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Erschreckend hoch ist die Burnout-Gefahr bei Menschen in geistlichen Berufen. Zu den allgemeinen Stressfaktoren kommen oft hohe eigene Ansprüche des Ganz-für-den-Anderen-da-Seins sowie ein weit verbreitetes Einzelkämpfertum. Von Heyl benennt die konkreten Gefahren, die zum Burnout in geistlichen Berufen führen können und zeigt wirksame Strategien, wie man ihnen im Alltag begegnen kann.
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Seitenzahl: 221
Andreas von Heyl
Das Anti-Burnout-Buch für Pfarrerinnen und Pfarrer
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Copyright © 2012. Kreuz Verlag
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ISBN der Printausgabe: 978-3-451-61040-0
E-Book ISBN: 978-3-451-33795-6
Einführung
Stress gehört zum Leben
Zur geistlichen Dimension von Brennen und Ausbrennen
Helfen macht müde
Burnout – was ist das eigentlich?
Die Last des Amtes und die Belastung der Amtsträger/innen
Die Lust des Amtes und die Entlastung der Amtsträger/innen
Strukturelle Burnout-Vorsorge im kirchlichen Dienst
Grundlinien einer professionellen Hygiene im kirchlichen Dienst
Und wenn die Prävention scheitert?
Für die eigene Seele sorgen
Den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie haben sich von einem Buch ansprechen lassen, in dem es um Burnout und dessen Prävention in kirchlichen Berufen geht. Wahrscheinlich sind Sie selbst in einem kirchlichen Arbeitsfeld tätig, als Pfarrerin oder Pfarrer, als Diakon oder Diakonin, als Religionspädagogin oder in einem anderen pädagogisch-theologischen Beruf. Belastungen und Stress spielen in Ihrem beruflichen Alltag sicher eine Rolle. Vielleicht leiden Sie manchmal an bestimmten Überlastungserscheinungen und spüren sogar schon erste Anzeichen von Burnout – oder schlimmstenfalls stecken Sie bereits mittendrin.
Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie sich vor Burnout schützen können. Wie Sie hilfreich mit den spezifischen Belastungen im Pfarrberuf und anderen kirchlichen Berufen umgehen können und wie Sie vermeiden, sich immer wieder in typischen Fallen zu verfangen, die Sie sich selbst stellen oder die von anderen gestellt werden. Es geht um die Arbeitsgesundheit im kirchlichen Bereich. Gerade in Berufen, denen so zentral an Heil und Heilung, am äußeren und inneren Wohl der Menschen gelegen ist, ist es ein Skandal, dass diejenigen, die sie ausüben, immer mehr belastet und oft sogar krank werden.
Was ein Buch nicht leisten kann, ist, Sie wieder gesund zu machen, wenn Sie gerade eine Erschöpfungsdepression oder ein Burnout-Syndrom durchleiden. In diesem Fall führt kein Weg an fachkundiger Hilfe vorbei, und ich bitte Sie, diese unbedingt in Anspruch zu nehmen. Ab einer bestimmten Intensität werden die Dinge »von selbst« nicht mehr besser, sondern in der Regel immer schlechter. Therapie ist ein interaktives Geschehen zwischen zwei oder mehreren Personen in einem genau definierten Rahmen. Ein Buch kann dies nicht leisten. Sie brauchen übrigens keine Sorge zu haben, dass Ihnen berufliche Nachteile erwachsen, wenn Sie therapeutische Hilfe für sich in Anspruch nehmen. Die Personalreferenten der Landeskirchen werten dies schon lange nicht mehr als Makel und Zeichen von Schwäche, sondern umgekehrt als Ausweis von Kompetenz und Professionalität.
Dieses Buch richtet sich im Titel zwar zunächst an Pfarrerinnen und Pfarrer, doch vieles von dem, was hier zur Sprache kommt, betrifft auch Mitarbeitende in anderen kirchlichen Berufen. Es sind also auch Diakone, Religions- und Gemeindepädagoginnen, Kirchenmusiker, Kindergärtnerinnen und andere im kirchlichen Dienst Beschäftigte angesprochen.
