Das andere Zeugnis von Jesus - Ludger Schenke - E-Book

Das andere Zeugnis von Jesus E-Book

Ludger Schenke

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Beschreibung

Das Johannesevangelium gehört zum Kanon der heiligen Schriften des Urchristentums, und zwar von Anfang an und unbestritten. Seine literarische Konzeption und theologische Systematik unterscheiden sich aber von den Synoptikern erheblich (keine Jungfrauengeburt, kein Sühnetod Jesu ...). Weil viele der theologischen Vorstellungen der Synoptiker (und der paulinischen Tradition) nahezu unverändert in das Glaubenssystem der Kirche aufgenommen wurden, kann aufgrund der Abweichungen davon die Frage aufkommen, inwieweit das Johannesevangelium dem allgemeinen Credo entspricht.Wir können wir mit diesen Unterschieden umgehen? Und wie würde unsere Glaubenswelt aussehen, wenn es die Synoptiker nicht in den Kanon geschafft hätten? Würde unsere Glaubenslehre und Gemeindepraxis genau so sein wie heute? Welche Alternativen würden sich auftun? Diesen Fragen geht Ludger Schenke nach, indem er die theologische Systematik des Johannesevangeliums nachzeichnet.

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DAS ANDERE ZEUGNIS VON JESUS

Ludger Schenke

DAS ANDERE ZEUGNIS VON JESUS

Die theologische Alternative des Johannesevangeliums

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Symbol des Evangelisten Johannes, Kloster Conques (Frankreich) um 1100, Grubenschmelz- und Zellenemail auf vergoldetem Kupfer, The Metropolitan Museum of Art, New York.

