Das Archetypenkonzept C. G. Jungs - Christian Roesler - E-Book

Das Archetypenkonzept C. G. Jungs E-Book

Christian Roesler

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Beschreibung

The concept of archetypes and the collective unconscious represents the core of the analytical psychology of C. G. Jung. The book summarises an overview of the classical theory of archetypes and the archetypal stations of individuation process with Jung and his students as well as the theoretical development on the basis of research and findings from anthropology, human genetics and the neurosciences for the first time. This shows clearly that Jung's views must be comprehensively revised. The applications of the concept are illustrated by detailed case studies and dream series.

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Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie

 

Herausgegeben von Ralf T. Vogel

Christian Roesler

Das Archetypenkonzept C. G. Jungs

Theorie, Forschung und Anwendung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028416-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028417-3

epub:    ISBN 978-3-17-028418-0

mobi:    ISBN 978-3-17-028419-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort

 

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine grössere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüsse ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der grossen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

 

Verena Kast

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Geleitwort

1 Einführung

2 Die klassische Definition und Theorie des Archetypenkonzepts bei Jung

2.1 Definition

2.2 Archetypen im Leben des Individuums

2.3 Äußerungsformen von Archetypen

2.4 Das Kollektive Unbewusste

2.5 Der Individuationsprozess

2.5.1 Die zwei Lebenshälften und die Lebensmittekrise

2.5.2 Die Persona

2.5.3 Der Schatten

2.5.4 Das Seelenbild: Anima und Animus

2.5.5 Exkurs: Kritik am Anima/Animus Konzept und zeitgemäße Konzeptionen

2.5.6 Der alte Weise und die Große Mutter (die Mana-Persönlichkeiten)

2.5.7 Das Selbst

2.5.8 Abschließendes zum Individuationsprozess in seiner Gesamtheit

2.6 Klassische Arbeiten zu zentralen Archetypen

2.7 Darstellungen weiterer Archetypen von Nachfolgern Jungs

2.8 Zur Begriffsgeschichte

2.9 Verwandte Konzepte in der allgemeinen Psychoanalyse

2.10 Parallelen zum Kollektiven Unbewussten in anderen Therapieschulen

3 Kritik am klassischen Archetypenkonzept und Erweiterungen

3.1 Probleme und Widersprüche im Jung’schen Archetypenkonzept

3.1.1 Biologistische Definition

3.1.2 Empirisch-statistische Definition

3.1.3 Transzendentale Definition

3.1.4 Kulturpsychologisches Verständnis

3.2 Erweiterungen des Archetypenkonzepts durch unmittelbare Schüler Jungs

3.2.1 Michael Fordhams Theorie des Prozesses von Deintegration und Reintegration als Erweiterung von Jungs Theorie des Selbst

