Das arabische Zimmer - Susanne Steffe - E-Book

Das arabische Zimmer E-Book

Susanne Steffe

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Beschreibung

Anna und ihr Mann Paul beschließen einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling aus Syrien bei sich aufzunehmen. Mit der Ankunft von Djamal und später auch seines Bruders beginnt eine abenteuerliche Geschichte voller Ambivalenzen. Die deutsche Familie hat keine Ahnung von muslimischen arabischen Teenagern. Die jungen Araber wissen nichts vom Leben in Deutschland. Daraus ergeben sich kulturell bedingte Missverständnisse und noch mehr Herausforderungen, aber auch ein sehr spannendes Kennenlernen ohne schöngefärbte Integrations-Idylle.

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Inhalt

Der Sommer der Flüchtlinge

Die Entscheidung

Vorbereitungen

Der Junge aus Syrien

Die Würfel sind gefallen

Die ersten Tage

Die Machtprobe

Erste Annäherung

Die Geschichte mit dem Asthma

Der Haram-Geburtstag

Eine Hause, eine Hause

E-Mail an Annas Tochter

Der Tag, an dem der Krieg zu Anna kam

Ein bockiger Amtsschimmel

.

Ein böser Ausraster und wichtige Fragen zum Asylantrag

Der schwierige Hamoud

Die Geschichte mit dem Hausfrisör

Der Besuch des Onkels

Syrian Rapadap

Die Geschichte von dem, der los ging, um Zigaretten zu holen

Shopping mit Paul

Lehrgeld für alle

Eine erkennungsdienstliche Behandlung

Das neue arabische Zimmer und die Geschichte mit dem Teppich

Die Geschichte mit dem Aufstehen

Ende der Durchsage?

Ein Küchengespräch

Verrat und Streit

Auf zum Badesee und ein Beinahe-Herzinfarkt

Der Islam, die arabische Familie, die Jungs und Anna

Anna und Danny

Hamoud und der Frisör

Die Geschichte von Hitler und den Juden

.

Adil im Seniorenheim

Herbststürme

Die kleine Rübe

Anhörung beim BAMF

Ein Vorfall in der Schule

Geburtstagsfest und Knochenbruch

Der Winterschlussverkauf

Irrungen und Wirrungen

Morgenland, Abendland und endlich Asylstatus

Das Praktikum mit Hindernissen

Aufbruch auf Syrisch

Familiennachzug für Zarif und Jalil

Ammars Geschichte

Eine Wohnung für Adil

Warum Allah keine Schweine mag

Abschied von Satchmo

Antrag auf Familiennachzug und noch mehr Bürokratie

Die Krätze oder wen juckt das schon?

Eine Schlägerei und ein verliebter Adil

Der zweite Ramadan

Schmerzensgeld für Unpünktlichkeit

Der kleine große Bruder

Der verrückte Freitag vor Ankunft der Mutter

Die Mutter

Termin in der Schule und Besuch vom Jugendamt

Der verlorene Pendler zwischen den Welten

Arabische Familienprobleme

Die Geschichte mit dem Schwitzkasten

Der Wut-Bruch

Jugendgerichtshilfe und FRED-Kurs

Hamouds Auszug

Der letzte Versuch

Das Ende

Epilog

Der Sommer der Flüchtlinge

Im Jahr 2015 tobte der Bürgerkrieg in Syrien und die Menschen flohen in Scharen aus ihrer Heimat. Junge Männer, die bei Demonstrationen gegen das Regime des Machthabers Baschar al-Assad aufgefallen waren, hatten keine andere Wahl, als das Land zu verlassen. Viele standen kurz vor der Einberufung. Sie befürchteten neben dem Einsatz in einem Himmelfahrtskommando auch Verhaftung oder Folter.

Der Begriff Flüchtlingskrise war plötzlich in aller Munde. Die internationalen Medien überschlugen sich mit Berichten. Kamerateams aus aller Herren Länder begleiteten Menschenkolonnen auf der Flucht nach und durch Europa. Migranten aus anderen arabischen Ländern, aus Afghanistan und Afrika schlossen sich den flüchtenden Syrern an, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Tag für Tag landeten Tausende Geflüchtete in Deutschlands Erstaufnahmezentren, von wo aus sie auf die verschiedenen Bundesländer verteilt wurden. Auch dem beschaulichen Kleinstädtchen, in dem Anna mit ihrer Familie lebte, wurde laut Verteilungsschlüssel ein Kontingent zur Übernahme zugeteilt.

Hastig traf die Kommune daraufhin die nötigsten Vorbereitungen, um die Ankömmlinge in leerstehenden Hotels unterzubringen oder in Turnhallen, in denen Feldbett an Feldbett stand. Nur ein paar Tage später gingen geflüchtete Männer vor den improvisierten Unterkünften auf und ab, gierig rauchend, das Handy stets am Ohr. In Gruppen wanderten sie wie verlorene Schafe die Straßen entlang.

