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Was unterscheidet Mensch und Maschine? Die 17-jährige Eve kann sich gerade so mit Roboterkämpfen über Wasser halten – bis sie vernichtend geschlagen wird und auch das letzte Geld verliert. Auf der Suche nach einem Ausweg findet sie Ezekiel, ein Lifelike-Androide, die wegen ihrer Ähnlichkeit zu Menschen und überlegenen Kampfkunst verboten sind. Unerklärlicherweise vertraut sie ihm, obwohl seine Behauptungen ihr gesamtes Leben infrage stellen. Eve bricht in die Wüste aus schwarzem Glas auf, um die Wahrheit über ihre Vergangenheit und sich selbst herauszufinden. Aber manche Geheimnisse sollten besser ungelüftet bleiben …
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Seitenzahl: 525
Was unterscheidet Mensch und Maschine?
Die 17-jährige Eve kann sich gerade so mit illegalen Roboterkämpfen über Wasser halten – bis sie vernichtend geschlagen wird und auch das letzte Geld verliert. Auf der Suche nach einem Ausweg findet sie Ezekiel, einen Lifelike, die wegen ihrer Ähnlichkeit zu Menschen und überlegenen Kampfkunst verboten sind. Sie vertraut ihm, obwohl seine Existenz ihr gesamtes Leben infrage stellt. In der Wüste aus schwarzem Glas hofft sie, die Wahrheit über ihre Vergangenheit und sich selbst herauszufinden. Aber manche Geheimnisse sollten besser ungelüftet bleiben …
Von Jay Kristoff ist bei dtv außerdem lieferbar:Illuminae. Die Illuminae Akten_01 (zusammen mit Amie Kaufman)Gemina. Die Illuminae Akten_02 (zusammen mit Amie Kaufman)
Jay Kristoff
LIFEL1K3
DAS BABEL PROJEKT
RomanAus dem australischen Englisch von Gerald Jung
Mein Vorschlag, damit ihr was zu tun habt:Lernt schwimmen.Lernt schwimmen.Lernt schwimmen.
– Maynard James Keenan
Meinen Vater bringen sie zuerst um.
Ihre glänzenden Stiefel poltern auf der Treppe. Sie kommen in unsere Zelle, stellen sich zu viert nebeneinander in einer perfekten Reihe auf. Ausdruckslose Gesichter und makellose Haut, mattgraue Pistolen in roten, roten Händen. Ein wunderschöner Mann mit goldenem Haar sagt, sie seien gekommen, um uns hinzurichten. Keine Erklärungen. Keine Entschuldigungen.
Vater dreht sich zu uns um, das Entsetzen in seinen Augen bricht mir das Herz. Ich öffne den Mund, will ihm etwas sagen, aber ich weiß nicht, was.
Die Kugeln treffen ihn im Rücken, Blut zeigt sich in roten Blüten auf seiner Brust. Meine Schwestern schreien, die Pistolenmündungen blitzen auf, Schatten tanzen und es ist so laut, dass ich befürchte, nie wieder etwas zu hören. Mutter streckt die Hände nach Vater aus, als wollte sie seinen Sturz auffangen, und der Schuss, der ihre Schläfe küsst, malt mein Gesicht rot. Ich schmecke Salz und Kupfer und milchweißen Rauch.
Dann ist alles still.
»Es ist besser, in der Hölle zu herrschen«, sagt der schöne Mann lächelnd, »als im Himmel zu dienen.«
Die Worte hängen in der Luft, mitten im Lied ferner Explosionen und der Hymne zertrümmerter Maschinen. Eine Frau mit mattgrauen Augen berührt die Hand des schönen Mannes, und ohne ein Wort zu sagen, drehen sich alle vier um und verlassen den Raum.
Mein Bruder kriecht auf unseren toten Vater zu, meine Schwestern schreien immer noch. Mir klebt die Zunge am Gaumen, das Blut meiner Mutter fühlt sich warm an auf meinen Lippen, und ich kann an nichts denken, keinen anderen Gedanken fassen als den, wie grausam sie doch sind, uns einen solchen Moment zu bescheren – einen winzigen, zerbrechlichen Moment, in dem wir beten, dass alles doch endlich vorbei sein möge. In dem wir uns fragen, ob in diesen Hüllen, die wir bis an den Rand gefüllt haben, noch ein Rest von Loyalität oder Mitgefühl übrig ist. Und in dem wir hoffen, dass sie vielleicht keine Kinder umbringen.
Das Schreien lässt schließlich nach, der Rauch verzieht sich langsam.
Dann hören wir wieder die glänzenden Stiefel auf der Treppe.
Fast alle nannten sie Eve.
Auf den ersten Blick konnte man sie fast übersehen. Was ihr nicht viel ausgemacht hätte. Auf dem Rücken eines Metallriesen kauernd, war sie kaum mehr als eine Silhouette im Schein zischend aufstiebender, summender Funken. Dabei war sie hochgewachsen, fast schlaksig. Sie trug zu große Stiefel und zu enge Cargohosen, und das von der Sonne gebleichte Haar war zu einem eindrucksvollen Undercut plus Fake-Iro geschnitten. Die schmutzigen Fettschlieren auf ihren kantigen Wangenknochen glänzten im Schein des Schneidbrenners, den sie in den Händen hielt. Sie war siebzehn Jahre alt, sah aber älter aus. So wie alles um sie herum.
An der Stelle ihres rechten Auges befand sich eine schwarze Metallkugel. Hinter ihrem rechten Ohr steckten sechs Silizium-Chips und von der Schläfe bis zur Schädelbasis verlief ein längliches Oval aus künstlicher Haut. Das Implantat war offensichtlich nicht für sie angefertigt worden, denn die Hautfarbe war eine Spur zu hell für ihren Teint.
Es hatte genau die Form einer hässlichen Austrittswunde.
»Test, Test … hört ihr mich da draußen?«
Das Mädchen, das von allen Eve genannt wurde, klemmte sich einen Schraubenzieher zwischen die Zähne und warf einen Blick auf die Monitore auf der anderen Seite ihrer Werkstattgrube. Ein hochauflösendes Bild zeigte die Arena über ihr: dreihundert Meter Durchmesser, übersät mit verkohlten Barrikaden und den rostenden Überresten ehemaliger Konkurrenten. Die EmCee stand mit Pailletten-Jackett und passender Melone im Rampenlicht. Ein Mikro war nicht nötig. Die Implantate in ihren Zähnen übertrugen ihre Stimme direkt in die Lautsprecher.
»Liebe Jungs und Mädels«, rief sie. »Hochverehrte Szene-Dudes und Lohnsklaven, herzlich willkommen … in der KampfKuppel!«
Die Menge tobte. Tausende Zuschauer klammerten sich wie Kletten an die Gitterstäbe der Kuppel, brüllten vor Begeisterung und trampelten mit den Füßen. Die meisten hatten bereits ordentlich Stims oder Selbstgebrannten konsumiert und die Aussicht auf das bevorstehende Gemetzel berauschte sie noch mehr. Die Vibrationen drangen bis in Eves Knochen und sie musste unwillkürlich lächeln. Sie schmeckte ihre Angst auf der Zunge, aber sie schluckte sie einfach runter.
»Showtime«, flüsterte sie.
»In der blauen Zone«, schrie die EmCee, »haben wir die Verurteilten! Einen Durchknaller, frisch von der Grenze zum Glas, den Mörder von zweiundsiebzig amtlich beglaubigten Bürgern. Wir haben ihn heute Abend hier, um ihm ein bisschen Old-School-Gerechtigkeit zu verpassen! Einen herzlichen Applaus für diesen Fug, bitte. Macht mal ein bisschen Lärm, Leute … für GL-417!«
Blaue Scheinwerfer kurvten über das Nordende der Kuppel, die Bodenplatten glitten beiseite. Unter ohrenbetäubendem Gejohle und einem Regen aus Spucke fuhr eine Furcht einflößende Masse brutaler Robotik in das Rund der Arena herauf. Bei dem Bild, das sich auf ihrem Monitor bot, wurde es Eve flau im Magen, ihre Eingeweide fühlten sich mit einem Mal eiskalt an. Der Schneidbrenner in ihrer Hand wackelte hin und her.
So ganz ohne Spucke lässt sich die Angst schlecht runterschlucken, was?
Der Roboter in der blauen Zone ragte zehn Meter in die Höhe. Ein Koloss wie ein Schlachtschiff, der aussah wie der Zusammenstoß einer Planierraupe mit einem Ritter in voller Rüstung aus der Geschichts-VR. Es handelte sich um ein schweres Kampfmodell der Goliath-Klasse, und der Gedanke an einen Kampf gegen einen derartig todbringenden Bot hier unter den Lichtern der Kuppel ließ die Wetter noch tiefer in den Taschen wühlen und die Buchmacher nach ihren Tablets greifen.
Alle machten sich auf einen sensationellen Kampf gefasst.
»Mach dich auf ein Massaker gefasst«, sagte eine blecherne Stimme in Eves linkem Ohr.
Ohne auf die Warnung einzugehen, schweißte sie zu Ende, die dunkle Schutzbrille über ihrem guten Auge oder was sie dafür hielt. In Wahrheit sah sie mit dem glänzenden schwarzen Implantat anstelle ihres rechten Ausgucks wesentlich besser als mit ihrem richtigen Auge, schließlich war es mit Helligkeitsunterdrückung, teleskopischem Zoom sowie mit Restlichtverstärker und einem Wärmebildsensor ausgestattet. Aber es bescherte ihr regelmäßig Kopfschmerzen. Und es surrte, wenn sie blinzelte. Und es juckte, wenn sie schreiend aus ihren Albträumen erwachte.
»Wie sieht’s aus, Cricket?«, rief sie.
