Das 20. Opfer - James Patterson - E-Book

Das 20. Opfer E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Drei Städte. Drei Kugeln. Drei Morde ... Der 20. Fall für den »Women's Murder Club« von SPIEGEL-Bestsellerautor James Patterson!

Perfekt synchronisierte Morde erschüttern die Großstädte Los Angeles, San Francisco und Chicago. Sergeant Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin müssen schleunigst herausfinden, wer hinter diesen perfiden und eiskalt ausgeführten Taten steckt. Und vor allem: was die Opfer miteinander verbindet. Anscheinend waren sie allesamt in kriminelle Aktivitäten verwickelt … Mit der wachsenden Zahl der Morde steigt auch die Angst und morbide Faszination der Öffentlichkeit an dem Fall, was Debatten im ganzen Land provoziert. Sind die Täter, die gezielt Verbrecher ins Visier nehmen, Helden oder Bösewichte? Und wer gerät als nächstes in deren Fadenkreuz?

Verpassen Sie auch nicht die anderen Fälle des »Women's Murder Club«! Jeder hoch spannende Band kann eigenständig gelesen werden.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Perfekt synchronisierte Morde erschüttern die Großstädte Los Angeles, San Francisco und Chicago. Sergeant Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin müssen schleunigst herausfinden, wer hinter diesen perfiden und eiskalt ausgeführten Taten steckt. Und vor allem: was die Opfer miteinander verbindet. Anscheinend waren sie allesamt in kriminelle Aktivitäten verwickelt … Mit der wachsenden Zahl der Morde steigt auch die Angst und morbide Faszination der Öffentlichkeit an dem Fall, was Debatten im ganzen Land provoziert. Sind die Täter, die gezielt Verbrecher ins Visier nehmen, Helden oder Bösewichte? Und wer gerät als Nächstes in deren Fadenkreuz?

Autor

James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« erreichen durchweg die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. Regelmäßig tut er sich für seine Bücher mit anderen namhaften Autoren oder Stars zusammen wie mit Dolly Parton für den »New York Times«-Nr.-1-Bestseller »Run, Rose, Run«. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N.Y.

Die »Women’s Murder Club«-Reihe bei Blanvalet:

Der 1. Mord · Die 2. Chance · Der 3. Grad · Die 4. Frau · Die 5. Plage · Die 6. Geisel · Die 7 Sünden · Das 8. Geständnis · Das 9. Urteil · Das 10. Gebot · Die 11. Stunde · Die Tote Nr. 12 · Die 13. Schuld · Das 14. Verbrechen · Die 15. Täuschung · Der 16. Betrug · Die 17. Informantin · Die 18. Entführung · Das 19. Weihnachtsfest · Das 20. Opfer

Weitere Bände in Vorbereitung

James Patterson

mit Maxine Paetro

Das 20. Opfer

Thriller

Deutsch von Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The 20th Victim« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York.

Die Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktional. Ähnlichkeiten zu realen Personen, lebend oder verstorben,wären rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by James Patterson

This edition arranged with Kaplan/DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Redaktion: Gerhard Seidl, text in form

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Hayden Verry / Arcangel Images; mauritius images (Westend61 / Tom Hoenig; Pixtal / CD231027)

SH · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-32188-8V001

www.blanvalet.de

Gewidmet all den Polizeibeamt*innen in den Vereinigten Staaten, die sich selbst in Gefahr begeben, um die anderen zu beschützen

1

Es war Freitagmorgen. Cindy Thomas saß in ihrem Auto und quälte sich durch den Berufsverkehr zu ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion des San Francisco Chronicle. Ihr Polizeifunk-Scanner war eingeschaltet.

Während der letzten Viertelstunde hatten die Funkzentrale und die Streifenwagen nur alle möglichen Routinemeldungen abgesetzt. Aber dann kam Bewegung in die Sache.

Mit einem Mal begann ihr Scanner, ein Whistler TRX-1, wie wild zu knistern und alle möglichen, einander überlagernden Funksprüche auszuspucken. Als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Die verschiedensten Vierhunderter-Codes überschwemmten den Funkkanal, und Cindy konnte jeden einzelnen zuordnen – 406: Beamter benötigt Notversorgung. 408: Notarztwagen erforderlich. 410: Angeforderte Verstärkung ist unterwegs.

Cindy war investigative Journalistin und eine erstklassige Polizeireporterin. Obwohl klar war, dass ihre Unterstützung dort bestimmt nicht gefragt war, machte sie sich sofort auf den Weg. Die heißesten Tipps waren immer noch die direkt aus dem Scanner.

Und ihrer hatte soeben Schüsse vor einem Taco King in der Duboce Avenue gemeldet. Cindy bog nach rechts ab in die Otis Street und nahm Kurs auf das Duboce-Dreieck unweit des Stadtzentrums von San Francisco, zwischen Mission, Castro und Lower Haight.

Vor sich hatte sie die Blinklichter der Streifenwagen und hinter sich die Sirenen des Krankenwagens, sodass sie gar keine genaue Adressangabe benötigte. Sie lenkte ihren Wagen an den Straßenrand. Kaum war der Notarztwagen an ihr vorbeigeschossen, hängte sie sich an ihn und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Geschwindigkeitsbeschränkungen? Völlig uninteressant.

Vor dem Taco King an der Kreuzung Duboce Avenue und Guerrero Street hielt der Notarztwagen an. Streifenwagen blockierten drei der vier Fahrspuren, und uniformierte Beamte hatten bereits begonnen, den Verkehr umzuleiten. Zu Tode erschreckte Menschen verließen fluchtartig und laut schreiend den Ort des Geschehens.

Cindy stellte ihren Honda am Bordstein ab und legte den restlichen halben Häuserblock zu Fuß zurück. Sie kam gerade rechtzeitig vor dem Taco King an, um zu sehen, wie zwei Sanitäter eine Trage in den Krankenwagen schoben. Als sie versuchte, einen der beiden anzusprechen, schob er sie mit dem Ellbogen beiseite.

»Weg da, Miss.«

Cindy warf einen Blick durch die geöffneten Hecktüren. Der Sanitäter riss das Hemd des Opfers auf, brüllte »Achtung!« und drückte ihm zwei flache Elektroden auf die Brust. Der Körper zuckte, dann klappten die Türen zu und der Krankenwagen jagte auf der Guerrero Street nach Süden davon, Richtung Metropolitan Hospital.

Drei der vier Fahrspuren waren jetzt abgesperrt, sodass die Schaulustigen am Betreten des Parkplatzes und des Restaurants gehindert wurden. Vor dem Absperrband stand eine uniformierte Beamtin. Das war Kay Kendall, eine Freundin von Rich Conklin, der nicht nur Inspektor bei der Mordkommission, sondern auch Cindys Lebenspartner war.

Cindy trat mit ihrem Notizbuch in der Hand auf Kendall zu, begrüßte sie und sagte: »Kay, was um alles in der Welt ist hier los?«

»Oh, hallo, Cindy. Nur noch ein bisschen Geduld, dann gibt es eine Presseerklärung.«

Cindy ließ ein leises, kehliges Knurren hören.

Kay lachte.

»Ich hab schon gehört, dass du ein richtiger Pitbull sein kannst, auch wenn du gar nicht danach aussiehst.«

Cindys blonde Locken wurden von einer mit Glaskristallen besetzten Spange gebändigt, und ihre großen blauen Augen strahlten reinste Entschlossenheit aus. So sah sie eben aus. Sie wollte niemanden manipulieren. Noch nicht.

»Kay. Hör zu. Ich will doch nur wissen, was die Leute, die im oder vor dem Taco King waren, sowieso mitbekommen haben. Das müssen an die vierzig Zeugen gewesen sein, stimmt’s? Vielleicht kannst du mir das bestätigen und mir dann noch ein, zwei Details verraten, okay? Dann würde ich ›Wie die Autorin persönlich aus anonymer Quelle erfahren hat‹ oder so was in der Art schreiben.«

»Also, ich kann dir verraten, dass ein männliches Opfer Schussverletzungen erlitten hat, und zwar durch die Windschutzscheibe des SUV da vorn«, erwiderte Kendall und deutete auf einen silbernen Porsche Cayenne aus der aktuellen Baureihe.

