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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen
haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun.
Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und der programmierte Mord
von Alfred Bekker
1
Mein Name ist Uwe Jörgensen und ich bin Kriminalhauptkommissar
in Hamburg. Zusammen mit meinem Freund und Kollegen Roy Müller
gehöre ich einer Sondereinheit an, die sich vor allem mit den
sogenannten großen Fällen beschäftigt, worunter meistens nichts
anderes als die sogenannte organisierte Kriminalität zu verstehen
ist.
Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes, so nennt
sich die Abteilung.
Einmal im Monat gehe ich auf den Schießstand, um mich in der
Handhabung meiner Dienstwaffe zu üben.
Ja, ich gebe zu: auch ich schieße manchmal daneben.
Im Ernstfall könnte das ein Menschenleben kosten.
Entweder mein eigenes oder das eines Kollegen oder einer
Geisel… Da lassen sich viele verhängnisvolle Situationen
konstruieren. Noch schlimmer wäre, wenn man im Einsatz den Falschen
trifft - und auch sowas kommt vor. Oder man trifft jemanden, die
Kugel durchschlägt den Körper und tötet am Ende noch jemand
anderen, der völlig unbeteiligt ist. Auf das Problem von
Querschlägern will ich an dieser Stelle gar nicht erst
eingehen.
Schießereien, bei denen nur das getroffen wird, was getroffen
werden soll, gibt es nur im Film.
Und selbst da geht manchmal was daneben.
Also wäre es doch eigentlich schön, wenn es Munition gäbe, die
sich ihr Ziel selber sucht.
Munition, die ihr Ziel nicht verfehlen kann, egal wie schlecht
oder unvorsichtig der Schütze ist.
Munition, die programmiert werden kann und das Ziel
verfolgt.
Fast so, wie eine Drohne - nur viel kleiner.
Glauben Sie mir: Das wäre ein Albtraum.
Aber es wird längst daran gearbeitet, ihn wahr werden zu
lassen.
*
Lee Jiang betrat mit seinem Gefolge das Nobellokal
'Schlemmertempel' in der Saarlandstraße. Der kahlköpfige Mann mit
den asiatisch-starren Gesichtszügen wurde von einem Dutzend Männern
in dunklen Maßanzügen begleitet. Die meisten von ihnen trugen MPis
im Anschlag. Sie flankierten ihren Chef von allen Seiten.
Lee Jiang selbst trug eine kugelsichere Kevlar-Weste unter dem
Jackett.
Der große Boss aus St Pauli blieb stehen, fixierte mit seinem
Blick die Männer, die bereits an der langen Tafel Platz genommen
hatten.
Es handelte sich um Mario Savoca und seine kalabrischen
‘Ndrangheta-Leute. Blitzschnell gingen auch bei ihnen die Hände zu
den Waffen. Ein Dutzend Mündungen von MPis und automatischen
Pistolen zeigten in Richtung der Chinesen.
Der Kellner wartete erstarrt neben dem Buffet.
Sekundenbruchteile lang herrschte Stille.
Dann murmelte Lee Jiang einen knappen Befehl auf Kantonesisch.
Seine Männer senkten die Waffen. Das Gesicht des Chinesen blieb
völlig unbewegt.
»Verstehen Sie so einen Empfang etwa als Ausdruck Ihrer
Gastfreundschaft, Herr Savoca?«, fragte er in makellosem
Deutsch.
Mario Savoca war noch keine dreißig. Ein fast zierlich
wirkender Mann, mit kinnlangem, schwarzblauem Haar und dünnem
Knebelbart, bis auf den Millimeter genau rasiert. Eine dunkle
Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Er zögerte noch eine Sekunde,
machte dann seinen Leuten ein Zeichen.
Auch die senkten jetzt die Waffen, die Lage entspannte
sich.
»Setzen Sie sich!«, bot Savoca an.
Lee Jiang nickte. Zusammen mit einem Teil seines Gefolges trat
er an die Tafel heran, während sich der Rest im Raum verteilte.
Jemand zog für den Chef den Stuhl zurück, Jiang setzte sich.
»Ein schönes Lokal haben Sie für dieses Treffen ausgesucht«,
sagte der Mann anerkennend.
Savoca grinste schief, kicherte, wischte sich mit dem Ärmel
über den Mund.
»Seit kurzem gehört es mir«, erklärte er.
»Mein Respekt.«
»Ihre Gorillas können hier ruhig herumschnüffeln, soviel sie
wollen! Meinetwegen auch in der Küche! Ich habe nichts
dagegen.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie ein Ehrenmann sind, Herr
Savoca.«
»Ach, ja?«
Savoca grinste.
Lee Jiangs Gesicht blieb unbeweglich wie eine Maske.
»Sollte sich etwas anderes herausstellen, gibt es keinen Ort
auf der Welt, an dem Sie noch sicher wären. Ich - oder mein
Nachfolger - würden sich dann nicht nur damit begnügen, Sie einfach
zu töten ...«
Savocas Gesichtsausdruck wurde hart.