»Zielvorrichtung leider nur 13,7 Prozent Verbesserung.«
Cricket schielte mit seinen ungleichen Augen aus dem Pilotensitz zu ihr herüber. Das Gesicht des kleinen Roboters war nicht für unterschiedliche Mimik vorgesehen, aber er wackelte mit den Metallstreifen, die als Augenbrauen durchgingen, um ihr seine Aufregung zu signalisieren. Er war ein aus Ersatzteilen bestehender Homunkulus, vierzig Zentimeter groß und rostfarben. Nichts, aber auch gar nichts an ihm war auch nur irgendwie symmetrisch. Seine Sehvorrichtung war zu groß für den Kopf und der Kopf war zu groß für den restlichen Körper. Die Kühlrippen auf seinem Rücken und seinem Schädel sahen wie die Stacheln eines Urtieres aus den alten Geschichts-VRs aus. Stachelschweine hießen die damals.
»Also, es geht jetzt gleich los, deshalb muss es ausreichen«, erwiderte Eve. »Dieser Goliath ist so groß wie ein Haus und dürfte eigentlich nicht zu verfehlen sein.«
»Hört sich vielleicht bescheuert an, Eve, aber du kannst immer noch einen Rückzieher machen.«
»Aha. Und wie kommst du darauf, dass sich der Gedanke so bescheuert anhört, Crick?«
»Du musst das nicht tun.« Cricket stieg auf den Boden herab. »Du solltest überhaupt nicht hier in der Kuppel antreten. Wenn Großvater das wüsste, würde ihm eine Kopfdichtung rausfliegen.«
»Was glaubst du denn, wer mir beigebracht hat, Bots zu bauen?«
»Dein Gegner ist weit über deiner Gewichtsklasse. Du verhältst dich völlig idiotisch, wie ein verdammter Vollpfosten.«
»Großvater versohlt dir den Hintern, wenn er dich so fluchen hört.«
Cricket legte in ironischer Ernsthaftigkeit eine Hand auf die Brust. »Ich bin so, wie mich mein Schöpfer gewollt hat.«
Eve lachte und kletterte hinüber zum Cockpit. Sie passte genau hinein. Ihre Machina war nur sechs Meter hoch, es gab kaum Platz für sie zwischen den Sichtschirmen und den Steuerstulpen. Die meisten Machina, die bei Kuppelkämpfen eingesetzt wurden, waren irgendwo geborgene Infanteriemodelle, aber Eves Baby gehörte zur Heuschrecken-Klasse – während der Kriege zwischen den KonzernStaaten eigens für blitzschnelle Angriffe auf befestigte Anlagen entworfene Modelle. Seine humanoide Gestalt war weniger auf Masse denn auf Geschwindigkeit ausgelegt und mit den scharfzackigen Klauen der linken und der durch Düsen unterstützten Spitzhacke an der rechten Hand auf die Zerstörung von Bots angelegt. Die Außenhaut war mit einer brachialen Tarnbemalung aus Schwarz und grellem Pink lackiert.
Eve ließ sich in den Pilotensitz fallen und rief hinunter zu Cricket: »Sieht mein Hintern in dem Ding fett aus?«
»Willst du die Wahrheit hören?«, erwiderte der kleine Bot.
»Willst du, dass ich deine Sprachbox wieder abschalte?«
»Ganz im Ernst, Eve, du solltest nicht dort hinauf.«
»Es ist ein Eröffnungskampf, Crick. Und wir brauchen die Kohle. Dringend.«
»Schon mal darüber nachgedacht, wieso du den Aufschlag gegen einen so großen Bot angeboten bekommen hast?«
»Schon mal darüber nachgedacht, warum ich dich immer für paranoid halte?«
Cricket legte wieder die Hand auf die Brust. »Ich bin so, wie mich mein Schöpfer –«
»Schon gut, schon gut.« Eve lächelte schief und fuhr das Programm hoch. »Mach dich an die Monitore, ja? Ich brauche deine Augen, wenn wir auf die Bühne gehen.«
Eve staunte immer wieder darüber, wie überzeugend der kleine Roboter seufzte, jedenfalls wenn man bedachte, dass er keine Lungen zum Ausatmen hatte.
»Keine Angst, Crick.« Sie klopfte zuversichtlich auf die Hülle ihrer Machina. »So ein wunderschöner Bot lässt sich niemals von einem Durchknaller fertigmachen. Nicht, solange ich ihn steuere.«
Die Stimme meldete sich quäkend in Eves Ohr. »Genau. Ohne Selbstvertrauen geht’s nicht, du kleiner Fug.«
»Ah, danke, Lem.« Eve lächelte.
»Keine Ursache. Wenn du draufgehst, krieg ich doch deine Sachen, oder?«
Die Maschinen erwachten summend zum Leben und die viertausend PS unter dem Chassis ihrer Machina ließen Eves Grinsen noch breiter werden. Sie legte die Gurte an und schon hallte die Stimme der EmCee wieder durch die KampfKuppel über ihr.
»Und jetzt – auf in die rote Zone!« Lautes Gebrüll aus dem Publikum. »Eine Handvoll pure Gewalt, hier in Dregs liebevoll zusammengeschraubt. In acht üblen Kämpfen bis jetzt ungeschlagen und heute Abend als Justitias ausführender Schlagarm – schreit euch die Seele aus dem Leib für Fräulein Blechmix!«
Die Decke über Eves Kopf öffnete sich gähnend weit. Sie zwinkerte Cricket zu, spuckte den Schraubenzieher aus und zog das Cockpit mit lautem Scheppern zu. Als sie Hände und Füße in die Steuerstulpen schob, leuchtete ein halbes Dutzend Monitore auf. Hydraulik zischte und das leise Dröhnen von Motoren drang durch die Cockpit-Wände, als sie auf die Ladeplattform der KampfKuppel-Arena hinaustrat.
Kaum war sie in Sicht, brach die Menge in begeistertes Brüllen aus. Eve bewegte die Beine und ihre Machina stapfte hinaus in die Arena des Todes. Gyroskope summten, statische Aufladungen knisterten an ihren Armen herauf. Sie hob eine Hand in ihrem Steuerärmel und Fräulein Blechmix grüßte militärisch. Als die Menge zur Antwort aufschrie, zeigte Eve auf die beiden Worte, die in verschnörkelter Schrift auf den Hintern ihrer Machina gesprüht waren:
HIER LECKEN.
Eves Gegner stand stumm da, die Mikrosolarzellen in seiner Tarnfarbe schimmerten gespenstisch. Im Gegensatz zu ihrer Machina war der Goliath ein Logika – ein nicht von menschlicher Kontrolle, sondern von einer internen Intelligenz gesteuerter Bot. Wäre in der Welt alles zum Besten bestellt, würde das erste Robotergesetz jeden Bot daran hindern, auch nur einen Finger gegen einen Menschen zu erheben. Das Problem war jedoch, dass der Goliath irgendwann einmal durchgeknallt war und draußen nicht weit vom Glas einen Haufen Siedler verabschiedet hatte. Was nicht zum ersten Mal passiert war. Immer mehr Bots schienen da draußen in der Einöde nicht mehr richtig zu funktionieren. Vielleicht lag es an der Strahlung. Oder an der Abgeschiedenheit. Wer wusste das schon? Inzwischen waren Bot-Kämpfe jedenfalls ein großes Geschäft und Exekutionskämpfe zogen besonders viele Leute an. Eve hatte kein Problem damit, irgendeinen Durchknaller fertigzumachen, wenn sie damit ein paar Credits verdienen konnte.
Eigentlich machte es ihr sogar Spaß.
Trotz allen Draufgängertums summte Crickets Warnung noch in ihrem Kopf, als sie den Goliath genauer betrachtete. Er war eindeutig der größte Bot, gegen den sie je angetreten war, wahrscheinlich so an die achtzig Tonnen schwer. Sie kaute an ihrer Lippe und versuchte, die Schmetterlinge im Bauch zu verjagen. Das optische Implantat surrte leise. Die künstliche Haut an ihrer Schläfe war die einzige Stelle an ihr, die nicht mit Schweiß bedeckt war.
Wenn ich dieses Preisgeld nicht so dringend brauchen würde …
»Noch mal kurz für die Nichteingeweihten«, krähte die EmCee. »Bei unseren Kuppelkämpfen halten wir’s immer ganz einfach: Der verurteilte Logika kämpft so lange, bis er AB ist – das heißt ›außer Betrieb‹. Geht stattdessen der erste edle Ritter AB, tritt ein weiterer Ritter in den Ring. Meine Lieben, ihr habt jetzt genau noch sechzig Sekunden, um eure Wetten zu platzieren. Wir erinnern euch daran, dass die heutige Exekution von den stylishen Entwicklern von BioMaas Incorporated und den Visionären von Daedalus Technologies gesponsert wird.«
Die EmCee zeigte mit einem koketten Lächeln auf ihre zweifarbigen optischen Implantate. »Wir bauen das Morgen schon heute.«
Logos tanzten über die Bildschirme über dem Kopf der EmCee. Eve musterte den großen Bot auf ihren Monitoren und überlegte sich die beste erste Aktion gegen ihn. Die blecherne Stimme in ihrem Ohr meldete sich wieder – die Stimme eines Mädchens, voller Knistern und Rückkopplungen.
»Ich hab hier einen Buchmacher, bei dem steht es vier zu eins gegen dich, Riotgrrl.«
Eve tippte gegen ihr Mikro. »Vier zu eins? Ist ja geil. Leg noch was drauf, Lemon.«
»Wie viel willst du aus deinen viel zu engen Taschen springen lassen, Zuckerpüppchen?«
»Fünfhundert.«
»Spinnst du? Das ist unsere ganze Reserve. Wenn du verlierst –«
»Ich hab achtmal hintereinander gewonnen, Lemon. Warum sollte ich jetzt verlieren? Außerdem brauchen wir die Knete. Es sei denn, du kannst Großvaters Meds anders herzaubern.«
»Da wüsste ich schon was.«
»Etwas, wo ich nicht auf unangenehme Tuchfühlung mit irgendeinem mittelalten Lohnsklaven gehen muss?«
»Tja, dann eben nicht.«
»Setz die Knete. Fünfhundert.«
»Tststs«, lautete die Antwort. »Aber du bist der Boss.«
»Und lass dir einen Beleg geben, ja?«
»He, das ist mir nur ein einziges Mal passiert …«
»Noch dreißig Sekunden für die letzten Einsätze!«, schrie die EmCee.