»Seine Frau hat neben ihm gesessen. Sie soll angeblich schwanger sein. Sie wurde nicht getroffen und hat den Schützen nicht gesehen. Ohne Gewähr, Cindy. Jetzt fährt sie in dem Streifenwagen da drüben gerade vom Parkplatz. Aber dafür bist du mir was schuldig, und zwar nicht zu knapp. Gib mir eine Minute, damit ich kurz überlegen kann und meine drei Wünsche nicht sinnlos vergeude.«

Cindy ließ ihr keine Minute, sondern hakte sofort nach: »Der Name des Opfers? Hat irgendjemand gesehen, wer geschossen hat?«

»Das geht jetzt aber wirklich zu weit, Cindy.«

»Na ja, ich hab schließlich einen Ruf als Pitbull zu verteidigen.«

Kay grinste sie an. »Siehst du den SUV da drüben?«

»Ja.«

»Dann mach mal ein Foto von der Heckscheibe.«

»Alles klar, wird gemacht.«

Kendall fügte hinzu: »Und hier kommt deine Schlagzeile: Das Opfer ist eine kleine Berühmtheit. Wenn er nicht überlebt, dann wird das für ziemlichen Wirbel sorgen.«

2

Kay Kendall drohte Cindy freundschaftlich mit dem Finger.

Cindy formte mit den Lippen ein stummes »Danke«, und dann, noch bevor irgendjemand auf die Idee kommen konnte, sie zu vertreiben, duckte sie sich unter dem Absperrband hindurch, näherte sich dem SUV und drückte, rund fünfzehn Meter vom Heckfenster des Fahrzeugs entfernt, auf den Auslöser ihrer Kamera. Nachdem sie sich wieder hinter die Absperrung zurückgezogen hatte und das Foto größer zog, schälte sich Jeb McGowan aus der Menge heraus und stellte sich neben sie. Mit den zurückgegelten Haaren und der coolen Brille mit dem zweifarbigen Gestell präsentierte ihr neuer Kollege sich als junger, genialer Künstler und Angehöriger der journalistischen Elite. Zuletzt war er für die LA Sun Times als Polizeireporter tätig gewesen. Genau wie Cindy hatte auch er eine tägliche Kolumne gehabt. Und vor zwei Jahren, nachdem er über den Marina-Schlächter berichtet hatte, war er mehrfach von einem Kabel-Fernsehsender interviewt worden.

Damals hatte McGowan angedeutet, dass San Francisco kleinstädtisch und provinziell sei.

»Was willst du dann überhaupt hier?«, hatte sie ihn gefragt.

»Meine Freundin hat Verwandte in Frisco. Sie will sie häufiger besuchen. Was soll man machen?«

Erste Maßnahme: Sag niemals Frisco, hatte Cindy damals gedacht.

Und jetzt stand McGowan unmittelbar vor ihr.

»Cindy. Hallo.«

Das war auch so was. McGowan war aufdringlich. Okay, das hatte sie selbst auch schon zu hören bekommen. Aber aus Cindys Sicht war dieser Klugschwätzer alles andere als ein Teamplayer. Er hätte sie vermutlich liebend gern unter einen fahrenden Bus geschubst, nur um sich ihren Job zu krallen. Oder er blieb einfach immer an ihr kleben, wie Kaugummi an ihrer Schuhsohle, bis sie irgendwann zu Tode genervt war.

»Hi, Jeb.«

Sie wandte sich ab, als wolle sie nicht, dass die Morgensonne sich im Display ihres Handys spiegelte, aber er redete einfach weiter auf sie ein.

»Ich habe ein paar Worte mit einer Kundin gewechselt, bevor sie weggerannt ist. Sie hat mir ihren Namen verraten, und ein paar gute Originalzitate über das Durcheinander nach den Schüssen habe ich auch bekommen. Was meinst du? Wollen wir die Geschichte vielleicht gemeinsam schreiben?«

»Hast du den Namen des Opfers?«

»Bald.«

»Ich hab schon einen eigenen Ansatz«, erwiderte sie. »Mach’s gut, Jeb.«

Cindy ließ McGowan stehen, und als sie weit genug entfernt war, vergrößerte sie das Foto von der Heckscheibe des Porsche. Da hatte jemand etwas mit dem Finger in die Staubschicht auf der Scheibe geschrieben.

Hieß das »Testlauf«?

Mit angehaltenem Atem vergrößerte sie den Schriftzug so weit, dass das Wort Testlauf klar und deutlich zu lesen war. Das Foto eignete sich gut als Aufmacher, und es war mal eine schöne Abwechslung, dass keiner ihrer Bekannten beim San Francisco Police Department sagte: »Das darfst du aber nicht veröffentlichen.«

Auf dem Weg zu ihrem Auto dachte sie: Ein Testlauf wofür? War das ein Köder? Was immer das Motiv für diese Tat gewesen sein mochte, der Täter machte damit deutlich, dass es nicht der letzte Mordanschlag bleiben würde.

Cindy rief Henry Tyler an, den Herausgeber und Chefredakteur des Chronicle, und sprach ihm auf Band, dass es sich bei ihrer anonymen Quelle um einen Polizeibeamten handelte und dass sie die Identität des Opfers noch nicht kannte.

Als sie wieder in ihrem Auto saß, schaltete sie in der Hoffnung, den Namen des Opfers zu erfahren, den Polizeifunk-Scanner ein. Und sie rief Rich an, um ihm zu berichten, was sie gerade gesehen hatte.

Vielleicht wusste er ja schon, auf wen da geschossen worden war.

3

Yuki Castellano schloss ihre Tasche in der Schreibtischschublade ein, verließ ihr Büro und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.

Als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin der Stadt San Francisco führte sie gerade einen Prozess gegen einen achtzehn Jahre alten Schulabbrecher, der unglücklicherweise beschlossen hatte, als Fahrer für einen nicht eindeutig identifizierten Drogendealer zu arbeiten.

Vor zwei Monaten wurden die beiden von einer Polizeistreife dabei beobachtet, wie sie in einem gestohlenen Fahrzeug eine rote Ampel überfuhren.

Die Besatzung des Streifenwagens versuchte, sie zum Anhalten zu bewegen, was jedoch zu einer wilden Verfolgungsjagd führte, die erst auf dem Highway 1 ihr Ende fand.

Dort gelang es dem Fahrer des Streifenwagens, sich vor den Flüchtigen zu setzen und ihn an der Weiterfahrt zu hindern. Bei der anschließenden Fahrzeugkontrolle durch einen der beiden Polizisten stieg der Beifahrer aus dem Fluchtauto, schoss auf den Beamten und machte sich mit einem weiteren entwendeten Fahrzeug aus dem Staub. Den jugendlichen Fahrer, Clay Warren, ließ er mitsamt einer erheblichen Menge Fentanyl im Wagen zurück.

Der angeschossene Streifenpolizist starb noch am Ort des Geschehens.

Clay Warren landete wegen mehrerer Vergehen im Untersuchungsgefängnis. Die Drogen im Wert von rund einer Million Dollar wurden beschlagnahmt. Der Partner des getöteten Polizisten identifizierte Warren und das Fahrzeug, und dann entdeckte die Kriminaltechnik Hunderte Fingerabdrücke im Wagen, manche schon älter, andere noch frisch. Allerdings ließ sich keiner davon mit einem bereits bekannten Verbrechen in Verbindung bringen.

Der Drecksack hatte Handschuhe getragen oder das Armaturenbrett nie angefasst oder es war seine allererste Straftat gewesen, sodass er noch nicht im System erfasst war.

Was Yuki stark bezweifelte.

Jedenfalls steckte anstelle des Mörders und Dealers jetzt der Fahrer des Fluchtwagens bis zum Hals in Schwierigkeiten.