Satz: Röser Media, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83048-8

ISBN Print 978-3-451-39048-7

Inhalt

Vorwort

1. Das Johannesevangelium im Kanon

1.1 Unterschiede im Kanon

1.2 Ein Mensch an der Stelle Gottes

1.3 Eucharistie und Sühnetod

1.4 Der von Gott gewollte Tod Jesu zur Vergebung der Sünden

1.5 Konsequenzen

2. Aufbau und Welt des Johannesevangeliums

2.1 Kriterien

2.2 Gliederungsmerkmale

2.3 Aufbau

3. Die Entstehung des Johannesevangeliums

3.1 „Kirchliche“ Redaktion

3.2 Oder Relecture?

3.3 Der reale Autor

3.4 Der wahre Zeuge

3.5 Der „Jünger, den Jesus liebte“

4. Das Zeugnis des geliebten Jüngers

4.1 Nachösterliche Wahrheit

4.2 Umgang mit dem Johannesevangelium

4.3 Vom Hören des Evangeliums

5. Das gedankliche System des Johannesevangeliums

5.1 Der Zustand der Welt vor dem Kommen Jesu

5.2 Die Situation des Judentums vor dem Kommen Jesu

5.3 Gottes Heilsplan

5.4 Auftrag und Werk Jesu

5.5 Gehört das Sterben zum Auftrag Jesu?

6. Das Handeln Jesu in Worten und Werken

6.1 Die Handlung

6.2 Im Wirken des Menschen Jesus begegnet Gott

6.3 Das Recht Jesu, so von sich zu sprechen

6.4 Jesu Zeichen

6.5 Der Zweck der Zeichen

7. Mythische Rede

7.1 Kontingentes wird zum Absoluten

7.2 Warum mythische Rede?

7.3 Weitere mythische Vorstellungen

8. Die Beziehung Jesu zum Vater

8.1 Die „Einwohnung“ des Vaters in Jesus

8.2 Jesus als Ikone Gottes

9. Die Jünger als Repräsentanten Jesu und des Vaters

9.1 Jesus und sein Wirken bleiben präsent

9.2 Gottes Liebe bleibt präsent

10. Fazit und Ausblick

Anhang: Die Gottesvorstellung des Autors

Ausgewählte Literatur

Vorwort

Das Johannesevangelium in seiner uns vorliegenden Fassung ist eine große literarische Schöpfung, aber am Ende einer langen Entwicklung. Es ist kein originales Werk, sondern eine Komposition, ein kunstvoll arrangiertes Gewebe, dennoch eine literarische Einheit. Seine Sprache ist einheitlich, wenn auch rätselhaft, eine Sondersprache, die der Leser erst erlernen muss. Die Handlung ist ein großes dramatisches Geschehen. Sie hat einen klaren Anfang, wo die Knoten geknüpft werden, eine Mitte, in der sich die Handlung zuspitzt, und ein Ende, das die Lösung bringt. Schon der Aufbau des Johannesevangeliums zeigt, dass hinter ihm ein literarisches Konzept und ein theologisches System steht. Es ist nicht einfach nur Protokoll oder Dokumentation des Lebens und Wirkens des Jesus von Nazareth, in dem sich wie in jedem Leben auch ungeplante Zufälle und Begegnungen ereignet haben müssen, sondern schildert, dass in diesem Leben sich konsequent ein Plan erfüllt, den der Prolog vorgibt (1,11–12): „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Denen jedoch, die ihn aufnahmen, gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden.“ Im Rückblick wird das Leben und Wirken Jesu gedeutet als das irdische Geschehen, in dem sich Gott geoffenbart und in der Menschen-Welt gewirkt hat. Demnach muss ein gedankliches System hinter der gesamten Darstellung stehen. Doch bringt der Autor dies nicht in einer theologisch-systematischen Abhandlung zur Geltung, sondern er vermittelt es in einer Erzählung, die von der Beziehung zwischen Gott und den Menschen handelt. Eine solche Erzählung nennen wir Mythos. Nach dem gedanklichen System hinter diesem Mythos will ich fragen.

1. Das Johannesevangelium im Kanon

1.1 Unterschiede im Kanon

Das Johannesevangelium gehört zum Kanon der heiligen Schriften des Urchristentums, und zwar von Anfang an und unbestritten. Seine inhaltliche Konzeption und theologische Systematik unterscheiden sich aber von den Synoptikern erheblich. Weil viele der theologischen Vorstellungen der Synoptiker (und der paulinischen Tradition) nahezu unverändert in das Glaubenssystem der Kirche aufgenommen wurden, kann auf Grund der Abweichungen davon die Frage aufkommen, inwieweit das Johannesevangelium dem allgemeinen Credo entspricht. Diese Frage ist natürlich unhaltbar und grenzt schon an Häresie. Denn das Johannesevangelium ist seit jeher als kanonisch anerkannt worden, gilt als Heilige Schrift, in der nach dem Glauben der Kirche Gott selbst durch den menschlichen Autor gesprochen hat, wie in den drei anderen Evangelien auch. Wie sollen wir mit den Unterschieden aber umgehen?

Diese betreffen zunächst die äußeren Umstände des dargestellten Lebens Jesu, seine Zeitdauer und geographischen Räume, Jesu Reisen nach Jerusalem und ihre Anlässe, die an der Handlung beteiligten Personen und andere Äußerlichkeiten (vgl. dazu unten Nr. 2.1). Diese Unterschiede lassen sich zur Not mühsam, wenn auch zumeist wenig plausibel, miteinander harmonisieren. Was aber ist mit den gravierenden inhaltlichen Unterschieden, die uns im Folgenden beschäftigen sollen?