Eve schaute auf ihre Anzeigen und sagte ins Headset: »Cricket, verstehst du mich?«
»Nein, ich verstehe dich nicht«, kam es knackend aus dem Kopfhörer. »Aber ich höre dich, wenn du das meinst.«
»Sehr lustig. Hat Großvater deine Humor-Software wieder mal nachjustiert?«
»Ich werde ständig verbessert.«
»Ich sag ihm, dass er dranbleiben soll.« Sie starrte den Goliath auf ihren Monitoren an. »Ich fang mal mit einem Rechtsausleger an und ziele auf die Optik, klar?«
»Klar bis in die Knochen.«
»Du hast keine Knochen, Crick.«
»Ich bin so, wie mich mein Schöpfer gewollt hat.« Ein metallischer Seufzer. »Der alte Drecksack …«
Lemons Stimme knisterte in Eves Ohr. »Alles klar. Siehst du meinen hübschen Hintern? Ich bin beim NeoMeatTM-Stand.«
Eve ließ den Blick rasch über die Menge schweifen. Fast alles Schrottsammler und Einheimische, die nach einer anstrengenden Arbeitswoche Dampf ablassen wollten. Sie sah eine Schar von der Bruderschaft, sechs Typen in ihren altmodischen roten Soutanen, die inmitten des tosenden Lärms der Kuppel laut von genetischer Reinheit und den Übeln der Kybernetik predigten. Auf ihrem scharlachroten Banner prangte ein großes schwarzes X – ein X von der Sorte, an die sie gerne Leute nagelten, wenn das Gesetz nicht hinsah.
Weiter unten, am Rand der Arena, erblickte Eve ein schmächtiges Mädchen in einer alten, viel zu großen Lederjacke. Ein strubbeliger, kirschroter Haarschopf, darunter jede Menge Sommersprossen, auf der Stirn eine Schutzbrille und um den Hals ein eng anliegendes Halsband. Eine kleine Hand in einem fingerlosen Handschuh winkte ihr durch die Gitterstäbe der KampfKuppel zu.
»Hab dich«, antwortete Eve.
Die unnachahmliche Lemon Fresh hüpfte aufgeregt auf und ab und stieß die Hände mit dem Hörnerzeichen in die Luft.
»Okay, die Wette läuft, meine Allerbeste«, gab sie durch. »Fünf Hunnis bei vier zu eins. Hoffen wir mal, dass du deinen Wumms nicht in der anderen Hose gelassen hast.«
»Hast du die Quittung?«
»Es ist ein einziges Mal passiert, Evie …«
Eve richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Gegner. Ihre Finger huschten in den Handschuhen über die Umgebungssteuerung. Sie kannte das Gerücht, dass die Kuppelkämpfe in den großen Arenen auf dem Festland alle virtuell seien, aber hier in Dregs ging es bei diesen Veranstaltungen noch streng altmodisch zu: recycelt, aufgemotzt und umfunktioniert. Wie alles andere auf der Insel. Die Bestätigung, dass die Umgebungssteuerung mit ihrer Konsole verbunden war, flackerte über Eves Display. Sie kippte den Boden unter dem Goliath ein wenig an, nur zum Testen.
Der große Bot stolperte, als sich die Platten unter seinen Füßen bewegten. Eve fragte sich, was wohl in seinem Computerhirn vor sich ging. Ob er wusste, dass er heute Abend sterben würde? Ob es ihm überhaupt etwas ausmachte, wenn er nicht darauf programmiert war?
Die Menge schrie auf, als der Boden sich neigte und die miteinander verbundenen Stahlplatten durch Eves Fingerübungen in eine wellenartige Bewegung versetzt wurden. Die EmCee hatte sich in die Beobachtungskabine über dem Schlachtfeld zurückgezogen, aber ihre Stimme tönte immer noch aus den Lautsprechern.
»Wie ihr seht, ist die Umgebungssteuerung an den ersten Ritter übergeben worden. Nach den üblichen Regeln der KampfKuppel darf unsere Kämpferin somit fünf Abrissbirnen einsetzen, plus Oberflächenmodulation. Für die Frischlinge da draußen: Das bedeutet … Ach, frag doch deinen Papi, was es bedeutet, wenn ich ihn morgen früh wieder nach Hause schicke. Noch zehn Sekunden, dann geht’s zur Sache!«
Auf den Bildschirmen wurde ein Countdown eingeblendet, in den Ecken drehten sich die Logos von Daedalus Tech und BioMaas Inc. Das Publikum zählte laut mit, schwitzende Handflächen umklammerten rostige Gitterstäbe.
»Fünf …«
Eve kniff die Augen zusammen, ihr Lächeln war jetzt schmal wie eine Rasierklinge.
»Vier …«
Fräulein Blechmix kauerte sich wie ein Sprinter auf dem Startblock zusammen.
»Drei …«
Der Goliath stand immer noch reglos wie ein Stein da.
»Zwei …«
»Zusammen stark«, flüsterte Lemon.
»Eins …«
»Auf immer zusammen«, erwiderte Eve.
»KRIEG!«
Eve ließ ihre Heuschrecke losstürmen und kippte mit der Umgebungssteuerung den Boden an, sodass er zu einer Rampe wurde, von der sich ihre Machina mit dem Aufbrüllen von viertausend PS abstieß. Der Goliath hob eine Dreitonnenfaust, um die Heuschrecke zu zerschmettern, aber auf Eves Befehl hin kippte der Boden unter seinen Füßen wieder. Der große Logika stolperte, seine Füße rutschten über die Bodenplatten und Fräulein Blechmix landete auf seiner Schulter. Kompressoren jaulten auf, dann stieß Eve ihre Spitzhacke so heftig durch die rechte Optik des Goliaths, dass sie auf der Rückseite des Schädels wieder herauskam.
»Der erste Treffer geht an Fräulein Blechmix!«, schrie die EmCee. »Tod von ooooben!«
Die Menge tobte. Eves Lächeln wurde breiter, sie spürte, wie ihr die Zuneigung des Publikums von den Fingerspitzen aus den ganzen Arm heraufkroch. Als sie die Hacke aus dem Schädel des Goliaths herauszog, schloss sich die Faust des großen Logikas um Fräulein Blechmix’ Unterarm und zerdrückte die Panzerung wie Papier.
»Er hat dich!«, kreischte Cricket auf. »Mach dich los!«
Eve spürte den Druck durch ihren Steuerärmel, doch die Servodämpfer sprangen an, bevor der Schmerz spürbar wurde. Sie schlug mit ihren Krallen zu und riss die Schulter des Goliaths auf, dann wurden Eve und ihre Heuschrecke unter metallischem Kreischen quer durch die Kuppel geschleudert. Fräulein Blechmix prallte gegen das Gitter und zerquetschte dabei ein paar Finger, die nicht rechtzeitig losgelassen hatten. Eve biss sich auf die Zunge, ihr Kopf krachte gegen den Pilotensitz. Den Rest konnte sie gut abfangen und kam gerade noch rechtzeitig auf die Beine, als der Goliath zum Angriff überging.
»Alles klar bei dir?«, erkundigte sich Lemon.
»Alles in Butter …« Sie zuckte kurz zusammen.
»Umgebungssteuerung!«
Auf Eves Monitoren scrollten die Schadensmeldungen mit hundert Buchstaben pro Sekunde herein. Sie ließ den Boden weiterhin schwanken, um die Attacke des Goliaths zu stören, während ihre Finger über die Steuerung rasten und die erste der ihr zustehenden Abrissbirnen auslösten. Eine gewaltige Kugel aus rostigem Eisen schwang von der Decke und der große Bot bremste schliddernd ab, um ihr auszuweichen. Fräulein Blechmix war wieder auf den Beinen und rannte zum Rand der Kuppel, während Eve eine weitere Kugel schräg hinter dem Goliath auslöste, dort, wo er mittlerweile blind war. Die rostige Kugel erwischte ihn an der Schulter und riss zur Freude der Zuschauer die mit Einsatzstahl verstärkte Panzerung auf. Der große Logika duckte sich tief hinab und wich damit einer dritten Kugel aus. Eve schmeckte Blut im Mund, während ihre Finger fieberhaft im Steuerhandschuh tanzten. Sie hielt sich den Goliath so weit vom Leib, dass sie selbst genug Spielraum bekam.
Dann gab sie Fräulein Blechmix die Sporen, brachte sie in Schlagdistanz. Wieder ließ sie den Boden seitlich wegkippen, erwischte den großen Logika auf dem falschen Fuß und schlug ihm die Klauen in die aufgerissene Schulter. Der Gegenschlag des Goliaths verfehlte sie wegen des schwankenden Bodens um einiges, und Eve wich den Abrissbirnen elegant aus.
»Sie hat ihr Pulver noch nicht verschossen, Leute!«, verkündete die EmCee.
Ein tiefes Grollen entstieg dem Publikum. Der rechte Arm des Goliaths hing schlaff an der Seite herunter und ein rascher Scan bestätigte, dass seine Schulterhydraulik Schrott war.
»Guter Schlag«, knisterte Lemons Stimme in Eves Ohr. »Mir ist schon ganz kribbelig in meinen Pantalons.«
»Den hab ich mir von alten Kickboxing-VRs abgeguckt«, erwiderte Eve.