Die Bezirksstaatsanwaltschaft wollte Clay Warren wegen Beihilfe zum Mord an einem Polizeibeamten und weil er in einem gestohlenen Fahrzeug Drogen befördert hatte unter Anklage stellen. Aber in erster Linie diente er als Sündenbock. Yuki hatte gehofft, dass Warren den flüchtigen Dealer verraten würde, aber bis jetzt hatte er das nicht getan, und es gab keine Anzeichen, dass er das irgendwann noch tun würde.

Sie benützte die Edelstahltür der Fahrstuhlkabine als Spiegel, trug frischen Lippenstift auf und richtete ihre Haare. Im sechsten Stock stieg sie aus und ging zu Sergeant Bubbleen Waters am Empfangstresen.

»Hallo, Bubb. Ich habe einen Termin mit dem Gefangenen Clay Warren und seinem Rechtsanwalt.«

»Sie warten schon auf dich, Yuki. Kleinen Moment.«

Sie griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, drückte eine Taste und sagte: »Randall. Die Tür, bitte.«

Ein Wachmann tauchte auf, Stahltüren wurden klappernd geöffnet, dann rasteten hinter ihnen Schlösser ein. Der Wachmann begleitete Yuki in einen kleinen Raum mit Wänden aus Betonsteinen, einem Tisch und drei Stühlen. Zwei davon waren bereits besetzt. Clay Warren trug einen klassischen orangefarbenen Gefängnisoverall und silberne Handschellen. Sein Anwalt, Zac Jordan, hatte lange Haare und war mit einem pinkfarbenen Poloshirt, einem kakifarbenen Blazer und einer Jeans bekleidet. An seinem linken Ohrläppchen war ein goldener Stecker zu sehen.

Zac lächelte Yuki freundlich an, erhob sich und nahm zur Begrüßung ihre Hand in seine beiden.

»Schön, dich zu sehen, Yuki. Es tut mir leid, aber ich komme hier nicht so recht weiter. Vielleicht hört Clay ja auf dich.«

4

Zac Jordan war ein Strafverteidiger, der nicht auf Honorarbasis arbeitete, sondern für den Prozesshilfeverein tätig war, eine gemeinnützige Institution, die sich für die Mittel- und die Hoffnungslosen einsetzte.

Während einer kurzen Unterbrechung ihrer Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft hatte Yuki ebenfalls für Zac Jordan gearbeitet. Daher konnte sie voller Überzeugung sagen, dass er ein guter Mensch war und dass seine Mandanten sich glücklich schätzen konnten, ihn an ihrer Seite zu haben.

Diesem Mandanten hier drohte eine langjährige Gefängnisstrafe, weil er zur falschen Zeit im falschen Auto gesessen hatte.

Yuki setzte sich. »Wie geht es Ihnen, Clay?«

»Großartig«, erwiderte er.

Clay Warren sah jünger aus als achtzehn. Er war klein und blond und hatte eine Stupsnase, aber wenn er den Blick hob, kamen seine beiden harten grauen Augen zum Vorschein. Nachdem er Yuki kurz gemustert hatte, blickte er wieder auf seine Hände. Die Handschellen liefen durch einen Metallring in der Tischmitte. Er wirkte resigniert.

»Clay«, sagte sie. »Wir haben ja bereits darüber gesprochen. Ein Polizeibeamter ist erschossen worden, und Sie wissen, wer das getan hat. Ich bitte Sie also noch einmal, uns zu unterstützen. Nennen Sie uns den Namen des Täters. Anderenfalls kann ich Ihnen nicht helfen. Dann werden Sie wegen Beihilfe zum Mord und Besitzes von Betäubungsmitteln mit der Absicht, damit Handel zu treiben, angeklagt, und zwar nicht mehr als Jugendlicher, sondern als Erwachsener. Dann steht Ihnen eine lebenslängliche Gefängnisstrafe bevor.«

»Bloß, weil ich den Wagen gefahren habe«, erwiderte er.

»Haben Sie mich eigentlich verstanden?«, fragte Yuki nach. »Sie waren an der Ermordung eines Polizisten beteiligt. Aber wenn Sie uns helfen, den Schützen zu schnappen, dann kann die Bezirksstaatsanwaltschaft ein gutes Wort für Sie einlegen. Dann könnte Ihre Strafe erheblich geringer ausfallen, Clay.«

»Ich weiß überhaupt nichts. Ich bin gefahren. Dann habe ich die Sirenen gehört. Der Streifenwagen schneidet mich, sodass ich gar nicht anders kann, als ihn zu rammen, und jetzt kommen Sie mit diesem ganzen Schwachsinn. Das ist gelogen. Alles gelogen. Ich bin bloß zu schnell gefahren, sonst gar nichts.«

»Und die Drogen im Wagen? Wie sind Sie an Fentanyl im Wert von einer Million Dollar gekommen?«

Yuki wusste, dass es, was die Identität des Dealers anging, eine Vermutung gab. Der Polizist, der seinen Partner auf der Straße hatte sterben sehen, hatte sich Fotos von möglichen Verdächtigen angesehen, alles Drogendealer, die dick im Geschäft waren. Und er glaubte, bei dem Todesschützen könnte es sich um Antoine Castro gehandelt haben. Aber ganz sicher war er sich nicht.

Yuki sagte: »Warum nehmen Sie für Abschaum wie Antoine Castro so eine Schuld auf sich?«

Der Junge schüttelte nur den Kopf.

Castro stand auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher. Yuki hätte wetten können, dass er mittlerweile das Land verlassen und eine neue Identität angenommen hatte.

Zac sagte: »Lügen wird dir nichts helfen, mein Junge. Ich kenne Frau Castellano persönlich. Ich kann die Verhandlungen führen.«

»Mein Gott«, schrie Warren. »Lasst mich doch endlich in Ruhe!«

Yuki konnte sich gut vorstellen, dass Castro, falls er der Killer und Dealer war, dem Jungen eine unmissverständliche Botschaft übermittelt hatte.

Wenn du singst, bist du tot.

Clay Warren würde nicht reden. Yuki erhob sich.

»Tut mir leid, Zac.«

»Du hast es versucht«, erwiderte er.

Sie ging zur Tür, und der Wachmann öffnete ihr. Sie ließ Zac Jordan mit seinem Mandanten zurück, einem verängstigten Jungen, der im Gefängnis sterben würde. Die Frage war nur, wann.

5

Am Freitagmorgen um 9.00 Uhr, vielleicht ein paar Minuten früher oder später, schlenderte Jackson Brady, Lieutenant der Mordkommission und kommissarischer Polizeichef von San Francisco, den Mittelgang des Bereitschaftraums entlang.

Die Nachtschicht stempelte gerade aus, und die eintrudelnden Mitarbeiter der Tagschicht begrüßten ihn mit »Hallo, Boss« oder »Yo, Brady«. Er nickte Chi, Lemke, Samuels und Wang zu, ohne anzuhalten.

Am vorderen Ende des Raums waren zwei Schreibtische mit der breiten Seite zusammengeschoben worden, sodass sich die beiden Benutzer gegenübersaßen. Das war Boxers und Conklins Festung. Brady hatte von Anfang an mit beiden zusammengearbeitet, nachdem er als Springer beim SFPD angefangen hatte. Mehr als einmal hatte er mit ihnen im Kugelhagel gestanden. Er konnte sich auf sie verlassen. Würde alles für sie tun.

Jetzt setzte er sich auf Boxers Stuhl und blickte Conklin über Lindsays kleine persönliche Müllkippe hinweg an. Er schob den Kopf der Schreibtischlampe zur Seite und verrückte einen Aktenstapel und einen Kaffeebecher, um Platz für seine Ellbogen zu schaffen.

Conklin hob den Kopf. »Alles okay, Lieu?«

Brady wusste, dass er beschissen aussah. Zu viele Stunden hier verbrachte. Zu viel Junkfood aß. Zu wenig Schlaf bekam. Sich achtzehn Stunden am Tag den Kopf zerbrach. Kaum Luft bekam. Er lockerte seine Krawatte. Öffnete den obersten Hemdknopf.