Schwerpunktmäßig geht es um die Situation in der evangelischen Kirche. Viele der Analysen und Schlussfolgerungen lassen sich jedoch auch auf die katholische Kirche übertragen. Wobei sich dort, zumindest bei den Priestern, aufgrund des Zölibats noch einmal spezielle Probleme ergeben. Andererseits ist der Pfarrberuf auf evangelischer Seite oftmals auch nicht problemlos mit einem harmonischen Familienleben zu vereinbaren.
Naturgemäß wird im Folgenden viel von Belastungen und Problemen der Arbeit in kirchlichen Berufen die Rede sein. Darüber sollten wir aber im Auge behalten, dass die meisten Tätigkeiten in diesen Berufen zu den schönsten und erfüllendsten Aufgaben zählen, die es überhaupt gibt und die viel Freude und innere Bereicherung schenken. Gerade deshalb ist es wichtig, mit Leidenschaft ans Werk zu gehen, dabei aber die je eigenen Grenzen zu kennen und zu beachten.1
Stress gehört zum Leben. Der Wunsch nach einem stressfreien Leben ist zwar verständlich, aber er wird sich nicht erfüllen. Der einzige wirklich stressfreie Zustand ist der Tod. Menschen wie Tiere, wahrscheinlich auch Pflanzen, erleben während ihres Daseins immer wieder Augenblicke oder längere Phasen, in denen sie unter Stress geraten. Beim Menschen ist zu unterscheiden zwischen »Eu-Stress«, dem »guten«, angenehmen Stress, und dem gesundheitsschädlichen, zersetzenden »Dis-Stress«. Eustress empfindet die Pfarrerin vielleicht, wenn sie spürt, wie sie beim Verfassen einer Predigt immer mehr »in Fluss« kommt, darüber die Zeit vergisst und bis weit nach Mitternacht an ihrem Schreibtisch sitzt. Gerade an diesem Beispiel leuchtet aber zugleich ein, dass auch der Eustress auf Dauer gesundheitsschädlich ist. Sollte die Pfarrerin in ihrer Euphorie nämlich gleich mehrere solcher sie begeisternden Nachtschichten einlegen, wird ihr ihr Körper früher oder später die Zusammenarbeit verweigern.
Dass wir Stress erleben, ist nichts Negatives, im Gegenteil: Die Natur hat uns ein endokrinologisches Alarmsystem mitgegeben, damit wir überleben können. In Gefahrensituationen bringt der Stress unseren Organismus in kürzester Zeit in Hochform. Aktiviert wird das Stresssystem durch das Auftauchen von Stressoren. Bei unseren frühzeitlichen Vorfahren war dies zum Beispiel ein Säbelzahntiger, der plötzlich aus dem Gebüsch hervorbrach. Das Erscheinen der Raubkatze hatte zur Folge, dass sich der gesamte Organismus des überraschten Jägers blitzartig und unwillkürlich in den Alarmzustand versetzte, um die größtmögliche physiologische und psychische Präsenz zu erreichen. Der Hypothalamus im Gehirn setzt in solchen Fällen in Sekundenbruchteilen die Botenstoffe CRH und Vasopressin frei, diese wiederum veranlassen die Hypophyse, den Botenstoff ACTH auszuschütten, der binnen zwei, drei Herzschlägen die Nebennierenrinde erreicht und bewirkt, dass sie das Stresshormon Cortisol ausstößt. Vom Nebennierenmark werden zusätzlich die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin in die Blutbahn abgegeben. Durch den Blutkreislauf werden sie in alle Organe und Muskeln transportiert und versetzen diese in Höchstform. Das Herz schlägt unserem Jäger nun bis zum Hals, seine Lungenaktivität verstärkt sich, um die Muskeln mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Gehirn und Nervensystem, die Sinnesorgane und der Muskelapparat sind in höchster Anspannung. Blitzschnell gilt es jetzt, zu entscheiden: »fight or flight«. Die Bestie angreifen mit aller Kraft oder so schnell wie möglich fliehen. Für welche der beiden Möglichkeiten sich der Urmensch auch entschied, in jedem Fall wurde durch die daraufhin erfolgende intensive körperliche Aktivität der Hormonspiegel in seinem Blut wieder abgebaut.