»Wollen Sie mir drohen?«
»Ich möchte das Geschäft mit Ihnen neu ordnen.«
»Es wird uns niemand dabei stören«, erklärte Savoca.
»Wie Sie sehen, haben wir diesen Nobelschuppen heute für uns
ganz allein.«
»Es gab in der Vergangenheit einige Unstimmigkeiten, die wir
aus der Welt schaffen sollten. Einen Krieg können wir uns im Moment
beide nicht leisten.«
Savoca bleckte die Zähne.
»Ich teile Ihre Analyse, Herr Jiang.«
Einer der Bodyguards, die Jiang begleiteten, hatte sich an der
großen Fensterfront postiert. Er blickte hinaus. 'Schlemmertempel'
lag im 10. Stock. Man hatte eine traumhafte Aussicht auf den
Stadtpark.
Der Bodyguard genoss sie einige Augenblicke lang. Dann
veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Es verzog sich zu einer Maske des Entsetzens.
Er trat einen Schritt zurück, schrie ein paar Worte auf
Kantonesisch.
Die Chinesen an der Tafel wirbelten herum.
Auch Savocas Männer starrten jetzt zur Fensterfront.
Das Glas zersprang.
Pfeilschnell drang ein Geschoss ins Innere des
'Schlemmertempel’'.
Sekundenbruchteile danach gab es eine gewaltige Detonation,
der einen Moment später noch eine zweite und dritte folgte.
Die Todesschreie gingen im Lärm der Explosionen unter.
Eine mörderische Druckwelle breitete sich aus, ließ
menschliche Körper wie Puppen durch den Raum fliegen. Innerhalb von
Sekunden verwandelte sich 'Schlemmertempel' in eine grausame
Flammenhölle.
2
Die Saarlandstraße war durch die zahllosen Einsatzfahrzeuge
völlig blockiert. Wagen der Polizei und der Feuerwehr befanden sich
dort. Außerdem mehrere Krankenwagen, Fahrzeuge von Notärzten,
Einsatzwagen des Kriminalpolizei und dem zentralen Erkennungsdienst
aller Hamburger Polizeieinheiten.
Ich stellte den Sportwagen am Stadtpark ab. Roy und ich
stiegen aus.
Einige hundert Schaulustige hatten sich angesammelt. Die
Kollegen der Polizei hatten ihre Mühe, sie davon abzuhalten, näher
an den Tatort heranzugehen.
Wir starrten die Fassade des Hochhauses hinauf. In Etage 10
war es geschehen. Die Folgen der gewaltigen Explosion, die sich
ereignet hatte, waren auch von außen nicht zu übersehen. Eine
Rauchsäule hing über dem Stadtpark. Aber es quoll nichts mehr aus
der zerstörten Fensterfront der 10. Etage heraus. Offenbar war der
Brand gelöscht.
Ein gewaltiger Rußfleck verdunkelte die Fassade auf einer
Fläche von mindestens zwanzig Quadratmetern.
Roy und ich zeigten den Kollegen unsere Dienstausweise,
nachdem wir uns durch die Schaulustigen gedrängelt hatten. Ein
Polizist winkte uns weiter.
Wir erreichten das Foyer.
Die Security-Leute wirkten ziemlich hektisch. Der
Einsatzleiter der Feuerwehr gab über Walkie-Talkie seine
Befehle.
Wir mussten noch einmal unsere Ausweise vorzeigen. Der
Einsatzleiter wurde auf uns aufmerksam.
»Kriminalpolizei?«, fragte er. »Ihre Kollegen vom
Erkennungsdienst sind schon oben.«
»Haben Sie eine Ahnung, was hier passiert ist?«, fragte
Roy.
»Fragen Sie mich Leichteres. Es sieht aus, als hätte jemand
eine Handgranate durchs Fenster geworfen!«
»In den 10. Stock?«, hakte Roy nach.
»Ich sagte ja nur, dass es so aussieht. Wenn Sie wollen,
können Sie hinauf, aber Sie müssen über das Treppenhaus. Die
Aufzüge sind noch nicht wieder in Betrieb.«
Ich atmete tief durch. Das hatte ich schon befürchtet.
Aber das war bei jedem Hochhausbrand die eiserne Regel: Nie
die Fahrstühle benutzen! Da konnte man nicht vorsichtig genug
sein.
So blieb uns nichts anderes übrig, als das Treppenhaus zu
benutzen. Immer zwei Stufen nahmen wir auf einmal.
»Nimm's als Konditionstraining!«, meinte Roy.
»Ich dachte eigentlich, dass ich genug in dieser Hinsicht
tue.«
»Wird sich gleich zeigen, Uwe!«
»Ach ja?«
»Wenn wir oben sind und du kriegst immer noch Luft, dann bist
du in Form.«
»Sehr witzig!«
Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir die 10. Etage
erreichten und jene Räume betraten, in denen sich noch vor kurzem
ein Nobelrestaurant mit dem klangvollen Namen 'Schlemmertempel'
befunden hatte.