3.2.2 Erich Neumanns »Ursprungsgeschichte des Bewusstseins«

3.2.3 Die Archetypenpsychologie von James Hillman

4 Forschung zum Archetypenkonzept und sich daraus ergebende Weiterentwicklungen der Theorie

4.1 Wissenschaftlich überprüfbare Bestandteile des Archetypenbegriffs

4.2 Empirische Evidenz für Archetypen

4.2.1 Assoziationsstudien: Interindividuell übereinstimmende Komplexkerne

4.2.2 Belege für angeborene psychische Strukturen

4.2.3 Anthropologische Forschung

4.2.4 Forschung zu veränderten Bewusstseinszuständen

4.2.5 Experimentelle Studien zum Archetypenkonzept – Studien zum archetypischen Gedächtnis

4.2.6 Forschung mit dem Archetypenkonzept

4.2.7 Diskussion der empirischen Evidenz

4.3 Erklärungsansätze für das Zustandekommen und die Weitergabe von Archetypen

4.3.1 Aktueller Stand der Humangenetik und Epigenetik

4.3.2 Endophänotypen

4.3.3 Konzepte und Forschungsergebnisse aus der Gestaltpsychologie, den Kognitions-und Neurowissenschaften

4.3.4 Archetypen als emergente Strukturen

4.3.5 Spiegelneurone und der »intersubjektiv geteilte Raum«

4.3.6 Eine Reformulierung der Archetypentheorie

4.4 Forschung zum Kollektiven Unbewussten im Sinne einer unbewussten Verbindung zwischen Menschen

5 Anwendung der Archetypentheorie

5.1 Die Methodik der Amplifikation

5.2 Klinische Anwendung

5.2.1 Charakter – Identität – Lebensweg

5.2.2 Die Bedeutung von Archetypen im psychotherapeutischen Prozess

5.2.3 Fallbeispiel für die therapeutische Arbeit mit einem archetypischen Traumelement

5.2.4 Archetypische Übertragung

5.2.5 Der Archetyp des verwundeten Heilers als Orientierung für die Haltung des Psychotherapeuten

5.2.6 Die Verwendung des Archetypenkonzepts für die Erklärung der Dynamik in Paarbeziehungen und sein Einsatz in der Paartherapie

5.2.7 Die Verwendung des Archetypenkonzepts in pädagogisch-selbsterfahrungsorientierten Gruppenkonzepten am Beispiel eines Selbsterfahrungsgruppenkonzepts für Männer

5.3 Kulturwissenschaftliche Anwendungen

5.3.1 Kulturpsychologische Analysen mythologischer Narrative

Die Odyssee – eine Irrfahrt durchs Unbewusste und ein Prozess der Selbstwerdung

Der Archetyp des Heldenmythos

Spielfilme – die Mythen der Spätmoderne

Eine exemplarische Produktanalyse: James Bond – der moderne Heros

5.3.2 Archetypen als Analyseinstrument einer politischen Psychologie

6 Ist die Archetypentheorie noch zeitgemäß? – Ein vorläufiges Fazit

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

1         Einführung

 

 

 

 

Als Hinführung zum Thema Archetyp möchte ich das folgende Fallbeispiel vorstellen, das sich vor einigen Jahren in meiner psychotherapeutischen Praxis zugetragen hat. Ich hatte damals einen jungen Mann Anfang 20 in Psychotherapie, der sich bei mir angemeldet hatte vor allem wegen einer wiederkehrenden Depression. Hinzu kam, was sich allerdings erst nach einiger Zeit und einer von seiner Seite zögerlichen Offenlegung herausstellte, ein Missbrauch von Cannabis, der solche Ausmaße angenommen hatte, dass mein Klient über längere Zeiten des Tages im Dösen verbrachte. Er wies schon kognitive Störungen wie z. B. Konzentrations-und Merkfähigkeitsschwächen auf, was im Zusammenspiel mit seiner Depression zur Folge hatte, dass er in seiner beruflichen Situation und Ausbildungsperspektive stagnierte.

In der Vorgeschichte hatte mein Klient im Alter von sieben Jahren den Tod seiner Mutter erlebt, die an einer Blutvergiftung im Zusammenhang mit einer Krankenhausbehandlung starb. Er lebte dann weiter mit seinem Vater und seiner viele Jahre älteren Schwester zusammen, wobei die Schwester in der Zeit, in der sie zuhause lebte, quasi Mutterfunktion für ihn übernahm. Als mein Klient 14 Jahre alt war, erkrankte auch der Vater an Krebs und es war bald abzusehen, dass auch er an der Erkrankung sterben würde. Zu diesem Zeitpunkt war die ältere Schwester schon ausgezogen und lebte selbst in Ehe mit eigener Familie in größerer Entfernung vom Wohnort meines Klienten. Mein Klient musste nun als Jugendlicher den langsamen Verfall und das Sterben seines Vaters mitverfolgen und blieb schließlich völlig allein im Hause seiner Eltern zurück. Das zuständige Jugendamt entschied dann, dass er in der Lage sei, seinen Lebensalltag alleine zu bewältigen. So lebte mein Klient seit dem Tode seines Vaters allein im elterlichen Haus, schloss seine Schulausbildung und eine Berufsausbildung ab und arbeitete zu dem Zeitpunkt, an dem er zu mir kam, schon einige Jahre in einem Lehrberuf. In seinem Elternhaus, in dem er nach wie vor lebte, hatte er praktisch alles so belassen, wie die Eltern es eingerichtet hatten – mir drängte sich manchmal der Gedanke auf, das Ganze wirkte wie ein Mausoleum, in dem der verlorenen Eltern gedacht wird, und das weniger ein Ort zum wirklichen Leben ist.