Sozial engagierte Bürger übernahmen Patenschaften und begleiteten die Leute bei Behördengängen. Andere sprachen mit verkniffenen Lippen von Einwanderung ins Sozialsystem, von Überfremdung, geplantem Bevölkerungsaustausch und Zwangsislamisierung.

Tatsächlich waren die Fremden nicht mehr zu übersehen. Das Stadtbild veränderte sich täglich. In Gruppen standen die Neuankömmlinge an den Haltestellen, und am Flussufer saßen sie auf den Rentnerbänkchen. »Die kiffen doch alle, diese Kanaken«!, empörten sich zwei alte Männer.

Die Fremdenfeindlichkeit nahm zu, und die Islamophobie trieb seltsame Blüten, sogar in Annas eigentlich liberalem Freundeskreis. »Jeder Moslem, der hier rein will, sollte erst mal gezwungen werden, eine Schweinsbratwurst zu essen und ein Bier zu trinken«, verlangte der Künstler Wolfgang. Anna dachte erst an einen Bühnenscherz, aber er meinte das ernst. »Diese Jungs kriegen alles in den Arsch geschoben. Die kommen doch nur hierher, um sich in die soziale Hängematte zu legen«, wetterte er. Gehörte er etwa auch zu den Leuten, die heimlich gehofft hatten, die Flüchtlinge würden den Anstand haben, weiterhin im Meer zu ertrinken oder unterwegs zu überprüfen, ob es in der Umgebung des Heimatlandes nicht doch sichere Orte gibt, an die die Menschen zurückkehren könnten? Die sollten die Einheimischen gefälligst nicht mit ihrem Elend belästigen, oder zumindest in Griechenland bleiben, oder in Italien, Hauptsache weit weg von Deutschland.

Inzwischen zeterten Deutsche ähnlicher Gesinnung ungeniert über die Kanzlerin Mutti Merkel: »Die hat uns die ganze Scheiße eingebrockt mit ihrem Willkommen«! Eilig profilierte sich die ausländerfeindliche rechte Partei als Anwalt der besorgten Bürger. Sie jubilierte über die Möglichkeit, Angst und Hass in der Bevölkerung zu schüren, ergab sich doch durch diese Situation eine höchst willkommene Gelegenheit, die Gesellschaft zu spalten. Auch in sozialen Medien wurde vermehrt gegen männliche Migranten gehetzt, die angeblich feige ihre eigene Haut gerettet, aber ihre Familien schutzlos in der Heimat zurückgelassen hatten, statt heldenhaft im Kampf für das syrische Vaterland zu sterben. Auf welcher Seite sie hätten kämpfen sollen blieb allerdings ein Geheimnis. Die Flüchtenden ließen sich durch nichts aufhalten, und es wurden täglich mehr. Unter ihnen waren erstaunlich viele Jugendliche, die alleine, mit jungen Verwandten oder Freunden den gefährlichen Fluchtweg bewältigt hatten. Diese unbegleiteten Minderjährigen wurden nach ein paar Tagen von den Erwachsenen getrennt und vom Jugendamt in Obhut genommen. Für sie gab es spezielle Erstaufnahmeeinrichtungen. Nach ein paar Wochen wechselten minderjährige unbegleitete Flüchtlinge dann je nach Alter in eine betreute Wohngruppe, ein Kinderheim oder zu einer Pflegefamilie. Da die Anzahl der Plätze in den öffentlichen Einrichtungen begrenzt war, schalteten die Jugendämter bald Anzeigen in den sozialen Medien. Einer dieser Aufrufe erregte eines Tages Annas Aufmerksamkeit. Grübelnd starrte sie auf den Bildschirm: »Pflegeeltern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dringend gesucht“, stand da als Schlagzeile vor einem Text, der kurz erklärte worum es ging. Anna überlegte: »Wir könnten doch einen Minderjährigen bei uns aufnehmen. Im Haus ist ein Zimmer frei«. Sie zeigte die Anzeige ihrem Mann. Der impulsive Paul war Feuer und Flamme. Er rief sofort beim Jugendamt an. Nach dem Telefonat beschlossen die beiden, die nächste Informationsveranstaltung zu besuchen. »Damit legen wir uns nicht fest und entscheiden auch erst mal nichts«, meinte Anna, »so ein Schritt will gut überlegt sein«.