»Ich dachte, die guckst du dir wegen der Sixpacks und der superkurzen Shorts an.«
»Na ja, das eine schließt das andere ja nicht aus.«
»Werd bloß nicht übermütig, Evie!«, ertönte Crickets warnende Stimme. »Du musst Druck machen, solange du kannst! Dieser Goliath hat dich gleich analysiert!«
Eve wischte sich die Stirn an der Schulter ab. Jetzt bestand sie nur noch aus Adrenalin und einem breiten Grinsen.
»Ganz ruhig, Crick. Ich hab jetzt die ID-Nummer von dem Kerl.«
Der Goliath hatte sich zur Bestandsaufnahme ein Stück zurückgezogen, zwischen ihm und Fräulein Blechmix lag eine Barriere aus verbogenem Metall. Aus seinem rechten Arm blutete Kühlmittel, aus dem Loch in seiner Augenhöhle sprühten hellblaue Funken. Da mittlerweile drei Abrissbirnen hin und her schaukelten und er nur noch eine funktionierende Optik hatte, wusste Eve, dass es dem großen Bot schwerfallen würde, die Ziele im Auge zu behalten. Sie musste nur noch von seiner blinden Seite aus zuschlagen und dabei nie so lange stillstehen, dass er sie direkt erwischen konnte.
»Na gut, dann schicken wir diesen BadBot mal in die Wiederverwertung.«
Eves Fingerspitzen drückten eine Taste, die letzten beiden Abrissbirnen lösten sich von der Decke und hielten direkt auf den Kopf des Goliaths zu. Aber dann sprang der riesige Bot zum großen Erstaunen der Menge auf eine Barrikade und schnappte sich eine der schaukelnden Ketten. Er riss die Abrissbirne aus ihrer Verankerung in der Kuppeldecke und sprang wieder hinab, die verrosteten Kettenglieder fest um die Fingerknöchel gewickelt. Dann holte er mit seinem gewaltigen Arm aus.
»Ein unerwarteter Zug von diesem Goliath, Leute! Sieht aus, als wäre er ein echter Straßenkämpfer!«
»Pass auf!«, rief Cricket.
Zehn Tonnen kugelförmigen Eisens flogen auf sie zu – genug, um ihre Heuschrecke in einen Haufen Schrott zu verwandeln. Eve wich zur Seite aus, kippte den Boden und sprang mit ausgestreckten Klauen in die Luft. Sie packte eine über ihr vorbeisausende Abrissbirne, segelte über den ausgestreckten Arm des Goliaths hinweg und ließ sich in einem perfekten Bogen direkt auf den Kopf des großen Logikas fallen. Die Zeit dehnte sich, jede Sekunde kam ihr vor wie ein ganzer Tag. Begeistertes, ohrenbetäubendes Brüllen der Menge. Die leuchtende Optik richtete sich auf sie, als der Goliath seine massige Faust nach hinten zog. Mit Lemons Kampfschrei im Ohr und Crickets knisternder Warnung im Kopf dachte sie an zweitausend saubere Credits in ihren schmutzigen Händen und an die vielen schönen Dinge, die man damit kaufen konnte.
Dann stieß sie einen heiseren Schrei aus und holte mit ihrer Spitzhacke aus. Das Blut rauschte ihr vor Mordlust durch die pochenden Adern, während ihre Finger der Umgebungssteuerung den entschlossenen Befehl gaben, den Boden abermals zu neigen, damit der Goliath direkt in ihren Todesstoß taumelte.
Aber es passierte – nichts.
Die Platten unter dem Goliath bewegten sich keinen Zentimeter. Eves Kampfschrei verwandelte sich in ein schrilles Krächzen, sie hämmerte noch einmal auf der Steuerung herum, die Spitzhacke sauste ohne jede Wirkung herab, dann erwischte sie der Goliath mit einem gewaltigen Hieb.
Die Erschütterung war ohrenbetäubend und riss Eve in ihren Gurten so brutal nach vorne, dass ihr die Zähne im Schädel klapperten. Ihre Machina flog nach hinten durch die Kuppel, grelle Funken sprühten und kaputte Teile regneten von ihr herab. Fräulein Blechmix landete krachend auf dem Boden der Arena und rutschte dort mit metallischem Kreischen und Splittern weiter.
»Oh, Blechmix ist AB!«, schrie die EmCee. »Startschuss für den zweiten Ritter!«
Erstickender schwarzer Rauch im Cockpit. Eves Anzeigen waren tot, alles war tot. Schmale Lichtstreifen drangen durch die kaputten Nähte ihrer Machina. Eve hatte das Gefühl, jeder Zentimeter ihrer Haut wäre zerschrammt, jeder Knochen im Leib gebrochen.
»Steh auf, Riotgrrl!«, ertönte Lemons Stimme in ihrem Ohr. »Sonst holt dich der BadBot!«
Eve hörte das Poltern schwerer, rasch näher kommender Schritte. Sie drückte auf den EJECT-Knopf, die Hydraulik jaulte leise und das Cockpit sprang auf. Keuchend und Blut spuckend versuchte sie sich aus dem Wrack zu befreien und dabei das Geräusch des herannahenden Goliaths zu ignorieren. Ihr Kopf dröhnte noch von der Wucht des Treffers. Kühlmittel, verschmorte Elektrik, Blut. Der Logika stapfte mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
Was hatte er verdammt noch mal vor? Der zweite Ritter war bereits auf dem Weg nach oben. Der Goliath müsste sich umdrehen, um sich seinem nächsten Gegner zu stellen. Stattdessen beugte er sich über sie und hob die Faust. Als wollte er …
»Raus da, Riotgrrl!«, schrie Lemon.
Als wollte er.
Eve versuchte sich frei zustrampeln, aber ihr Fuß hing im Steuerstiefel fest. Lemon kreischte. Die Menge japste förmlich vor Aufregung. Eve blickte nach oben in die kristallblaue Optik direkt über ihr und sah dem Tod ins Auge, einem achtzig Tonnen schweren Tod. Angst und Zorn stiegen in ihr auf, brannten in ihrer Brust und ihrer Kehle.
Sie wollte nicht zurückweichen. Sie wollte sich nicht abwenden. Schließlich war sie dem Tod schon einmal begegnet. Hatte ihm ins Gesicht gespuckt. Und sich mit Zähnen, Klauen und Tritten aus der schwarzen Stille bis hierher zurückgekämpft.
Das hier ist nicht mein Ende,
sondern bloß ein weiterer Feind.
Statische Entladungen tanzten auf ihrer Haut. Alles in ihr bäumte sich auf, rohe Gewalt pulsierte in ihren Schläfen, als die Faust des Goliaths niederfuhr. Kalte Wut stieg in ihr auf und kam zwischen ihren Lippen hervor, als sie die Hand hob und schrie. Sie schrie.
UNDSCHRIE.
Und der Goliath erstarrte.
Dann fasste er sich an den Kopf, als verspürte er Schmerzen.
Aus seinen Augenhöhlen stoben Funken, regneten auf seine Brust herab. Der große Bot fing an zu zittern. Und mit einem grauenvollen metallischen Stöhnen, dem Zischen schmorender Relais und dem fiesen Knistern und Knacken durchbrennender Schaltkreise kippte er nach hinten, fiel wie abgeschaltet zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Als er aufschlug, zuckte Eve zusammen, der Gestank brennenden Plastiks mischte sich mit dem Blutgeschmack auf ihrer Zunge. Die Menge war verstummt und starrte wie gelähmt auf das magere, ölverschmierte Mädchen, das noch immer in seiner Machina gefangen saß. Eve hielt den Arm immer noch lang ausgestreckt mit zitternden Fingern nach oben.
Bildeten sie sich das alles nur ein? Waren sie auf schlechten Drogen? Oder hatte dieses Mädel gerade mit einer einfachen Handbewegung einem Logika von achtzig Tonnen den Strom ausgeknipst?
»Evie«, meldete sich Lemons Stimme in ihrem Ohr. »Bist du okay, Evie?«
Eve musterte benommen die verstummte Menge rings um sie herum.
Die rauchenden Überreste des Goliaths.
Ihre ausgestreckten Finger.
»Ich glaube, von okay bin ich meilenweit entfernt, Lem …«
Der blonde Mann steht vor mir. Er ist so hoch wie der Himmel. Und doppelt so schön. Er kommt näher und ich frage mich, warum seine Stiefel wie ängstliche Mäuse quietschen. Dann blicke ich nach unten und sehe, dass der Boden ganz rot ist. Ich erinnere mich.
Auf meinem Gesicht. Auf den Händen. Nichts davon meins. Es ist alles von.
Vater.
Mutter.
Ich …
Mein Bruder Alex ist erst zehn Jahre alt. Er stellt gerne Sachen her, genau wie unser Vater. Erschafft Leben, wo vorher keines war. Zu meinem fünfzehnten Geburtstag hat er mir Schmetterlinge gemacht. So was wie Schmetterlinge gibt es nicht mehr, trotzdem hat er welche für mich gemacht.
Und er brachte mich immer zum Lächeln.
Der schöne Mann hebt seine Pistole und Alex schaut durch den Lauf ins ewige Nichts.
»Warum tust du das?«, fragt er.
Der schöne Mann antwortet nicht.
Und ich lächele nicht mehr.
Ich schreie.
Früher hieß es mal Kalifornya, heute nennen sie es Dregs.
Von Großvater wusste Eve, dass es vor dem Beben gar keine Insel gewesen war. Dass man von Dregs bis nach Zona fahren konnte, ohne ans Wasser zu kommen. Vor langer Zeit war das alles ein Teil der Großen Alten Yousay. Bevor das Land zu einer Wüste aus schwarzem Glas zerbombt wurde und San Andreas seinen Graben öffnete und den Ozean auf einen großen Schluck eingeladen hatte. Bevor die Konzerne um das, was vom Land noch übrig war, ihren Krieg 4.0 ausgetragen und ihre Stadtstaaten unter einem zigarettenaschefarbenen Himmel in den Boden gegraben hatten.