»Soweit ich weiß …«, sagte er dann, »… hatte Boxer gestern Nachmittag einen Arzttermin. Eine Kontrolluntersuchung. Danach ruft sie mich an und sagt: ›Alles bestens, Boss. Der Doktor sagt, ich muss mir ein bisschen Zeit für mich nehmen‹.«

»Genau das hat sie zu mir auch gesagt«, erwiderte Conklin.

Brady dachte an die Zeit zurück, als Boxer schwer krank gewesen war. Sie hatte sich zwei Monate freigenommen und war wiedergekommen. Hatte sich hervorragend gefühlt. Aber was hatte das jetzt zu bedeuten?

»Was meinst du? Ist alles in Ordnung bei ihr?«, wandte er sich an Conklin.

Der meinte: »Ihr geht’s gut. Der Arzt hat bloß gesagt, sie soll sich nicht wieder so aufreiben, wie das eben ihre Art ist. Also hat sie die wilde Kleine zu ihrer Schwester gebracht und ist mit Joe ins Wochenende gefahren. Ziel unbekannt. Vielleicht hängen sie noch ein, zwei Tage dran. Weißt du, Brady, die meisten Menschen nehmen sich das Wochenende frei.«

»Tatsächlich? Die meisten, die ich kenne, nicht.«

Brady sammelte ein paar herumliegende Bleistifte und Kugelschreiber ein und stellte sie in einen Keramikbecher.

»Um dich mache ich mir viel mehr Sorgen als um Lindsay«, sagte Conklin.

»Das brauchst du mir nicht auch noch unter die Nase zu reiben.«

Seit Chief Warren Jacobi sich in den Ruhestand verabschiedet hatte, hatte Brady zwei Jobs zu bewältigen. Einerseits besetzte er Jacobis Chefsessel oben im vierten Stock, und andererseits war er nach wie vor Leiter der Mordkommission. Er kam sich vor, als würde sein Schädel in eine Autotür eingeklemmt.

Vom Bürgermeister bekam er ebenfalls Druck, weil der verlangte, dass er sich endlich für einen von beiden Jobs entschied. Ganz egal, für welchen, Hauptsache es gab eine Entscheidung.

Brady hatte mit Yuki darüber gesprochen, die ihm zurückhaltende, ehefrauliche Ratschläge gegeben hatte, nichts Forderndes, nur eine ganz normale Abwägung der Fakten, wie Juristen das eben so machen.

»Mehr Verantwortung zu übernehmen, aber dafür weniger Stunden zu arbeiten, finde ich auf jeden Fall eine Überlegung wert. Andererseits spricht vieles dafür, dass deine eigentlichen Stärken bei der Mordkommission am besten zur Geltung kommen. Außerdem gefällt dir die Arbeit dort. Aber du musst dich schnell entscheiden, sonst macht das der Bürgermeister für dich.«

Conklin sagte: »Ich kann mich mit Chi und McNeil zusammentun, bis Boxer wieder da ist.«

»Ja. Mach das.«

Brady ließ Conklin und den Bereitschaftsraum hinter sich und ging über die Feuertreppe nach oben in den vierten Stock. Als er sein Büro betrat, sagte seine Assistentin: »Lieu, ich wollte gerade los und Sie suchen. Hier, sehen Sie sich das mal an.«

Er setzte sich auf seinen Stuhl. Katie beugte sich über seine Schulter und holte den Online-Chronicle auf den Bildschirm. Sie las ihm die Schlagzeile vor: »Schüsse auf Roger Jennings bei Taco King.« Dann fügte sie die zentrale Botschaft des Artikels hinzu. »Er schwebt in Lebensgefahr.«

Jennings war ein professioneller Baseballspieler, ein Catcher im Herbst seiner Karriere.

Warum sollte ihn jemand umbringen wollen?

6

Sobald ich die Arztpraxis verlassen hatte, hatte ich Joe angerufen und ihm erzählt, was Doc Arpino mir geraten hatte: »Lindsay. Gönnen Sie sich ein bisschen was. Fahren Sie für ein paar Tage aufs Land. Machen Sie ein Wellness-Wochenende.«

Mein geliebter Ehemann hatte geantwortet: »Überlass das mir.«

Ich hatte Brady und Conklin eine Nachricht hinterlassen: »Bin außer Dienst.«

Jedenfalls etwas in der Art.

Jetzt waren Joe und ich unterwegs nach Norden. Unsere Handys lagen im Kofferraum. Wir schwebten über die Golden Gate Bridge, während unter uns Segelboote über die funkelnde Bucht zogen.

Joe saß am Steuer, und ich saß neben ihm und sagte: »Das ist nicht wahr.«

»Ist es wohl. Du bist zum Flughafen gekommen. Du hast gesagt: ›Ich will dich. Und ich will den Jet.‹«

Ich platzte laut heraus vor Lachen. »Du bist doch irre.«

»Kannst du dich an das Firmenflugzeug erinnern?«

»Oh ja.«

»Lauter, Liebes.«

»Oh JA!«

Wir mussten beide lachen.

Joe und ich hatten uns bei der Arbeit kennengelernt, als Doppelspitze einer gemeinsamen Sondereinheit von Polizei und Heimatschutz. Unsere Aufgabe damals war es, einem Terroristen das Handwerk zu legen, der einen tödlichen Giftanschlag auf die Teilnehmer einer G8-Konferenz in San Francisco geplant hatte. Bevor wir ihn schließlich überwältigen konnten, hatte der Dreckskerl viele Menschen umgebracht, darunter auch eine Person, die mir sehr nahestand.

Ich schob alle diese Gedanken beiseite und sagte: »Weißt du noch, wie wir den G8-Fall unterbrochen haben und zu Ermittlungen nach Portland gefahren sind?«

»Und ob«, erwiderte Joe. »Wir sitzen da in diesem Konferenzraum, zusammen mit einem Dutzend Leuten, die versuchen, im Interesse der nationalen Sicherheit einen Mord aufzuklären, und du sagst: ›Direktor Molinari, wenn Sie mich weiter so anstarren, dann kann ich nicht arbeiten.‹«

Ich lachte. »Das war doch erst hinterher. Das habe ich doch niemals laut gesagt.«

Ich war mir sicher, dass ich recht hatte, aber es stimmte auch, dass die Zusammenarbeit mit Joe, die von so viel Adrenalin und Angst und Druck begleitet worden war, eine ausgesprochen wundervolle magische Wirkung auf uns gehabt hatte. Und noch vor unserer Rückfahrt von Portland nach San Francisco hatten wir uns ineinander verliebt. Heftig.

War von da an alles perfekt gewesen?

Absolut nicht. Wir lebten auf zwei entgegengesetzten Seiten des Landes und saßen eine ganze Weile in der Fernbeziehungs-Achterbahn, bekämpften die Einsamkeit und die Sehnsucht mit einigen wenigen Tagen Abenteuer im Monat, bis Joe seinen Job aufgab und zu mir an die San Francisco Bay zog.

Ungefähr ein Jahr nach unserer Hochzeit habe ich Julie Anne Molinari zur Welt gebracht, in einer finsteren Gewitternacht und ganz allein zu Hause. In der ganzen Stadt war der Strom ausgefallen. Während ich, umringt von Feuerwehrleuten, keuchte und presste und schrie, war Joe in zehntausend Metern Höhe durch die Luft gerast, ohne etwas davon zu ahnen.

Aber als er dann endlich nach Hause gekommen war, hatte er mich und unser kleines Baby ausgiebig für alles entschädigt. Joe Molinari, Geheimdienstberater und Mr. Mom in einem.

Jetzt fragte er mich: »Wo bist du, Lindsay?«

»Ich bin hier.«

Ich beugte mich zu ihm, gab ihm einen Kuss und fuhr fort: »Ich habe gerade an früher gedacht. Und wo bist du, Joe?«

Er legte mir eine Hand aufs Bein.

»Ich bin hier, Blondie, und denke daran, was für eine gute Mutter du bist und wie sehr ich dich liebe.«

»Und ich liebe dich auch.«

Dieses Wochenende verbrachte Julie am Strand bei ihrer Tante Cat, ihren beiden Cousinen und Martha, der besten Hündin der Welt, während Joe und ich uns wie zwei verliebte Teenager mit Mitte vierzig fühlen durften.

