freuen sich auf den traditionellen Perchtenlauf. Da entdecken die Zwillinge Miriam und Elke die Leiche eines Mädchens im zugefrorenen Perchtensee, die ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Gemeinsam mit ihren Freunden Andy, Robert und Niklas gehen sie dem unheimlichen Rätsel nach – und kommen so einer eisigen Macht auf die Spur, die schon seit Jahrtausenden in der Bergwelt lauert. Hinweis Vorzugsausgabe: Zehn Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen veröffentlicht der Buchheim Verlag mit WEISSER SCHRECKEN von Thomas Finn den wohl unheimlichsten deutschen Schauerroman der letzten Jahre. Diesmal als edle, handnummerierte und auf 777 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe. Ein kunstlederner Festeinband samt Buchrücken in Halggewebe und Folienprägung sorgen für ein Aufsehen erregendes neues Erscheinungsbild. Jedes Exemplar wird zweifarbig auf edlem Pergraphica gedruckt. Eine haltbare Fadenheftung sowie ein Satin-Lesebändchen runden die handwerkliche Verarbeitung ab. Ausgeliefert wird die Publikation in einem hochwertigen Schuber, der die Vielzahl inhaltlicher Extras schützt: Gleich elf Innenillustrationen von Künstler Ben Baldwin fangen die spannende Romanhandlung optisch ein. Hinzu kommen über ein Dutzend vierfarbiger Beileger in Gestalt von Briefen, Karten, Notizzetteln und anderen Fundstücken, die die Anstrengungen der Romanfiguren, den Weißen Schrecken aufzuklären, fast real wirken lassen. Ein besonderes Highlight ist das von Autor Thomas Finn exklusiv für diese Ausgabe verfasste, 24seitige Supplement, welches die Romanhandlung als Horror-Rollenspiel-Abenteuer aufbereitet – und bei dem alle Beileger auch im Spiel Verwendung finden. Die Vorzugsausgabe von WEISSER SCHRECKEN ist von Autor Thomas Finn sowie Illustrator Ben Baldwin signiert und nur direkt beim Verlag erhältlich unter: https://www.buchheim-verlag.de/thomas-finn-weisser-schrecken-vorzugsausgabe.html
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Seitenzahl: 659
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Thomas Finn
GrimmaBuchheim Verlag2022
ISBN E-Book: 978-3-946330-34-9
Vorzugsausgabe ohne ISBN
Limitiert auf 777 Exemplare
https://www.buchheim-verlag.de/thomas-finn-weisser-schrecken-vorzugsausgabe.html
© 2022 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen: Ben Baldwin
Krampus: Daniele Serra
Grafik Rollenspielerweiterung: Per Dittmann
Satz: Per Dittmann
Animation: Thomas Hilbert 3dk-animation
www.buchheim-verlag.de
Titel der Originalausgabe:
WEISSER SCHRECKEN
Copyright © 2010 Thomas Finn
Copyright Rollenspielerweiterung
© 2022 Thomas Finn
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Michael Meller Literary Agency GmbH80336 München
PROLOG
KAPITEL 1: INCIPIT! (ES BEGINNT!)
FREUNDE
KRAMPUSKOSTÜME
DER GLITZERNDE SPIEGEL
MUTPROBE
DIE ALTE LEICHENHALLE
ASCHE & ANGST
KAPITEL 2: IMAGO ANIMI VULTUS (DAS GESICHT IST EIN ABBILD DER SEELE)
DAS ZIMMER
PERCHTA
BLEI & GLAS
KRIEGSRAT
LUDUS EPISCOPI PUERORUM
DER ALTE HOEFLINGER
RAUNACHT
KAPITEL 3: DIES ATER (EIN SCHWARZER TAG)
WEISSE SPUREN
MAUERN
DRAUSSEN VOM WALDE
KNECHT RUPRECHT
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
STAUBIGE ZEUGEN
GLOCKENSCHLAG
DIE DREI HEILIGEN
MEMENTO MORI
KAPITEL 4: HOMO HOMINI LUPUS (DER MENSCH IST DES MENSCHEN WOLF)
EPILOG
NACHWORT & DANKSAGUNG
NACHWORT & DANKSAGUNG, DIE ZWEITE
AUTOR
ILLUSTRATOR
»Leise rieselt der Schnee,Still und starr ruht der See.Weihnachtlich glänzet der WaldFreue dich, Christkindkommt bald!«
Der Engel floh vor dem Licht. Das blonde Haar hing ihm in verschwitzten Strähnen in die Stirn, das himmlische Gewand war eingerissen, und der rechte Flügel hing gebrochen herab. Zitternd vor Angst und Kälte stolperte er im Schneetreiben den Forstweg entlang, während mit blubbernden Geräuschen das Ungetüm nahte, das ihn schon seit einer halben Stunde quer durch die Nacht jagte. Der Engel schluchzte, packte die hinderliche Schwinge im Laufen und riss sie mit einem hässlichen Knacken ab. Es war eine Kraftanstrengung, die ihn vor Erschöpfung stolpern und auf die Schneedecke stürzen ließ. Ein Strom Tränen benetzte seine Wangen, während er sich wieder hochmühte und nach Atem rang. Die kalte Waldluft schmerzte in seinen Lungen, und die Beine waren ihm inzwischen so schwer wie Wackersteine. Längst hatte der Engel aufgehört zu schreien, denn der dichte Schneefall erstickte seine Rufe. Niemand konnte ihn hören. Dabei wusste er, dass nicht weit entfernt ein Forsthaus stand. Dort würde man ihm helfen. Doch die vielen Bäume schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. Granitsäulen gleich standen sie dicht an dicht am Wegesrand, so als wollten sie es verhindern, dass er seinem Verfolger entkam. Im Schein der Lichtfinger, die sich hinter ihm an den Stämmen vorbeizwängten, ähnelten selbst die filigranen Äste des Buschwerks trügerischen, mit Zuckerguss bedeckten Spinnweben, die nur darauf lauerten, dass sich der Himmelsbote in ihnen verfing. In diesem Moment wünschte sich der Engel, wirklich über himmlische Kräfte zu gebieten. Denn dann würde er fliegen. Doch er konnte nicht fliegen. Er schaffte es ja nicht einmal zu schreien …
Das Ungetüm röhrte triumphierend und walzte knirschend auf sein Opfer zu. Im Schneetreiben gemahnte es den Engel an einen gewaltigen schwarzen Schlitten mit runden, grell leuchtenden Laternen über den Kufen, deren Schein ihn erfasste und erbarmungslos aus der Finsternis riss. Geblendet hielt sich der Engel die Hände vor die Augen. Er musste weiter, fort von hier. Starr vor Entsetzen bemerkte er, wie die Silhouette des unheimlichen Gefährts immer größer wurde, bis es unvermittelt zwischen zwei hohen Bäumen zum Stehen kam. Der Rückweg war versperrt.
Unvermittelt erstarb das blubbernde Geräusch, und eine Stille umfing den Engel, die etwas Lauerndes an sich hatte. Einzig der Wind war noch zu hören, der im Geäst der Bäume säuselte. Der Wind und ein schauderhaftes Geräusch, das wie das Knacken von Klauen klang. Schon drängte eine korpulente und von wirbelnden Schneeflocken umwehte Gestalt in den Lichtschein. Sie war in einen Kapuzenumhang aus blutrotem Stoff gehüllt, der sich fest um den ausladenden Bauch spannte. Weißes Fell umschloss den Saum des Gewandes wie auch die Ränder der Kapuze und die Aufschläge der Ärmel. Der Nikolaus!
Doch die Gestalt mit dem langen, bis auf die Brust reichenden Bart hatte nichts Tröstliches an sich. Der Engel kniff verängstigt die Augen zusammen und sah, wie sich ein gemeines Grinsen auf dem feisten Gesicht abzeichnete. Ohne zu zögern, marschierte der Gabenbringer auf den Engel zu. Und mit jedem Schritt, den er tat, wuchs auch sein Schatten in die Länge – bis dieser den Himmelsboten erreichte.
Der Engel schreckte aus seiner Starre, sah sich gehetzt um und entdeckte zwischen den vielen Bäumen endlich das Forsthaus. Einem verwunschenen Hexenhäuschen gleich erhob es sich auf einer von Schlagholz gesäumten Lichtung, die keine drei Steinwürfe von ihm entfernt lag. Die Fenster waren von innen mit Tannengrün und Sternen geschmückt, die in der Ferne um die Wette blinkten. Der Engel warf sich herum und stürzte in das Unterholz. Äste knackten unter seinem Gewicht, Zweige krallten sich in sein Gewand und dicke Lagen von Schnee stürzten auf ihn herab. Wimmernd riss er sich los, stolperte weiter, schlug mit dem Kopf gegen einen überhängenden Ast und stürzte der Länge nach auf den gefrorenen Waldboden. Bunte Schleier wallten vor seinen Augen. Verzweifelt mühte er sich wieder hoch, taumelte gegen einen Baumstamm, dessen Rinde sich kalt und rissig unter seinen Händen anfühlte, und entdeckte das viele Blut, das ihm von Nase und Lippe troff. Es schmolz rote Löcher in den Schnee.