Eve prüfte, ob die Luft rein war, und schlich sich dann, mit Lemon im Schlepptau, aus der KampfKuppel. Aus dem Bauch der Arena drang dumpfes Dröhnen nach draußen, gefolgt von erschütterndem Gebrüll. Der nächste Kampf hatte angefangen. Eve hörte die Metallriesen gegeneinanderprallen, sie hörte den donnernden Applaus. Ihr Mund schmeckte nach Kupfer und ihr Magen fühlte sich an, als wäre er mit Eis gefüllt. Die Erinnerung an ihre ausgestreckte Hand und den zusammenbrechenden Goliath brannte immer noch in ihrem Schädel.
Als wäre nicht auch so schon alles schlimm genug …
Der Fleischdoc in der Kuppel hatte ihr eine Handvoll Meds gegeben und ihr einen Bioscan angeboten, aber sie hatte einfach nur weggewollt. Sie hatte während ihres Kampfes die Jungs von der Bruderschaft gesehen, und nach dem, was passiert war, waren die jetzt sicherlich schon hinter ihr her. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte.
Nicht weit vom Hinterausgang der Kuppel stand eine alte, halb verblichene Reklametafel. Daneben lag Kaiser in der Dunkelheit. Seine Augen leuchteten matt und als er sie erblickte, wedelte er freudig mit dem Schwanz.
»Wie geht’s dir, mein Hübscher?« Eve lächelte. »Wie geht’s meinem treuen Hund?«
Kaiser wuffte und drehte sich auf den Rücken, damit Eve ihn am Bauch kraulen konnte. Lemon kniete sich neben sie und streichelte dem Blitzhund über den Brustkorb. Als sie seine Lieblingsstelle gefunden hatten, trat Kaiser mit dem Hinterbein aus, seine Kolben zischten und die Wärmeableitung, die ihm als Zunge diente, hing ihm aus dem Mund. Nach ein paar Minuten wohliger Folter ließen die Mädchen ihn wieder los, und der Blitzhund schüttelte sich wie ein richtiger Hund, dass der Staub von seinem Rumpf rieselte.
Kaiser war kein Logika wie Cricket. Technisch gesehen war er ein Cyborg, aber seine einzigen organischen Teile waren ein Stück geklontes Rottweilergehirn und fünfzehn Zentimeter Wirbelsäule, verbunden mit einem gepanzerten Kampfgehäuse. Früher mal hatte er fast echt ausgesehen, aber vor ungefähr einem Jahr war ihm nach und nach das Fell ausgefallen, weshalb Eve ihn schließlich bis auf das Metall geschoren und stattdessen mit einer urbanen Tarnfarbe lackiert hatte. Jetzt sah er eher nach einem Skelett aus, lauter Platten und hydraulische Gelenke aus Plasteel. Ihr gefiel er so besser. Es kam ihr ehrlicher vor, als so zu tun, als wäre er ein richtiger Hund. Großvater sagte immer, es ist besser, man wird dafür beschossen, was man ist, als für das umarmt, was man nicht ist. Wobei in Dregs sowieso fast jeden Tag auf einen geschossen wurde.
Eve hörte Glas splittern, dann grölte jemand betrunken in die Nacht hinein. Sie und Lemon duckten sich in den Schatten der Kuppel und warteten ab, ob jemand von der Bruderschaft oder sonst ein unangenehmer Zeitgenosse sie entdeckt hatte. Träge krochen die Minuten vorüber.
Lemon strich sich die langen kirschroten Fransen aus den Augen. Dann zupfte sie an dem kleinen silbernen fünfblättrigen Kleeblatt an ihrem Halsband und flüsterte: »Wir hauen besser ab, Riotgrrl.«
»Wir haben unseren ganzen Zaster bei dieser Wette verloren«, erwiderte Eve. »Für ein Taxi ist nichts mehr übrig.«
»Wir sollten diesem Buchmacher Kaiser auf den Arsch hetzen. So viel ist klar.«
»Genau genommen ist Fräulein Blechmix wirklich zuerst zu Boden gegangen. Abgesehen davon – willst du dich noch länger über verlorene Creds streiten, während die Bruderschaft hier überall herumschleicht?«
Lemon kaute auf der Unterlippe und seufzte. »Was für eine herrliche Nacht für einen Spaziergang.«
Also machten sie sich auf den Weg zurück ins Reifental. Kaiser trottete vorneweg, seine Augen leuchteten wie Scheinwerfer in die Dunkelheit. Cricket saß in Eves Umhängetasche, sein übergroßer Kopf wackelte auf seinen Schultern hin und her. Sie verließen die Straße und durchquerten einen Wald aus turmhohen Windrädern, rostigen Kränen und alten Metallgehäusen. Lemon hatte ihren elektrischen Baseballschläger über die Schulter gelegt und schaute misstrauisch in die Dunkelheit ringsum. Sie wusste genau, dass jetzt nicht die Zeit für ein Verhör war, aber die Fragen lagen ihr drängend auf der Zunge.
»Also«, sagte sie schließlich, immer weiter durch den Müll stolpernd.
»Also was?«, kam es von Eve.
»Willst du darüber reden, was da drin passiert ist?«
»Du meinst, als meine Umgebungssteuerung durchgeknallt ist, oder lieber darüber, wie ich dem Goliath sämtliche Schaltkreise verschmort habe, indem ich ihn einfach nur angeschrien habe?«
»Ich konnte bei dem Lärm nichts verstehen, aber es muss ein sehr hässliches Wort gewesen sein.«
Eve schaltete den Restlichtverstärker ihres künstlichen Auges ein, woraufhin ihr Sichtfeld sich in unterschiedlichen Schwarz- und Grüntönen zeigte. Sie sah die Umrisse der riesigen Schrotthalden ringsumher und die ferne Wärme der hinter dem Horizont verschwundenen Sonne. Dabei spukte ihr immer noch dieser Goliath im Kopf herum, wie er einfach so vor ihr zusammengebrochen war.
»Großvater macht mich fertig, so viel ist sicher«, seufzte sie.
»Wie soll er denn davon erfahren?«, spöttelte Lemon.
»Die Kuppelkämpfe werden in ganz Dregs übertragen. Manchmal sogar bis nach Megopolis.«
»Mr C schaut sich so was nicht an. Entspann dich, Riotgrrl.«
»Meinst du nicht, dass der eine oder andere nichts Eiligeres zu tun hat, als ihm zu verklickern, dass seine Enkelin eine Missgeburt ist?« Eves Stimme wurde lauter und wütender. »Ach, hallo, Silas, ich habe neulich Evie in der Übertragung gesehen, da hat sie einen Achtzigtonner mit einer kleinen Handbewegung fertiggemacht. Wie ist es denn so, wenn man eine Abartige in der Familie hat?«
Lemon verzog das Gesicht. »Jetzt hör schon auf.«
»Stimmt doch, oder?«, fauchte Eve. »Und was ist, wenn die Bruderschaft anklopft? Diese Psychos nageln dich ans Kreuz, bloß weil du einen Zeh zu viel hast, Lem. Was glaubst du wohl, was sie mit jemandem machen, der Lectrics mit einem Fingerschnippen verschmoren lassen kann?«
Lemon seufzte. »Sag ihr, dass sie sich beruhigen soll, Crick.«
Der kleine Logika, der bei Eve huckepack saß, zuckte bloß die Achseln.
»Er kann nicht sprechen«, sagte Eve. »Ich habe ihn gebeten, fünf Minuten die Klappe zu halten.«
»Wieso das denn?«
Eve rieb sich die Schläfen. »Du hast doch gesehen, dass mir gerade achtzig Tonnen Belagerungs-BadBot voll auf die Zwölf gehauen haben, oder nicht? Mir dröhnt der Schädel, Lem.«
Lem musterte den kleinen Logika von oben bis unten. »Schon klar, Crick, dass du alle Befehle befolgen musst, die dir ein Mensch gibt, solange sie nicht gegen die drei Gesetze verstoßen. Aber dass du die Klappe halten sollst, ist genau genommen kein Befehl. Wahrscheinlich kannst du trotzdem noch sprechen, ohne dass dir eine Sicherung durchknallt.«
»Jetzt ermutige ihn nicht auch noch«, knurrte Eve.
»Wie wär’s mit Zeichensprache? Damit würde der kleine Fug ja streng genommen nicht sprechen, oder?«
Lemon grinste, als Cricket den Schneidbrenner in seinem Mittelfinger aktivierte und ihn langsam in ihre Richtung hielt.
»Genau so hab ich mir das vorgestellt!«
Eve versuchte zu lächeln. Normalerweise konnte Lem sie mit ein bisschen Mühe und genügend Zeit zuverlässig aufmuntern, und momentan stand ihrer Allerbesten beides im Überfluss zur Verfügung. Aber beim Anblick der Berge aus Schrott und Rost, die ringsum in den sternenlosen Himmel ragten, konnte Eve die Erinnerung an den Schrei, der sich in ihr aufgebaut hatte, nicht abschütteln. An den Goliath, der einfach so zusammengebrochen war, als hätte sie sämtliche Platinen in seinem Inneren allein durch ihr bloßes Wunschdenken verkokelt.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie es gemacht hatte. So etwas war ihr noch nie zuvor passiert. Und jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit der Bruderschaft erregt, wenn nicht Schlimmeres. Ihre Machina war AB. Monatelang hatte sie in der Einöde namens »der Schrott« die Teile zusammengesucht, mit denen sie Fräulein Blechmix zusammenbauen konnte. Es würde Monate dauern, eine zweite zu bauen. Und in der Zwischenzeit konnte sie nicht kämpfen, was wiederum bedeutete, dass sie keine Creds für Großvaters Medikamente verdiente.