Der Anblick war entsetzlich, der Geruch beinahe unerträglich.
Überall waren Spurensicherer bei der Arbeit.
Kommissar Ronny Kiwinzky begrüßte uns.
»Hallo, Uwe!« Er sah ziemlich mitgenommen aus. »Frag mich
nicht, was hier genau passiert ist. Wir können mit Sicherheit nur
sagen, dass eine gewaltige Detonation stattgefunden hat. Es gibt
schätzungsweise zwanzig Todesopfer. Genau können wir das nicht
sagen. Bis die Toten allesamt identifiziert sind, kann es eine
Weile dauern.«
»Ja«, nickte ich düster.
Und Roy fragte: »Keine Überlebenden?«
»Doch, zwei. Der eine heißt Georg Hummels und arbeitete hier
als Kellner. Der Mann liegt im Koma, hat schwerste Verletzungen und
wird vielleicht nicht durchkommen.«
»Wie konnte er die Detonation überleben?«, erkundigte ich
mich.
»Er muss in der Tür zur Küche gestanden haben und wurde dann
zurückgeschleudert.«
»Und der andere?«, hakte ich nach.
»Mark Millner der Koch des 'Schlemmertempel'. Er befand sich
zum Zeitpunkt der Explosion in der Küche.«
»Ist er ansprechbar?«
»Körperlich fehlt ihm kaum etwas. Aber er steht unter Schock,
redet nur noch wirres Zeug.«
»Ich verstehe ...«
»Der Besitzer dieses Ladens ist übrigens seit kurzem ein
gewisser Mario Savoca«, berichtete Kiwinzky »Das ist für euch ja
wohl kein Unbekannter!«
»Allerdings«, nickte ich.
Mario Savoca war unseren Informationen nach eine aufstrebende
Größe in der Hamburger Unterwelt. Wir verdächtigen ihn in illegale
Waffengeschäfte verwickelt zu sein. Bislang lagen allerdings nicht
genügend gerichtsverwertbare Indizien vor.
»Gibt es Hinweise darauf, ob Savoca unter den Toten ist?«,
fragte mein Freund und Kollege Roy Müller.
Kiwinzky hob die Augenbrauen.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil wir von einem Informanten wissen, dass hier ein Treffen
zwischen Savoca und Lee Jiang stattfinden sollte.«
Kiwinzky pfiff durch die Zähne.
»Eine Konferenz der Bosse!«
»Ja, so könnte man sagen.«
»Roy, wir haben keine Ahnung, wer die Toten sind. Noch nicht
...«
In diesem Moment trafen unsere Kollegen Stefan Czerwinski und
Ollie Medina ein. Sie wurden von dem Kollege Barkow, einem unserer
Sprengstoffexperten, begleitet.
Kollege Barkow ließ den Blick kreisen.
»Das wird nicht einfach«, meinte er. Er wandte sich an mich.
»Die Verwüstungen sind so groß, dass es schwer werden wird, noch
irgendwelche aussagekräftigen Spuren zu finden.«
»Eine Angabe zur Beschaffenheit des Sprengstoffs würde uns
schon ein Stück weiterbringen«, sagte ich.
Barkows Gesicht wurde skeptisch.
»Du wirst Geduld haben müssen, Uwe.«
Eine halbe Stunde später waren wir immerhin etwas schlauer.
Die Videoüberwachungsanlage des privaten Sicherheitsdienstes hatte
genau festgehalten, wer sich hier getroffen hatte.
Savoca und seine Kalabrier waren etwa zwanzig Minuten vor
Jiang und seinen Männern eingetroffen. Jetzt lebte vermutlich
keiner mehr von ihnen.
Genau wussten wir das erst, wenn wir überprüft hatten, wer von
diesen Männern das Gebäude wieder verlassen hatte.
Wir beschlagnahmten sämtliche Videobänder der letzten Tage.
Unsere Innendienstler würden sie sich vornehmen müssen. Irgendwie
musste die Sprengladung in das Restaurant 'Schlemmertempel'
gebracht worden sein. Bislang hatten wir keine Ahnung, wie das
geschehen sein konnte. Alle diejenigen, die uns darüber hätten
Auskunft geben können, waren tot oder nicht aussagefähig.
»Der Täter - beziehungsweise sein Auftraggeber - muss von dem
Treffen gewusst haben«, stellte Roy fest. »Und er muss irgendeinen
Nachteil von einer Einigung zwischen den Kalabriern und Jiangs
Leuten befürchtet haben.«
Ich nickte.
»Wenn man unseren Informanten glauben kann, dann überschneiden
sich die Interessen beider Gruppen beim illegalen
Waffenhandel.«
»Dann wette ich, dass wir in der Waffenhändler-Szene auch
früher oder später auf jemanden treffen, der einen Vorteil von
diesem Verbrechen hat.«
Etwas später traf Tim Kordan ein. Kordan war der
Geschäftsführer des 'Schlemmertempel'.