Joe schaltete das Radio ein und suchte den perfekten Sender.

Wir schwebten dahin. Die Sonne schien, dazu die Segelboote auf dem Wasser, und wir sangen die Oldies aus dem Radio mit: »Free to do what I want any old time.« Die Stones passten einfach perfekt zu dem Moment.

An unserem ersten Etappenziel angekommen fühlten wir uns wie in den Flitterwochen.

7

Joe bremste und stellte den Wagen vor einem unauffällig wirkenden, zweistöckigen Gebäude aus Kieselsteinen und Holzbalken ab. Das ganze Ensemble wurde von grünen Büschen umgeben.

Ich erkannte es sofort, weil ich auf mehreren Seiten mit Sehenswürdigkeiten des Napa Valley schon Fotos davon gesehen hatte. Es war angeblich eines der besten Restaurants der Welt, und zwar seit zwanzig Jahren.

Jawohl, eines der besten in der Welt.

Ich rief: »The French Laundry? Im Ernst?«

Ich hatte schon gelesen, wie schwierig es war, hier einen Tisch zu bekommen. Das Lokal wurde von Feinschmeckern verehrt und besaß drei Michelin-Sterne. Zwei Monate Wartezeit für eine Mittagsreservierung waren normal.

»Das hast du doch niemals von einem Tag auf den anderen hingekriegt.«

»Ich habe Beziehungen«, erwiderte Joe und grinste mich augenzwinkernd an.

Wow. Bei der Arbeit standen vor allem Burger und Kaffee auf dem Speiseplan. Ob ich so ein feines Essen überhaupt angemessen würdigen konnte? Erst jetzt begriff ich, weshalb Joe mich gebeten hatte, ein Kleid anzuziehen. Und – Überraschung – ich hatte sogar auf ihn gehört. Es war blau-weiß gemustert und passte zu meinem blauen Kaschmir-Cardigan. Ich löste das Haarband um meinen dunkelblonden Pferdeschwanz, klappte die Sonnenblende herunter und unterzog mich im Spiegel einer kritischen Überprüfung.

Ich lockerte die Haare ein wenig und zwickte mich in die Wangen.

Hübsch sah ich aus.

Der Gemüsegarten des Restaurants befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war für Besucher geöffnet – ein wunderschönes Plätzchen für einen Freitagabendspaziergang. Ich sagte zu Joe, dass ich mein Handy jetzt doch brauchte, um ein paar Fotos zu machen. Er stieg aus und klappte den Kofferraum auf.

In diesem Augenblick hielt ein Lieferwagen hinter unserem Auto an. Das Beifahrerfenster fuhr nach unten. Ich konnte den Fahrer nicht sehen, aber seine Stimme war laut und deutlich zu hören: »Joeeey.«

Joe rief zurück: »Dave, du verrückter Hund.«

Ich sah, wie er zu dem Lieferwagen ging, die Fahrertür aufmachte, sich ins Innere beugte und den Fahrer umarmte. Dann kam er wieder zu mir und sagte: »Jetzt lernst du endlich Dave kennen.«

Wenn Joe von David Channing sprach, dann immer mit sehr viel Zuneigung und Traurigkeit zugleich. Die beiden hatten sich während ihres Studiums am Fordham College in der Bronx ein Zimmer geteilt. Ich kannte ihn nur von Fotos im Footballdress. Dave war Quarterback gewesen und Joe Receiver. Er hatte mir Jubelbilder vom Team nach einem Sieg gezeigt, mit Joe und Dave mittendrin, alle beide groß gewachsen, muskelbepackt, gut aussehend und sehr jung.

Joe hatte mir erzählt, dass es am Abend eines solchen Tages, nach einem Sieg über das Team des College of the Holy Cross, einen plötzlichen Kälteeinbruch gegeben hatte. Von Westen war ein Schneesturm aufgezogen, während Dave seine Freundin Rebecca nach Hause gefahren hatte. Sie wohnte in Croton-on-Hudson, ungefähr eine Dreiviertelstunde den Taconic State Parkway hinauf, eine wunderschöne, gewundene Straße mit einem Mittelstreifen, der eigentlich eine Parklandschaft war, und etlichen fantastischen Aussichtspunkten.

Doch an jenem Nachmittag war der Schnee angetaut und hatte später auf der Straße eine dicke Eisschicht gebildet. Hinter einer Kurve, die wegen eines Felsvorsprungs nicht einzusehen war, war ein Fahrzeug ins Schleudern geraten und hatte beide Fahrspuren blockiert. Dave hatte gebremst, war in das Unfallauto geschlittert und dann von einem nachfolgenden Fahrzeug mit voller Wucht gerammt worden.

Zum Schluss hatten sich insgesamt zweiunddreißig Fahrzeuge in einer grauenhaften Massenkarambolage ineinander verkeilt. Rebecca war ums Leben gekommen, und Dave hatte so schwere Verletzungen an der Wirbelsäule erlitten, dass der junge Mann, der von mehreren NFL-Teams beobachtet worden war, seit jenem Tag von der Hüfte an abwärts gelähmt war.

Seine Eltern, Ray und Nancy Channing, hatten Dave zu sich nach Hause auf ihr kleines Weingut bei Napa geholt. Dann hatte er eine jahrelange Leidenszeit mit allerhand Rehabilitationsmaßnahmen durchgemacht. In dieser Phase hatte er sich von seinen Freunden und mehr oder weniger von der ganzen Welt abgeschottet. Inzwischen führte er die Bücher des Weinguts, leitete eine Selbsthilfegruppe für Querschnittsgelähmte und hatte den Tod seiner Mutter zu verkraften, die an Lymphdrüsenkrebs gestorben war. Mehr wusste Joe nicht.

Jetzt öffnete er mir die Tür, reichte mir eine Hand und half mir beim Aussteigen. »Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet, Linds. Komm mit, ich möchte dir Dave vorstellen.«

8

David Channing zeigte, was er konnte, balancierte eine Weile auf den Hinterrädern seines Rollstuhls, bevor er sich ein Stück zurückfallen ließ und Joe das Kommando gab, steil zu gehen.

Er warf einen imaginären Football und Joe fischte ihn mit übertrieben viel Tamtam aus der Luft, überquerte die unsichtbare Linie und schleuderte den Ball in der Endzone auf den Boden.

Dave lachte, als Joe ein kleines Freudentänzchen aufführte. Dann grinste er schüchtern und streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. Ich machte eine Umarmung daraus.

»Es klingt zwar abgedroschen, aber es stimmt«, sagte er. »Joe hat mir so viel von dir erzählt.«

»Umgekehrt auch, Dave. Manchmal kommt er gar nicht mehr raus aus dem Schwärmen.«

Joe drückte seinem Freund die Schulter und sagte: »Wollen wir?«

Dave erwiderte: »Ich würde euch wirklich gern begleiten, aber ich bin bloß schnell gekommen, damit ich Lindsay endlich kennenlernen kann. Ich muss gleich wieder zurück.«

Joe entgegnete: »Kommt überhaupt nicht infrage. Wir haben uns drei Jahre lang nicht gesehen. Wir essen jetzt zusammen. Das geht auf mich.«

Dave protestierte. Es sei schließlich unser Wochenende, das Essen sei schon vorbereitet und dass er nicht das dritte Rad am Wagen sein wolle – aber gegen Joe hatte er keine Chance.

»Immer noch derselbe harte Knochen, alter Mann«, hörte ich ihn leise sagen, während Joe uns in Richtung Restaurant schob, die leuchtend blaue Tür aufhielt und ins Innere scheuchte. Der Oberkellner, der uns in Empfang nahm, nannte Dave »Davy«, und wir wurden zu einem Tisch geleitet. Nachdem wir Platz genommen hatten, sagte Dave: »Das Restaurant ist einer unserer Kunden.«

Joe meinte: »Dann dürfte klar sein, dass wir einen Channing-Cabernet nehmen.«

Das hörte sich gut an.