Die Entscheidung

Nach der Veranstaltung im Jugendamt war allen Teilnehmenden klar, wie dringend Unterbringungsmöglichkeiten gebraucht wurden. Die Einrichtungen für Minderjährige platzten aus allen Nähten. Anna und Paul gingen nun einen Schritt weiter. Die Anforderungen an Pflegefamilien stellten keine allzu große Hürde dar. Wie hierzulande üblich, war ein Haufen Papierkram zu erledigen. Anna und Paul lieferten Nachweise über Einkommen, Bestätigungen für dies und das sowie polizeiliche Führungs- und Gesundheitszeugnisse. Obwohl Anna als potenzielle Pflegemutter keine Erfahrung mit minderjährigen Kriegsflüchtlingen aus dem arabischen Raum hatte, bildete sie sich ein, gut für diese Aufgabe gerüstet zu sein, da sie als Jugendliche jedes Jahr nach Marokko gereist war. Dort hatte sie eine einheimische Freundin gefunden.

Anna träumte sich in die Vergangenheit zurück:

Gmeas Familie wohnte in einem weißgekalkten flachen Haus, dessen Zimmer um einen mit Bäumen und Blumen bepflanzten schattigen Innenhof angeordnet waren.

Die meiste Zeit verbrachten die Mädchen in der großen Küche, wo eine Nähmaschine mit Fußantrieb stand, an der Gmea viele Stunden saß. Staunend bewunderte Anna die prächtig bestickten Decken, Laken und Umhänge, die ihre Freundin in einer mit Schnitzereien verzierten Holztruhe aufbewahrte. »Das ist meine Aussteuer«, erklärte Gmea stolz, »bis ich heirate, ist die Truhe voll«. »Wieso denkst du denn jetzt schon ans Heiraten«?, wunderte sich Anna. »Ich denke nicht daran, aber mein Vater ist bereits auf der Suche nach einem Ehemann für mich«. Gmea lächelte geheimnisvoll, Anna verstand die Welt nicht mehr. »Ich lasse mich jedenfalls nicht verheiraten. Ich suche mir meinen Mann selber aus«, dachte sie, »Gmea geht doch noch in die Schule. Wieso lässt sie das zu? Sie trägt nicht mal ein Kopftuch und ihre Mutter auch nicht«. Rund um die Uhr war Gmeas freundliche Mama mit dem Haushalt beschäftigt. Obwohl sie noch jung war, sah sie alt und verbraucht aus. Wenn es Essen gab, versammelten sich zuerst die Männer des Hauses in einem Raum, der mit Teppichen ausgekleidet war. Die Mutter ging mit einer Kanne und einer Schüssel vom einen zum anderen und goss Wasser über die ausgestreckten Hände. Danach ließen sich die Männer das Essen schmecken, das auf einem großen Metalltablett serviert wurde, zusammen mit sehr süßem Pfefferminztee in kleinen bauchigen Gläsern. Wenn die Männer fertig gegessen hatten, zogen sie sich zurück. Dann erst nahmen die Frauen und Kinder Platz.

»Wieso essen die denn nicht alle zusammen«?, fragte Anna ihren großen Bruder. Pitti zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Andere Länder, andere Sitten«. Nach zwei Jahren standen Gmea und Anna sich so nah, dass Gmea ihrer Freundin auch Ängste und Sorgen anvertraute.

Als sie sechzehn waren, erzählte sie eines Tages: «Anna, mein Vater wird mich bald verheiraten«. Anna war schockiert. »Und mit wem«? »Mit einem Mann aus Casablanca«, erwiderte Gmea. «Ich habe ihn noch nie gesehen, aber Papa kennt ihn und sagt, dass er der Richtige ist. Er hat auch einen sehr guten Job am Flughafen«. Anna wunderte sich sehr, dass Gmea sich nicht dagegen wehrte, einen Unbekannten zu heiraten. Sie behielt ihre Gedanken aber für sich, da sie ihre Freundin nicht durcheinanderbringen wollte. Gmea kannte es nicht anders. Sie hinterfragte die Pläne ihres Vaters nicht. Er liebte seine Tochter sehr und Gmea vertraute ihm bedingungslos. Sie hatte aber große Angst vor der Hochzeitsnacht. »Da warten die Verwandten, bis sie das Bettlaken mit dem Blut gezeigt bekommen«, murmelte sie. »Oh Gott«, stöhnte Anna. Gmea redete weiter: »Manchmal fließt aber kein Blut, obwohl die Braut unberührt ist. Wenn mir das passiert, werde ich sicher von meinem Mann verstoßen, dann bringe ich Schande über die Familie«. »Das ist ja schrecklich«, empörte sich Anna. «Ja. Aber weißt du, Anna, ich habe gehört, dass es da einen Trick gibt«. »Ach, und was für ein Trick soll das sein«?, erkundigte sich Anna zweifelnd. »Also, ich könnte ein Säckchen Hühnerblut in der Scheide verstecken, um sicher zu gehen. Soll ich das machen«?

»Igitt, wie eklig«, stöhnte Anna entsetzt. Gmea heiratete schließlich mit siebzehn. Drei Jahre später war sie vielbeschäftigte Mutter von zwei Söhnen und der Kontakt zwischen den Freundinnen brach ab.