Im Gegensatz zu dem bedauernswerten Koch, der jetzt die Hilfe
eines Psychologen brauchte, war Kordan zur Zeit des
Sprengstoffanschlags nicht im Gebäude gewesen. Wir unterhielten uns
in einem Nebenraum mit ihm, der von den Security-Leuten als
Umkleide benutzt wurde.
»Herr Kordan, wann haben Sie von dem Treffen erfahren, das im
'Schlemmertempel' stattfinden sollte?«, fragte ich.
Kordan, ein Mittdreißiger mit dunklen Haaren und kantigem
Gesicht, hob die Augenbrauen.
»Ich weiß nicht, von was für einem Treffen Sie reden«,
behauptete er.
»Spielen Sie nicht den Ahnungslosen!«, forderte ich. »Sie sind
der Geschäftsführer. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nicht
wussten, wer sich heute im 'Schlemmertempel' getroffen hat.
Schließlich war das Lokal für alle anderen Gäste
geschlossen.«
Kordan atmete tief durch.
»Kann ich meinen Anwalt sprechen?«
»Natürlich, wenn Sie wollen ... Ich nehme an, es handelt sich
um Herrn Rechtsanwalt Taubert, den Sie jetzt anrufen wollen.«
Kordan wirkte verblüfft. »Wie ...?«
»Taubert ist der Anwalt von Herrn Savoca - und der
'Schlemmertempel' gehört ihm doch seit kurzem.«
»Eigentümer ist Herr Winfeld Kross«, korrigierte mich
Kordan.
»Ein Strohmann«, erwiderte ich.
»Wollen Sie mir was anhängen, oder was? Ich bin der
Geschäftsführer, nichts weiter, Herr Jörgensen.«
»Irgendwie muss die Sprengladung in das Lokal gelangt sein.
Haben Sie eine Ahnung, wie das geschehen sein könnte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wissen Sie etwas über die näheren Umstände, unter denen
'Schlemmertempel' in Mario Savocas Besitz übergegangen ist?«
Kordans Nasenflügel bebten.
»Was soll das ganze Theater? Warum werden mir solche Fragen
gestellt? Ich mache hier meinen Job und fertig. Das ist
alles!«
Ich nickte nur, wechselte einen Blick mit Roy.
»Sie können gehen«, meinte Roy. »Wenn wir noch Fragen an Sie
haben, melden wir uns.«
Kordan blickte von einem zum anderen. Dann verließ er den
Raum.
»An dem Kerl ist etwas faul«, meinte ich. »Der weiß sehr viel
mehr, als er uns weismachen will, da bin ich mir sicher.«
»Ja, aber im Moment hat es wenig Sinn, mehr aus ihm
herauspressen zu wollen.«
Ich zuckte die Schultern.
»Schon merkwürdig, dass der Geschäftsführer des
'Schlemmertempel' ausgerechnet an dem Tag nicht im Laden ist, an
dem sich dort eine Explosion ereignet ...«
Wir befragten noch Dutzende von Personen. Anlieger,
Geschäftsleute, deren Büros im gleichen Gebäude lagen, Menschen die
vielleicht irgendetwas beobachtet hatten.
Zwischendurch rief Herr Bock an. Der Chef des Hamburger
Kriminalpolizei hatte inzwischen jeden verfügbaren Beamten zu
unserer Unterstützung abgestellt.
Die Sorge, die dahinterstand, war klar.
Das Attentat mochte der Vorbote eines Gangsterkrieges sein.
Von den Spannungen in der Waffenhändlerszene wussten wir schon seit
längerem. Auch davon, dass Mario Savoca ein sehr ehrgeiziger Mann
gewesen war, der versucht hatte, den illegalen Waffenmarkt nach und
nach unter seine Kontrolle zu bekommen.
»Wer immer dieses Attentat ausgeheckt hat, wollte
möglicherweise ganz bewusst beide aus dem Weg räumen - Lee Jiang
und Savoca«, meinte Roy.
»Du meinst, eine fremde kriminelle Vereinigung versucht hier
mit Brachialgewalt Fuß zu fassen?«, fragte ich.
Roy nickte.
»Für mich sieht das so aus.«
Am späten Nachmittag tauchte dann eine Spur auf, die unseren
Ermittlungen später eine ganz andere Richtung geben sollte.
Wir sprachen mit Cedric Martin, der ein Stockwerk unterhalb
des 'Schlemmertempel' als Senior Director der Werbeagentur Martin
& Friends fungierte.
»Ich habe es genau gesehen«, behauptete Martin. »Ich stand am
Fenster, blickte hinaus auf den Stadtpark ... Wissen Sie, manchmal
kommt man in einer Kampagne einfach nicht weiter und dann
...«
»Was genau haben Sie gesehen?«, hakte ich nach.
»Etwas, das durch die Luft flog ... Ich meine, es ging so
rasend schnell ... Ich dachte zumindest, dass da etwas fliegt. Ein
Ding, das nicht größer als ein Stein gewesen sein kann!« Er atmete
tief durch, fuhr sich mit einer nervösen Handbewegung durch das
graue, kurz geschorene Haar.