»O lieber Herre Christ«, höhnte es vom Hohlweg her, »meine Reise fast zu Ende ist. Ich soll nur noch in diese Stadt, wo’s eitel gute Kinder hat …«
Der Engel sah erschrocken von dem blutigen Schnee zu seinen Füßen auf. Er war nicht weit gekommen, vielleicht drei oder vier Schritt. Der Nikolaus stand nun dort, wo er den Pfad verlassen hatte. Zitternd wich der Engel weiter zurück, glitt diesmal auf einer überfrorenen Wurzel aus und stürzte abermals in die kalte Pracht. Der Unheimliche grunzte. Schon trat er aus dem Lichtschein des Wagens und bahnte sich einen Weg durch das Unterholz. »Hast denn das Säcklein auch bei dir?«
Verzweifelt griff der Engel nach einem Zweig, versuchte sich erfolglos daran hochzuziehen und krabbelte schließlich rücklings von seinem Peiniger fort. Der Nikolaus hob die Linke, und der Engel sah, dass die Finger einen großen Jutesack umklammert hielten.
»Ich sprach: Das Säcklein, das ist hier. Denn Äpfel, Nuss und Mandelkern, fressen fromme Kinder gern.«
Der Engel stieß mit dem Kopf gegen einen Stamm und blieb nun endgültig wie ein Käfer auf dem Rücken liegen, die Augen starr vor Entsetzen auf das bärtige Antlitz seines Verfolgers gerichtet. Der Bart war nicht echt, das erkannte er jetzt.
»Bitte, tun Sie mir nichts!«, schluchzte er. Längst hatte sich die korpulente Gestalt vor ihm aufgebaut und starrte kalt und unerbittlich auf ihn herab. Abermals schlugen dem Engel die Zeilen dieses unheimlichen Gedichts entgegen.
»Hast denn die Rute auch bei dir?« Die Lippen des Finsteren kräuselten sich spöttisch, als er einen Gegenstand mit langer Nadel zückte, aus der eine Flüssigkeit spritzte. »Ich sprach: Die Rute, die ist hier!« Der Engel schrie verzweifelt auf, aber ein schwerer Schlag ins Gesicht setzte dem Laut ein jähes Ende. »Doch für die Kinder nur, die schlechten; die trifft sie auf den Teil, den rechten.«
Die Gestalt packte den Engel schnaufend und warf ihn auf den Bauch. Ein scharfer Schmerz entflammte sein Gesäß, als die spitze Nadel tief in sein Fleisch stach. Verzweifelt schlug der Engel um sich und strampelte mit den Beinen, doch der Nikolaus hielt ihn im Nacken gepackt und drückte das blutende Gesicht des Engels mit aller Kraft in den weißen Untergrund.
»Christkindlein sprach, so ist es recht«, ächzte sein Peiniger angestrengt. Es dauerte eine Weile, bis er dem Engel das Metall wieder aus dem Leib zog. »So geh denn mit Gott, mein treuer Knecht!«
Endlich ließ er den Engel los. Der hustete, spuckte Schnee und kaute auf geronnenem Blut. Sein Gesäß brannte wie Feuer, während sich eine kalte Flüssigkeit in seinem Körper ausbreitete. Die Luft schmeckte jetzt nach Eisen, und eine schreckliche Müdigkeit bemächtigte sich seiner.
»Wer … sind Sie?«, lallte der Engel. Seine Glieder fühlten sich nun so taub an, als wären sie in der Kälte erfroren.
»Teufel, bringen sie euch in der Schule nichts mehr bei?« Abfällig spuckte der Maskierte in den Schnee und beugte sich dicht über das Gesicht des Engels, sodass dieser den säuerlichen Atem des Fremden riechen konnte. »Von drauß’ vom Walde komm ich her. Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr. Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find! Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? – Na, klingelt’s jetzt? Das ist von Theodor Storm. Und ich – ich bin der Knecht Ruprecht.« Er betrachtete den Engel, der bleich, betäubt und mit gebrochenen Flügeln vor ihm auf dem Schnee lag. »Vielleicht kennst du mich ja auch unter dem Namen Krampus? Du weißt schon, der mit den Ketten.« Die Gestalt lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht. Ohne Eile stülpte sie dem Engel den Sack über den Kopf. Finsternis hüllte den himmlischen Boten ein. »Na gut«, tönte es von außerhalb, »vielleicht bin ich nicht der echte Knecht Ruprecht. Aber den wirst du schon bald kennenlernen. Weißt du, wie man ihn auch nennt?« Der Fremde wuchtete den Sack mühsam über die Schulter und trug den Engel durch das knackende Unterholz zurück zum Hohlweg. »Man nennt ihn den Kinderfresser. Und du wirst schon bald erfahren, warum …«
(ES BEGINNT!)
»Aufgewacht, liebe Leute! Es ist Punkt 6:10 Uhr am Morgen, und für die meisten im Sendegebiet heißt es nun wieder ›Aufstehen‹! Gern würde ich euch den Tag mit der Nachricht versüßen, dass die Sonne lacht und auf uns alle ein heißer Tag am Baggersee wartet, wo es ebenso heiße Badenixen nur darauf abgesehen haben, uns mit gegrillten Haxen und zünftigem Weißbier zu verwöhnen. Doch leider sieht die triste Wirklichkeit anders aus. Draußen ist es noch immer rappelzappel finster, und wäre nicht das dicke Glas hier im Studio, dann könntet ihr hören, wie auf der Zufahrt zum Sender Schnee geschippt wird. Was soll’s, dafür habe ich euch eben mit einem Song von 1984 geweckt, von dem man mit Fug und Recht behaupten kann, dass er zu dieser Jahreszeit Tradition ist: ›Last Christmas‹ von Wham!
Ich weiß, ich weiß, niemand von uns kann ihn mehr hören. Und ich verspreche euch, dass ich die Platte in diesem Jahr garantiert zum letzten Mal aufgelegt habe. Doch es ist eben Dezember, da gehört der Song dazu wie der berühmte Familienstreit unterm Weihnachtsbaum, haha. Aber … vielleicht tröstet es euch zu erfahren, dass es George Michael nicht anders ergeht. Angeblich ergreift auch er regelmäßig die Flucht, sobald die alte Schmonzette erklingt. Nur dass er und Andrew Ridgeley sich diese Qual jedes Jahr mit geschätzten zehn Millionen Euro an Tantiemen versüßen lassen. Ein schönes Weihnachtsgeschenk, will ich meinen. Apropos Weihnachtsgeschenk – ho ho ho, erst einmal steht Nikolaus vor der Tür! Wetten, dass manche von euch noch immer keinen blassen Schimmer haben, was sie ihrer Liebsten in den Stöckelschuh schieben sollen? Dem kann abgeholfen werden. Denn heute tritt Mad Mike den einsamen Kampf gegen den vorweihnachtlichen Konsumterror an und hat einen Gast im Studio, der euch einen sinnvollen Ausweg aus der Krise weist. Also, bleibt dran.«
Andreas sah schmunzelnd dabei zu, wie Mad Mike auf einen der vielen Knöpfe vor sich auf dem Regiepult drückte und einen Werbejingle einblendete. Anschließend nahm sich der hagere Moderator die Kopfhörer ab und zwinkerte ihm zu. »So, das hätten wir. Wenn Sie auch einen Kaffee möchten, bedienen Sie sich bitte.« Mad Mike deutete zu der Kanne auf einem Beistelltisch. Er selbst hatte längst eine dampfende Tasse vor sich stehen, auf der in roten Buchstaben »Achtung, bissiger Moderator« stand.
»Danke, aber ich bin bestens bedient.« Andreas, der Mad Mike direkt gegenübersaß, hob das Glas Wasser, das ihm eine hübsche Praktikantin des Senders auf das Pult gestellt hatte. »Ich hatte beim Aufstehen schon Kaffee. Wenn ich noch mehr trinke, dann können Sie mich bald mit ’nem Herzkasper raustragen.«
Mad Mike lachte, nahm seinerseits einen Schluck und behielt dabei streng die Uhr über der Studiotür im Auge, auf der einem Countdown gleich die Zeit ablief. Noch zwei Minuten. »An das frühe Aufstehen gewöhnt man sich mit der Zeit. Aber das wird bei Ihnen doch nicht viel anders sein, oder?« Im Hintergrund war leise die Werbung für ein Autohaus zu hören.
»Es ist eher der Jetlag, der mir noch zusetzt.« Andreas strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und atmete tief die trockene Studioluft ein. Sie roch nach dem würzigen Duft eines Weihnachtsgestecks, das Mad Mike von einer Hörerin geschenkt bekommen hatte. Langsam machte sich in ihm nun doch eine gewisse Aufregung bemerkbar, immerhin wurde er nicht jeden Tag interviewt. »Ich bin kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen, der eigentlich an meiner statt zurück nach Deutschland fliegen sollte, um Medikamente aus dem Zoll zu holen. Aber Sie haben schon recht. Zuletzt mussten wir jeden Morgen um fünf Uhr auf der Matte stehen.«
»Ja, ich muss schon sagen, bewundernswert.« Mad Mike hob seinen Stichwortzettel und überflog ihn kurz. »Ich lese hier, dass Sie ihr Medizinstudium in Rekordzeit erledigt haben. Neun Semester. Alle Achtung. Meine Schwester ist ebenfalls Ärztin, nur dass sie fast acht Jahre benötigt hat, bis sie fertig war. Sie arbeitet heute in München.«
»Tja, nur dass mir die Plackerei im Nachhinein dann doch nicht so viel gebracht hat.« Andreas seufzte. »Die ärztliche Approbationsordnung sieht dreizehn Semester Studienzeit vor und besteht auch auf deR Einhaltung dieser Regelung. Eigentlich hätte ich damals zwei Jahre bis zum PJ warten müssen. Aber ich hatte einen Prof, der mir wohlgesonnen war. Der hat da nach einem Jahr was drehen können.«
»Anschließend zwei Jahre Erfahrung als Kinderarzt am Klinikum in Augsburg und dann Ihr Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen.« Mad Mike sah ein weiteres Mal zur Studiouhr auf und blickte dann wieder seinem Gast in die Augen. »Man hat fast den Eindruck, als hätten Sie es kaum abwarten können, Deutschland den Rücken zu kehren.« Er lachte, doch Andreas verzichtete auf eine Antwort. »Na gut«, fuhr der Moderator fort. »Wenn der Spendenaufruf Erfolg haben soll, müssen wir unsere Hörer emotional packen. Vielleicht beginnen wir bei Ihrer Kindheit? Ich lese da, Sie stammen aus der tiefsten Provinz. Perchtal ist doch ein Dorf im Berchtesgadener Land, richtig?«
»Nein!« Andreas verschüttete etwas Wasser. Rasch wischte er die Lache auf dem Pult mit dem Ärmel seines Pullovers auf und bemühte sich um einen versöhnlicheren Tonfall. »Ich meine, ja, Perchtal liegt im Berchtesgadener Land. Aber ich wäre froh, wenn wir das aussparen könnten. Das alles hat in meinem Leben keine Bedeutung mehr. Außerdem, na ja, ich meine, die Sendezeit ist schließlich begrenzt. Ich halte es für besser, wenn wir uns ganz auf meine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen konzentrieren.«
»Gut, wie Sie möchten.« Mad Mike hob fast unmerklich eine Augenbraue und setzte sich nun wieder den Kopfhörer auf. Mit einer knappen Geste bedeutete er Andreas, es ihm gleichzutun und etwas näher ans Mikro zu rücken. Auf der Studiouhr liefen die letzten zehn Sekunden ab, und im Hintergrund verklang ein Spot, der auf den Nürnberger Christkindlmarkt aufmerksam machte.