Sie sind nicht erst heute erkannt worden. Schon die Alte Kirche hat sie festgestellt und auszugleichen versucht. Dass sie bei der Kanonisierung des Johannesevangeliums dennoch keine Rolle gespielt haben, dürfte darin begründet sein, dass die Alte Kirche schon früh den Apostel Johannes aus dem Kreis der Zwölf als seinen Autor angesehen hat. Die Zuschreibung des Evangeliums an einen der vier wichtigsten Jünger aus dem engsten Kreis um Jesus schützte es vor allzu kritischen Fragen und Vergleichen. Aber sie war ein Irrtum, wie heute fast allgemein anerkannt wird. Am Schluss des Evangeliums wird der Autor nämlich identifiziert (21,23f). Er ist der geliebte Jünger, der in 13,23 erstmals erwähnt, dessen Name aber nicht genannt wird, sondern der anonym bleibt. Schon Irenäus von Lyon hat diesen Jünger mit dem Apostel Johannes, dem Sohn des Zebedäus, identifiziert und diesen so zum Autor des Johannesevangeliums gemacht. Dagegen spricht jedoch 21,2, wo neben zwei anonymen Jüngern noch die Söhne des Zebedäus ausdrücklich genannt werden. Soll einer von ihnen jener „Jünger, den Jesus liebte“ sein (21,7), der den Unbekannten am Ufer erkennt und es dem Simon Petrus sagt? Da das Johannesevangelium die Jünger Jesu, vor allem diejenigen aus dem Kreis der Zwölf, sonst immer mit ihrem Namen nennt, sollte man in 21,7 eigentlich den Namen Johannes erwarten. Viel wahrscheinlicher ist, dass einer der zuvor erwähnten anonymen Jünger der geliebte Jünger ist (zum geliebten Jünger und zur Autorenfrage vgl. u. Nr. 3.3–5).

Keine der frühchristlichen Gemeinden, aus denen die Evangelien hervorgingen, verfügte gleichzeitig über alle vier. Solange die Evangelien als Papyrusrollen und nicht als Kodizes existierten, besaß wohl jede Gemeinde lediglich „ihr“ Evangelium. Die Zuschreibung an einen Apostel oder eine andere hervorragende Persönlichkeit war nicht zwingend notwendig, weil jede Gemeinde den Autor „ihres“ Evangeliums gewiss kannte. Man wird zwar vermuten dürfen, dass die Gemeinden auch Kenntnis von der Existenz der anderen Evangelien hatten. Matthäus und Lukas haben ja das in ihren Gemeinden wahrscheinlich bekannte Markusevangelium in ihre eigene Schrift integriert, es durch die Logienquelle und zahlreiche Gleichnisse und Erzählungen (Sondergut) ergänzt und so ersetzt. Danach dürfte das Markusevangelium in ihren Gemeinden nicht mehr gelesen worden sein. Auch der Autor des Johannesevangeliums kannte die früher entstandenen Synoptiker und bezog sich hin und wieder auf sie, aber er übernahm sie nicht. Zwar bestreitet er nicht, dass es weitere Bücher über das Wirken Jesu geben könnte (vgl. 21,25), die aber für seine Gemeinschaft keine Bedeutung hätten. Einzig das im Johannesevangelium aufgeschriebene wahre Zeugnis des geliebten Jüngers sollte die Grundlage für ihren Glauben sein. Erst als alle vier Evangelien in einem Kodex beisammenstanden und in allen Gemeinden, die einen Kodex besaßen, nebeneinander gelesen werden konnten, wurde die Verfasserfrage wichtig, um das eigene Recht jedes Evangeliums sicherzustellen. Jetzt wurde das erste Evangelium dem Apostel Matthäus zugeschrieben, der Autor des zweiten wurde zum Dolmetscher des Simon Petrus erklärt und beim vierten wird der geliebte Jünger als Autor kurzerhand zum Apostel Johannes.

Erst im Laufe des 2./3. Jahrhunderts wurde die immer größer werdende Zahl von Büchern über das Wirken Jesu zum Problem. Die Kirche musste festlegen, welche Schriften zum maßgeblichen Kanon für die ganze Kirche gehören sollten. Zahlreiche weitere „Evangelien“ entstanden, wurden ausgesondert und gelten heute als „Apokryphen“, die vier kanonischen Evangelien dagegen wurden als allgemein verbindlich angesehen. Aus ihnen schöpfte die sich entwickelnde Glaubenstradition ihre theologischen Anschauungen, was vorher so nicht der Fall war. Zuvor begründete jede christliche Gruppe oder Großgemeinde ihre Theologie und Praxis aus dem einen Evangelium, das Geltung bei ihr hatte.