Er zeigte uns die Stelle in seinem Büro, wo er gestanden
hatte. Der Brandgeruch war auch bis hierhin vorgedrungen. Aber die
Scheiben der Fensterfront wiesen nur einige Sprünge auf. Weiter
hatte die Explosion in der Etage darüber sie nicht in
Mitleidenschaft gezogen - abgesehen von ein paar Eimern Putz, die
von der Decke gerieselt waren. Ein weißgrauer Staubfilm lag über
der gesamten Einrichtung der Agentur.
»Hier genau habe ich gestanden«, sagte Martin. »Im ersten
Moment dachte ich, ich bilde mir etwas ein, dann kam dieses Ding
dahergezischt ... Es gab erst ein Geräusch wie von einem Aufprall,
dann klirrte es, so als würde eine Scheibe zu Bruch gehen. Ich
dachte erst an einen Vogel. Wissen Sie, es wäre ja nicht das erste
Mal, dass so ein Tier in eine Scheibe hineinfliegt, weil sich der
Himmel darin spiegelt.«
»Aber dies war kein Vogel?«, hakte ich nach.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, flüsterte er. »Sekundenbruchteile später folgte die
Explosion.«
Ich trat ans Fenster heran, blickte hinaus.
Die Zahl der Schaulustigen unten an der Straße hatte sich
inzwischen deutlich verringert.
Der Verkehr auf der Saarlandstraße hatte sich normalisiert,
ein Großteil der Einsatzfahrzeuge war abgezogen. Ich sah auf den
Stadtpark hinaus. Roy trat neben mich.
Und er dachte dasselbe wie ich.
»Siehst du da irgendwo einen Punkt, von dem aus man in den
10.Stock dieses Hauses ein Geschoss hineinjagen könnte, Uwe?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aus jeder anderen Richtung wäre das eher möglich gewesen, als
ausgerechnet aus dieser«, meinte ich.
Der Stadtpark lag im Mittel um die 60 Meter unter uns.
Es gab keine Erhebungen, die wesentlich über dieses Niveau
hinausgingen. Und andere, ähnlich hohe Gebäude, von denen aus
jemand hätte schießen können, gab es nur in entgegengesetzter
Richtung.
»Wollen Sie etwa behaupten, dass ich Unsinn rede?«, fragte
Martin etwas ungehalten.
»Nein«, versicherte ich. »Wir nehmen Ihre Aussage sehr
ernst.«
3
Dr. Alex Fernow knüllte den Zettel zusammen. Jemand musste ihn
durch den Belüftungsschlitz in seinen Spind hineingeschoben
haben.
'22.30 im Labor!', hatte auf dem Zettel in ungelenk wirkenden
Druckbuchstaben gestanden. Darunter und etwas kleiner der Zusatz:
'Wir müssen reden.'
Alex Fernow zerriss den Zettel nun sorgfältig und ließ die
Fetzen in den Papierkorb segeln.
Verdammt!, dachte er. Musste das unbedingt jetzt sein sein?
Nach diesem Tag?
Fernow kratzte sich nachdenklich am Kinn, das von einem grauen
Stoppelbart bedeckt wurde.
Er hatte gerade eine strapaziöse Sitzung mit dem Vorstand von
Lonberg Electronics hinter sich. Ihm rauchte immer noch der Kopf.
Fernow arbeitete in der wissenschaftlichen Entwicklungsabteilung
der aufstrebenden Firma im Osten von Wandsbek. Sein Spezialgebiet
waren elektronische Steuerelemente und Relais von mikroskopischer
Größe. Fernow hatte schon auf diesem Gebiet promoviert und galt
mittlerweile als eine der größten Kapazitäten im Bereich der
Mikroelektronik.
Er hatte den Labortrakt des Lonberg Zentralgebäudes an diesem
Abend eigentlich nur deswegen noch einmal betreten, weil er den
Regenmantel mit den Wagenschlüsseln aus seinem Spind holen musste,
bevor er nach Hause fahren konnte.
Fernow schloss den Spind wieder. In einem Schrank auf der
anderen Seite des Umkleideraums hingen die hauchdünnen, weißen
Staubschutzoveralls, die jeder tragen musste, der die Labore von
Lonberg Electronics betrat. Schon winzige Staubmengen hätten
ansonsten dafür sorgen können, dass die Prototypen hochmoderner
Mikrochips nicht mehr funktionierten.
Fernow streifte den Overall über, dann verließ er den
Umkleideraum und passierte mit Hilfe seines Ausweises ein System
von Schleusen.
Auf den Korridor traf er niemanden mehr. Nicht um diese
Zeit.
Er erreichte das eigentliche Labor, ein Raum, in dem Dutzende
von Computern und Schaltkonsolen standen. Durch ein Sichtfenster
getrennt war ein Raum zu sehen, in dem elektronisch gesteuerte
Roboterhände mit unglaublicher Präzision arbeiten konnten. Jetzt
ragten sie wie erstarrt in den Raum. Hier und da leuchteten
Kontrolllampen.