Schon legte Mad Mike wieder los: »Ihr hört Studio 96,10, und am Mikro ist wie immer Mad Mike vom Frühcafé. Wie schon gestern angekündigt, sitzt mir heute ein ganz besonderer Gast gegenüber: Andreas Meyenberg. Andreas ist 31 Jahre alt, Kinderarzt und in dieser Funktion bei Ärzte ohne Grenzen tätig. Andreas, vielleicht geben Sie unseren Hörern einen kurzen Einblick in Ihre Organisation?«
»Gern.« Andreas rückte etwas näher ans Mikro und hoffte verzweifelt darauf, dass sich sein Herzschlag beruhigte. »Streng genommen arbeite ich für die 1971 gegründete internationale Organisation Médecins sans frontières. In Deutschland ist MSF aber besser unter dem Begriff ›Ärzte ohne Grenzen‹ bekannt. Dabei handelt es sich um eine unabhängige humanitäre Hilfsorganisation, die medizinische Nothilfe in Krisen- und Kriegsgebieten leistet.«
»Das klingt aufregend.«
»Auf gewisse Weise ist es das auch. Meine Kollegen und ich sind vorwiegend in Afrika, Asien und Südamerika tätig. Aber auch hier in Europa.«
»Eine ziemlich gefährliche Arbeit, wie man so hört, richtig?«
»Das kommt darauf an, wo wir hingeschickt werden. Ich möchte mich da nicht in Einzelheiten verlieren, aber es gibt natürlich Länder, in denen sich die Situation komplizierter gestaltet als in anderen. Somalia etwa, wo wir 2008 nach Mordanschlägen auf Kollegen unser Projekt in Kismayo schließen mussten.«
»Mordanschläge? Auf eine humanitäre Organisation wie die Ihre?«
»Ja, leider.« Andreas seufzte. »In Kriegsregionen geschieht es nicht selten, dass wir von den Konfliktparteien schnell mal als ›Helfer des Feindes‹ betrachtet werden. So auch dort.«
»Aber Ärzte ohne Grenzen hat sich doch der Neutralität verpflichtet.«
»Das ist richtig«, antwortete Andreas. »Doch wenn die Rechte von Zivilisten nachweislich mit Füßen getreten werden, dokumentiert Ärzte ohne Grenzen solche Fälle und setzt sich dann sehr wohl für diese Menschen ein. Und genau das passt bestimmten Machthabern eben nicht. Das war auch der Grund«, ereiferte er sich weiter, »warum uns die Regierung in Birma damals nach dem Zyklon behindert hat. Aber wir lassen uns von so etwas nicht entmutigen. Wenn wir an die Menschen denken, denen wir Hilfe leisten können, entschädigt uns das für vieles.«
»Menschen helfen, genau darum geht es heute!«, kommentierte Mad Mike. »Andreas Meyenberg sitzt mir natürlich nicht grundlos gegenüber. Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der Nächstenliebe. Vielleicht überlegt der eine oder andere unserer Hörer ja noch, ob er etwas Sinnvolles verschenken kann? Statt eines Schokonikolaus vielleicht einen Spendenbescheid?«
»Darüber würde sich Ärzte ohne Grenzen natürlich freuen.« Andreas lächelte. »Uns fehlen jedes Jahr viele Hundert Millionen Dollar, um zum Beispiel Mangelernährung wirksam bekämpfen zu können. Dabei ist Helfen ganz einfach. Auf der Webseite von Ärzte ohne Grenzen findet sich ein Link, der zeigt, wie uns jeder ganz leicht unterstützen kann …«
»Nicht nur dort«, unterbrach ihn Mad Mike. »Auch auf der Seite von Studio 96,10 findet sich ein Eintrag … Oh, wie ich sehe, blinkt bereits ein Lämpchen, das signalisiert, dass ein Hörer in der Leitung ist.« Mad Mike sah zum Regieraum auf, wo ihm ein Techniker hinter der Scheibe eine Tafel mit der Aufschrift ›Petra‹ hinhielt. Dann drückte er einen Knopf. »Petra, du hast eine Frage an Andreas?«
»Bin ich jetzt auf Sendung?«, ertönte eine weibliche Stimme, die im Hintergrund von Säuglingsgeschrei untermalt wurde.
»Allerdings.«
»Mike, du sprachst davon, dass Herr Meyenberg Kinderarzt ist«, legte die Hörerin los. »Mich würde mal interessieren, wo er selbst schon überall war und was er da so genau tut.«
Der Moderator nickte Andreas auffordernd zu. Andreas beugte sich vor.
»2009 war ich mit einem Nothilfe-Team in Papua-Neuguinea, wo ich geholfen habe, die Cholera zu bekämpfen, die dort zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder ausgebrochen ist. Und dieses Jahr war ich fast die ganze Zeit über in Haiti, wo nach dem Erdbeben im Januar noch immer Hunderttausende in Hütten aus Plastikplanen, in behelfsmäßigen Zelten oder Ruinen leben müssen.«
»Und da kümmern Sie sich nur um Kinder?«
»Das wäre schön.« Andreas lächelte unwillkürlich und spürte, wie die Anspannung zunehmend von ihm abfiel. Inzwischen war er ganz in seinem Element. »Leider lässt sich das mit der Realität vor Ort nicht vereinbaren. Ich gehöre zu einem Team von Ärzten, das vorwiegend den vielen Durchfallerkrankungen und Atemwegsinfektionen zu Leibe rückt. Zu unseren Patienten zählen Kinder ebenso wie Erwachsene.«
»Haben Sie denn selbst Kinder?«
»Nein.« Andreas zögerte. »Aber ich … fühle mich Kindern irgendwie verpflichtet. Jeder von uns sollte das.«
»Das finde ich toll. Also ich werde etwas spenden.«
»Danke schön. Ich verspreche, jeder einzelne Euro ist gut investiert.«
Mad Mike schenkte Andreas einen ›Na geht doch‹-Blick und griff selbst wieder zum Mikro. »Weihnachtszeit, Geschenkezeit. Vielleicht haben wir ja doch nicht vergessen, was Nächstenliebe bedeutet. Bevor es gleich was von Silbermond auf die Ohren gibt, noch ein weiterer Anrufer. Aber natürlich wird euch Andreas auch nach dem Song noch Rede und Antwort stehen.« Der Moderator sah abermals zur Regiekabine auf, wo der Techniker eine Tafel mit der Aufschrift ›Niklas‹ in die Höhe hielt. »Niklas, auch du hast eine Frage an Andreas?« In der Leitung knackste es. »Niklas?«
»Ja, ich bin dran«, ertönte eine heisere Stimme, die Andreas seltsam bekannt vorkam. »Mich würde interessieren, warum sich Andreas im Ausland herumtreibt, wenn er hier doch viel dringender gebraucht wird.«
»Wie bitte?« Andreas sah alarmiert zu der Namenstafel auf und wurde bleich.