Und genau dies geschieht bei uns »Zivilisierten« immer seltener. Der normale Büromensch schlägt seinen Chef und seine Kunden nicht, wenn sie ihn ärgern. Er rennt auch nicht einfach aus dem Zimmer. Die Pfarrerin brüllt ihren Dekan nicht an und haut eben nicht mit der Faust auf den Tisch, auch wenn er es verdient hätte. Wir bleiben sitzen. Wir senken den Kopf. Es kocht in uns, aber wir schlucken unseren Ärger hinunter. Dort verursacht er dann Magen- oder Kopfschmerzen.
Hinzu kommt, dass wir in einer Zeit leben, in der wir zusätzlich zu den jeweils gerade akuten Stressoren einer Vielzahl von Hintergrundbelastungen ausgesetzt sind, die frühere Generationen so nicht kannten. Denken wir nur an die vielen Umweltgifte. An den immerwährenden Lärmteppich, dem man zumindest in den Städten gar nicht mehr entfliehen kann. An das Blitzgewitter der unterschiedlichsten Sinnesreize, die täglich auf uns eindringen. Aber auch an die zunehmende Bindungs- und Beziehungsunsicherheit im sozialen Netz, in dem wir leben, und an die wirtschaftliche und berufliche Ungewissheit, mit der wir fertig werden müssen. Der anhaltende Stress unserer Lebensbedingungen macht heute immer mehr Menschen krank. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse werden bereits bei jedem fünften Erwerbstätigen psychische Störungen diagnostiziert.2 Viele von uns stehen ständig »unter Strom«. Die Adrenalin- und Cortisolwerte in ihrem Blut sind permanent zu hoch. Eine anhaltend hohe Cortisolkonzentration schwächt das Immunsystem, macht also infektanfälliger, führt zu Schlaflosigkeit, ständiger Gereiztheit, hohem Blutdruck und kann letztendlich Depressionen verursachen. Diese Symptome wirken dann als weitere Stressoren wieder auf den Organismus zurück und verstärken nochmals den Stress.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert, dass neben Krebs, Demenz und Depressionen stressbedingte Gesundheitsstörungen die Hauptkrankheiten des 21.Jahrhunderts sein werden. Und unter diesen stressbedingten Gesundheitsstörungen findet sich nun in zunehmendem Maße auch jenes »Burnout-Syndrom«, um das es in diesem Buch gehen soll.
Vor der Beschäftigung mit der Entstehung und den Auswirkungen des Burnout-Syndroms möchte ich zunächst einiges zur geistlichen Dimension der Thematik ausführen. Dabei wird sich zeigen, dass es für kirchliche Mitarbeitende noch eine andere, tiefere Auswirkung hat, wenn sie von »Burnout« betroffen sind, als beispielsweise für Krankenschwestern oder Lehrer.
Mit den Begriffen »Brennen« und »Ausbrennen« bewegen wir uns von vornherein im Umfeld zentraler biblischer Themen. Es geht um Leuchten oder Verlöschen, um Licht und Finsternis, ja letztlich um Leben und Tod. »Finsternis« ist der biblische Zentralbegriff für den Bereich des Todes, der Sünde, der von Gott abgewandten Welt, die in und an dieser Abwendung zugrunde gehen wird. Wo aber Gott ist, da ist »Licht«. 67Mal spricht die Bibel vom Licht, 52Mal von der Finsternis. 27Mal verwendet sie das Wort Feuer im Blick auf Gott. Vor allem im Alten Testament ist dabei nicht nur von der belebenden, sondern auch von der verzehrenden und verheerenden Kraft des Feuers, das von Gott ausgeht, die Rede. Auffallend ist, dass gerade an herausgehobenen Stellen der Bibel immer wieder die Metaphorik des Feuers und des Brennens erscheint:
Im Alten Testament
Am Beginn der Geschichte Gottes mit Israel steht der brennende Dornbusch, aus dem heraus Gott zu Moses spricht (vgl. Ex 3,2).