Fernow sah sich um.
»Erik?«, rief er.
Fernow bekam keine Antwort, blickte auf die Uhr.
Ein paar Minuten würde er Erik Domwehr noch geben. Fernow
tickte nervös mit den Fingern auf einem der Tische herum.
Warum ausgerechnet das Labor als Treffpunkt?
Dann fiel Fernows Blick auf eine der Kontrollanzeigen.
Da stimmte etwas nicht ...
Fernow trat an die Anzeigen heran, runzelte die Stirn.
Ein Stromausfall, ging es ihm siedend heiß durch den Kopf. Es
musste hier vor kurzem einen Stromausfall gegeben haben. Aber
angesichts der Tatsache, dass das Labor über mehrere eigenständige
Notsysteme verfügte, war das eigentlich so gut wie unmöglich.
Fernow berührte einen der Schalter.
Ein grellweißer Blitz zuckte aus der Schaltkonsole heraus,
tanzte Fernows Arm bis zur Schulter empor. Das schüttere Haar
stellte sich auf, Fernows Hand schien an der Konsole zu
kleben.
Er zitterte heftig, wie von grausamen Krämpfen geschüttelt. Es
gab nichts, was er gegen die Kontraktionen seiner Muskeln tun
konnte.
In diesem Moment trat ein Mann durch eine Schiebetür ein, die
zu einem bis dahin geschlossenen Nebenraum führte, der als Lager
für elektronische Bauteile diente.
Der Mann lächelte kalt, während er beobachtete, wie Fernow
hilflos an der Schaltkonsole hing.
Er wartete. Dann trat er an eine andere Konsole heran, legte
einen Schalter um.
Das zischende Geräusch verstummte.
Fernow fiel zu Boden und blieb reglos liegen.
Sein Mörder trat an ihn heran, kniete kurz nieder, um zu
überprüfen, ob der Elektroniker auch wirklich tot war. Dann erhob
der Mörder sich und verließ das Labor.
4
Es war kurz nach Dienstbeginn, als wir im Besprechungszimmer
unseres Chefs saßen. Kriminaldirektor Bock hatte Roy und mich
zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Kollegen zu sich bestellt.
Wir sollten auf den neuesten Stand der Ermittlungen gebracht
werden.
Die Labore der Erkennungsdienste und unsere eigenen
Spezialisten hatten die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Das
Sprengstoff-Attentat im 'Schlemmertempel' besaß höchste
Priorität.
Roy unterdrückte ein Gähnen und nahm einen Schluck von Mandys
vorzüglichem Kaffee. Wir hatten bis in den späten Abend hinein noch
Zeugen befragt. Uns allen rauchten noch immer die Köpfe
davon.
Jetzt würde sich vielleicht zeigen, was von diesem Wust an zum
Teil sehr widersprüchlichen Aussagen durch harte Fakten aus den
Laboren untermauert wurde.
Rolf Zellner, einer der Erkennungsdienstler, fasste die
Erkenntnisse vom Tatort für uns zusammen. Mit einem Projektor warf
er dabei stark vergrößerte Fotos vom Tatort an die Wand.
»Zunächst einmal dachten wir an einen gewöhnlichen
Sprengstoffanschlag unter Verwendung eines herkömmlichen
Plastiksprengstoffs, der mit einem Zeit- oder Fernzünder versehen
wurde. Um so schwere Zerstörungen anzurichten, wie sie im
'Schlemmertempel' vorliegen, muss sich die Sprengladung mitten im
Raum befunden haben, etwa ein Meter fünfzig oberhalb des
Fußbodens.«
»Sie meinen, einer der Männer, die bei dem Treffen der Bosse
anwesend waren, hat die Bombe mitgebracht?«, hakte unser Kollege
Fred Rochow nach.
Rolf Zellner nickte.
»Ja, ein Selbstmordanschlag, das war unser erster Gedanke.
Aber dann fanden wir einige seltsame Metallsplitter aus einer
besonders harten Legierung. Wir haben die Splitter zusammenzusetzen
versucht. Sie könnten aus einem Objekt stammen, das etwa die Größe
eines Kugelschreibers besitzt.« Zellner zeigte uns ein paar
Abbildungen. »Auf einem der Splitter«, so fuhr Zellner fort, »ist
eine Art Signatur eingestanzt. Sie ist nicht vollständig erhalten.
Nur einziges Wort.«
Eine starke Vergrößerung wurde eingeblendet.
LONBERG stand dort gut erkennbar in Großbuchstaben.
»Können Sie sich irgendeinen Reim darauf machen?«, hakte Herr
Bock nach.
Zellner hob die Schultern.
»Nun, was diesen Punkt angeht, gebe ich das Wort lieber an
Ihren Kollegen Max Warter, ab.«
Alle Augen richteten sich auf Max. Er wirkte ebenfalls
ziemlich übernächtigt.