»Sag schon, Andy«, tönte es in den Kopfhörern. »Feierst du mit den Kindern in aller Welt auch hübsch Nikolaus?«
»Ja, äh, nein. Das kommt drauf an.« Hektisch formulierte Andreas mit den Lippen ›privat‹. Der hagere Moderator reagierte sofort und drückte einen weiteren seiner vielen Knöpfe. Schon fuhr er im routinierten Plauderton fort. »Womit wir auch wieder beim Thema wären. Nikolaus naht, und noch immer wissen viele von uns nicht, was sie ihren Lieben schenken sollen …«
Andreas beachtete sein Gegenüber nicht weiter. Er war längst aufgesprungen und lauschte ungläubig der Stimme, die noch immer die Kopfhörer erfüllte. Wütend hob er das Mikro. »Verflucht, ich fasse es nicht. Du?! Was soll das? Du kannst mich doch nicht mitten in einer Radiosendung …«
»Daran bist du selbst schuld. Hättest uns ja deine Handynummer geben können.«
»Ich … hätte mich schon noch irgendwann bei euch gemeldet.«
»Na klar, Andy. Wer’s glaubt, wird selig.« Der Anrufer schnaubte abfällig. »Es ist wieder so weit. Morgen ist der sechste Dezember.«
»Nikolaus«, flüsterte Andreas tonlos. »Aber es ist doch all die Jahre über nichts passiert.«
»Sag mal, wem willst du denn da was vormachen?!«, schlug es ihm erbost entgegen. »Dir selbst? Natürlich ist all die Jahre über nichts passiert. Doch jetzt ist die Zeit um! Das Schicksal hat uns eingeholt. Es hält uns fest im Griff. Dich. Mich. Uns alle. Glaubst du ernsthaft, es sei Zufall, dass du ausgerechnet im Dezember wieder zurück in Deutschland bist? Pünktlich in diesem Jahr? In diesem Monat?« Der Anrufer hielt kurz inne. »Nein, mein Freund. Das alles ist unsere Bestimmung! Und du weißt das.« Andreas schwindelte, und seine Stimme klang belegt. »Was ist mit den anderen?«
»Wir warten auf dich. Du weißt ja, wo.« Es klickte, und die Leitung war tot.
Andreas ließ das Mikro wie betäubt sinken.
Ja. Er wusste, wo.
Andreas erwachte viel zu früh. Nur dass ihn heute nicht das Lärmen der Maschinen draußen im Sägewerk seines Vaters geweckt hatte, sondern lautes Glockengeläut im Ort. Ohne sich zu dem neuen Radiowecker umzudrehen, wusste er, dass es Viertel vor zehn am Morgen war. Sein Vater hatte ihm den Wecker erst vor einem Monat anlässlich seines 15. Geburtstags geschenkt. Das Gerät war nur eines von vielen Geschenken gewesen …
Andreas stöhnte. Sonntag war immerhin der einzige Tag in der Woche, an dem man ausschlafen konnte. Theoretisch jedenfalls. Doch der Gottesdienst in Perchtals alter Kirche begann in einer Viertelstunde. Das Vorläuten diente sicher dazu, all jenen ein schlechtes Gewissen zu machen, die bislang standhaft zu Hause geblieben waren.
›All jene‹, das war der kleine Haufen ›schwarzer Schafe‹, wie Pfarrer Strobel gern die bezeichnete, die den Sonntagvormittag lieber im Bett verbrachten, anstatt seiner Predigt zu lauschen. Andreas gehörte dazu. Dabei war seine Mutter eine treue Kirchgängerin gewesen. Angeblich. Er dachte insgeheim oft an seine Mutter zurück und malte sich dann aus, wie es wäre, wenn sie noch lebte. Meist dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
Besonders dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
Dabei wusste Andreas nicht einmal viel über seine Mutter. All diejenigen, die er fragen konnte, hielten sich bedeckt. Pfarrer Strobel erwähnte seine Mutter erst gar nicht. Dabei wusste Andreas schon lange Bescheid. Er hatte nie vergessen, dass man sie an einem Sonntag verscharrt hatte. Ganz am Rande des Friedhofs. Fast so wie einen räudigen Hund.
Andreas schlug nun endgültig die Augen auf und musterte die Wandschräge über seinem Kopf, die mit Postern von Mariah Carey, DJ Bobo und Dr. Alban behängt war. Helles, vom Schnee reflektiertes Licht fiel durch die Vorhänge des Dachfensters in sein Schlafzimmer und auf den Scheiben zeichneten sich Eisblumen ab. Endlich verstummte das Gebimmel. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. In die Kirche würde er trotzdem nicht gehen. Strobel wartete schon seit Jahren darauf, dass er kam. Als ob das die Tat seiner Mutter wiedergutmachen würde. Aber ihm war eh egal, was der Pfarrer von ihm hielt. Oder von seiner Mutter. Allein dass auch sein Vater so tat, als hätte es sie nie gegeben, schmerzte ihn. Sehr sogar.
Bei dem Gedanken an seinen Vater richtete sich Andreas hoffnungsvoll auf und lauschte. Doch in der kompletten oberen Etage, die er bewohnte, war es still. Ebenso unten im Haus. Müde und enttäuscht schwang er die Beine über die Bettkante und wollte aufstehen, als er unter seinen Füßen einen kantigen Gegenstand spürte. Der neue Walkman. Auch diesen hatte ihm sein Vater vor einem Monat zum Geburtstag geschenkt. Sein Vater. Andreas hielt inne und starrte das Gerät an. Erneut setzte er einen Fuß auf das Gehäuse. Zunächst war es nur ein vorsichtiges Tasten, sodass er die Ecken und Kanten unter seinen Zehen spüren konnte. Dann stand er auf, verlagerte sein Körpergewicht und verstärkte den Druck. Teilnahmslos sah er dabei zu, wie das Kassettenfach unter seinem Fußballen eingedrückt wurde, um dann mit einem lauten Knacken zu zerspringen. Etwas Spitzes stach in seinen Fuß, doch irgendwie fand Andreas den Schmerz befreiend. Er hatte ja noch zwei andere Walkmen. Einer davon lag unausgepackt drüben im Spielzimmer. Jedenfalls soweit er sich erinnerte.
Andreas kickte das kaputte Abspielgerät in eine Zimmerecke, wo es gegen achtlos hingeworfene Comics, Spieleschachteln und Schulbücher stieß. Dann stieg er über die Schultasche hinweg und kämpfte sich auf dem Weg zum Bad an Bergen alter Kleidung, aufgestapelten Heftromanen und TV-Zeitschriften vorbei. Einen Moment lang überlegte er, ob er ›Hyper Hyper‹ von Scooter auflegen sollte. Natürlich möglichst laut, um wach zu werden. Doch dazu hätte er die Silberscheibe erst einmal unter dem großen Haufen anderer CDs finden müssen, die den Weg zu seinem Hi-Fi-Turm versperrten. Ganz obenauf lag stattdessen die aufgeklappte CD-Hülle der Kelly Family, deren Musik er gestern Elke auf Kassette aufgenommen hatte. Sie war leer. Die CD musste also noch im Fach stecken. Andreas hielt die Kelly Family für einen üblen Ausbund an Geschmacksverirrung, doch Elke liebte den Song ›An Angel‹, der derzeit im Radio rauf und runter gespielt wurde. Und Elke war einfach klasse. Mit dem herzförmigen Gesicht, den großen blauen Augen, die manchmal total lieb und dann wieder ganz schön frech blicken konnten, und den langen blonden Haaren sah sie wirklich aus wie ein Engel. Sie war ohne Zweifel das hübscheste Mädchen in ganz Perchtal. Unten in Berchtesgaden, wo sie gemeinsam in eine Klasse gingen, war sie sogar die Hübscheste an der ganzen Schule. Und die wurde immerhin von Schülern besucht, die auch aus Ramsau, Schönau und Bischofswiesen stammten. Einzig Elkes Zwillingsschwester Miriam konnte es mit Elke aufnehmen. Sie sah ihrer Schwester zum Verwechseln ähnlich, und die beiden machten sich oft einen Spaß draus, Mitschüler und Lehrer zu veräppeln, indem sich die eine für die andere ausgab. Doch im Gegensatz zu allen anderen wusste Andreas immer, wann er Elke gegenüberstand. Abgesehen vielleicht von Niklas, aber der zählte nicht. Also hatte er sich neulich nach der Schule aufgemacht, um die blöde CD zu besorgen. Die B-Seite der Kassette war ein Mixtape mit Balladen, die er extra für Elke ausgesucht hatte. Er war schon gespannt darauf, wie sie darauf reagieren würde.
Andreas schlurfte durch den mit Videos und leeren Colaflaschen zugemüllten Flur ins Bad, schob mit dem Fuß die benutzten Handtücher beiseite und warf die neue elektrische Zahnbürste an, die ihm sein Vater letzten Monat mitgebracht hatte. Angeblich hatte dessen neue Freundin sie für ihn ausgesucht. Dabei kannten sie beide sich gar nicht. Die Zahnpasta war fast leer. Andreas starrte die Tube resigniert an und warf sie achtlos in den überfüllten Mülleimer neben dem Waschbecken. Doch statt im Müll landete sie auf dem Boden. Egal, nächste Woche kam ja Roberts Mutter und räumte auf. Gedanklich machte sich Andreas eine Notiz, eine oder zwei neue Tuben auf die Einkaufsliste für seinen Vater zu setzen. Als er fertig mit Zähneputzen war, trat er gelangweilt vor den Spiegel und überprüfte sein Gesicht mit den brauen Augen und dem dunklen Haar auf neue Pickel. Elke meinte, er habe Ähnlichkeit mit David Duchovny aus der neuen Akte-X-Serie, doch er hielt das eher für ein Gerücht. Cooler wäre es gewesen, wenn sie ihn mit Jean-Claude Van Damme verglichen hätte, immerhin trainierte er fast jeden Tag drüben im Kraftraum, den ihm sein Vater eingerichtet hatte. Andererseits war der Belgier eher klein, nach allem, was man so lesen konnte. Er selbst war mit seinen fast 1,84 Metern der Größte in der Klasse. Andreas wunderte sich darüber, dass Elke die neue Mystery-Serie überhaupt kannte. Denn sehen durften sie und ihre Schwester die Folgen zu Hause garantiert nicht. Immerhin, der Pickel auf seiner Stirn war fast weg. Damit stand es heute 3 zu 1 für ihn.