Ihre Erlebnisse in Marokko waren nun neben einer höchst abenteuerlichen Reise durch Ägypten das, was Anna als zukünftige Pflegemutter eines Minderjährigen im Jahr 2015 an Erfahrungen mit der arabischen und islamischen Kultur vorzuweisen hatte.

Vorbereitungen

Ein paar Tage nach der offiziellen Bewerbung besprachen Paul und Anna ihr Vorhaben mit den erwachsenen Kindern. Ihre Tochter Marie versprach sofort, hilfreich zur Seite zu stehen. Bei Annas und Pauls Sohn, der noch zu Hause wohnte, sah die Sache aber anders aus. Auf die Ankündigung der Absicht, einen jungen Flüchtling aufzunehmen, reagierte Leo ziemlich ungnädig. »Was wollen die Kanaken hier«?, schnauzte er. »Gibt schon genug von denen. Haben die überhaupt eine Kultur? Die spinnen doch alle. Sollen sich verpissen, die Aladins«. Leo schnappte seine Sporttasche und machte sich fertig zum Training. »In deinem geliebten Verein turnen so viele Migranten rum, und mit den meisten kommst du doch auch klar«, rief Anna ihm hinterher, als er zum Auto ging. Er drehte sich um. »Ja, Mann«, nuschelte Leo, »aber die sind fresh Mann, korrekt, mit denen kannst du reden. Respekt, Mann. Ich bin Deutscher. Verstehste? Das ist mein Land. Die sollen die Fresse halten, Mann. Oder die werden gefickt«.

Dass Anna kein Mann war, störte ihren Sohn wenig. Was sie von seiner Ausdrucksweise hielt, war ihm egal. »Bin eben ein Proll mit Abi. Kennst mich doch«. Leo drehte sich um, umarmte sie und verschwand.

Anna war betrübt. Wieso sagte Leo so etwas? Hatte sie in der Erziehung so viel falsch gemacht? Alles? War er vielleicht ein Rechter? Rechtsextrem? Ihr Sohn? Ein Neu-Nazi? Nein, das war er nicht. Aber er provozierte gerne und wollte nicht mit den Krisen der Welt konfrontiert werden. Schließlich gab er aber doch sein Einverständnis: »Okay, okay. Wenn der Fluchtdings mir nich‘ auf ‘n Senkel geht«.

Drei Wochen später war der Papierkram erledigt. Als nächstes besichtigten zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes das zukünftige Zuhause. Danach renovierte Anna den entrümpelten Raum. Bevor sie ihn neu einrichtete, räucherte sie gründlich aus, veranstaltete ganz zauberhaften Hokuspokus, hopste herum und verkündete feierlich: »Von nun an sollst du arabisches Zimmer heißen«. Ein paar Tage später schrieb sie ihrer Tochter: »Marie, das Zimmer ist fertig. In der Mitte liegt der bunte Teppich, den Oma mir geschenkt hat. Jetzt sehen sich die Leute vom Jugendamt in der Erstaufnahmeeinrichtung um, wer zu uns passen könnte. In zwei, drei Wochen fahren wir dann hin zum ersten Kennenlernen, immer mit der Option: der ist es nicht für uns, wir sind es nicht für ihn. Dass es ein er wird, ist sicher. Es gibt kaum weibliche unbegleitete Minderjährige. Wenn wir uns gegenseitig gefallen, folgt bald ein erster Besuch bei uns. Verläuft dieser ebenfalls positiv, kann der Junge einziehen. Wenn nicht, wird ein anderer gesucht«. Die Leute, denen Anna und Paul erzählten, dass sie einen Flüchtling aufnehmen würden, reagierten zum Teil sehr irritiert. So, als würde ein Alien bei ihnen ankommen.

Der Junge aus Syrien

An einem Freitag im Oktober fuhren Paul und Anna ins Aufnahmezentrum, um einen Jungen aus Syrien kennenzulernen. Neugierig hatte Anna zuvor in Büchern und Artikeln gestöbert, da sie sich im Vorfeld über Land und Leute informieren wollte. Mit Schaudern war sie in die Geschichte Syriens und Berichte über die dort herrschende Diktatur eingetaucht.

Laut Jugendamt stammte der Junge, um den es ging, aus der Hauptstadt. Eltern und Geschwister waren in der Türkei. Ein junger Verwandter, mit dem er gemeinsam geflüchtet war, lebte inzwischen in einer abgelegenen Einrichtung in der Nähe von Annas und Pauls Wohnort. Djamal wünschte sich nun dringend eine Pflegefamilie in Reichweite dieses Cousins.