Der Innendienstler deutete auf einen Stapel mit
Computerausdrucken.
»Ich habe per EDV-Recherche herauszufinden versucht, wofür die
Buchstaben LONBERG wohl stehen könnten und bin auf die Firma
LONBERG ELECTRONICS GmbH gestoßen. Sie werden gleich ein kleines
Dossier bekommen, in dem die wichtigsten Daten zu diesem
Unternehmen zusammengefasst sind.«
Die Dossiers wurden ausgeteilt.
Während Warter fortfuhr, überflog ich das Wichtigste.
Lonberg hatte seinen Firmensitz in Wandsbek. Eine
Hightech-Firma, die sich auf hochmoderne elektronische
Steuerungssysteme spezialisiert hatte. Sie war ein wichtiger
Zulieferer für die Luft- und Raumfahrt sowie die Militärtechnik.
Außerdem galt sie als führender Entwickler sogenannter 'Smart
Weapons'.
'Intelligente Munition', die ihr Ziel selbständig erfassen,
verfolgen und vernichten kann. Die Marschflugkörper herkömmlicher
Machart oder die im Kosovo eingesetzten vollautomatischen
Aufklärungsdrohnen waren nur eine Vorstufe dessen, wovon man in den
Verteidigungsministerien der ganzen Welt träumte: Winzige
Flugkörper, die selbständig über große Distanzen hinweg navigieren
und Sprengladungen in ein gegnerisches Hauptquartier bringen
konnten. Nicht eine ganze Stadt sollte unnötig zerstört werden,
sondern unter Umständen nur ein einzelnes Büro. Wie weit man auf
diesem Weg schon war, blitzte nur hin und wieder mal in den Medien
auf.
Warter beendete seine Ausführungen. Kollege Zellner ergriff
wieder das Wort.
»Auch in Anbetracht der Tatsachen, die Kollege Warter
vorgebracht hat, müssen wir davon ausgehen, dass die Sprengladung
durch eine Art ferngelenktes Geschoss in das Restaurant
'Schlemmertempel' gelangte.«
Das passte im Übrigen auch mit der Aussage des Werbeagenten
Martin zusammen, die mir am Tag zuvor noch ziemlich eigenartig
vorgekommen war.
Herr Bock wandte sich an Roy und mich.
»Ich möchte, dass Sie beide sich die Verantwortlichen bei
Lonberg Electronics vorknöpfen. Immerhin ist bei diesem Attentat
offenbar ein Produkt aus deren Fertigung verwendet worden.«
»In Ordnung, Herr Bock«, sagte ich.
Unser Chef wandte sich an Stefan Czerwinski.
»Stefan, versuchen Sie alles, was wir in der
Waffenhändler-Szene an Informanten haben, zu aktivieren. Wenn
wirklich Hightech-Waffen, wie Lonberg Electronics sie herstellt, im
Umlauf sind, dann muss doch irgendjemand davon gehört haben.«
5
Ein Anruf erreichte uns, als wir gerade losfuhren. Herr Bock
meldete sich. Über die Freisprechanlage des neuen Sportwagens, den
die Fahrbereitschaft mir zur Verfügung stellte, konnten Roy und ich
beide mithören.
»Die Kollegen haben uns den Mord an Dr. Alex Fernow gemeldet«,
berichtete uns der Chef. »Dr. Fernow leitete die
Entwicklungsabteilung der Lonberg Electronics GmbH. Den Angaben der
Kollegen nach hat jemand wohl Fernows Arbeitsplatz im Labor derart
manipuliert, dass er von einem Stromschlag getötet wurde.«
»Sie meinen, es gibt da einen Zusammenhang mit unserem Fall?«,
fragte Roy.
»Das ist zumindest nicht ausgeschlossen. Sprechen Sie mit den
Kollegen vor Ort darüber! Die Ermittlungen werden von Kommissarin
Patrizia Jonas geleitet.«
Eine Viertelstunde später erreichten wir das Firmengelände von
Lonberg Electronics. Es war durch hohe Mauern, elektronische
Überwachungsanlagen und einen gut bewaffneten Security-Dienst
nahezu perfekt abgeriegelt. An der Pforte ließ man uns bereitwillig
herein, nachdem wir unsere Dienstausweise vorgezeigt hatten.
Offenbar brachte man uns sofort mit den Ermittlungen unserer
Kollegen in Zusammenhang.
Das Lonberg-Gelände war für die engen Großstadtverhältnisse
von Wandsbek sehr weiträumig angelegt.
Es wirkte wie eine kleine Stadt für sich. Mehrere zehnstöckige
hohe Gebäudekomplexe erhoben sich. Daneben gab es Lager- und
Fabrikhallen sowie großzügige Parkplätze. Dazwischen lagen ein paar
Grünflächen, durchzogen von einem Netz asphaltierter Straßen und
Wege.
Die Beschilderung war exzellent. Man konnte sich problemlos
zurechtfinden.