Andreas überlegte sich nun doch, ob er der Kirche einen Besuch abstatten sollte. Sicher waren Elke und Miriam mit ihren Eltern ebenfalls da. Es gab ja kaum eine Gelegenheit, die die strenggläubigen Bierbichlers zum Beten ausließen. Wenn die wüssten, wie viel Zeit ihre Töchter mit ihm, Robert und Niklas verbrachten, würden sie Elke und Miriam bestimmt ins Kloster stecken. Nee, besser er mied die Bierbichlers. Denn wann immer Elkes und Miriams Eltern ihm, Robert oder Niklas über den Weg liefen, stellten sie sich an, als wären er und seine Freunde von der Hölle ausgesandt worden, um ihre Töchter in finstere Abgründe zu zerren. Dabei war Robert streng genommen der Einzige unter ihnen, der so aussah, als stünde er mit dem Satan im Bunde.
Was Robert wohl dazu sagen würde, wenn er ihm erzählte, dass er und Elke sich am Freitag geküsst hatten? Andreas grinste bei dem Gedanken.
Ohne das Lächeln aus seinem Gesicht zu bekommen, schlenderte er nach drüben in sein altes Spielzimmer, wo er gestern Jeans und Pullover hingeworfen hatte. Dort sah es nicht viel anders aus als im Schlafzimmer. Oder im Flur. Oder im Kraftraum neben der Treppe nach unten. Die riesige Platte mit der Märklineisenbahn, die hier noch bis vor einem Jahr gestanden hatte, hatte er damals mit Robert nach oben auf den Dachboden zu den vielen anderen Mitbringseln seines Vaters geschleppt und seitdem nicht mehr angerührt. Doch die Wände und Regale ächzten noch immer unter der Vielzahl anderer Geschenke: Sportgeräte, Romane, Modellflugzeuge, die Kiste mit der alten Autorennbahn, zwei Gitarren, mehrere Baukästen und vieles mehr. Der Boden indes war mit Süßigkeitenpapier und leeren Chipstüten übersät. Immerhin, die abgewetzte Sofaecke mit dem großen Fernseher und seinem PC war einigermaßen frei zugänglich. Dort stand auch sein Super Nintendo, der schon vor zwei Jahren seinen Atari fast gänzlich abgelöst hatte. Die Spielkonsole hatte knapp 300 Mark gekostet, aber für seinen Vater war das ein Klacks. Er und Robert verbrachten viel Zeit mit Spielen wie Super Mario World, Star Wars: X-Wing oder Warcraft. Und er war schon jetzt gespannt darauf, was die Japaner als Neuestes ausgebrütet hatten. In Fernost war gerade die PlayStation erschienen, die seiner Spielekonsole angeblich weit überlegen war.
Andreas dachte kurz darüber nach, ob er seinen Nintendo anwerfen sollte, doch die Aussicht, den Tag wieder mit einem Computerspiel zu beginnen, erfüllte ihn mit Leere. Mehr noch als an anderen Tagen sehnte er sich nach Gesellschaft. Der Wunsch, nicht allein zu sein, wurde plötzlich so übermächtig, dass Andreas fast körperliche Schmerzen verspürte. Er zitterte und dachte unwillkürlich wieder an Elke.
Vielleicht kamen sie und Miriam ja nachher zum See, wo sich die Clique zum Eislaufen treffen wollte? Bereits am Freitag hatte Bürgermeister Schober die zugefrorene Seefläche freigegeben. Hier bei ihm durften sich die Mädchen ja nicht blicken lassen, und bei Robert und Niklas ging es ebenfalls nicht. Aber ob die beiden es ausgerechnet heute schafften, von zu Hause wegzukommen, stand in den Sternen. Heute war schließlich Sonntag.
Immerhin, einen Grund gab es, sich zu freuen. Denn bereits morgen war der fünfte Dezember, der Krampustag. Sozusagen das finstere Gegenstück zum Nikolaustag übermorgen. Und das bedeutete, dass morgen der traditionelle Krampuslauf in Perchtal anstand, ein vorweihnachtlicher Adventsbrauch, bei dem die ganze Ortschaft auf den Beinen war. Vielleicht würden sich ja – wie im letzten Jahr auch – einige Touristen aus Norddeutschland nach Perchtal verirren, denn angeblich kannte man den Krampuslauf oben bei den Fischköppen nicht. Auf jeden Fall würde das wilde Treiben ein ordentlicher Spaß werden.
Bereits Mitte November hatte Roman Köhler eine kleine Gruppe heranwachsender Jungs im Vereinshaus zusammengetrommelt, um die Perchten- und Teufelskostüme der letzten Jahre aus der Mottenkiste zu holen und zu flicken. Der Mittdreißiger war in Berchtesgaden ihr Vertrauenslehrer und unterrichtete sie dort in Sport und Geschichte. In seiner Freizeit aber war er ein lässiger Typ, der ein bisschen dafür sorgte, dass die Perchtaler Jugend nicht an Langeweile zugrunde ging. Im Sommer organisierte er für den Ferienpass Zeltlager, Ausflüge und die berühmten Wasserschlachten auf dem Perchtensee. Und hin und wieder schleifte er die Jugendlichen in das kleine Heimatkundemuseum nahe dem Bürgermeisteramt, das sonst nur für Touristen interessant war. Er hielt Traditionen für wichtig, dabei stammte Köhler nicht mal von hier, sondern war vor einigen Jahren aus Salzburg zugezogen.
Die Pass, wie man die Gruppe aus Nikolaus und Krampussen bezeichnete, die morgen im Ort ihr Unwesen treiben würde, bestand aus Köhler selbst und fünf Jungen. Darunter leider auch Konrad Toschlager, der Sohn des Schlachters, und seine beiden bekloppten Freunde Wastl und Lugge, die zwei Jungs aus dem Vorjahr abgelöst hatten. Auch Andreas und Robert hatten einen der begehrten Plätze als Krampus ergattert, und das, obwohl es noch einige andere hoffnungsvolle Kandidaten gegeben hatte. Doch das ›Meyenberger Sägewerk‹ seines Vaters war der größte Arbeitgeber in Perchtal, darauf musste auch Köhler Rücksicht nehmen.
Was Niklas betraf, der war leider zu dick und unsportlich. Der wäre unter dem Gewicht der schweren Ganzkörperkostüme schon nach wenigen Metern zusammengebrochen. Wer einen Krampus gab, der musste schon ordentlich Kondition mitbringen. Andreas hatte die schwarzen Ziegenfellumhänge samt den hölzernen Teufelsmasken mit den echten Widderhörnern und den schweren Kuhglocken am Gürtel nie gewogen, aber er schätzte, dass jedes der Kostüme gut und gern zwölf Kilo auf die Waage brachte. Roman Köhler selbst wollte es sich natürlich nicht nehmen lassen, auch dieses Jahr wieder den gütigen Nikolaus zu geben, der die Kinder am Straßenrand beschenkte. Ihnen, den anderen, war es bestimmt, die Schaulustigen zu erschrecken und ihnen einen Klaps mit der Weidenrute zu verpassen, wenn sie nicht beiseitesprangen. Die Kleinsten fingen dann manchmal an zu weinen, wenn die schrecklichen Krampusse auf sie zukamen, aber das gehörte dazu. Richtig cool war es, dass man den Mädels im Ort ordentlich auf den Hintern klatschen durfte, ohne dass diese später sagen konnten, wer von den Jungs die Verantwortung dafür trug. Andreas feixte innerlich. Er hatte zwar erst einen Krampuslauf hinter sich, dennoch fühlte er sich bereits wie ein Profi. Das Beste von allem aber war, dass sein Vater versprochen hatte, morgen zu kommen. Und diesmal wollte er seine Zusage auch halten.
Andreas suchte nach der Jeans und seinem Pullover. Obwohl er gestern vor dem Schlafengehen gelüftet hatte, stank es im Zimmer noch immer schwach nach Ravioli und Roberts Zigaretten. Andreas ignorierte den Teller mit den eingetrockneten Tomatensoßeresten vor dem Fernseher ebenso wie den überfüllten Aschenbecher neben dem Computer. Endlich fand er die Kleidungsstücke, und wie so oft erwischte er sich bei dem heimlichen Gedanken, dass er es gut fände, wenn ihm mal jemand für sein Chaos die Leviten lesen würde. Egal. Er wollte, dass der Tag schön wurde.
Andreas hatte sich gerade fertig angezogen, als er neben der Spielekonsole die drei Päckchen mit dem Juckpulver sah, die er unter der Woche in Berchtesgaden gekauft hatte. Richtig, er und Robert hatten ja noch etwas vor! Ein gemeines Grinsen kräuselte Andreas’ Lippen, und sein Entschluss stand fest: Er würde schnell frühstücken und dann Robert aufsuchen. Sie mussten die Sache noch heute durchziehen, denn morgen war es zu spät dafür. Andreas verstaute die Tütchen gerade in seiner Hosentasche, als er unten im Haus einen quietschenden Laut vernahm. Es klang irgendwie unangenehm, so als ob Nägel über Glas fuhren.
War sein Vater etwa doch da?
Mehr springend als gehend schlüpfte Andreas in ein altes Paar Socken und flitzte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. »Papa?«
Doch unten war es so still wie immer.
Andreas eilte in die Küche und sah sich um. Auf dem Küchentisch stand eine Einkaufstüte mit neuen Mikrowellengerichten, daneben lag ein Briefumschlag. Er öffnete ihn und fand darin zwei Fünfzigmarkscheine sowie einen Notizzettel mit einer schludrigen Schrift, die Andreas leicht als die seines Vaters identifizierte:
Konnte nur auf einen Sprung vorbeikommen. In der Tüte ist was zum Essen. Muss sofort wieder zurück nach Berchtesgaden. Weiß leider noch nicht, ob ich es morgen schaffe.