Sie kurvten durch Pauls Heimatstadt und parkten schließlich in einer kleinen Straße vor einem imposanten älteren Gebäude. Anna war sehr aufgeregt, als sie das Haus betraten. Im Flur roch es nach einer Mischung aus muffigen Socken, Bohnerwachs und Schweiß. Ein freundlicher junger Sozialpädagoge empfing sie in seinem Büro, wo Anna und Paul sich aufs Sofa setzten. Immer wieder huschten tuschelnde Halbwüchsige durch den Gang, die die Besucher neugierig musterten. Nach einer Viertelstunde holte sie eine Betreuerin ab, da die Kontaktperson vom Jugendamt eingetroffen war. Sie begleitete sie in einen anderen Raum. Zunächst berichtete sie, was sie über den Jungen wusste: »Djamal ist mit seinem Cousin Adil von der Türkei aus geflüchtet und über die Balkanroute und Österreich in diese Stadt gelangt, wo beide im Erstaufnahme-Zentrum vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge registriert und aufgenommen wurden. Fünf Tage später schickte das Jugendamt die Cousins hierher. Djamal ist ein freundlicher Junge, der am liebsten seine Zeit mit Älteren verbringt. Er neigt aber auch zu heftigen Wutausbrüchen und aggressivem Verhalten. Djamal vermisst seine Familie sehr, wahrscheinlich ist das ein Grund für diese Aggressionen. Dass Adil nun auch noch von ihm getrennt wurde, hat ihm sehr zugesetzt. Er kann es einfach nicht verstehen. Im Übrigen ist er intelligent und aufgeweckt. Leider spricht er kaum Deutsch, nur ein paar Brocken Englisch«. Nachdem alles besprochen war, ging die Betreuerin in Djamals Zimmer, um ihn zu holen. Sie kam mit einem schmalen, dunkelhaarigen Kind zurück, das eine blaue Hose, eine blaue Jacke und einen blauen Schal trug. Der Junge hob erst den Blick, als die Betreuerin ihn dazu aufforderte. Dann begrüßte er Anna und Paul mit einem leisen »Hallo«. Djamal setzte sich an den Tisch, und alle begutachteten sich gegenseitig. Der junge Syrer war sehr blass. Starke Augenbrauen wölbten sich über großen braunen Augen, umkränzt von dichten schwarzen Wimpern. Wenn er lächelte, blitzten unregelmäßige weiße Zähne auf. Das eckige Kinn verriet Entschlossenheit. Die dunklen Haare trug er modisch aufwärts geföhnt. Djamal war Anna und Paul sofort sympathisch. Anna hatte aber nicht den Eindruck, dass sein Herz ihnen ohne weiteres zuflog, was unter diesen Umständen wohl auch nicht zu erwarten war. Der Dolmetscher übersetzte, was die potentiellen Pflegeeltern zu sagen hatten. Das betraf vor allem die häusliche Situation. Sie wohnten ländlich, das musste der Junge wissen. Schließlich endete das Gespräch damit, dass Djamal sagte, er würde sehr gerne bei Anna und Paul einziehen. Als nächstes stand demnach die Verabredung zu einem Besuch auf dem Plan, zu dem Anna und Paul auch Djamals Cousin Adil einluden. Anna setzte sich außerdem mit dem Schulamt in Verbindung und erhielt die Adresse einer Schule, in der wegen des Andrangs an minderjährigen Flüchtlingen eine so genannte VKL-Klasse eingerichtet worden war, in der Deutsch als Schwerpunkt gelehrt wurde. Diese Schule legte auch großen Wert auf den Kontakt zwischen Flüchtlingen und deutschen Schülern. Anna erzählte dem Schulleiter von Djamal und verabredete mit ihm einen zeitnahen Besichtigungstermin.

Die Würfel sind gefallen

Eine Woche später holten Anna und Paul Djamal zum ersten Mal ab. Das bedeutete im Klartext, dass sie während der Fahrt schwiegen. Der Junge erwachte erst zum Leben, als sie am Bahnhof ankamen, um seinen geliebten Cousin Adil zu treffen.

Wie ein Wiesel sauste Djamal davon. Wenig später tauchte er mit einem hochgewachsenen, schwarzbärtigen jungen Mann wieder auf. Adil grinste freundlich über das ganze breite Gesicht. Djamal warf sich in seine Arme und küsste ihn begeistert. Die beiden tuschelten kurz, dann erklärte Adil: »Djamals Handy ist kaputt«. Anna ging mit dem Mobiltelefon in den Handy-Shop um die Ecke. Während sie dort wartete, fing Djamals Handy plötzlich laut an zu dudeln: »Allahuuuuuuakbar«! Erschrocken legte Anna das Handy auf die Theke. »Es ist zwölf Uhr und das ist der Ruf zum Gebet«, erklärten ihr die Männer im Geschäft grinsend. »Jeder gute Muslim hat den Gebetsruf auf dem Handy«. »Tja, so ändern sich die Zeiten«, dachte Anna. Als sie vor Jahren in Marokko gewesen war, hatte der Muezzin vom Minarett aus via Megafon zum Gebet gerufen. Schließlich stellte sich heraus, dass Djamals Handy doch nicht kaputt, sondern dass das Guthaben aufgebraucht war.