Die Depression meines Klienten kehrte in Schüben immer wieder, insbesondere verstärkte sie sich in der Zeit kurz vor dem Todestag seiner Mutter. Es war offensichtlich, dass der Klient viel zu früh in seinem Leben von diesen Verlusten betroffen worden war und diese auch angesichts der kargen Lebenssituation in keiner Weise psychisch verarbeitet hatte. Die Erfahrung des Verlustes seiner emotionalen Basis, des Alleingelassenseins und der Überforderung wurde dann sicherlich durch den ebenfalls vorzeitigen Tod seines Vaters noch einmal verstärkt. Psychodynamisch ist in diesen frühen Verlusten sicherlich der genetische Hintergrund für seine Depressionen zu sehen. Der exzessive Missbrauch von Cannabis, mit dem er sich über weite Strecken des Tages in eine Art Trancezustand versetzte, stand für mich offensichtlich in dem Zusammenhang, sozusagen eine gewisse Nähe im Jenseits mit den verlorenen Eltern wiederherzustellen. Auf der bewussten Ebene rationalisierte mein Klient den Cannabismissbrauch mit einer libertinären Lebenseinstellung, und betonte, dass er es sehr schätze, dass er schon als Jugendlicher habe machen können, was er wolle. Insofern war der Klient in einer Überhöhung eines Zustandes von jugendlicher Freiheit und Verantwortungslosigkeit stehen geblieben. Gleichzeitig litt mein Klient deutlich an den ihn verfolgenden Zuständen von depressiver Gefühllosigkeit, Verlassenheit und Antriebslosigkeit und haderte mit seiner beruflichen Stagnation. Eigentlich wollte er seine Ausbildung fortführen und auf ein höheres Niveau heben, wozu er aber die Energie nicht aufbrachte.

Wir hatten nun schon über ein Jahr miteinander gearbeitet, was sich als relativ zäh erwies, da der Klient zum einen sich vehement gegen eine kritische Betrachtung seines Cannabismissbrauchs wehrte, und zum anderen die wiederkehrenden depressiven Zustände kaum beeinflussbar erschienen. Es hatte sich allerdings eine gute therapeutische Arbeitsbeziehung zwischen uns entwickelt, der Klient kam gern zu den Sitzungen und brachte auch zunehmend Themen, die ihn aktuell emotional beschäftigten (wie z. B. aktuelle Paarbeziehungen) in die Psychotherapie ein. Auf diesem Hintergrund hatte mein Klient nun folgenden Traum, den er sichtlich erregt in der nächsten Therapiesitzung erzählte:

Ich bin in einem fremden Land und werde von Leuten eines mir fremden Volkes sehr brutal behandelt. Sie ziehen mir die Kleider aus und malen mich mit einer Art heller Farbe oder auch Ton bzw. Schlamm an. Dann schlagen und pieken sie mich mit kleinen Stöcken, was sehr schmerzhaft ist. Sie packen mich an den Armen und Beinen und schleifen mich durch den Staub und schließlich zu einer Art Altar. Auf diesem Altar ist ein großer Stein mit einem runden Loch darin. Ich werde von den Männern mit meinem ganzen Körper durch dieses Loch hindurch gezogen, was ebenfalls sehr schmerzhaft ist. Danach aber werden die Leute sehr freundlich zu mir, sie tanzen einen Freudentanz um mich herum, tragen mich auf den Armen und wir gehen zu einer Art Fest, an dem ich gefeiert werde. Ich fühle mich jetzt sehr angenommen und euphorisch.