Damit sind wir wieder bei den Unterschieden des Johannesevangeliums zu den Synoptikern und der paulinischen Tradition. Welche Glaubensvorstellung des kirchlichen Credos verdanken wir welchem Evangelium? Wir können uns rein hypothetisch die Frage stellen, wie unsere Glaubenswelt aussehen würde, wenn die Synoptiker es durch Zufall oder Unfall nicht in den Kanon geschafft hätten und uns als einziges Evangelium nur das Johannesevangelium überliefert wäre. Würde unsere Glaubenslehre und Gemeindepraxis genau so sein wie heute? Welche Alternativen würden sich auftun? Dieser Frage wollen wir nachgehen, indem wir das Johannesevangelium daraufhin befragen, welche Folgen es für die Christenheit hätte, wenn es die einzige Richtschnur für Lehre und Praxis der Kirche wäre?

1.2 Ein Mensch an der Stelle Gottes

Der gravierendste Unterschied besteht in der Art und Weise, wie über die Beziehung zwischen Jesus und Gott gesprochen wird. Im Markusevangelium greift Gott selbst vom Himmel her in das Geschehen ein und nennt Jesus zuerst vor den Lesern (1,11; vgl. 1,1) und dann vor den Jüngern (9,7) seinen geliebten Sohn. Auch die Dämonen erkennen in ihm den Sohn Gottes (1,24; 3,12; 5,7). Der Hauptmann unter dem Kreuz stellt über den toten Jesus fest: „Dieser Mensch war wirklich Gottes Sohn“ (15,39). Jesus selbst aber spricht nur zweimal vom Sohn (12,6; 13,32), ohne sich eindeutig damit zu identifizieren. Er nennt sich selbst den Menschensohn. Seine Präexistenz setzt Markus aber voraus, wenn er in 1,2f der Jesusgeschichte eine von Jesaja geschaute himmlische Szene voranstellt, in der Gott mit einem anderen „Ich“ über dessen Sendung und Schicksalsweg spricht. Auch David ist Zeuge einer himmlischen Anrede an seinen präexistenten Herrn (12,36). Und Markus lässt Jesus sagen, er sei zu einem bestimmten Zweck gekommen (1,24; 10,45) bzw. gesandt worden (vgl. 12,6).

Das Matthäusevangelium übernimmt die Konzeption des Markus weitgehend, ergänzt sie aber durch die Vorstellung, dass die Menschwerdung Jesu im Leib seiner Mutter nicht durch Josef, sondern durch den Heiligen Geist angestoßen wurde (1,18.20; vgl. Jes 7,14). Auch das Lukasevangelium vertritt die Vorstellung von der Empfängnis Jesu in der Jungfrau Maria durch den Heiligen Geist und durch die Kraft des Allerhöchsten in einer Weise, wie sie als leicht missverständliche Glaubensvorstellung Eingang ins Credo gefunden hat (Lk 1,31f.35): Gott selbst hat durch einen wunderbaren Eingriff seinen Sohn als Mensch in der Jungfrau Maria entstehen lassen. Einen menschlichen Vater hat Jesus deshalb nicht (Lk 4,23; vgl. Mk 12,36f). Diese Aussage setzt die antike Vorstellung voraus: Ein Mensch entsteht im Mutterleib aus dem Blut der Frau, der Mann gibt lediglich einen Anstoß zu dieser Entwicklung. Diese Mitwirkung des Mannes wurde bei Jesus durch den Geist bzw. die Kraft Gottes ersetzt. Die Synoptiker (und die paulinische Tradition in Röm 1,3f und Phil 2,6ff; vgl. Gal 4,2) formulieren also für den antiken Menschen anschaulich, wie ein göttliches Wesen ein Mensch werden konnte. Sie wollen aber nicht Gott bzw. den Geist zum „biologischen“ Vater Jesu erklären.