Über mangelnde Probleme konnte sie sich wirklich nicht beklagen – sie türmten sich gerade bis zum Himmel. Zur Aufhellung ihrer finsteren Stimmung brauchte es jetzt mehr als ein paar Gag-Einlagen des Komikerduos »Miss Lemon Fresh und der Erstaunliche Cricket«.
»Komm schon«, seufzte sie. »Wir werden nicht jünger. Und auch nicht hübscher.«
»Nicht immer von dir auf andere schließen«, schnaubte Lemon.
Mit den Händen in den Hosentaschen und ihrer Crew im Schlepptau stapfte Eve weiter durch den Abfall.
Vier Stunden später waren sie fast zu Hause. Der Tagesanbruch hatte sie wie ein Ziegelstein getroffen, und das Quartett machte eine kurze Pause im Schatten eines hohen Berges aus ausgebrannten GravPanzern und verrosteten Schiffscontainern. Die Sonne stand erst knapp über dem Horizont, aber Eve spürte die glühende Hitze schon deutlich, die gnadenlos auf den Rand der Welt herabsengte.
Los Diablos und die KampfKuppel waren nur noch ein blasser Fleck weit hinter ihnen. Eve schaltete ihr elektronisches Implantat ein und ließ den Blick über den Schrott schweifen – eine Wüste aus Millionen ausrangierter Maschinenteile, rostiger Karosserien und hier und da einem ausgeweideten Gebäude, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.
Die ganze Insel Dregs war vom Treibgut eines goldenen Zeitalters zugemüllt. Großvater hatte ihr erzählt, dass einmal vor langer Zeit Leute nach Westen gezogen waren, um nach Gold zu suchen. Dass sie sich dabei zu Tode geschuftet hatten. Sich gegenseitig deswegen umgebracht. Es kam ihr geradezu unglaublich vor, dass die Menschheit sich im Laufe der Jahrhunderte keinen Deut verändert hatte.
Sie selbst lebte seit zwei Jahren hier. Vor zwei Jahren waren sie und Großvater einem Überfall der Miliz entkommen, der ihr das Elternhaus und ihre gesamte Familie genommen hatte. Eve war mit einem Kopfschuss zurückgelassen worden, weil man sie auch für tot gehalten hatte. Sie konnte sich kaum noch an die Flucht durch die Wüste erinnern oder an die schmuddelige kleine Krankenstation an der Küste, in der Großvater ihr die lebensrettende Kybernetik installiert hatte. Von dort hatten sie sich eine Passage nach Dregs beschafft und waren über schwarzes Wasser auf eine Insel voller Abfall übergesetzt, auf die keiner der großen Konzerne Anspruch erhob. Es war zwar nicht unbedingt ein richtiges Zuhause, aber doch so etwas Ähn-liches.
Etwas, das die leere Stelle ausfüllte, an der früher einmal das Gefühl von Zuhause gesessen hatte.
Eve berührte die Silizium-Chips des hinter ihrem rechten Ohr implantierten Memdrive. Die Fingerspitzen streiften den dritten Chip von hinten – den rubinroten Splitter, der die verbliebenen Fragmente ihrer Kindheit enthielt. Sie dachte an den Mann, dem sie sie zu verdanken hatte. An den letzten Rest Familie, der ihr auf diesem elenden Schrotthaufen geblieben war. An den Mann, der ebenfalls langsam, aber sicher zerfressen wurde, genau wie die Landschaft um sie herum. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Lemon hockte, die Schweißerbrille über den Augen, im Schneidersitz auf einem rostigen Panzer und aß aus einer Büchse NeoMeatTM, die sie aus der Umhängetasche gefischt hatte. Kaiser sah ihr mit wedelndem Schwanz dabei zu. Obwohl er ein Cyborg war, fühlte sich das Hündchen in ihm dazu veranlasst, jeden, der etwas zu essen hatte, anzubetteln.
»Willst du was?«, fragte Lemon mit vollem Mund in Eves Richtung.
»Was für eine Geschmacksrichtung?«
»Ich würde sagen … salziger Dickdarm, aber …« Lemon warf einen misstrauischen Blick auf das Etikett. »Wer hätte das gedacht? Schinken.«
Eve fing die Büchse auf, die Lemon ihr zuwarf, kratzte den Rest des annähernd rosafarbenen Matsches mit den Fingern heraus und schob ihn sich in den Mund. Das Zeug war lauwarm und schmeckte nach Natrium und Pappe. Auf dem Etikett versicherte ihr ein lachender menschenähnlicher Automata, dass der Inhalt NICHTVONMENSCHENHANDKONTAMINIERT! sei und zu 100 % ECHTESFLEISCHTM! enthalte.
»Die Frage ist nur: Was für Fleisch?«, murmelte Cricket.
»Menschenfleisch schmeckt angeblich wie Hühnchen«, sagte Lemon.
»Antrag zur Geschäftsordnung«, zirpte Cricket. »Ich hätte gedacht, dass du dich mit derlei schlauen Kommentaren ein bisschen zurückhältst, Miss Fresh. Nach dem ganzen Ärger, den du …«
»Ach, das hatten wir kurz mal vergessen«, seufzte Lemon. »Aber vielen Dank, Mister Cricket.«
»Ich lebe, um zu geben.«
»Cricket hat recht.« Eve erhob sich mit einem tiefen Seufzer und beförderte die leere NeoMeatTM-Büchse mit einem Tritt in den restlichen Schrott. »Die Bruderschaft dürfte es auf mich abgesehen haben, und Fräulein Blechmix wurde soeben in einen sehr schicken Briefbeschwerer verwandelt. Ich muss überlegen, wo ich jetzt die Knete für Großvaters Meds herkriege. Und dann muss ich mir überlegen, wie ich ihm beibringe, dass seine einzige Enkelin eine Abartige ist.«
»Sag so was nicht«, knurrte Lemon.
»Ist dir ›Missgeburt‹ lieber?«
»Mir wäre es liebsten, wenn du mich mit diesem Dreck, den die Bruderschaft absondert, komplett verschonen würdest.« Lemon verschränkte die Arme. »Du bist keine Missgeburt, Riotgrrl.«
»Mach ihnen das bitte klar, wenn sie mich ans Kreuz nageln.«
»Jedem, der dich irgendwo annageln will, ramme ich meinen Stiefel so kräftig in –«
Das Brüllen ferner Motoren brachte Lemons Drohung sofort zum Verstummen. Eve spähte nach Nordosten, wo sie mehrere winzige schwarze Flecken am Himmel über der Zona-Bucht herumkurven sah. Sie aktivierte ihren Zoom und beobachtete den aschenbecherfarbenen Himmel.
»Ist ja prickelnd«, hauchte sie.
»Was denn?«, fragte Lemon und stellte sich neben sie.
»Ein Luftkampf«, lautete die Antwort. »Nach den alten Regeln.«
Vier dunkle Silhouetten tanzten über den Himmel auf Dregs zu. Drei sahen wie Sucher-Killer-Drohnen aus, wie sie von Daedalus Technologies hergestellt wurden – mannsgroße, wespenförmige Dinger, die das Firmament mit hellem Leuchtspurfeuer besprenkelten. Der vierte war ein Ultraleicht-Hubschrauber, rostig und verbeult und kaum noch flugtüchtig. Er trug kein Konzern-Logo, aber wer das Ding auch flog, hatte es echt drauf, denn er hüpfte zwischen den Feuerstößen hin und her, setzte die Kufen des Fluggeräts wie Waffen ein und ballerte eine der Daedalus-Drohnen mit knatternder Schnellfeuerkanone aus der Luft.
Die Motoren wurden lauter und das ferne Popopopop der Sucher-Killer-Kanonen hallte über den Schrott, als die wilde Jagd sich der Insel näherte. Kaiser stieß ein leises Knurren aus – ein Zeichen dafür, dass er echt sauer war. Eve kniete sich neben ihn und drückte ihn kurz, damit er sich beruhigte.
Als sie wieder zum Himmel sah, knipste der Einzelgänger gerade einen weiteren Sucher-Killer aus, dessen rauchende Überreste nach unten trudelten. Gerade als sie sich fragte, wie lange der Ultraleicht wohl noch durchhalten würde, erwischten ihn auch schon die ersten Kugeln voll in den Motor, woraufhin er heftig ins Trudeln geriet. Wie durch ein Wunder gelang es dem Ultraleicht im Gegenzug trotzdem noch, seinen letzten Verfolger zu erwischen, und die verbliebene Drohne klatschte auf der Meeresoberfläche auf und setzte das schwarze Wasser in Flammen.
»Tschüssie, kleines Vögelchen«, murmelte Lemon.
Lem hatte recht. Der Ultraleicht war schwer beschädigt, verlor an Höhe und zog dunklen Rauch hinter sich her. Es war klar, wie die Sache enden würde. Die Frage lautete nur: Wo?
Eve verfolgte den Bogen des Hubschraubers und zuckte zusammen, als das Vehikel sich an einem Berg alter Autowracks den Bauch aufriss. Dann verschwand es hinter einem Hügel rostiger Motoren, aber der Aufprall war deutlich zu hören, sein Kreischrumsschlidderbums hallte laut durch die Schrottruinen.
Sie grinste Cricket mit der Zunge zwischen den Zähnen an.
»Nein, bitte nicht«,stöhnte der Logika.
»Jetzt komm schon! Sollen wir die Beute etwa anderen überlassen?«
»Das Ding hat gerade drei Daedalus-Drohnen vom Himmel geballert, Evie. Alle in Los Diablos haben den Krach gehört. Mindestens. Noch länger hierzubleiben wäre dumm wie Drohnenstroh.«
»Es heißt ›dumm wie Bohnenstroh‹, Crick«, sagte Lemon.