Enttäuscht ließ Andreas den Zettel sinken. Sein Vater hatte nicht einmal mit ›Papa‹ unterzeichnet, so wie er es früher getan hatte. Scheiße, er hatte ihm doch fest in die Hand versprochen, dass er morgen beim Krampuslauf dabei sein würde!
Erst jetzt entdeckte er den funkelnagelneuen Eishockeyschläger, der neben dem Küchentisch lehnte. Er bestand nicht etwa aus Holz, sondern aus dem neuen Verbundstoff Karbon. Andreas nahm ihn zur Hand und untersuchte ihn. Ganz so, wie es die Sportzeitschriften angepriesen hatten, wies er tatsächlich keine Klebestellen auf und bestand komplett aus einem Stück. Angeblich absorbierte er Vibrationen weit besser als die herkömmlichen Schläger und verringerte dadurch die Verletzungsgefahr. Und doch vertrieb auch dieses neue Geschenk seines Vaters nicht das schale Gefühl von Enttäuschung, das Andreas quälte.
Er stellte den Schläger zurück und fragte sich wieder, was das für Geräusche gewesen waren, die er oben gehört hatte. War sein Vater etwa noch da? Aufgeregt stürmte er zur Haustür; sie war abgeschlossen. Er schlüpfte in ein Paar Pantoffeln, fischte aufgewühlt nach dem Hausschlüssel in seiner Lederjacke neben dem Gäste-WC und sperrte auf. Draußen schneite es; kalte Luft schlug ihm entgegen, die nach dem Harz frisch geschlagener Bäume roch. Hastig sah er sich auf dem großen Vorhof des Sägewerks mit seinen Lager- und Werkhallen um. Der Platz war wie erwartet verlassen und bis hinüber zu der mit Planen abgedeckten Stellfläche mit den angelieferten Baumstämmen mit einer blütenweißen Decke Neuschnee überzogen. Obwohl, das stimmte nicht ganz. Einige Meter vor der Halle mit den Gatter- und Bandsägen waren Fußabdrücke zu sehen, die wie aus dem Nichts kommend auf das Haus zuführten. Doch nicht zum Eingang, sondern nach nebenan zu der Fahrradkellertreppe. Andreas schüttelte irritiert den Kopf und rannte ungeachtet der Kälte an einem der zugeschneiten Lkws vorbei, hinüber zu der Einfahrt zwischen der Rundholzsortieranlage und der Trockenhalle. Erst dort hielt er inne. Auf der Schneedecke zeichneten sich vage die Reifenspuren des Ferraris ab, den sein Vater fuhr. Sie reichten hinüber bis zum offenen Tor des Sägewerks, und auch sie waren bereits ein gutes Stück unter dem Neuschnee verschwunden. Sein Vater war also bereits vor einigen Stunden da gewesen. Und das, ohne ihn zu wecken. Fast so, als wäre er vor ihm geflüchtet …
Andreas spürte, wie ihm die Augen brannten, während er mutterseelenallein in der Kälte stand und auf die Einfahrt blickte. Schnee drang ihm in Nacken und Pantoffeln, und ihm wurde kalt. Am liebsten hätte er den elenden Zettel in seiner Hand zerknüllt, doch er brachte es nicht übers Herz. Mit den Tränen kämpfend schleppte er sich zum Haus zurück, warf die Tür hinter sich zu und stiefelte erneut in die Küche. Dort schob er einen Hocker vor den alten Küchenschrank, stellte sich drauf und kramte den Brotkorb hervor, den er dort oben deponiert hatte. Darin lagen seine Schätze. Die einzigen Gegenstände im ganzen Haus, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Andreas legte den Zettel seines Vaters zu den vielen anderen, die sich darin über die Jahre angesammelt hatten. Manchmal, wenn er die vielen Notizen seines Vaters hervorkramte und erneut las, überkam ihn ein heimeliges Gefühl, fast so, als redete sein Vater wirklich mit ihm. Und in diesen Momenten glaubte er sogar selbst daran, dass er ihm noch etwas bedeutete.
Und doch blieb die Frage, was das quietschende Geräusch vorhin verursacht hatte. Andreas war plötzlich unbehaglich zumute. Dabei dachte er, seine Angst, allein in diesem großen alten Haus zu leben, schon vor langer Zeit überwunden zu haben. Vorsichtig schlich er zurück in den Gang mit der Treppe nach oben und beäugte misstrauisch die Tür zum Wohnzimmer. Sie stand einen winzigen Spaltbreit offen. Andreas gab sich einen Ruck und stieß sie auf. Wie immer war der Raum überhitzt, denn die Heizung funktionierte hier nicht richtig. Schwülwarme Luft schlug ihm entgegen, die leicht nach brackigem Wasser roch. Rechts von ihm, neben dem Wohnzimmerschrank aus echter Eiche, blubberte sein großes Aquarium, das inzwischen mit Algen nur so übersät war. Sein Vater hatte es ihm vor zwei Jahren geschenkt. Fische lebten darin nur noch wenige. Doch für das Aquarium hatte Andreas kein Interesse. Sein Augenmerk galt vielmehr der Glasfront hinter der ledernen Sofagarnitur, durch die man im Sommer einen großzügigen Blick auf den verwilderten Garten werfen konnte. Die großen Fenster waren komplett beschlagen … oder hätten es zumindest sein müssen. Tatsächlich aber zeichneten sich auf ihnen große Buchstaben ab, die langsam an Kontur verloren.
Fassungslos sah er sich im Raum um, doch er war leer, und auch die Gartentür war zugesperrt. Dabei gab es keinen Zweifel: Jemand war noch vor wenigen Minuten hier gewesen und hatte die Buchstaben von innen auf das Glas gemalt.
Auf den Scheiben stand: DU BIST TOT!
Leise rieselte der Schnee. Robert stand regungslos am zugigen Badfenster und sah den dicken Flocken dabei zu, wie sie vom Himmel herabsanken und die Gasse vor dem Haus gleichsam in ein weißes Leichentuch hüllten. Robert mochte den Vergleich. Das Straßenpflaster, die Dächer und Fenstersimse der Nachbarhäuser, alles wirkte unter der kalten Pracht so unbefleckt und rein. So friedlich und erstarrt. Irgendwie … leblos.
Schon seit Wochen war es in Perchtal bitterkalt. Abgesehen von dem seltsamen Wärmeeinbruch vor einer Woche, der mit seinem Schmelzwasser dafür gesorgt hatte, dass die Bäche der Gegend über die Ufer getreten waren, versanken die Täler und Berge des Berchtesgadener Landes nun wieder unter dicken Lagen Schnee. Wenn es weiter so schneite, würde der Ort bald von der Außenwelt abgeschnitten sein. Das war auch letztes Jahr schon passiert. Nicht dass er Berchtesgaden oder seine Schule dort so prickelnd fand, aber besser als das Leben in diesem Kaff war beides allemal.
Von irgendwoher war das leise Kratzen einer Schneeschippe zu hören. Robert vernahm das Geräusch, obwohl im Hintergrund die düstere Musik von Dead Can Dance den Flur erfüllte. Eigentlich stand er auf härtere Gruppen wie Darkthrone, Immortal oder Burzum, doch Dead Can Dance gehörte zu seinem Morgenritual wie für andere das Frühstück. Die elegischen Klänge schienen dem Reich der Toten zu entsteigen. Tatsächlich kamen sie ganz profan von drüben aus seinem Zimmer, denn dort lief der Gettoblaster, den ihm Andreas vor einem halben Jahr vermacht hatte. Die Lautstärkeregler waren gerade so weit aufgedreht, dass er seine Mutter nicht wach machte. Dabei bezweifelte Robert, dass sie es gestern Abend noch bis in ihr Schlafzimmer geschafft hatte. Zugleich war die Musik so laut, dass sie andere etwaige Geräusche im Haus übertönte. Das war besser so, denn wenigstens der Morgen war die Zeit, die ihm allein gehörte.
Widerwillig löste sich Robert vom Fenster und trat vor den Badezimmerspiegel, unter dem sorgsam all die Haarspraydosen und Haarfärbemittel neben einer unruhig flackernden Grabkerze aufgereiht waren, die er benötigte, um sich aufzustylen. Das schwarze Haar auf seinem rasierten Schädel, das er normalerweise zu einem Irokesenschnitt hochtoupierte, hing verfilzt in sein hageres Gesicht, und seine blauen Augen sahen irgendwie rot umrändert aus. Cool. Mit etwas Glück blieb das so.
Dummerweise hatte er sich von Andreas dazu überreden lassen, bei diesem ollen Krampuslauf morgen mitzumachen. Dazu gehörten heute Abend eine Kostümprobe und eine letzte Einweisung, auf die Roman Köhler bestand, der die Pass organisierte. Der Typ war zwar für einen Lehrer ganz in Ordnung, doch Robert nervte, dass die Teufelsmasken seinen ganzen Style zerstörten. Außerdem schwitzte man in den Ziegenfellkostümen, dass es nicht zum Aushalten war. Das Einzige, was daran noch okay war, war der Umstand, dass die Felle schwarz waren. Der Rest war echt Kinderfasching. Und das, obwohl sich die meisten anderen Gleichaltrigen im Ort wahrscheinlich ein Bein ausgerissen hätten, um zur Pass zu gehören. Aber er war nicht wie die anderen. Er war ja nicht einmal so wie die älteren Punks in Berchtesgaden. Oder die paar Gruftis, die es an seiner Schule gab. Er war eben er. Irgendwas dazwischen. Egal. Leider stand Andy voll auf den Krampuslauf, und Andy war nun mal sein bester Kumpel. Und irgendwo hatte er ja auch recht. Sie konnten schließlich Konrad Toschlager und seinen spackigen Freunden nicht einfach so das Feld überlassen.