Claire Washburn, meine allerbeste Freundin, war letztes Jahr zu ihrem Hochzeitstag hier gewesen und hatte ihre Erfahrung in einem Satz zusammengefasst: »Ein Essen in der French Laundry wird dein Leben verändern.«

Ich hatte keine Zweifel an den Worten meiner Freundin. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, dass sie sich jemals geirrt hat. Aber ob eine einzige Mahlzeit wirklich mein Leben verändern konnte? Zumindest für einen Tag? Ich war mir nicht sicher. Mit seiner Lasagne hatte Joe die Messlatte jedenfalls ziemlich hoch gelegt. Sie war wahrscheinlich mein Lieblingsgericht – auf der ganzen Welt.

Ich blickte mich um und fühlte mich sofort wohl. Der Hauptraum mit den sandfarbenen Wänden, einem Dutzend runder Tische, der Gewölbedecke und den Wandleuchtern zwischen den Flügelfenstern strahlte behagliche Gemütlichkeit aus.

Als die Speisekarten gebracht wurden, sagte Dave: »Ich empfehle das Probiermenü. Es wird täglich geändert und kommt nie wieder so auf den Tisch wie heute.«

Lisette, unsere Kellnerin, pflichtete ihm bei. Ein schneller Blick auf die Speisekarte machte deutlich, dass es sich um eine Reise durch die klassische französische Küche in neun Gängen handelte, versehen mit drei Sternen. Und Wein war auch mit dabei.

Ich bin kein Mathegenie, aber es war klar, dass ein Mittagessen für drei Personen ungefähr tausend Dollar kosten würde.

Wahrscheinlich sogar deutlich mehr als tausend Dollar.

Joe legte den Arm um meine Stuhllehne und zog mich ein wenig dichter zu sich.

Dave entschuldigte sich, dass er es nicht zu unserer Hochzeit geschafft hatte, und ich sagte, dass wir seine Anwesenheit trotzdem gespürt hatten.

»Und dein Hochzeitsgeschenk war einfach großartig, Dave.«

Er lachte. »Nicht alle Paare wüssten einen antiken Waffenschrank zu schätzen.«

Joe und ich erwiderten wie aus einem Mund: »Aber wir schon!«

9

Noch bevor der erste Gang serviert wurde, fingen die beiden alten Freunde an, sich auf den neuesten Stand zu bringen – wer hatte geheiratet, wer war in die Politik gegangen und wer war gestorben.

Es gab Lachs-Tartar, angerichtet in einem kleinen Hörnchen. Wundervoll. Meine Geschmacksknospen erblühten zu voller Größe, bekamen sich aber rechtzeitig wieder in den Griff, um das zu kosten, was laut Lisette eine der Spezialitäten der French Laundry war: zwei Austern in der Schale mit Tapiokaperlen und Regiis-Ova-Kaviar, serviert in einem kleinen weißen Schälchen. Ich stippte meine Gabel in die Austernschale und führte mir etwas von dem cremig-butterigen, salzigen Aphrodisiakum unter den Speisen in den Mund.

Es war gut. Sehr gut. Während ich noch den ungewöhnlichen Texturen und vielfältigen Geschmäckern nachspürte, ging die Prozession aus wunderschön arrangierten Delikatessen bereits weiter.

Die Schweinebäckchen mit cremigen englischen Erbsen, die marinierten Nektarinen, das weich gekochte rote Hühnerei in der Schale, die aussah, als wäre sie aus Porzellan, all das überstieg meinen Horizont ein wenig. Aber die ekstatischen Ausrufe an meinem und den uns umgebenden Tischen machten mir klar, warum die French Laundry als Goldstandard für Menschen mit einem besonders ausgeprägten Geschmackssinn gilt.

Drei Stunden später, als wir an unserem Kaffee nippten und an einer Auswahl von wundervollen Süßspeisen knabberten, brachten wir Dave dazu, uns von sich zu erzählen.

»Joe weiß das schon, Lindsay, aber kurz vor eurer Heirat ist meine Mom verstorben. Mein Dad und ich hatten immer schon ein enges Verhältnis. Aber die gemeinsame Arbeit hat uns … Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll … eine tiefe Freundschaft beschert.«

Dave seufzte.

Joe legte ihm eine Hand auf den Arm und erkundigte sich, was denn los sei.

Dave sagte: »Dad liegt im Krankenhaus, und ich mache mir große Sorgen um ihn.«

»Wieso? Was hat er denn?«, hakte Joe nach.

»Die Aorta in seinem Brustkorb hat ein Aneurysma entwickelt, verursacht durch einen zu hohen Blutdruck. Das ist inzwischen so groß geworden, dass er vermutlich operiert werden muss. Der Arzt hat ihm Betablocker verschrieben, sagt aber auch, dass das Ganze mit dem Alter zusammenhängt. Das kann ich gar nicht glauben. Er ist erst zweiundsiebzig. Und bis jetzt war er noch nie richtig krank.«

Joe sagte: »Das tut mir leid, Dave.«

»Wenn du ein bisschen Zeit hast, Joe … Ich weiß, dass er sich sehr freuen würde, dich zu sehen. Er war unser größter Fan.«

Joe senkte den Blick. Vermutlich war er in Gedanken bei ihrer gemeinsamen Zeit im Footballteam des Colleges und hatte die Anfeuerungsrufe ihrer Angehörigen auf der Tribüne im Ohr.

Joe hob den Blick und sah seinen Freund an. »Wann würde es denn passen?«

10

Als wir dann im Auto saßen, sagte ich: »Er ist ein toller Typ, Joe. Und er tut mir echt leid.«

»Ich fand es richtig schön, ihn wiederzusehen. Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?«

»Natürlich. Du besuchst seinen Dad und ich den Wellness-Bereich.«

Joe nickte. »Zum Abendessen bin ich wieder da.«

»Perfekt.« Ich dachte an eine Massage und vielleicht irgendeine Ganzkörperpackung mit exotischen Zutaten. Dazu eine Maniküre, damit die Kollegen mich überhaupt nicht mehr wiedererkannten. Fast hörte ich Brady sagen: »Was haben sie denn mit dir angestellt, Boxer?«

Ich musste grinsen, aber als ich Joe davon erzählen wollte, wirkte er tief in Gedanken versunken.

Er registrierte mich aus den Augenwinkeln und sagte: »Ich muss immer wieder daran denken, wie sein Leben ohne diese vereiste Kurve verlaufen wäre.« Und dann: »Ich schätze, dass viele Profisportler ziemlich kaputt sind. Nicht nur körperlich. Der Ruhm, das Geld, die vielen Enttäuschungen, das alles. Ich bin einfach nur froh, dass er immer noch der Dave ist, den ich kenne.«

Ich nickte zustimmend.

»Und du, Süße?«, fuhr er fort. »Wie fandest du das Essen?«

»Es war fabelhaft, wirklich, das beste Essen meines Lebens, und weißt du auch, warum? Weil es von dir gekommen ist, Joe. Du hast dir das Ganze ausgedacht, in kürzester Zeit. Du hast Dave angerufen und alles organisiert. Und du hast ein kleines Vermögen ausgegeben. Für ein Mittagessen!«

»Aber was ist mit den Speisen? Darüber hast du noch kein Wort verloren.«

»Na ja, darf ich ehrlich sein? Ich bin bestimmt völlig verrückt und müsste jetzt eigentlich in den höchsten Tönen von diesem Lamm von der Salzwiese oder diesem Fleischdings mit dem Erbsenpüree und so weiter schwärmen, aber weißt du, was mir am allerbesten geschmeckt hat?«

»Lass mich raten«, meinte Joe. »Dieser kleine Donut mit Zuckerguss ganz zum Schluss. Wie ein Mini-Krispy-Creme.«

»Gibt’s doch nicht. Woher weißt du das?«

»Erstens bist du Polizistin. Und zweitens hast du beim Essen ein paar sehr sinnliche Laute von dir gegeben.«

»Aha. Tja, vielleicht hab ich dabei an dich gedacht.«

»Hast du nicht.«

»Und da ich mir gleich eine Wellness-Behandlung gönnen werde, bin ich, wenn du wiederkommst, bestimmt tiefenentspannt und völlig entrückt und verströme Blütenduft.«

»Das klingt gut. Genau die richtige Richtung«, erwiderte Joe.