Gott weist seinem Volk den Weg aus der Sklaverei in die Freiheit, indem er ihm tagsüber in einer Wolkensäule und nachts in einer Feuersäule vorangeht (vgl. Ex 13,21).
Im kultischen Gesetz Israels wird explizit betont, dass »auf dem Altar des Herrn ständig das Feuer brennen und nie verlöschen« soll (Lev 6,5–6).
Einem der wichtigsten Propheten Israels, Elia, gab man den Beinamen der »Feurige«, nicht nur wegen seines ungestümen Wesens, sondern auch, weil er am Ende in einem feurigen Wagen, gezogen von feurigen Rossen, in den Himmel entrückt wird (vgl. 2Kön 2,11). Im Buch Jesus Sirach heißt es über ihn wunderbar bildkräftig: »Er brach hervor wie ein Feuer, und sein Wort brannte wie eine Fackel« (Sir 48,1).
Im Neuen Testament
Im Neuen Testament setzt sich die Metaphorik fort. Johannes der Täufer weist auf Jesus hin mit den Worten: »Nach mir wird jemand kommen, der euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen wird« (Mt 3,11; vgl. Lk 3,16).
Jesus wiederum sagt über Johannes: »Er war ein brennendes und scheinendes Licht« (Joh 5,35).
Von sich selbst sagt Jesus: »Ich bin gekommen, um ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennen würde« (Lk 12,49).
Als ein Beispiel für die rechte Nachfolge stellt Jesus seinen Hörern das Bild von den zehn klugen und den zehn törichten Jungfrauen vor Augen (vgl. Mt 25). Die Klugen haben ein Reservefläschchen für ihre Öllampen dabei, sodass sie dem Bräutigam auch noch mit ihren Lichtern entgegenziehen können, als dieser sich verspätet. Aus diesem Gleichnis erhebt sich die direkte Frage an uns: Wie steht es mit unserem »Brennstoff«? Haben wir Reserven? Wo sind unsere Ressourcen? Pflegen wir sie? Übrigens ist die Öllampe in diesem Zusammenhang ein viel schöneres Symbol als das im Raum der Kirche gebräuchliche Sinnbild der Kerze. Eine Kerze verzehrt sich selbst, während sie leuchtet, und ist dann eines Tages nicht mehr da. Ein Öllämpchen kann man einmal heller und einmal schwächer leuchten lassen, je nach Bedarf. Und wenn es einmal ausgeht, ist es nicht weiter schlimm, denn es lässt sich jederzeit neu entzünden – wenn, ja eben wenn genügend Brennstoff vorhanden ist.
»Seid brennend im Geist!«, fordert Paulus die Gemeinde im Römerbrief auf (Röm 12,11).
Am Geburtstag der Kirche, an Pfingsten, begegnen wir erneut der Metaphorik des Feuers: »Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten und sich auf jeden von ihnen setzten, und sie wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt…« (Apg 2,3f.). Es hätte ja auch ein anderes Symbol sein können, ein Regenbogen vielleicht oder ein Sturmgebraus, aber nein, es ist wieder das Feuer. Das Feuer ist der Inbegriff jener Kraft, mit der das Göttliche auf Erden erscheint und Menschen entflammt, sodass sie »begeistert« werden, dass sie »entbrennen«, dass sie sich mit »Feuer und Flamme« und mit ganzem Herzen einsetzen für eine Welt, die so werden soll, wie sie Gottes Willen entspricht. Die Apostel waren solche »Brennenden«, vor allem Paulus, dem Jesus »in einem leuchtenden Licht vom Himmel« erschien und der dann die Frohe Botschaft des Evangeliums in ganz Kleinasien und Griechenland und bis hin nach Rom verbreitet hat.
Denn ich esse Asche wie Brot…
Das Wort »Ausbrennen« kennt die Bibel dagegen nicht. Sehr wohl jedoch den Sachverhalt.