Mit dem Gedanken an ihre Erzfeinde entschloss sich Robert zu einer kurzen Katzenwäsche. Aufstylen lohnte sich heute nicht. Kurz entschlossen verzichtete er daher auf Haarwachs und Spray und kämmte sich den schwarzen Haarschopf streng nach links. Anschließend ordnete er die Dosen, Bürsten und Kämme, zündete sich eine bereitliegende Kippe an und ging rüber in sein Zimmer. Es war ganz schwarz gestrichen, und auch hier brannten zwei Kerzen. Schließlich war heute der zweite Advent, obwohl er selbst Andy gegenüber niemals zugegeben hätte, dass das der Grund dafür war. Der Schein der Flammen flackerte rhythmisch im Takt von ›Mother Tongue‹, das jetzt aus den Boxen dröhnte. Robert nahm einen weiteren Zug und betrachtete die neuen Kinoplakate an der Wand gegenüber der Zimmertür: Nightmare before Christmas, The Crow und Pulp Fiction. Robert hatte in Berchtesgaden Bekanntschaft mit dem Vorführer eines Kinos geschlossen und war insgeheim ziemlich stolz drauf, dass er etwas besaß, das Andy nicht hatte. Dessen Vater war zwar der reichste Mann in Perchtal und Andy fehlte es an nichts, aber Plakate wie diese konnte er ihm nicht besorgen. Was alles andere betraf, hätte Robert jederzeit mit Andy getauscht. Vermutlich sogar mit dessen toter Mutter. Man munkelte im Ort, dass sie sich vor ein paar Jahren mit der Jagdflinte ihres Mannes den Kopf weggeblasen hatte. Warum, das wusste er nicht. Aber prinzipiell war das natürlich schon ein cooler Abgang. Besser als hier in Perchtal darauf zu warten, von der Langeweile erstickt zu werden. Andy sah das logischerweise anders. Trotzdem beneidete Robert ihn manchmal um sein Leben.
Es wurde Zeit.
Meine Güte, wie er das hasste.
Robert drückte die Kippe in seinem Totenkopfaschenbecher aus und stellte ihn zurück auf das Regal mit den Musikkassetten, die ihm Andy aufgenommen hatte. Robert hatte sie nach Alphabet sortiert. Ganz links Blasphemy, ganz rechts Rotting Christ. Er schätzte Ordnung. Sie machte ihn ruhiger. Sogar sein Bett hatte er bereits gemacht. Dass Andy seine eigene Bude so versiffen ließ, hatte Robert nie verstehen können. Aber Andy war eben Andy. Mit ihm wurde es wenigstens nicht langweilig. Dafür beschwerte sich sein Freund auch nicht, dass er seit seinem 13. Lebensjahr rauchte. Das war jetzt zwei Jahre her. Robert konnte sich die Qualmerei zwar eigentlich nicht leisten, aber auch die Kippe vor dem Frühstück – wenn seine Mutter zur Abwechslung mal dran dachte, Essen zu machen – gehörte inzwischen zu seinem morgendlichen Ritual. Und Rituale waren wichtig.
Robert klappte das Zimmerfenster einen Spaltbreit auf, sodass der Rauch abziehen konnte. Das alte Thermometer am Fensterbrett zeigte minus sechs Grad Celsius an. Trotz der Kälte war sich Robert sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Andy hier aufkreuzte. Eigenartig, heute fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sein Freund ganz schön anhänglich sein konnte. Hätte er einen Super Nintendo und eine so coole Bude für sich allein, dann würde er den lieben langen Tag Games zocken. Unwillkürlich warf Robert einen Blick auf den schlanken Kirchturm, der wie ein mahnender Finger über den verschneiten Hausdächern Perchtals aufragte. Elke und Miriam langweilten sich jetzt sicher mit ihren Eltern beim Sonntagsgottesdienst. Wenn diese religiösen Spinner ihre Töchter in seiner Gesellschaft erblickten, dann gab es jedes Mal Ärger. Dass die hübschen Zwillingsschwestern bei alledem normal geblieben waren, grenzte fast an ein Wunder. Erst letzte Woche hatte Miriam ihnen anvertraut, dass sie und Elke aus Perchtal abhauen wollten, sobald sie beide volljährig waren. Er und Andy hatten den beiden bereits angeboten, eine WG zu gründen, wenn es so weit war. Vielleicht in Nürnberg. Das war weit genug weg. Doch bis dahin war es noch einige Zeit hin. Drei scheißlange Jahre. Niklas war wahrscheinlich der Einzige von ihnen, der hier in Perchtal versauern würde. Die arme Sau wurde von seiner Mutter ja fast zu Tode gemästet. Niklas’ Eltern gehörte die Bäckerei im Ort, und so gab es bei ihm zu Hause keinen Mangel an Süßem. Das war zwar gut für Andy, die Mädels und ihn selbst, aber schlecht für Niklas. Denn wenn der so weiterfraß, dann war er vermutlich schon bald so dick, dass er nicht mehr durch eine Tür passte. Dabei war Niklas echt schlau. Abgesehen von Sport hatte er überall Einser in seinem Zeugnis stehen. Ohne seine Nachhilfestunden hätten er und Andy die letzte Klasse garantiert nicht geschafft.
Robert schloss das Fenster wieder, gürtete sich die schwarze Lederhose umständlich mit einem seiner Nietengürtel und schlüpfte in die Doc Martens, die sich Andy für ihn bei seinem Vater bestellt hatte. Die Stiefel waren Roberts ganzer Stolz, und manchmal verbrachte er den ganzen Nachmittag damit, sie zu putzen. Seine Mutter hätte die Kohle für Stiefel wie diese nie zusammengebracht. Taschengeld hatte Robert gerade so viel, dass es zweimal die Woche für Drehtabak bei Aldi reichte. Obwohl, eigentlich musste er sich das Taschengeld selbst vom Haushaltsgeld abzweigen. Seine Mutter vergaß ihn regelmäßig. Wenn sie überhaupt Geld für ihn überhatte.
Robert wechselte den Totenkopfstecker an seinem rechten Ohrläppchen gegen eine übergroße Sicherheitsnadel aus und atmete noch einmal tief ein. Er wusste selbst, dass er versuchte, Zeit zu schinden. Und doch würde ihn das nicht davor bewahren, endlich rüberzugehen und die Sache hinter sich zu bringen. Möglichst bevor Andy hier auftauchte.
Er schaltete den Gettoblaster ab, blies die Kerzen in Zimmer und Bad aus und stiefelte in den Flur. Behutsam klopfte er gegen die Schlafzimmertür seiner Mutter und öffnete sie. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen, die unangenehm nach Schweiß roch. Im Halbdunkel konnte er das Bett seiner Mutter ausmachen. Es stand direkt neben dem alten Schminktisch, auf dem schemenhaft Lockenwickler und Bierdosen zu sehen waren. Schuhe, Blusen und Röcke lagen achtlos herum, und auf einem Stuhl neben dem Kleiderschrank stapelte sich zwei Monate alte Bügelwäsche. Aber das hier war auch das einzige Zimmer im Haus, das aufzuräumen sich Robert weigerte. Viel entscheidender war, dass das Bett leer war. Scheiße, er hatte es geahnt.
Robert zog die Tür missmutig zu und ging hinüber zum Wohnzimmer, von wo ihm das leise Geräusch des laufenden Fernsehers entgegenschallte. Auf SAT1 lief die Wiederholung vom Glücksrad. Der Geruch nach billigem Weinbrand wurde intensiver, außerdem mischte sich in den Alkoholdunst ein säuerlicher Gestank, der Robert nur zu vertraut war. Kotze.
Ihm wurde schlecht und er hielt die Luft an, als er das Zimmer betrat. Als Erstes zog er die zerschlissenen Vorhänge zurück, sodass Licht ins Zimmer fiel. Dann riegelte er das Fenster auf und öffnete es. Kalte klare Luft drang ins Zimmer. Robert war egal, dass ihn fröstelte. Auf dem Wohnzimmertisch standen wie immer einige Flachmänner sowie eine halb volle Flasche Mariacron. Eine weitere Flasche mit Weinbrand hielt seine Mutter in der Hand. Sie saß noch immer angezogen im Fernsehsessel und war nur notdürftig mit einer Wolldecke bedeckt. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht lehnte schlaff gegen die Kopflehne, die Augen waren geschlossen, und im linken Mundwinkel klebten hervorgewürgte Essenreste, die auch ihren blauen Arbeitskittel an der Schulter bedeckten.
Robert konnte nur raten, wann genau seine Mutter mit dem Saufen angefangen hatte. Vermutlich um sein fünftes oder sechstes Lebensjahr herum, als sein Vater abgehauen war. Er kannte ihn bloß von Fotos. Wenigstens gehörte ihnen das Haus, in dem sie lebten, sodass sie keine Miete zahlen mussten. Was den Rest betraf, brachte seine Mutter sie beide irgendwie mit Putzen über die Runden. Montags bis freitags schuftete sie bei allen im Ort, die sich eine Putzfrau leisten konnten. Zu Hause musste Robert ran. Das hatte angefangen, als er acht geworden und seine Mutter erstmals so blau gewesen war, dass sie seinen Geburtstag vergessen hatte. Inzwischen war er aber ganz gut organisiert. Organisation war überhaupt alles, wie er schon vor langer Zeit festgestellt hatte. Wenigstens hatte seine Mutter die Sauferei unter der Woche wieder einigermaßen im Griff. Doch spätestens ab Freitag war dann Ende im Gelände. Sie schüttete sich dann drei Tage lang so zu, dass er bereits einige Male den Notarzt unten aus Berchtesgaden hatte rufen müssen, um ihr den Magen auspumpen zu lassen. Jeder in Perchtal wusste, wie es um seine Mutter stand, doch keiner sagte etwas. Die Blicke, die man ihm auf der Straße zuwarf, sprachen natürlich trotzdem Bände. Fuck off!