»Nicht mein Fehler, dass Großvater mir so fehlerhafte Vergleichs-Algorithmen geschrieben hat.«
»Du hast doch selbst gerade darauf hingewiesen, wie tief wir im Schlamassel stecken«, sagte Eve. »Wie viel Knete verdienen wir wohl mit einer solchen Beute?«
»Evie –«
»Nur fünf Minuten. Bist du dabei, Lem?«
Miss Fresh musterte ihre Allerbeste von oben bis unten.
»Wie lautet Regel Nummer eins hier im Schrott?«, fragte sie.
Eve lächelte. »Zusammen stark.«
Lemon nickte. »Auf immer zusammen.«
Eve kraulte Kaiser hinter den Metallohren. »Was meinst du, mein Junge?«
Der Blitzhund wedelte heftig mit dem Schwanz und aus seiner Stimmbox kam ein leises Wuff.
»Drei gegen einen.« Sie grinste Cricket an. »Die Mehrheit ist dafür.«
»Genau das ist das Problem mit der Demokratie«,brummte der kleine Bot.
Eve seufzte und sah Cricket schräg an. Großvater hatte ihn ihr zum sechzehnten Geburtstag gebaut – dem ersten Geburtstag ohne Mutter und Vater. Ohne Schwestern und Bruder. Nicht einmal die Kugel in ihrem Kopf hatte die Erinnerung an ihre Ermordung ausgelöscht. Aber in der ersten Nacht, in der Cricket neben ihrem Bett saß und ihr mit seinen ungleichen Augen beim Schlafen zusah, hatte sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit einigermaßen gut geschlafen. Dafür liebte sie ihn.
Trotzdem …
»Ich weiß, dass das Bedürfnis, dir Sorgen zu machen, tief in deinem Schädel kodiert ist«, sagte Eve. »Aber ganz ehrlich, Crick, du bist echt der nervigste kleine Fug, der mir je begegnet ist.«
»Ich bin so, wie mich mein Schöpfer gewollt hat«,erwiderte Crick. »Und nenn mich nicht klein.«
Eve zwinkerte ihm zu und warf sich die Schultertasche über. Dann nickte sie Lemon zu, drehte sich um und stapfte, dicht gefolgt von Kaiser, den Hang hinab.
Cricket setzte seinen finstersten Blick auf und folgte seiner Herrin in den Schrott.
Wir vier kauern uns aneinander. Unsere Eltern und unser Bruder liegen tot neben uns. So kurz vor dem Tod fühle ich mich absolut lebendig. Alles ist hell und klar und wirklich. Der Arm meiner ältesten Schwester um meine Schulter. Ihr warmer Atem an meiner Wange, als sie mich an sich drückt und mir sagt, dass alles gut wird.
Olivia. Die Älteste von uns. Das Epizentrum. Sie hat uns beigebracht, was es bedeutet, einander zu lieben, meinen drei Schwestern, meinem Bruder und mir. Dass wir eine Bande sind und wie Pech und Schwefel zusammenhalten. Die fünf Musketiere hat uns Mutter immer genannt, und es stimmte. Wir fünf gegen den Rest der Welt.
Der schöne Mann blickt hinter sich und ein weiterer Soldat tritt vor. Eine Frau. Elegant und schön und kalt.
»Faith«, flüstert Olivia. »Vertrauen.«
Zuerst glaube ich, sie betet. Dann wird mir klar, dass das Wort keine Bitte, sondern ein Name ist. Der Name der Soldatin, die Liv jetzt die Pistole an den Kopf hält.
»Bitte«, flehe ich. »Nicht …«
Die fünf Musketiere nannte uns Vater immer.
Dann waren’s nur noch drei.
Während sie zwischen den ausgebrannten Panzern weitergingen und die Sonne ihnen auf den Rücken brannte, überprüfte Eve noch mal die Ladung ihrer Betäubungskeule. Sowohl sie als auch Lemon trugen unter ihren Ponchos einzelne Stücke aus Plasteel-Panzerung, und Eve rann schon bald der Schweiß am Körper herab. Aber selbst die allermiesesten Schrottsammlerbanden besaßen die eine oder andere Flinte, weshalb der Schutz ein bisschen Dehydration durchaus wert war. Eve schätzte, dass sie fertig sein würden, ehe die Sonne hoch genug stand, um ihnen das Gehirn im Schädel zu garen.
Das Quartett stieg über Hügel aus Rost und marschierte durch brüchige Plastikebenen, die noch in tausend Jahren nicht zersetzt sein würden. Kaiser eilte mit langen Sprüngen voraus. Cricket ritt auf Eves Schultern. Sie sah, dass ihnen ein paar hässlich aussehende Wildkatzen folgten, aber Kaiser hielt die großen Viecher auf Abstand. Staub vermischte sich mit dem Schweiß auf ihrer Haut und sie leckte sich wieder über die Lippen. Schmeckte einen Hauch von Meer, irgendwie schwarz und nach Plastik. Am liebsten hätte sie ausgespuckt, wollte die Flüssigkeit aber nicht unnötig verschwenden.
Als sie in ein weiteres Tal abbogen, markierte ihnen eine frische Spur den Weg des Leichthubschraubers durch das Meer aus Schrott. Das Fluggerät lag zerbeult wie eine alte Büchse vor einem Haufen ChemTanks, schwarzer Qualm stieg aus dem Wrack. Eves Seufzer verriet ihre Enttäuschung. Sie fragte sich, ob hier überhaupt noch etwas zu holen war.
»So ein Modell hab ich noch nie gesehen«,bemerkte Cricket. »Ich glaube, es ist die alte Ikarus-Klasse.«
»Na, das passt ja!«
Cricket hob eine seiner ungleichen Augenbrauen. »Was?«
»Du weißt schon«, erwiderte Eve achselzuckend. »Sturz aus dem Himmel und so weiter.«
»Da hat wohl jemand zu viel VR geguckt.« Lemon grinste.
»Ich hab’s eben mit den alten Sagen.«
»Auch kein Konzernlogo«, stellte Cricket fest.
»Wo kommt es denn sonst her?«, fragte Lemon.
Cricket zuckte bloß die Achseln und stiefelte los, um sich die Sache näher anzusehen.
Die Windschutzscheibe des Fluggeräts war zertrümmert. Blut auf dem Glas. Ein Propellerflügel hatte sich in das Cockpit gebohrt, und als Eve hineinschaute, sah sie unter dem Pilotensitz einen an der Schulter abgetrennten menschlichen Arm liegen. Erschrocken wandte sie sich ab und spuckte den bitteren Geschmack von Galle aus, Flüssigkeitsverlust hin oder her.
»Der Pilot ist hinüber«, murmelte sie. »Kein Neuaufbau für diesen Cowboy.«
Lemon spähte ins Cockpit. »Wo ist der Rest von ihm?«
»Keine Ahnung. Hilfst du mir, das Ding zu demontieren, oder willst du einfach nur dastehen und gut aussehen?«
»Ist das eine Fangfrage?«
Eve verdrehte die Augen und machte sich an die Arbeit. Angewidert schob sie den blutigen Arm zur Seite und suchte nach irgendetwas, das noch ein paar Credits wert sein konnte: Energiezellen, Prozessoren, irgendwas. Die Kommunikationseinheit sah aus, als ließe sie sich mit ein bisschen Liebe wieder zum Laufen bringen, und sie steckte gerade bis zu den Achselhöhlen darin, als Crickets Stimme über die Plastikdünen heranwehte.
»Falls die Damen sich das hier vielleicht ansehen wollen?«
»Was hast du gefunden?«
»Den Rest des Piloten.«
Eve löste sich aus den Überresten des Hubschraubers und betrachtete missmutig die frischen Blutflecken auf ihrer Cargohose. Dann stapfte sie mit Lemon einen Hang aus Rost und Abfall hinauf. Kaiser wuselte um sie herum. Als sie die Kuppe erreicht hatten, zeigte Cricket auf ein Paar Beine, die aus den bandwurmartigen Innereien einer alten Wächterdrohne ragten. Eve sah einen blutverschmierten Hightech-Fliegeroverall. Keinerlei Abzeichen.
Sie stiefelte über den knirschenden Schrott und kniete sich neben den Körper, bog ein Stück verbeultes Metall zurück und schaute in das hübscheste Antlitz, das sie je gesehen hatte.
Es war ein Gesicht, wie man es nur aus alten Filmen aus dem Hollywood des 20. Jahrhunderts kannte. Ein Gesicht, das man so lange anstarren konnte, bis einem die Augenlider schwer wurden und die Eingeweide sich auflösten.
Es war ein Junge. Neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre alt. Olivfarbene Haut. Wunderschöne, fast zu blaue Augen, die zum Himmel starrten. Sein Schädel war über der linken Schläfe eingedrückt, der rechte Arm sauber aus dem Gelenk gerissen. Eve legte ihm die Finger an den Hals, fand aber keinen Puls. Sie suchte nach einer ID oder einer KonzernKarte, öffnete den Fliegeranzug und entblößte eine glatte Brust, Hügel und Täler aus Muskeln. Aber in das Fleisch und die Knochen, genau zwischen die beiden perfekten Brustmuskeln, war ein rechteckiges Stück schimmerndes Metall genietet – wie der Münzeinwurf eines Pokerautomaten von vor dem Fall. Eine Vorrichtung, in die man Geld steckte – damals, als Geld noch aus Metall gemacht wurde und die Menschen genug davon zum Verschwenden hatten.
»Also das ist ja echt mal was Neues«, murmelte sie.
Rings um den Münzeinwurf war kein Narbengewebe zu sehen. Kein Anzeichen für eine Infektion. Eve betrachtete die zerfetzte Schulter und stellte fest, dass da eigentlich viel mehr Blut sein müsste. Erst dann fiel ihr auf, dass der Knochenstummel, der aus dem Stumpf herausragte, mit etwas … Metallischem überzogen war.
»Unmöglich …«
»Was?«, fragte Lemon.