Das eindrücklichste Beispiel ist wiederum die Person des Propheten Elia. Eben noch hat er mit einem Feuerwunder auf dem Berg Karmel die Massen begeistert und den König bloßgestellt, nun liegt er ausgepumpt und verzweifelt in der Wüste unter einem Ginsterstrauch und bittet Gott, ihn sterben zu lassen: »Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele« (1.Kön 19,4).
Vor allem in den Psalmen finden sich Formulierungen, in denen sich verzweifelte, zusammengebrochene, depressive Menschen mit ihrem ganzen Elend wiederfinden und verstanden fühlen können. Zum Beispiel in Psalm 22,18: »Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen.« Oder, besonders bildstark, in Psalm 102,4–10: »Meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen. Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen. Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern. Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen.«
Aber denken wir auch an Hiob, wie er da in der Asche sitzt und mit einer Scherbe seine eitrigen Schwären schabt, nachdem ihm nicht nur sein Besitz und seine Familie, sondern zuletzt auch noch die Gesundheit genommen war. Oder an den späten, finster gewordenen König Saul. Oder an die Weinenden an den Wassern von Babylon, die sich völlig ohne Kraft und Hoffnung fühlten.
Im Neuen Testament sind es vor allem die Emmausjünger, die zunächst, vor ihrer Begegnung mit Jesus, den Inbegriff des Ausgebranntseins, der Trost- und Hoffnungslosigkeit verkörpern. Der expressionistische Künstler Karl Schmidt-Rottluff hat ihren Seelenzustand in einem Holzschnitt meisterhaft zum Ausdruck gebracht. Auf dieses Kunstwerk werde ich im letzten Kapitel näher eingehen. Die beiden Jünger sind am Boden zerstört, aber Jesus richtet sie wieder auf. Als sie ihn endlich erkennen, durchströmt sie neues Leben. Sie sehen sich an und es bricht aus ihnen hervor: »Brannte nicht unser Herz, als er mit uns auf dem Wege redete und uns dabei die Schrift öffnete?« (Lukas 24, 32).
Verlöschen oder leben?
Wir müssen uns eingestehen: Wir sind Verlöschende – vom ersten Atemzug an. Unweigerlich kommt für uns alle der Punkt, an dem unser Lebenslicht auslöschen wird. Die Bibel spricht darüber ganz nüchtern. Der Psalmbeter hält fest: »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr« (Ps. 103,15f.). Wäre das aber das Letzte, was über unser Leben zu sagen ist, so stünde über diesem Leben ein dunkler Stern, und alles, was sich in unserem Leben ereignet, alles, was wir in diesem Leben tun, was wir erleiden, was wir an Liebe geben und empfangen, wäre flüchtig, ja genau besehen nichtig. Dann hätten die französischen Existenzialisten des vorigen Jahrhunderts Recht mit ihrer Aussage: Das Leben ist absurd.3 Zwar kann man versuchen, das Absurde mannhaft, ja sogar heldenhaft zu ertragen, so wie uns Albert Camus die antike Sagenfigur des Sisyphos, der unentwegt immer wieder den Stein den Berg hinaufrollt, als einen Helden vor Augen stellt. Aber dieses Leben würde etwas von der Trostlosigkeit der Beckettschen Dramen atmen, wo die Helden leidvoll erfahren müssen, dass der ersehnte Godot einfach nicht kommt.4 Der Schrecken einer Welt ohne die Auferstehungshoffnung wurde schon 250Jahre früher in der von Jean Paul verfassten »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab« vorwegempfunden.5 Nicht wenigen von denen, die viel Leid ertragen müssen, würde sich jedenfalls die Frage stellen, ob es sich lohnt, dieses Leben überhaupt anzunehmen und zu leben, die Schmerzen, den Kummer jeden Tag aufs Neue zu ertragen.