Diese Anschaulichkeit fehlt im Johannesevangelium, obwohl man denken könnte, dass die johanneische Vorstellung von der Beziehung zwischen dem Sohn Jesus und dem Vater/Gott durchaus auf den Synoptikern aufbaut. Doch das ist nicht der Fall. Im Johannesevangelium spricht Jesus ständig von sich als dem Sohn und nennt Gott seinen Vater. Kein anderer sonst (außer Johannes der Täufer) benutzt diese Kennzeichnung, weder der Autor noch Gott selbst. Gott spricht ohnehin im Johannesevangelium nur ein einziges Mal (12,28), aber niemand (außer Jesus und der Autor) versteht ihn. An der Stelle Gottes spricht vielmehr Jesus. Der Vater hat ihn dazu in die Welt gesandt, dass er Gottes Worte spricht und Gottes Werk der Liebe zur Welt vollendet. Als der Gesandte des Vaters nimmt der Mensch Jesus auf Erden Gottes Rolle ein. Die Verbindung zwischen ihm und dem Vater ist so eng, dass Jesus von sich sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30). Das ist vorstellbar, weil der Vater so in ihm ist, wie eine dargestellte Rolle im Schauspieler ist (10,38; 14,10f). „Aber ich bin nicht allein, weil der Vater mit mir ist“ (16,32). Jesus ist geradezu das irdische Abbild des im Himmel verborgenen Vaters: „Niemand kommt zum Vater, außer durch mich. Sobald ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen“ (14,6f). Trotzdem gilt: „Der Vater ist größer als ich“ (14,28). Denn als der Weg zum Vater kann Jesus nicht selbst der Vater sein (zum Ganzen vgl. u. Nr. 6.2).

Unwahrscheinlich ist, dass diese Konzeption aus den Aussagen der Synoptiker entwickelt wurde. Der Duktus ist völlig verschieden. Während die Synoptiker die Frage lösen wollen, wie ein präexistentes göttliches Wesen ein irdischer Mensch werden konnte, geht es im Johannesevangelium um die Frage, mit welchem Recht der Mensch Jesus von sich sagen darf, dass er Gott darstellt und vertritt. Genau darum geht es ja in den Vorwürfen der Gegner: „Obwohl du ein Mensch bist, machst du dich selbst zu Gott!“ (10,33; vgl. 5,18; 6,42; 19,7). Dass Jesus ein Mensch von Fleisch und Blut ist (6,53ff; 19,34f), wird im Johannesevangelium überhaupt nicht bestritten, weder von Jesus selbst noch vom Autor (7,28). Ohne Vorbehalt wird von der Familie Jesu gesprochen, von Vater, Mutter und Brüdern (1,45; 2,1.12; 6,42; 7,3), die jeder kennt. Von einer „Menschwerdung“ durch den Geist und einer Jungfrauengeburt hören wir dagegen nichts, und Bethlehem als Geburtsort Jesu wird von den Zuhörern Jesu in Abrede gestellt (7,42). Die Leser könnten diesen Einwand nur abwehren, wenn sie es anders wüssten. Aber können die Synoptiker dafür ihre Quelle sein? Jedenfalls ist das „schönste“ Fest der Kirche, Weihnachten, im Johannesevangelium nicht begründet.

Ist aber 1,14 nicht ein entscheidendes Gegenargument: „Und das Wort (logos) ist Fleisch geworden“? Selbst wenn wir das gelten ließen, wären wir noch lange nicht bei einer Jungfrauengeburt. Zudem muss bedacht werden, an welcher Stelle im Prolog dieser Satz steht und welche Funktion er hat. Will er ein neues Faktum aussagen, oder ist er eine theologische Schlussfolgerung aus dem bisher im Prolog Gesagten, die den Lobpreis derjenigen, die Jesus aufgenommen (1,12f) und durch ihn Kunde von Gott erfahren haben (1,18), eröffnet? Der Satz ist ja nicht der erste im Prolog, der das Kommen des Logos in die Welt anspricht. In 1,6–9 wird in einer Kurzform die Geschichte erwähnt, die das Johannesevangelium dann erzählt: Mit Johannes dem Täufer war der Mensch da, der gottgesandter Zeuge des Lichtes sein sollte. Das wahre Licht dagegen war ein anderer (Mensch!), kommend in die Welt. Der Vorgang bleibt unanschaulich, muss aber wohl so verstanden werden, dass mit dem Menschen Jesus der Logos als Licht in der Welt angekommen ist. Was von Anfang an das Ziel des Logos war, Leben und Licht für die Menschenwelt zu sein (1,4), ist nun eingetroffen. Wie die Verbindung zwischen dem Logos und dem Menschen Jesus gedacht werden soll, bleibt aber vollkommen unanschaulich.