Gut gelaunt fuhren sie nach Hause, wo Anna frei Schnauze Fleischklößchen à l’Orientale zubereitete, während ihr Mann Djamal und Adil durchs Haus führte und ihnen das arabische Zimmer zeigte. Dorthin zogen sich die beiden alsbald zur Beratung zurück. Beim Essen, in dem die Gäste höflich ein wenig herumstocherten, sagte Adil: «Djamal will sehr gerne in diesem Zimmer wohnen«. »Gut«, nickte Anna, »das freut uns«. Noch am selben Tag wurde ausgemacht, dass sie den Jungen eine Woche später abholen sollten. Am nächsten Tag meldete Anna Djamal dann verbindlich in der Schule an. Der zuständige Lehrer war sehr freundlich und machte einen empathischen, kompetenten Eindruck. Außerdem stammte die Hälfte der Mitschüler aus Syrien. Anna war guter Dinge, da sie sicher war, dass der tägliche Kontakt zu seinen Landsleuten Djamal das Ankommen erleichtern würde.

An einem schönen Tag im Spätherbst war es endlich soweit. Der junge Syrer zog bei Anna und Paul ein. Sie waren nun offiziell seine Pflegeeltern. Die Vormundschaft für Djamal verblieb aber weiterhin beim Jugendamt. Das hatte den einfachen Grund, dass die Vormundin Frau Walter im Gegensatz zu den Pflegeeltern mit dem anstehenden Asylverfahren bestens vertraut war. Außerdem wurde Djamal noch eine persönliche Betreuerin von Seiten des Jugendamtes zur Seite gestellt, die sich regelmäßig mit einem Dolmetscher zu so genannten Hilfeplangesprächen in seinem neuen Zuhause einfinden sollte.

Die ersten Tage

Anna schrieb ihrer Tochter: »Marie, hier ist alles gut angelaufen mit Djamal. Jetzt hat er aber Schnupfen und morgen fängt die Schule an. Ich habe vorhin seine Mutter über Skype gesehen. Wir haben Küsschen geschickt, von hier nach da. Djamal sieht ihr ähnlich. Es bricht mir das Herz zu sehen, wie traurig die Mutter ist. Ich habe versucht, ihr zu vermitteln, dass ihr Sohn bei uns gut aufgehoben ist, aber ich weiß, dass der Schmerz der Trennung dadurch nicht gemindert wird. Gestern haben wir auch Adil wieder abgeholt, damit der Anfang nicht so schwer ist. Die beiden rauchen leider viele Zigaretten, auch Djamal, obwohl er so jung ist. Durch das arabische Zimmer ziehen Rauchschwaden. Das gefällt mir nicht. Außerdem liegen Djamal und Adil zusammen in einem Bett, Arm in Arm. Sie sind ja auch gemeinsam geflüchtet, aber es ist für mich trotzdem ungewohnt.

Als ich Adil vorhin in die Einrichtung zurückgefahren habe, wollte ich von ihm wissen, wie es dazu kam, dass er mit Djamal gerade hierher geflüchtet ist. Ihrem ablehnenden Verhalten nach scheint Deutschland nicht wirklich das Land der arabischen Träume zu sein. Mit Sicherheit haben die jungen Leute sich etwas anderes vorgestellt. Nun stehen sie unter Kulturschock und haben große Sehnsucht nach Syrien. Heimweh. Sie vermissen ihr früheres Leben, die turbulente Großfamilie, die vertraute Umgebung und müssen sich doch damit abfinden, dass es in absehbarer Zeit kein Zurück geben wird. Außerdem wurden sie aus einem satten Wohlstand herauskatapultiert. Jetzt tragen sie den demütigenden Stempel armer asylsuchender Flüchtlinge.

Während der Fahrt hat Adil mir auch erzählt, dass die Familie nicht direkt aus der Hauptstadt kommt, sondern aus dem Bezirk, was etwa mit einem Landkreis bei uns vergleichbar ist. Sein Vater hat ihn weggeschickt, da er als ältester Sohn der Familie von drei Seiten gleichzeitig gedrängt wurde, zu kämpfen. Einerseits drohte die Einberufung in die Assad-Armee, was für Regimegegner indiskutabel ist. Andererseits versuchte die FSA, die Freie Syrische Armee, ihn dafür zu gewinnen, gegen das Regime zu kämpfen. Daneben gibt es noch die Leute vom IS, den die Syrer Daesh nennen. Sie zwingen ihre Gefangenen zu kämpfen. Wer sich weigert, wird hingerichtet. Zweimal sind die Islamisten seit Beginn des Bürgerkriegs schon in den Heimatort eingefallen und von den Bewohnern wieder vertrieben worden. Adil sagte zu mir, dass er Muslim ist und nicht töten darf, egal auf welcher Seite. Wenn sein Vater ihn nicht weggeschickt hätte, wäre er aber unweigerlich zum Mörder geworden. Nun gilt er in den Augen des Regimes als Deserteur«.