Nun sagt uns aber die Bibel, dass der Tod nicht das letzte Wort hat über uns. Wir sind zum Leben geboren, nicht zum Sterben. Uns ist von Gott das Leben angeboten in seiner ganzen Fülle – schon vor dem Tod und dann, jenseits der Todesgrenze, in einer Weise, die wir mit unserem begrenzten Verstand jetzt nicht begreifen können. Und zwar »in« ihm, in diesem Christus Jesus, dem Auferstandenen. Paulus führt in seinen Briefen immer wieder aus, dass wir »in Christus« die Fülle des Lebens haben, in seinem Machtbereich, in der Beziehung zu ihm, im Glauben an ihn. Der Evangelist Johannes wird später sagen: »Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« (Joh 3,16). Und Jesus selbst sagt im Johannesevangelium von sich: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt« (Joh 11,25). Somit steht über unserem Leben nicht die Drohung der Finsternis, sondern die Verheißung des Lichtes. Diese Verheißung, die schon der Prophet Jesaja dem Volk Israel zugesprochen hat, wird im Neuen Testament erneuert: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finsteren Lande scheint es hell« (Jes 9,1; vgl. Lk 1,79).
Wenn dem aber so ist, dann dürfen, dann können auch wir hell werden und unser Licht leuchten lassen. Jesus sagt eindringlich: »Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Mt 5,14–16). Mit Bedacht hat der Theologische Ausschuss der Arnoldshainer Konferenz genau diese Formulierung als Titel für eine Denkschrift über die gegenwärtige Situation und die Möglichkeiten des Pfarrberufes und der Gemeinden gewählt: »Sein Licht leuchten lassen.«6 Mit dieser kurzen Überschrift ist eigentlich schon das Wesen des Pfarrberufes im Kern beschrieben: Die Pfarrer, aber auch die anderweitig im kirchlichen Bereich Mitarbeitenden, sollen »leuchten«, sie sollen ihr Licht, ihre Begabungen, ihre Liebe nicht verstecken, nicht klein machen. Vor allem aber sollen sie sein Licht leuchten lassen, das Licht Gottes. Es soll in ihren Predigten und Amtshandlungen, in ihrer Seelsorge und ihren anderen Tätigkeiten etwas spürbar werden von diesem göttlichen Licht und der Wärme der göttlichen Liebe.
Der helle Schein
Am Beginn einer bewegenden Passage im 2.Korintherbrief, in der Paulus aufzählt, welche Gefahren und Widrigkeiten er in seinem Dienst als Apostel durchstehen musste, schreibt er: »Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi« (2.Kor 4,6). – Von damals bis auf den heutigen Tag hat dieser helle Schein allen, die sich für einen Dienst in der Kirche zur Verfügung gestellt haben, Herz und Sinn erleuchtet. Zumindest in der Anfangszeit, als sie die Entscheidung für diesen Dienst beziehungsweise Beruf getroffen haben. Er ist das kostbare Feuer der ersten Liebe, der anfänglichen Begeisterung, er ist aber auch das eigentliche Kraftzentrum der beruflichen Motivation in den späteren Jahren. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand Pfarrerin wird oder Diakonin oder Kirchenmusikerin, nur um Geld zu verdienen oder einen »schlauen Job« zu haben.
Die Intensität und Farbe dieses Feuers verändert sich im Laufe der Zeit. Mal ist es nur noch ein zaghaftes Flackern oder eine schon beinahe verborgene Glut. Dann bricht es wieder hervor mit Macht. Solange das Feuer lodert, aber auch, wenn es nur noch glüht, geht die Arbeit im kirchlichen Beruf voran. Jene Arbeit, deren eigentlicher Sinn darin besteht, diesen hellen Schein, dieses Feuer in die Herzen anderer Menschen zu tragen, andere zu begeistern und mitzureißen für die Sache Jesu Christi. »Die Sache Jesu braucht Begeisterte« – so lautete ein schönes Kirchentagslied von Piet Janssens in den Siebzigerjahren. Die Aufgabe der »Geistlichen« ist es, diese Begeisterung zu wecken, sie anzufachen.
Und wenn das Feuer ausgeht?