11

Das Milliken Creek Inn liegt ein wenig erhöht am Ufer des Napa River.

Ich kam aus der Wellness-Oase zurück in unser Zimmer mit Balkon und Blick auf den Fluss, dem offenen Kamin und dem riesigen Bett und war von einem ganz neuen Gefühl durchdrungen. Ich empfand überhaupt keinen Stress. Keine Hetze. Keine Eile. Keine Sorgen. Keine Pläne und nichts zu erledigen, außer auszuruhen.

Ich schlüpfte in einen weißen Bademantel, zog ein Paar Socken an und legte mich in das Doppelbett mit der Daunendecke und dem majestätischen Kopfbrett. Erst als Joe meinen Namen rief und das Licht einschaltete, wurde ich wieder wach.

»Tut mir leid, Linds. Ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach sieben. Zwanzig nach. Nach dem Besuch bei Ray haben Dave und ich uns noch jede Menge Jahrbücher und Fotoalben angeschaut, und dann musste ich ihm natürlich noch alles erzählen, was Julie seit ihrer Geburt gesagt und gemacht hat.«

»Oh Mann«, gab ich zurück. »Aber jetzt seid ihr erst mal durch?«

Joe lachte: »Möchtest du zum Abendessen überhaupt noch weggehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Es war so gemütlich hier.

»Ich auch nicht. Am liebsten würde ich nur duschen und mich dann ins Bett legen. Aber einen Moment noch.«

Er setzte sich auf die Bettkante und bestellte beim Zimmerservice eine Käse- und Obstplatte für zwei, einen Korb mit Brot, eine Flasche Sauvignon blanc aus dem Weingut Channing und sagte zum Abschluss: »Haben Sie auch Kerzen? Gut. In zwanzig Minuten würde passen.«

Er legte auf, streifte sein Jackett ab, kam zurück zum Bett und gab mir einen Kuss.

»Mein Gott«, sagte er. »Du duftest ja tatsächlich nach Blumen.«

Ich zeigte ihm meine frisch lackierten Finger- und Zehennägel, und er gab mir noch einen Kuss. Dann streifte er mir ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.

»Bin gleich wieder da«, sagte er.

Ich schüttelte mein Kissen auf, blickte zur Balkontür hinaus und sah, wie der Himmel allmählich seine Farbe verlor. Gleichzeitig hörte ich, wie Joe unter der Dusche einen alten Rock’n’Roll-Song zum Besten gab. Irgendwie hatten sich die Oldies, die wir auf der Fahrt hierher gehört hatten, wohl in seinem Kopf festgesetzt.

»Do you love me? Do you love me?«

Im Bademantel kam er aus dem Badezimmer und schmetterte den Refrain.

»Now … that I … can dance.«

Ich lachte, breitete die Arme aus, und er kam zu mir ins Bett.

Ich legte ihm einen Arm auf die Brust. Er zog mich an sich, und ich legte den Kopf in den Nacken und küsste ihn erneut, dieses Mal mit etwas mehr Feuer als zuvor.

Er sagte: »Nun sieh uns mal an. Zwei Austern in Weiß. Kaviar haben wir gar nicht nötig.«

»Ruf deine Tochter an, bevor es zu spät wird«, gab ich zurück.

Joe stand auf, fischte sein Handy aus seinem Jackett und kam wieder ins Bett. Per FaceTime riefen wir meine Schwester an. Ihre beiden kleinen Töchter stritten sich laut kreischend darum, wer Onkel Joe erzählen durfte, was sie heute alles erlebt hatten. Und dann hatten wir ein sehr schönes Gespräch mit einer schlaftrunkenen Julie, die, wie ich sah, sich mit Martha ein Bett teilte. Julie sagte: »Mommy, sag wuff.«

Ich gehorchte.

»Neeeeinnn. Du sollst es zu Martha sagen.«

Im Hintergrund hörte ich Cat kichern, während Julie meiner alten Hündin das Telefon vor die Nase hielt. Ich wuffte. Dann schickten Joe und ich der Kleinen per Bildschirm ein Küsschen und wünschten ihr eine gute Nacht.

Als wir wieder allein waren, berichtete Joe, dass Ray Channing gar nicht gut ausgesehen hatte. Trotzdem hatte er sich sichtlich gefreut, Joe nach all den Jahren wiederzusehen.

»Er hat behauptet, ich hätte mich kein bisschen verändert.«

Wir lachten beide, und dann klopfte der Zimmerservice an unsere Tür.

Joe und ich nippten an unserem Wein. Knabberten Käse und Obst. Wir unterhielten uns, dann stellte Joe die Kerze in die kleine Glaskugel auf der Kommode, rollte den Servierwagen nach draußen und verriegelte die Tür.

Er zog seinen Bademantel aus und warf ihn über einen Stuhl, kam zurück zum Bett und half mir, meinen ebenfalls auszuziehen.

»Ich muss dir ein Geständnis machen«, sagte ich.

»Jetzt? Soll ich mir die Brust rasieren?«

»Ich liebe deine behaarte Brust. Der Hummer mit Käsemakkaroni. Das war mein Lieblingsgang.«

»Sogar besser als der Mini-Donut?«

»Es war das Beste, was ich je gegessen habe.«

Joe lachte. »Käsemakkaroni.«

»Mit Hummer.«

»Verstehe. Ich glaube, da gibt es sogar ein Rezept.«

Gegen halb neun liebten wir uns bei Kerzenlicht, gerade so viel, dass wir uns gegenseitig in die Augen schauen konnten.

Joe fragte: »Was hast du gesagt, Blondie?«

»Ich habe so ein wahnsinniges Glück.«

»Ich auch.« 

12

Zwanzig Minuten nachdem ich mich von meiner Tochter, meinem Mann und meinem Border Collie verabschiedet hatte, stellte ich meinen Explorer unter der Überführung in der Harriet Street ab.

Die Gerichtsmedizin lag nur einen halben Häuserblock entfernt. Ich wollte meine beste Freundin besuchen, weil ich dachte, dass eine Tasse Kaffee mit Claire ein schöner, sanfter Start in meinen Montagmorgen sein könnte.

Ich zog die schwere Glastür auf, sagte »Hallo« zu Patrick, dem Neuen an Claires Empfangstresen, und bekam zu hören: »Dr. Washburn hat gesagt, Sie sollen schon mal reingehen. Sie ist gleich da.«

Fünf Minuten später betraten Claire und Cindy das Büro. Claire wirkte gestresst, und Cindys Miene verriet, dass sie gerade mitten in einer Geschichte steckte. Ich stand auf und schloss beide in die Arme.

»Deine Haare duften himmlisch«, sagte Claire.

»Ich habe eine Haarkur machen lassen. Ich! Was gibt’s bei euch Neues? Habe ich was verpasst?«

Cindy antwortete: »Am Tag, als ihr weggefahren seid, hast du das noch mitgekriegt? Roger Jennings wird in seinem Auto niedergeschossen, als er aus dem Taco King in der Duboce Avenue kommt.«

»Nicht mitgekriegt.«

»Okay, also, er lebt noch zwei Tage, ist aber bewusstlos und kann kein Wort sagen. Heute Nacht ist er gestorben. Weißt du, wer das war? Roger Jennings?«

»Na klar. Ein Catcher. Hat von den Oakland Athletics zu den San Francisco Giants gewechselt, ungefähr vor einem Jahr, oder? Was ist mit dem Täter?«

Cindy weihte mich in die Einzelheiten ein. »Niemand hat gesehen, wer geschossen hat, auch nicht Jennings’ schwangere Ehefrau, die neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hat.«

Claire sagte: »Die Kugel ist in die Kehle des Opfers eingedrungen, hat mehrere Wirbel und Arterien durchtrennt und ist dann auf der linken Halsseite wieder ausgetreten.«

Cindy fuhr fort. »Und dann hat jemand – entweder der Schütze selbst oder ein Komplize – das Durcheinander genutzt, um das Wort Testlauf auf die Heckscheibe von Jennings’ Porsche Cayenne zu schreiben.«

»Testlauf«, wiederholte ich laut. »Das war also bloß eine Übung. Gut möglich, dass Jennings nur ein zufälliges Opfer war.«

»Kann sein«, erwiderte Cindy. »Aber ich habe mich ein bisschen ausführlicher mit Roger Jennings befasst. Ich glaube, dass er bereits an seiner nächsten Karriere gebastelt hat. Und die war ein bisschen riskanter als Baseball.«

»Wieso denn das?«

»Er hat gedealt«, sagte sie.