Kaum war Adil fort, wurde Djamal krank. Er hatte heftige Bauchschmerzen. Trotzdem rauchte er heimlich und dachte, Anna würde es nicht merken. Sie brachte es nur nicht übers Herz, ihm das Rauchen zu verbieten, denn es war ohnehin alles schwer genug für den Jungen. Djamal war sehr unzugänglich und wirkte unendlich traurig. Am ersten Wochenende blieb er allein im arabischen Zimmer, lag im Bett und telefonierte. Mit den Pflegeeltern wollte er nichts zu tun haben. Das Essen, das Anna ihm brachte, ging unberührt zurück in die Küche. Sonntags rumpelte es plötzlich laut.

Djamal stampfte entschlossenen Schrittes umher. Wenn er barfuß lief, setzte er die Ferse so fest auf, dass es knallte. Schließlich erschien er mit gepackter Reisetasche im Hausflur und verabschiedete sich. Es gefiel ihm nicht bei Anna und Paul. Er fühlte sich einsam und wollte lieber in der Stadt leben als in so einem Kuhdorf. In ihrer Panik rief Anna Adil an. Sie bat ihn zu kommen und mit Djamal zu reden, der inzwischen schon ein Stück weit weggelaufen war. Paul fuhr mit dem Auto hinter ihm her: »Wo willst du hin, Djamal«? »I don’t know«, antwortete der Junge verzweifelt. Dann machte er kehrt. Vor der Tür setzte er sich auf die Treppe und vergrub den Kopf in den Händen. Paul brauste davon, um Adil an der Haltestelle abzuholen.

Als der Cousin eingetroffen war, verschwand er mit Djamal im arabischen Zimmer. Er redete sehr lange mit ihm. Anschließend spazierte er in die Küche und bereitete syrisches Essen zu. »Djamal ist verrückt, aber alles wird gut«, beruhigte er Anna. Er hatte dem Jungen klar gemacht, dass die Alternative Kinderheim nicht wirklich verlockend war. Adil blieb übers Wochenende, kümmerte sich rührend um Djamal und brachte ihn mit seinen Späßen zum Lachen.

Am ersten Schultag lieferte er seinen kleinen Cousin sogar zusammen mit Anna in der Schule ab. Alle Mitschüler scharten sich um den Neuen und begrüßten ihn. Die Syrer nahmen Djamal in die Mitte, löcherten ihn mit Fragen und umarmten ihn voller Begeisterung. Fröhlich winkte er zum Abschied. Als Anna ihn wieder abholte, strahlte er.

Djamal erwies sich als sehr kontaktfreudig. Er lernte schnell Leute kennen, und das Zimmer wurde bald zu einem beliebten Treffpunkt. »Ein Syrer kommt wohl selten allein«, stellte Anna eines Tages seufzend fest, als das arabische Zimmer mal wieder mit Besuchern vollgestopft war.

»Tja«, grinste Paul, »sie sind nun mal an das Leben in einer Großfamilie gewöhnt«. An den Wochenenden tauchten zudem Jugendliche auf, die Djamal in der Ersteinrichtung kennengelernt hatte. Mit Vorliebe guckten die jungen Syrer dann arabische Fernsehserien. Eine spielt im alten Damaskus und erinnerte Anna an die schwülstigen »Telenovelas,« die sie in Südamerika gesehen hatte. Fasziniert wie südamerikanische Hausfrauen saßen unter ihrem Dach nun junge Flüchtlinge im arabischen Zimmer und versanken rührselig in kitschig-dramatischen Geld-, Macht- und Liebesgeschichten aus der Heimat, während sie Unmengen von Sonnenblumenkernen knabberten.

Die Machtprobe

Nach drei Wochen wollte Djamal zum ersten Mal wegfahren, um Freunde in der Einrichtung zu besuchen. Anna wusste, dass er Sehnsucht nach seinen Schicksalsgefährten hatte. Sie erlaubte ihm, von Samstag bis Sonntag dort zu bleiben. Djamal wünschte sich, möglichst früh mit dem Zug loszufahren. Als Anna morgens verschlafen in die Küche wackelte, saß er bereits am Esstisch und futterte. Er hatte zwei Eier hartgekocht, geschält, klein gehackt, gesalzen, mit Olivenöl begossen und zerdrückt. Diesen leckeren Eiermatsch aß er mit Fladenbrot. Anna beeilte sich. Eine halbe Stunde später war sie bereit, mit Djamal zum Bahnhof zu fahren. Da es das erste Mal war, dass er alleine verreiste, wollte sie eine Bahn-Card besorgen, die Hin- und Rückfahrkarte kaufen und ihn zum richtigen Zug begleiten. Auf dem Weg landeten die beiden aber erstmal im Stau, sodass sie später als geplant am Bahnhof ankamen.