Nun wird deutlich, warum Pfarrer und Diakone, warum Religions- und Gemeindepädagogen, die langsam in den Mahlstrom eines Burnout-Syndroms hineingezogen werden, noch einmal ein größeres Problem haben als Arbeitnehmer in weltlichen Berufen: Wenn bei einer Krankenschwester oder einer Polizistin der Burnout-Prozess beginnt, kann sie ihre Aufgaben noch eine ganze Weile weiter erfüllen. Den Verkehr regeln, Infusionen anlegen etc. kann man auch noch, wenn es im Inneren düster geworden ist (natürlich nur bis zu einem gewissen Grad der Finsternis). Wenn aber eine Pfarrerin ihr Feuer verloren hat, dann ist ihr das Wichtigste, ihr Eigentliches, abhanden gekommen. Dann hat sie neben dem persönlichen zugleich auch ein massives berufliches Problem. Wie und was soll sie predigen, wenn der helle Schein in ihrem Herzen erloschen ist? Was soll sie auf dem Friedhof sagen, wenn sie nicht mehr an die Auferstehung glauben kann? Wie soll sie Kranken Mut und Trost zusprechen, wenn sie selbst den Mut verloren hat und sich nur noch trostlos fühlt? Wie soll sie etwas vermitteln von der Freude und dem Frieden des Reiches Gottes, wenn ihr langsam das innere Fundament ins Wanken gerät, wenn sie keinen Antrieb, keine Lust, kein Gefühl mehr zu spüren vermag? Wenn sich das Gift der Resignation wie ein grauer Schleier, unter dem nichts mehr wachsen und blühen kann, über ihre innere Landschaft gelegt hat?
Gott braucht keine Helden
Zunehmend mehr Mitarbeitende in kirchlichen Berufen fühlen sich angesichts des alltäglichen Vielerleis ihrer Aufgaben und Herausforderungen wie in einem Hamsterrad. Sie strampeln und strampeln – und kommen nicht vom Fleck. Weil sie ihre Sache doch aber gut machen wollen, strampeln sie immer heftiger und angestrengter. Nun dreht sich das Rad noch schneller, aber leider hilft es nichts, noch immer geht es nicht voran. Nur die Erschöpfung wird stärker. Was könnte ihnen helfen? Das Gegenteil von dem, was sie jetzt tun. Sie müssten aufhören zu strampeln. Dann käme das Rad zum Stillstand, sie könnten heraustreten und wären frei. Sie kämen langsam wieder zu Atem und könnten, nachdem sie sich eine Weile ausgeruht haben, anfangen, sich wirklich vorwärtszubewegen, zu Fuß. Das wäre sicher nicht so schnell, wie manche es sich insgeheim wünschen, aber sie kämen vorwärts, sie könnten nun wieder etwas oder jemanden erreichen.
Es ist schon eigenartig: Gerade in der Kirche gibt es so viele Perfektionisten, die sich selbst und die Menschen in ihrer Umgebung unter Druck setzen. Ausgerechnet in der Kirche, deren zentrale Botschaft darin besteht, dass der Mensch nicht durch seine Leistung, sondern allein durch seinen Glauben vor Gott gerechtfertigt ist, tummeln sich Menschen, die meinen, sie müssten sich die Liebe Gottes, ihrer Gemeinde und ihrer Vorgesetzten durch ihre Leistung verdienen. Aber Gott braucht keine Helden.7 Er ist kein Gott der Starken und Mächtigen. Er ist ein Gott der Armen und Kleinen, der Witwen und Waisen, derer, die nichts vorzuweisen haben. Er ist der Gott, der das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird.
Wenn Gott aber keine Helden braucht, wen braucht er dann? Er braucht Menschen, die bereit und auf dem Wege sind, sich mit ihrer Schwachheit und ihrem »Schatten« auszusöhnen und sich und andere anzunehmen in ihrer Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Fehlerhaftigkeit und Unzulänglichkeit, weil sie hoffen und darauf vertrauen, dass sie selbst und die anderen in alldem angenommen sind durch den, der sie geschaffen hat. Diese Annahme der eigenen Schwäche und Unvollkommenheit fällt eigenartigerweise ausgerechnet vielen Pfarrern so schwer.