»Ist das eine Tatsache?«, wollte ich wissen.

»Ich habe aus vertrauenswürdiger Quelle erfahren, dass Jennings seine Mannschaftskameraden mit MDMA beliefert hat. Vielleicht hat er auch noch andere Kunden gehabt. Chi und McNeil sind schon dran. Aber jetzt …« sagte Cindy, »… muss ich los und meinen Artikel abgeben.« 

Sie warf uns ein Luftküsschen zu.

Dann war sie weg.

13

Noch während Cindy zur Tür hinausschwebte, kam Yuki hereingestürmt.

»Ich hoffe, hier gibt’s irgendwo Kaffee.«

Claire zeigte auf die Kaffeemaschine, und nachdem wir unsere Tassen nachgefüllt und uns um Claires Schreibtisch gruppiert hatten, erzählten wir uns gegenseitig das Wichtigste. Claire hatte das ganze Wochenende gearbeitet und versucht, die sterblichen Überreste von fünf verbrannten Leichen zu sortieren, die nach einem Brand in einem Crack-Haus im Tenderloin District entdeckt worden waren.

»Das ist wirklich extrem«, sagte sie. »Todesursache könnte eine Überdosis sein, eine Rauchvergiftung, eine Schusswunde, alles drei oder keins davon. Es wird sehr schwer werden, auch nur einen der Leichname zu identifizieren.«

Yuki schaltete sich ein: »Verdacht auf Brandstiftung, aber es ist ebenso denkbar, dass eine Crackpfeife auf einen Zeitungsstapel gefallen ist und sie alle so zugedröhnt waren, dass es niemand gemerkt hat.«

Claire erhob sich von dem Platz hinter ihrem Schreibtisch und sagte: »Bin gleich wieder da.«

Ich erkundigte mich bei Yuki, wie weit sie mit ihrem aktuellen Fall war, und sie antwortete: »Der Angeklagte, dieser Clay Warren … Als ich noch für Zac gearbeitet habe, da hätte ich darum gekämpft, dass dieser Junge wieder freikommt. Ich hätte argumentiert, dass er ein Opfer der Umstände geworden ist. Er hatte keine Ahnung von den Drogen im Kofferraum. Ich hätte ihn dazu gebracht, diesen Kotzbrocken zu verpfeifen, der ihn buchstäblich auf dem Zeug hat sitzen lassen. Aber jetzt schicke ich ihn für den Rest seines schwachköpfigen Lebens hinter Gitter. So viel zum Thema kognitive Dissonanzen.«

Dann erkundigte sie sich nach Julie, und ich erzählte ihr, dass Joe und ich gestern Abend völlig erschöpft waren, weil Julie einfach nicht eingeschlafen war. Überhaupt nicht. »Also haben wir sie und Martha irgendwann zu uns ins Bett gelassen, und dann hat unser Schnarchen die beiden wahrscheinlich ausgeknockt. Das Nächste, was ich gehört habe, war jedenfalls: ›Mommy! Ich komm zu spät zur Schule.‹«

Yuki lachte immer noch, als Claire zurückkam und sich auf ihren Schreibtischstuhl plumpsen ließ. Sie nahm einen Schluck Kaffee und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Alles in Ordnung?«, wollte ich wissen.

»Na klar«, erwiderte sie. »Ich hab mir kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Schließlich will ich vor dem Feierabend mit diesen fünf Toten hier fertig werden. Aber erzähl du mal. Ihr wart in der French Laundry?«

Claires Mann vom Empfang klopfte an, streckte seinen Kopf zur Tür herein und sagte: »Bitte entschuldigen Sie, Sergeant. Inspektor Conklin hat gerade angerufen. Sie sollen sofort nach oben kommen.«

Wir unterbrachen unsere kleine Runde und verabschiedeten uns mit einer Umarmung von Claire. Mit großen Schritten gingen Yuki und ich den überdachten Durchgang entlang, der die Gerichtsmedizin mit der Hall of Justice verbindet.

Wir betraten eine bereitstehende Fahrstuhlkabine, und Yuki stieg im zweiten Stock aus. Ich fuhr weiter bis in den dritten, wo ich meinen Partner am Eingang des Bereitschaftsraums stehen sah. Er war gerade dabei, seine Jacke anzuziehen.

»Gut, dass du da bist, Boxer«, sagte Rich Conklin. »Ein Doppelmord in Saint Francis Wood. Wir übernehmen.«

14

Conklin und ich liefen die Feuertreppe hinunter, durchquerten das Foyer und verließen das Gebäude durch den Hauptausgang, der hinaus auf die Bryant Street führte.

Während wir uns einen Streifenwagen besorgten, brachte er mich mit knappen Worten auf den aktuellen Stand.

»Bei den Opfern handelt es sich um Paul und Ramona Baron.«

»Der Musikproduzent?«

»Genau der.«

Ich hatte ein Bild von Baron vor Augen. Dunkle Haare. Mitte vierzig. Klein, mit einem schrillen Charakter. Das Bild vor meinem geistigen Auge stammte von einer Party, die er erst kürzlich mit vielen Leuten anlässlich eines großen Deals mit einer Filmproduktion im Club Monroe gefeiert hatte.

Rich fuhr fort: »Die Haushälterin, eine gewisse Gretchen Linder, ist vor einer halben Stunde zur Arbeit gekommen und hat die Toten gefunden. Die Frau hat noch geatmet, aber sie ist verstorben, als Linder den Notruf abgesetzt hat. Sie ist immer noch vor Ort.«

Conklin setzte sich ans Steuer, und während ich mich noch anschnallte und die Sirene einschaltete, trat er das Gaspedal durch. Der Wagen schoss los. Ich hielt mich an der Armlehne fest, und wir rasten nach Südwesten, Richtung Saint Francis Wood. Dort lebten vor allem reiche, alteingesessene Familien. Es war eines jener Wohnviertel, in denen eigentlich nie etwas passierte … bis etwas passierte.

Abgesehen von einigen wenigen Kraftausdrücken, wenn irgendwelche Volltrottel nicht rechtzeitig Platz machten, sprachen wir bis zur Ankunft vor dem Schauplatz der Morde kein Wort mehr.

Vor einem wunderschönen, alten Haus auf einem Eckgrundstück mit einer Fläche von rund vierhundert Quadratmetern standen drei Streifenwagen. Der Rasen war gemäht, die Büsche beschnitten. Alles hier sah so ordentlich aus wie ein frisch gemachtes Bett.

Wir parkten zwischen dem Fahrzeug der Kriminaltechnik und einem Notarztwagen und stiegen aus.

Ich blieb kurz stehen und verschaffte mir einen ersten Überblick: Multi-Millionen-Dollar-Häuser, so weit das Auge reichte; uralte Bäume am Straßenrand. In der Auffahrt der Barons standen zwei Autos, ein neuer Mercedes und ein Audi, beide blitzblank sauber. Am Straßenrand war ein ziemlich gebrauchter Honda zu sehen, dazu die drei Streifenwagen, der Transporter der Kriminaltechnik und der Krankenwagen. Unverständliche Funksprüche und kreischende Funkgeräte, bellende Hunde und gellende Hupen machten deutlich, dass hier etwas Schreckliches passiert war.