Am Schalter des DB-Reisecenters mussten sie dann anstehen. Djamal war schlecht gelaunt. Er machte ein finsteres Gesicht, als sie endlich zusammen zum Bahnsteig gingen. »Mach dich bitte morgen pünktlich auf den Rückweg«, schärfte Anna ihm ein, »ich werde um sechs Uhr in der Bahnhofshalle am Treffpunkt auf dich warten«. Djamal verschwand im Zug, ohne sich zu verabschieden.

Sonntags fuhren Anna und Paul zusammen zum Bahnhof. Da kein Parkplatz zu finden war, stieg Anna alleine aus und raste zum Treffpunkt. Es war kurz nach sechs. Der Zug hatte keine Verspätung. Eine Menschenmenge ergoss sich über die Treppe in die Bahnhofshalle. Anna reckte den Hals, um Djamal zu entdecken. Aber er kam nicht. Langsam versiegte der Menschenstrom. Sie stand da wie ein vergessener Koffer. Als ihr Mann dazu kam, war es schon fast halb sieben. Anna machte sich Sorgen. Paul rief Djamal an. Er sagte, er hätte den Zug verpasst und käme erst mit dem um acht Uhr. Das war zwar ärgerlich, aber so etwas konnte passieren. Da es sich nicht lohnte, in der Zwischenzeit wieder nach Hause zu fahren, gingen Anna und Paul in eines der Restaurants, aßen lustlos eine Kleinigkeit und vertrieben sich die Zeit damit, Reisende zu beobachten.

Um Viertel vor Acht standen die beiden wieder am Treffpunkt. Es wurde acht Uhr. Der Zug hatte keine Verspätung. Die Menschenmenge strömte in die Bahnhofshalle. Anna reckte den Hals, um Djamal zu entdecken. Aber er kam nicht. Langsam versiegte der Menschenstrom. Diesmal standen sie beide da wie zwei vergessene Koffer. Paul rief Djamal nochmal an und erfuhr, dass er auch diesen Zug verpasst hatte. Nach dem Telefonat stellte Paul außerdem fest, dass der Handy-Akku nur noch zwanzig Prozent Ladevolumen anzeigte. Dieser Umstand trug nicht gerade zur Erheiterung bei, ganz abgesehen davon, dass es in der zugigen Bahnhofshalle eisig kalt war. Anna hatte es satt, herumzustehen. Sie wurde zornig. »Was fällt diesem kleinen Ungeheuer eigentlich ein? Der lügt doch, dass sich die Balken biegen«! Anna schimpfte sich in Rage, woraufhin ihr Mann zum Kiosk ging, um sich einen Wodka zu genehmigen. Das regte sie noch mehr auf. Sie fing an, mit ihm zu streiten. »Fällt dir jetzt echt nichts Besseres ein, als dir dieses Zeug reinzukippen«? Schließlich setzten sich Anna und Paul auf eine der Bänke, die mitten in der Halle standen, und betrachteten schweigend das Treiben um sie herum.

Es blieb ihnen nichts übrig, als auf den nächsten Zug zu warten. Plötzlich fiel Annas Blick auf den Haupteingang. Von dort näherte sich eine Gestalt in wogenden Lumpen. Eine verwahrloste Frau mit wildem Blick und wirren Haaren schleifte in einem seltsam wiegenden Schlurfgang große Plastiksäcke neben und hinter sich her. Sie nahm niemanden zur Kenntnis, brabbelte laut, lief von Mülleimer zu Mülleimer und wühlte darin herum. Triumphierend zog sie zwei Pfandflaschen aus dem Müll, womit Anna klar wurde, was sie in die Bahnhofshalle geführt hatte. Die Frau entdeckte noch mehr Flaschen und stopfte sie lachend in einen der Säcke, der schon ziemlich voll aussah. Daraufhin platzte der Müllsack mit einem leisen Knall. Die Flaschen kullerten kreuz und quer durch die Halle. Wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat, jaulte die Frau schmerzvoll auf. Sie brach zusammen, hockte auf dem kalten Boden, hob den Kopf und heulte laut. Die meisten Leute, die wie Anna und Paul auf den Bänken saßen, wandten sich angewidert ab. Ein Mann zeigte mit dem Finger auf die zerlumpte Frau, tippte sich an die Stirn und lachte. Manche starrten betreten vor sich hin.