Als die Gegner Jesus zum zweiten Mal steinigen wollen, weil sie ihn der Blasphemie beschuldigen, widerlegt Jesus ihren Vorwurf, als ein Mensch mache er sich selbst zu Gott, mit einem Hinweis auf ihr Gesetz: „Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: ‚Ich habe gesagt, ihr seid Götter‘? Wenn es jene Götter nannte, denen das Wort Gottes zuteilwurde, und wenn die Schrift nicht aufgelöst werden kann, wie könnt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: ‚Du lästerst Gott‘, weil ich gesagt habe: ‚Ich bin Gottes Sohn‘?“ (10,34). Dieses Argument funktioniert als Widerlegung nur, wenn zwischen den Göttern und dem Sohn Gottes kein qualitativer Unterschied besteht. Tatsächlich ist ja die Wirkung der Sendung Jesu auch, den Seinen, „die an seinen Namen glauben“, die Vollmacht zu geben, Kinder Gottes, also auch „Söhne“, zu werden (1,12). Wie das geschieht, erklärt 1,13: Sie wechseln ihren Ursprung. Obwohl sie Menschen sind und bleiben, sind sie nicht mehr „aus Blut und nicht aus Fleischeswillen und nicht aus Manneswillen gezeugt …, sondern aus Gott!“ Dieser Wechsel vollzieht sich im Glauben. Der Glaube ist die Geburt aus dem Heiligen Geist. Denn es gilt: „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (3,5ff). Diese Geburt aus dem Geist, also aus dem Glauben zu bewirken, ist das Werk, das Jesus auf Erden vollenden soll (6,28f).

Die Glaubenden übernehmen nach Jesu Weggang dann auch seine Rolle, sie setzen seine Sendung fort (13,20; 17,18; 20,21), sind wie er Geistträger (1,33, 14,16f), wie er von oben (3,3), zwar in der Welt, doch nicht von der Welt (15,19; 17,11), obwohl sie Menschen sind und bleiben. Sie sprechen die Worte Gottes und tun seine Taten (14,12ff). In ihrer Gemeinschaft vollenden sie wie Jesus die Liebe Gottes (13,34ff; 15,12). Deshalb kann auch von ihnen wie von Jesus gesagt werden, dass „der Vater in ihnen“ ist (14,19f; 17,20ff; vgl. s. u. Nr. 9). Müssten die Selbstaussagen Jesu im Johannesevangelium nicht von diesen Analogien über die Glaubenden her interpretiert werden, statt sie mit den Vorstellungen der Synoptiker ausgleichen zu wollen?