Der Traum, der für einen unbefangenen Betrachter zunächst einmal etwas fremdartig wirkt, hatte auf mich eine ungeheuer wuchtige Wirkung: Ich war so betroffen, dass ich kaum etwas sagen konnte. Ich beschäftigte mich zu dieser Zeit für eine Prüfung in Ethnologie mit Initiationsriten verschiedener Völker. Es sprang mir sofort ins Auge, dass der Traum meines Klienten bis ins Detail Elemente von Initiationsriten beschreibt, wie man sie bei verschiedenen Völkern, z. B. in Ostafrika, findet. Hätte ich mich zu dieser Zeit nicht mit entsprechender ethnologische Literatur beschäftigt, wäre mir der Zusammenhang vielleicht nicht so deutlich aufgefallen. Interessant ist nun, dass der Traum meines Klienten derartige Initiationsriten dermaßen detailgetreu beschreibt, obwohl ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehme, dass mein Klient kein diesbezügliches Wissen besaß und auch mit entsprechender Fachliteratur nicht in Kontakt gekommen war. Darüber hinaus war überaus interessant, dass der im Traum beschriebene Vorgang der Initiation im Grunde genau das war, was mein Klient in seiner damaligen Lebenssituation brauchte. Initiationsriten bei den Völkern dienen immer dazu, Heranwachsenden den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter zu ermöglichen. Die teilweise schmerzhaften und auch ängstigenden Prozeduren, denen sich die Initianten unterziehen müssen, dienen nach dem Verständnis traditioneller Völker, so weit die Ethnologie dies rekonstruieren kann, dazu, »das Kind in der Person zu töten«, also den Abschied und das Loslassen von kindlichen Bindungen insbesondere an die Mutter, aber auch an die Ursprungsfamilie im allgemeinen, zu erleichtern. Erst wenn das Kind in der Person auf diese Weise, so das Verständnis der Ethnologie, beseitigt ist, kann der Heranwachsende in sich Platz schaffen für eine Orientierung an der Welt und den Werten der Erwachsenen und in dieser Erwachsenenwelt Verantwortung übernehmen. Viele Initiationsriten beinhalten dementsprechend auch den Vorgang einer symbolischen Wiedergeburt oder Neugeburt, z. B. durch Taufe, also durch Eintauchen, Untertauchen in einem Wasser, in dem die alte Person stirbt, und Wiederauftauchen als eine neue Person, ein neugeborener Mensch, hier ein Erwachsener. Im Traum meines Klienten war dies das Hindurchgezogen-Werden durch den »Geburtskanal« des Steins auf dem Altar. Der Altar im Traum markiert dabei, dass es sich hier um einen quasi sakralen Kontext handelt. Typisch für Initiationsriten ist auch die Feier der Initianden, nachdem sie die schwierigen Prozeduren der Initiation überstanden haben und sich als mutig erwiesen haben, Schmerz und Angst auszuhalten, sowie ihre Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, der dann in der Regel eine Zeit der Unterweisung in die Regeln und das Wissen der Älteren folgt.

Dieser Traum an genau diesem Punkt der Behandlung war für mich deshalb auch so verblüffend, weil eine Initiation im Grunde genau das war, was mein Klient brauchte. Aufgrund seiner frühen Verlusterfahrungen war es ihm nicht möglich, sich beizeiten von den Bindungspersonen seiner Kindheit zu lösen und diese zu verabschieden, sondern er konservierte im Grunde die Bindung an die Eltern durch das Leben in deren »Mausoleum« und stellte mit seinem Cannabiskonsum immer wieder quasi eine trancehafte Verbindung zu seinen Eltern im Jenseits her. Das Ganze war rational überhöht durch Werte von jugendlicher Freiheit und Verantwortungslosigkeit. Auch aus meiner Sicht als Psychotherapeut bedurfte es hier einer Verabschiedung der Kindheit, was natürlich hier abweichend von einem üblichen Initiationsritus auch ein Betrauern der frühen Verluste bedeutet hätte, sowie den bewussten Schritt in eine erwachsene Verantwortung für sein Leben.