Eve gab ihr keine Antwort, sondern starrte bloß in die leblosen Augen, so blau, wie der Himmel früher einmal war. Cricket drängte sich an ihr vorbei und stieß einen leisen Pfiff aus, was für einen Bot ohne Lippen eine ziemlich reife Leistung war. Und Eve hockte sich auf die Fersen und fragte sich, was sie in der Vergangenheit getan hatte, um so viel Glück zu verdienen.
Cricket modulierte seine Stimme zu einem Flüstern.
»Es ist ein Lifelike.«
»Ein was?«, fragte Lemon.
»Ein Lifelike«, wiederholte Eve. »Ein künstlicher Mensch. Früher wurden sie mal Androiden genannt.«
»Dieser schöne Knabe ist ein Roboter?«
»Genau.« Eve grinste. »Hilf mir mal, ihn da rauszuziehen, Lem.«
»Lass ihn lieber liegen«, raunte Cricket mit warnendem Unterton.
Eves Augenbrauen schossen nach oben. »Bist du bescheuert, Crick? Weißt du überhaupt, wie viel Knete dieses Ding wert ist?«
»Von derartiger Technik sollten wir die Finger lassen«, knurrte der kleine Bot. »Viel zu gefährlich.«
»Wo ist das Problem?«, fragte Lemon. »Der Kerl kommt mir absolut armlos vor.«
Eve musterte die versehrte Schulter. Dann sah sie ihre grinsende Freundin an. »Du bist echt unmöglich, Lemon.«
»Ich glaube, das Wort, nach dem du suchst, lautet: unverbesserlich.«
»Lasst uns ganz schnell hier abhauen«,jammerte Cricket.
Eve ignorierte ihn, stemmte einen Stiefel gegen eine verbogene Strebe und zog an dem Körper, bis er sich löste. Er wog weniger als erwartet, die Haut unter ihren Fingerkuppen war glatt wie Glas. Eve rollte ihre Umhängetasche auf und Lemon half ihr dabei, den Körper hineinzustopfen. Als sie den Reißverschluss der Tasche zuzogen, stellten sich Kaisers Ohren auf und er legte den Kopf zur Seite.
Der Blitzhund bellte nicht. Die besten Wachhunde bellen nicht. Aber als er hinter einen Haufen Gasflaschen sprang, wusste Eve, dass es gleich ganz dicke kommen würde.
»Stress«, zischte sie.
Lemon nickte und wiegte ihren elektrischen Baseballschläger in der Hand. Eve warf sich grunzend die Tasche über die Schulter und zog ihren eigenen Schlagstock heraus. Er ähnelte dem von Lemon: Aluminium, ausgerüstet mit einem kleinen Aggregat und einem breiten Streifen Isolierband rings um den Griff. Die Schläger – beide von Großvater entworfen – konnten 500 kV erzeugen, was ausreichte, um die meisten Übeltäter aus den Socken zu hauen. Als Hinweis darauf, wo sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach zum Einsatz bringen würde, falls es wirklich zum Äußersten kommen sollte, hatte Lemon den ihren Popstick getauft. Eve hingegen hatte, in Anspielung auf ihre Begeisterung für die alten Sagen, den Namen ihres Schlägers in neonfarbenem Pink auf den Schaft gemalt: EXCALIBUR.
Großvater war im vergangenen Jahr für eine Reparatur mit einer Selbstverteidigungs-Software bezahlt worden und hatte sie auf Eves Memdrive hochgeladen, damit sie sich besser schützen konnte. Dabei machte sie sich kaum Sorgen wegen irgendwelcher Auseinandersetzungen, zumal Kaiser immer bei ihr war. Trotzdem konnte so weit draußen im Schrott alles Mögliche passieren …
»Kommt raus!«, rief Eve. »Wer sich so hinterrücks anschleicht, könnte schnell was auf die Schnauze kriegen.«
»Kleine Evie, kleine Evie«, rief eine Stimme in höhnischem Singsang. »Du bist weit weg vom Reifental, Mädel.«
Eve und Lemon drehten sich in Richtung des Singvogels, und sechs, sieben Silhouetten lösten sich aus dem Dunst. Sie musste die Abzeichen auf ihren Rücken nicht sehen, um zu wissen, wer sie waren.
»Es ist auch sehr weit bis zur Kühlschrankstraße, Tye.«
Eve musterte die Plünderer einen nach dem anderen. Ihre Rüstungen bestanden aus mit Klebestreifen zusammengehaltenen Panzerwesten und verbeulten Radkappen. Die meisten waren nicht viel älter als sie. Ein großer Bursche namens Pooh war mit einer methangetriebenen Kettensäge bewaffnet und trug einen räudigen Teddybär um den Hals. Der große Dünne namens Tye zog eine alte Pistole mit kurzem Lauf aus seinem Trenchcoat.
Auf ihren eigenen Streifzügen war sie der Bande aus der Kühlschrankstraße schon etliche Male begegnet, und normalerweise waren sie so klug, mit ihr zu verhandeln. Aber für alle Fälle drückte Eve auf den Startknopf ihrer Keule, worauf ein knisterndes Summen ertönte.
Regel Nummer drei im Schrott:
Immer den größten Knüppel haben.
»Wir waren zuerst hier, Kinder«, sagte sie. »Kein Grund, deswegen Streit anzufangen.«
»Ich seh hier nirgendwo eine Fahne flattern.« Tye drehte die leeren Handflächen zum grauen Himmel und sah sich um. »Ohne deine Fahne kannst du hier überhaupt keine Ansprüche stellen.«
Cricket trat vor und streckte beschwichtigend die dürren, rostfarbenen Hände aus. »Wir wollten sowieso gerade aufbrechen. Bedient euch, meine Herren.«
Tye spuckte in Crickets Richtung. »Redest du mit mir, du kleiner Fug?«
Cricket sah ihn finster an. »Nenn mich nicht klein.«
»Oder was, du Rosthaufen?«, höhnte der Junge.
»Lass ihn in Ruhe, Tye«, sagte Eve.
Die Zähne des Jungen hatten die Farbe alter Kaffeeflecken. »Ihn? Meinst du nicht eher ›es‹? Verdammt, seht euch diese Haut an, die auf dem Fugazi klebt.«
»Fugazi« bedeutete so viel wie »Fälschung«. Niemand wusste mehr genau, woher der Ausdruck eigentlich kam, aber es war eine herablassende Bezeichnung für alles Künstliche – kybernetische Implantate, Bots, synthetische Nahrung und so weiter. Die Kurzform »Fug« war die gängige Beleidigung für Logika, die auf der Insel bestenfalls als zweitklassige Bürger und zumeist einfach nur als Gegenstände behandelt wurden.
Tye sah sich zu seinen Jungs um und wackelte mit den Augenbrauen.
»Diese Mädchen, die ganz allein da draußen bei dem alten Silas wohnen, haben echt einen an der Klatsche«, sagte er grinsend. »Jetzt geben sie sich schon lieber mit Metall als mit echtem Fleisch und Blut ab. Aber vielleicht sind sie ja noch nicht auf den richtigen Geschmack gekommen.« Der Junge griff sich in den Schritt und wackelte zum wiehernden Gelächter seiner Bande kräftig vor und zurück.
Lemons Finger trommelten auf Popsticks Griff. »Wenn du noch mal mit dem Ding in unsere Richtung wedelst, muss deine Schwester heute Abend sehr enttäuscht ins Bett gehen.«
Die Burschen amüsierten sich nicht schlecht über diesen Spruch, und Eve sah Tye vor Wut beinahe schnauben. Jetzt musste er sein Gesicht wahren. Alles, was recht war, aber Lemons Mundwerk würde sie eines schönen Tages noch mal in echte Schwierigkeiten bringen.
»Halt’s Maul, du Lusche.« Tye hob seine Pistole und zielte damit in Lemons Richtung.
»Willst du deswegen wirklich so einen Aufstand machen?« Eve sah, wie die Bande nach links und rechts ausschwärmte. »Wir sind ja schon weg. Ihr könnt den ganzen Kram haben.«
»Und was hast du in deiner Tasche, kleine Evie? Das Beste schon eingesackt, was?«
»Das ist nichts.«
»Stinkt gewaltig nach Lüge.« Tye zielte mit der Pistole auf ihr Gesicht. »Zeig mal her, Missgeburt.«
Eve spürte, wie ihr bei der Beleidigung das Blut aus dem Gesicht wich und der Unterkiefer sich versteifte.
»Ja, ich hab dich gestern Abend in der Kuppel gesehen«, fuhr Tye fort. »Wurde ja überall gesendet. Dein Opa ist vielleicht der beste Mechaniker diesseits vom Glas, vielleicht hat er auch für die Leute hier die eine oder andere kaputte Wasserleitung repariert und was weiß ich, aber glaubst du wirklich, dass es irgendjemanden einen Dreck schert, wenn ich dich jetzt einfach wegputze? Eine Missgeburt aus dem Schrotthaufen?«
Lemon hob knurrend Popstick. »Nenn sie nicht so.«
Tye zischte verächtlich. »Her mit der Beute, kleine Evie.«
Eve seufzte übertrieben laut. Dann nahm sie ächzend die Tasche von der Schulter und warf sie zwischen sich und Tye auf den Boden. Tye senkte die Pistole, schlenderte auf die Tasche zu und öffnete sie. Er kramte darin herum, machte zunächst ein verdutztes, dann ein ungläubiges Gesicht, bis ihn die Erkenntnis schließlich voll erwischte. Dann drehte er sich zu seinen Jungs um.
»Tatsache, Jungs, hier haben wir –«
Drei Schritte, und Eves Stiefel traf ihn mitten ins Gesicht, quetschte ihm die Nase platt auf die Wange. Der Junge kippte nach hinten um, die Pistole flog in hohem Bogen in den Abfall.
»Du Fu–«
Eve stellte den Stiefel auf Tyes Schritt, um ihn zum Verstum