Robert ging in die Küche, um einen Eimer mit warmem Wasser und einen Lappen zu besorgen. Mit beidem bewaffnet, trat er zu seiner Mutter, knipste den Fernseher aus und wischte ihr das Erbrochene von den Lippen. Er ekelte sich.
»Stefan …?«, lallte seine Mutter. Sie öffnete die Lider und starrte ihn mit glasigem Blick an.
»Nein, Mama. Ich bin’s. Robert.« Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn manchmal mit falschem Namen ansprach. »Du bist wieder vor dem Fernseher eingeschlafen. Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«
»Tut mir leid … Bub.« Seine Mutter kam nur langsam wieder zu sich und starrte verständnislos den Lappen in Roberts Hand an. Robert sah, dass sie den Inhalt der Flasche in ihrer Hand beim Schlafen verschüttet hatte. Rechts vom Sessel hatte sich eine Lache mit Weinbrand bis unter die Glasvitrine mit den Steinfiguren hin ausgebreitet, die sie früher gesammelt hatte. »Am besten, du gehst rüber ins Bad und wäschst dich, Mama. Du riechst furchtbar. Anschließend kannst du ja ins Schlafzimmer gehen und dich noch ein bisschen ausruhen.«
»Ja … ja … Gestern ist es wohl etwas spät geworden.« Seine Mutter rülpste, und Robert wich vor ihrem Atem zurück. Dann mühte sie sich umständlich hoch, hielt sich an der Lehne fest und betrachtete ihren Sohn auf eine Weise, die Robert stets naheging. »Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, Bub«, wisperte sie trunken. »Wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn du dich nur nicht so hässlich machen würdest.«
Er hasste es, wenn sie seinen Vater erwähnte. »Wir müssen allein klarkommen, Mama. Das weißt du doch.«
»Ja. Nein. Ich meine …« Seine Mutter fuhr mit der Hand fahrig durch die Luft, rang nach Worten und beschrieb eine Geste, die klarstellte, dass sie vergessen hatte, was sie sagen wollte. »Ich geh rüber. Ich … Ich verspreche dir auch, nachher war Schönes zu kochen.«
»Klar, Mama.« Robert wusste, was er von dem Versprechen zu halten hatte. Außerdem hatte er gestern schon festgestellt, dass sie kaum noch etwas Ordentliches dahatten. Er ärgerte sich über sich selbst, denn in der Haushaltsdose drüben in der Küche befand sich sogar ein Zehner, wie er eben festgestellt hatte. Eigentlich erledigte er die Einkäufe, schon um auf Nummer sicher zu gehen, dass seine Mutter ihr Verdientes nicht wieder in Fusel investierte. Das hatte er nun davon. Er und Andy hatten ja gestern unbedingt den ganzen Tag damit verplempern müssen, Spiele zu zocken. Jetzt war Sonntag, und die Läden waren geschlossen.
Robert sah seiner Mutter dabei zu, wie sie in Richtung Flur torkelte, dann sammelte er die leeren Flaschen auf dem Wohnzimmertisch ein und stellte sie zu den anderen in die Küche. Drüben im Bad rauschte die Klospülung. Hoffentlich säuberte seine Mutter auch ihren Kittel. Er war noch nicht dazu gekommen, den anderen zu waschen. Anschließend besann er sich wieder des Putzeimers und eilte zurück, um die Weinbrandlache am Boden aufzuwischen. Inzwischen war es im Wohnzimmer so kalt, dass er sehen konnte, wie sein Atem zu kleinen Wölkchen gefror. Egal. Hauptsache, der schreckliche Geruch verflog.
Robert warf den Wischlappen zurück in den Eimer und sah zu seinem Erstaunen, dass der Fernseher wieder lief. Nur dass auf der Mattscheibe grauer Schnee zu sehen war. Offenbar war die Antenne oben auf dem Dach von den Schneemassen beschädigt worden. Robert knipste das Gerät abermals aus und schloss das Wohnzimmerfenster nun doch. Anschließend entsorgte er das Wischwasser im Küchenwaschbecken und sah dabei zu, wie es gurgelnd ablief.
Drüben aus dem Wohnzimmer war plötzlich ein Knacken zu hören, das so klang wie brechendes Eis. Im nächsten Moment schallte ein singender Kinderchor bis hinüber in die Küche. Die blassen Stimmchen klangen seltsam verzerrt, so als hätte jemand einen Radiosender falsch eingestellt: Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all’ …
Robert eilte irritiert aus der Küche und sah durch das Milchglas der Haustür, dass Andy in diesem Moment draußen nach der Klingel tastete. »Warte, ich komme gleich!«
Abermals betrat Robert das Wohnzimmer – und blieb mit offenem Mund stehen. Der Fernseher lief schon wieder, doch noch immer hatte er kein richtiges Bild. Stattdessen zeichneten sich im Geflimmer auf der Mattscheibe die vagen Konturen einer hohlwangigen Bischofsgestalt samt Mitra und Hirtenstab ab, die ihn aus tief eingesunkenen Augen anstarrte, während in den Lautsprechern und begleitet von sphärischen Pfeiftönen das Kinderlied verklang: … So nimm unsre Herzen zum Opfer denn hin; wir geben sie geeeherne mit fröhlichem Sinn – und mache sie heilig und selig wie dein’s, und mach sie auf eeewig mit deinem nur eins …
Robert langte nach der Fernbedienung und klickte sich durch die Programme. Überall das gleiche Bild. Teufel, was war denn heute mit dem verdammen Apparat los? Plötzlich war da schon wieder nur noch Schneegeflimmer. Doch es färbte sich zunehmend rot. Robert rieselte es eiskalt den Rücken herunter, als abermals das Antlitz des unheimlichen Bischofs auf der Mattscheibe erschien. Ihm war, als stiege die Gestalt aus einem Meer von Blut auf. Sie kam näher und immer näher. Das Gesicht wurde dabei größer und immer größer … Mit einem lauten Aufschrei schaltete Robert das TV-Gerät aus und warf die Fernbedienung auf die Couch. Die Stille, die das Zimmer umfing, war fast noch unheimlicher als das eben Erlebte. Doch das war es nicht allein. Seine Sinne mussten ihm einen Streich gespielt haben. Anders konnte es nicht sein.
Robert flüchtete in Richtung Haustür, wo er sich hastig Schal und Lederjacke überstreifte und nach den Schlittschuhen und dem Feldhockeyschläger griff, die er bereits gestern dort deponiert hatte. Ohne zu überprüfen, ob seine Mutter das Bad inzwischen verlassen hatte, rief er einen Abschiedsgruß und betrat die verschneite Gasse vor dem Haus.
Dort rieselten Schneeflocken vom Himmel. Andy stand eingemummelt vor der gegenüberliegenden Hauswand neben einer Mülltonne, auf der sein eigenes Paar Schlittschuhe lag. Außerdem hatte er natürlich richtige Eishockeyschläger dabei. Davon sogar gleich zwei, wobei einer neu war. Ohne Vorwarnung warf er einen Schneeball nach ihm, dem Robert gerade noch ausweichen konnte.
»He, heute bist du ja mal richtig schnell. Ich hatte schon befürchtet, du brauchst noch ’ne Stunde, um dich aufzustylen.«
»Ich bin immer schnell«, gab Robert lahm zurück und schlug den Kragen hoch. »Wieso bist du schon so früh hier?«
Seltsamerweise verzichtete Andy auf einen weiteren lockeren Spruch. »Ich dachte mir, dass wir die Sache im Vereinshaus durchziehen, solange alle beim Mittagessen sind. Du hast doch den Schlüssel dabei, oder?«
Robert kramte den Nachschlüssel zum Vereinshaus fahrig aus der Jackentasche und präsentierte ihn seinem Freund. »Ja, kann losgehen.«
»Alles klar.« Andy versuchte sich an einem lässigen Grinsen, doch es wirkte aufgesetzt, so als wäre er nicht ganz bei der Sache. »Konrad wird den diesjährigen Krampuslauf garantiert nicht so schnell vergessen, glaub mir.« Er griff sich seine Sachen, klopfte Robert kameradschaftlich auf die Schulter, und sie stapften gemeinsam durch den Schnee in Richtung Ortsmitte. Und doch wollte sich bei Robert keine rechte Vorfreude auf den geplanten Streich einstellen. Er musste an das zurückdenken, was er auf dem Bildschirm zu sehen geglaubt hatte. Die Sache war natürlich völlig verrückt, aber das Gesicht der seltsamen Bischofsgestalt im Fernseher hatte Schlieren bekommen und sich verändert. Robert fand einfach keine Erklärung für das soeben Erlebte. Am Ende hatte das Gesicht so ausgesehen wie sein eigenes.
»Vater im Himmel, steh uns bei. Hilf unseren Töchtern, dass ihre Seelen nicht der Versuchung anheimfallen. Du … Du hast unsere Gebete doch schon einmal erhört. Als die Dunkelheit in unseren Herzen am schwärzesten und unsere Verzweiflung am größten war. Hilf ihnen, der Sünde zu widerstehen. Hilf ihnen, ein Leben nach deinen Geboten zu leben.«