Als ich mir diese Zusammenhänge bewusst gemacht hatte, erzählte ich meinem Klienten längere Zeit von Initiationsriten und deren Funktion bei verschiedenen Völkern. Auch wenn ihm dies einleuchtete, so bewirkte dies natürlich nicht sofort eine umfassende Veränderung bei ihm. Für mich aber gab der Traum deutliche Hinweise auf die weitere Entwicklung und Zielrichtung der therapeutischen Arbeit und es war auch zu bemerken, dass in der Folge des Traumes es deutlich leichter fiel, mit dem Klienten schwierige Themen wie z. B. die Konservierung des Andenkens seiner Eltern oder seinen exzessiven Cannabiskonsum zu thematisieren. Die Therapie setzte sich dann noch für etwa zwei Jahre fort, wobei es schließlich gelang, dass der Klient die Verluste seine Eltern betrauerte, seine depressiven Schübe überwand, eine neue Ausbildung begann und schließlich auch aus dem Haus seiner Eltern in eine für ihn angemessenere, kleine Wohnung zog. Insgesamt war das Ergebnis der Therapie insofern sehr erfolgreich.

Die Initiation, die im Traum meines Klienten auftaucht und die er hier durchlaufen muss, kann zurecht als ein Archetyp bezeichnet werden. Dieses Beispiel enthält die wesentlichen Elemente, die das Konzept des Archetypus ausmacht: es ist ein universelles Muster, das sich zu allen Zeiten bei allen Völkern in strukturell ähnlicher Weise findet; es taucht spontan aus dem Unbewussten der Person, wie hier z. B. in einem Traum, auf; in der Regel kann davon ausgegangen werden, dass die Person kein Wissen um das Muster aus der Erfahrung erhalten hat, es scheint sozusagen in der Person angelegt zu sein; das Auftauchen des Archetypus ist mit einer psychischen Energie verbunden, die eine Transformation bewirkt – bei der Initiation geht es darum, den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter zu bewirken; insofern zeigen sich Archetypen insbesondere in Transformationsprozessen, wie z. B. in der Psychotherapie, als spontaner seelischer Ausdruck, der festgefahrene seelische Prozesse wieder in Bewegung bringt und insofern heilsame Wirkung entfaltet; oft macht einen das Auftauchen von Archetypen ehrfürchtig, was Carl Gustav Jung als Numinosum bezeichnet hat. Jung hat das Konzept des Archetypus für die Psychologie ausformuliert. Diese Konzeption und seine Weiterentwicklung sowie seine Anwendungsbereiche sind Gegenstand dieses Buches.

2         Die klassische Definition und Theorie des Archetypenkonzepts bei Jung

Der Begriff Archetyp, in Kombination mit dem Begriff des Kollektiven Unbewussten sowie dem des Individuationsprozesses, ist sicherlich das zentrale Konzept der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs. Die Archetypen bilden das theoretische Fundament der Jung’schen Psychologie, sie machen ihre Besonderheit gegenüber allen anderen psychotherapeutischen Schulen aus, und bedingen im Grunde die spezifische Vorgehensweise in der Psychotherapie mit ihren verschiedenen Methoden der Traumdeutung, Arbeit mit Bildern und anderem symbolischem Material, der aktiven Imagination usw. Das Konzept der Archetypen war – neben persönlichen Konflikten – ein hauptsächlicher Grund für die theoretischen Differenzen und den nachfolgenden Bruch zwischen Freud und Jung und markieren den Beginn der Ausformulierung von Jungs eigenem psychologischen Theoriegebäude.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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