1.3 Eucharistie und Sühnetod

Ein weiterer gravierender Unterschied zwischen dem Johannesevangelium, den Synoptikern und der paulinischen Tradition betrifft das Verständnis der Eucharistiefeier. Die Synoptiker und Paulus verlegen ihre Einsetzung und den ersten Vollzug in das Paschamahl Jesu mit seinen Jüngern vor der Passion. Die Gemeinde soll im eucharistischen Mahl des Todes Jesu gedenken, der sein Leben, Fleisch und Blut, als Sühne für die Sünden aller hingegeben hat (1 Kor 11,24f; Mk 14,24; Mt 26,28). Damit wurde der Alte Bund neu begründet. All diese Vorstellungen und Deutungen fehlen im Johannesevangelium. Hier stirbt Jesus bereits am Nachmittag des Paschatages, wenn die Lämmer im Tempel geschlachtet wurden, also noch vor dem Paschamahl. Das Abschiedsmahl, das Jesus mit seinen Jüngern hält, ist also nicht das Paschamahl. Das wahre Paschalamm ist vielmehr der „geschlachtete“ Jesus (19,36). Auch die johanneische Gemeinde hat Eucharistie gefeiert, in der „Fleisch und Blut des Menschensohnes“ Jesus unter den Gestalten von Brot und Wein gegessen und getrunken wurden (6,53f). Ihr Genuss verbürgt das ewige Leben (6,51a). Doch gilt diese Zusage bereits dem Glauben an den Gesandten Gottes (6,47; 17,3). In seinem gesamten Wirken, nicht erst in seinem Sterben gilt Jesus als „Brot des Lebens“, als „das lebende Brot“ (6,48.51). Dieses Verständnis entfaltet die große Rede Jesu über das Brot des Lebens in 6,26–59. Von einem Sühnesterben Jesu zur Vergebung der Sünden ist im gesamten Evangelium nicht die Rede, und die Eucharistiefeier dient nicht wie bei Paulus der Verkündigung des Todes Jesu (1 Kor 11,26), sondern sie ist sakramentales Zeichen für den Glauben an den Gesandten Jesus.

Darum wird die Einsetzung der Eucharistie auch nur schwach mit der Passion verbunden. Das gesamte Wirken Jesu als das wahre Brot vom Himmel ist seine Einsetzung. Stattdessen wird nach dem Abschiedsmahl die Fußwaschung der Jünger durch Jesus erzählt als symbolische Vorwegnahme seiner Lebenshingabe für die Jünger. Nach 13,1; 15,13 ist sie die Vollendung der Liebe Jesu zu den Seinen und darin der Liebe Gottes (3,16). Sie ist ein Vorbild für die Jünger, das sie nachahmen müssen (13,13–15; 21,18f). Das Sühnesterben Jesu zur Vergebung der Sünden als ein einmaliges Geschehen wäre hingegen für die Jünger nicht wiederholbar.

Die paulinische und synoptische Interpretation der Eucharistie hat die Tradition und Praxis der Kirche entscheidend geprägt. Die johanneische Sicht steht dazu in einer größtmöglichen Differenz, die keine noch so bemühte Harmonisierung beiseiteschafft. Wie könnte unsre Eucharistiefeier heute aussehen, wenn wir dem Johannesevangelium folgten? Oder drohte uns dann die Exkommunikation?

1.4 Der von Gott gewollte Tod Jesu zur Vergebung der Sünden

Eine weitere Differenz hängt unmittelbar mit dem Problem der Eucharistie zusammen. Sie liegt ihm logisch voraus. Es geht um das Verständnis und die Deutung des Sterbens Jesu. Im Markusevangelium muss Jesus einen Weg gehen, den Gott ihm vorgibt und durch Johannes den Täufer vorbereitet (1,2f). Es ist der Weg von Galiläa nach Jerusalem in seine Passion, zu dem Jesus ab 8,27 bewusst aufbricht. Das Sterben ist ein Muss, das Gott ihm auferlegt hat (8,31), es ist Gottes Wille, dem Jesus sich fügt (14,34). In ihm zahlt er ein Lösegeldfür die Vielen (10,45) und gibt sein Blut als Bundesblut hin für alle (14,24). Jesus weiß darum und bespricht sein Passionsgeschick mehrfach mit den Jüngern (8,31; 9,31; 10,32f; 9,14f; 12,8; 14,21). Matthäus folgt dem Markusevangelium in allem. Vorbereitet ist diese Sicht durch die paulinische Tradition (vgl. Röm 3,25f; 1 Kor 15,3; Phil 2,7f).

Auch im Johannesevangelium steht das Todesgeschick Jesu den Lesern schon früh vor Augen. Johannes der Täufer weist darauf hin, wenn er Jesus als das Lamm Gottes