Und ganz gewiss braucht Gott auch keine »Macher«. Unsere Welt ist voll von diesen Machern, die meinen, sich selbst und alles »im Griff« zu haben. Die in ihrem Wahn, alles kontrollieren und »effizienter« gestalten zu können, so vieles kaputt machen. Von der Umwelt angefangen bis zu den Herzen und Seelen der Menschen. Gott braucht Menschen, die sanftmütig und friedfertig sind. Menschen, die loslassen, still sein und zuhören können. Er braucht Menschen, die den Stress verringern, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen. Menschen, bei denen man schon ein wenig von der Freiheit und Fröhlichkeit eines Christenmenschen spürt. Und eben das sind Menschen, die zu ihrer Schwäche und Unvollkommenheit stehen. Der 1996 verstorbene holländische Seelsorger Henri Nouwen hat in den pastoralpsychologischen Diskurs ein uraltes archetypisches Motiv der Menschheit wieder neu eingebracht: das Bild des »wounded healer«, des verwundeten Heilers, das zurückgeht bis in die schamanistische Frühzeit von Religion und Medizin.8 Es besagt, dass nur diejenigen wirklich zu heilen vermögen, die einmal am eigenen Leib und an der eigenen Seele gespürt haben, wie es ist, verwundet zu sein. Menschen, die selbst einmal am Boden lagen und es aushalten mussten, ohnmächtig – ohne Macht – zu sein. Natürlich bedeutet das nicht, dass man unbedingt schlimme Dinge erlebt haben muss, um eine gute Pfarrerin oder eine gute andere kirchliche Mitarbeiterin zu sein. Und doch steckt in dem Bild eine tiefe Wahrheit und Weisheit. Viele, die eine schwere Lebenskrise oder eine Krankheit erlitten haben, bestätigen rückblickend, dass sie dadurch offener, »weicher« und verständnisvoller anderen gegenüber geworden sind. Wer eine schlimme Scheidung durchgemacht hat, wird nicht mehr mit dem Finger auf Paare zeigen, in deren Ehe es nicht stimmt. Eltern, die ein behindertes Kind bekommen haben, werden keine Behindertenwitze mehr erzählen. »Unsere Wunden brechen uns auf«, hat der Mönch und Psychologe Anselm Grün einmal treffend formuliert. Das ist schon im körperlichen Bereich so: Wenn man sich mit einem Messer verletzt, bricht die Haut auf und es kommt zum Vorschein, was darunter ist: Fleisch und Blut, vielleicht wird sogar der Knochen sichtbar. Im seelischen Bereich ist es ebenso: Wenn wir in eine seelische Krise geraten, wird unsere Panzerung, hinter der wir uns verstecken, brüchig. Ein Pfarrer, der sich seiner Schwächen bewusst ist, der sich als jemand auf andere Angewiesenen erlebt, wird sich seinem Gegenüber in anderer Weise öffnen als ein »heldischer« Pfarrer, der durch seine demonstrative Stärke und Kompetenz die Menschen auf Abstand hält. Der Archetyp des »wounded healer« ist in der christlichen Tradition Christus selbst. Ohnmächtig, von Schmerzen gequält, verzweifelt im Gefühl der Gottverlassenheit, hing er am Kreuz. Rückblickend verstanden es die ersten Christen so, dass schon im Alten Testament auf diesen Heiland hingewiesen wurde, zum Beispiel im Gottesknechtslied des Propheten Jesaja, wo es heißt: »Durch seine Wunden sind wir geheilt« (Jes 53,5). Schon bald entwickelte sich in der frühen Christenheit eine eigene »Christus-Medicus«-Tradition, in der Christus als der göttliche Arzt gepriesen und angebetet wird, der uns heilen will an Leib und Seele, und dies auch kann, weil er alle Schmerzen, die Menschen zu durchleiden haben, an Leib und Seele, selbst erlitten hat.9