»Sieh mal, die haben hier sogar eigene Läden und Restaurants
für die Mitarbeiter«, stellte Roy fest. Er deutete mit der Hand
hinaus.
Ich nickte.
»Allerdings auch an jeder Ecke einen Wächter mit MPi.«
Roy hob die Augenbrauen.
»Eine regelrechte Festung - und das am Rande von
Wandsbek!«
»Kein Wunder - wenn man bedenkt, woran hier gearbeitet
wird!«
Wir folgten den Schildern, die zu den Laboren der
Entwicklungsabteilung führten. Ein Pulk von Einsatzwagen parkte vor
dem Zentralgebäude, in denen die Labore untergebracht waren.
Ich parkte den Sportwagen in der Nähe. Wir stiegen aus, gingen
die letzten Meter zu Fuß.
Zwei Uniformierte trugen einen Zinksarg zum Wagen des
Gerichtsmediziners. Bei einem der Zivilfahrzeuge entdeckte ich
Kriminaloberkommissarin Patrizia 'Pat' Jonas. Sie war schlank und
zierlich. Die Haare fielen ihr in einer wallenden Lockenmähne bis
über die Schultern. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war
sie noch Kriminalkommissarin gewesen.
Pat telefonierte gerade. Sie grüßte uns knapp.
Wir gingen auf sie zu. Pat steckte das Handy ein.
»Hallo Uwe! Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr
...«
»Wenn bei einem Unternehmen wie Lonberg jemand umgebracht
wird, dann ist das schon fast eine Frage der nationalen
Sicherheit.«
Pat nickte.
»Stimmt. Und angesichts der Hightech-Waffen, die hier
entwickelt werden, kann man kaum vorsichtig genug sein. Nicht
auszudenken, wenn davon etwas in falsche Hände gerät.«
»Vermutlich ist genau das geschehen, Pat.«
»Ach!«
Sie starrte mich an.
»Du hast sicher von der Explosion östlich vom Stadtpark in der
Saarlandstraße gehört.«
»Sicher.«
»Der oder die Täter haben ein ferngelenktes Geschoss von
Lonberg Electronics verwendet, um zwei Unterweltbosse aus dem Weg
zu räumen.«
Pat atmete tief durch.
»Ihr vermutet einen Zusammenhang, zwischen dem Tod von Dr.
Fernow und dem Sprengstoffattentat?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ausgeschlossen ist das nicht. Aber im Moment stochern wir
noch ziemlich im Dunkeln.«
»Ich nehme an, du willst eine Zusammenfassung der bisherigen
Ermittlungen«, vermutete Pat.
Ich lächelte sie an.
»Ich bitte darum.«
Pat strich sich mit einer schnellen Bewegung eine Strähne aus
dem Gesicht.
»Dr. Alex Fernow war Chef der Entwicklungsabteilung von
Lonberg Electronics. Jemand hat seinen Arbeitsplatz im Labor so
manipuliert, dass Fernow einen tödlichen Stromstoß erhielt.«
»Ein Unfall ist ausgeschlossen?«
»Nach Meinung unserer Kollegen vom Erkennungsdienst ja. Die
sind zwar noch dabei, den Tatort zu untersuchen, aber die Indizien,
die sie bisher gefunden haben, sind sehr eindeutig.«
»Seit wann ist Fernow tot?«
»Seit gestern Abend. Der Gerichtsmediziner meint, dass Fernow
auf jeden Fall vor Mitternacht starb. Heute Morgen wurde die Leiche
von seinem Assistenten Dr. Domwehr gefunden.«
»Ich würde mir den Tatort gerne mal ansehen«, meinte
ich.
»Nichts dagegen.« Pat führte uns zu den Laboren.
Ein ziemlich nervös wirkender Vertreter von Lonberg
Electronics bestand darauf, dass auch wir Staubschutz-Overalls
anlegten.
»Das ist übrigens Dr. Erik Domwehr«, stellte Pat uns den
graugesichtigen Mann mit den flaschendicken Brillengläsern
vor.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei«, stellte ich mich vor.
Ich deutete auf Roy. »Dies ist mein Kollege Roy Müller.«
»Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass einer von uns
so etwas fertig bringen könnte ... Einen Menschen ermorden.«
»Einer 'von uns'?«, echote ich.
Erik Domwehr blickte ruckartig auf.
»Nun, ich dachte, dass wäre Ihnen klar. Die Zahl der Menschen,
die die elektronischen Schranken überwinden können, ist begrenzt.
Es handelt sich nur um eine Handvoll autorisierter Personen, die
mit einem elektronischen Ausweis Zugang zu den Laboren
besitzt.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Und Sie meinen, dass einer von denen der Mörder sein
muss.«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
»Ich nehme an, Sie gehören auch zu diesem auserwählten
Kreis?«
»Das ist richtig. Eine Liste der Verdächtigen stellt das
Personalbüro von Lonberg Electronics gerade für Ihre reizende
Kollegin zusammen. Sie können sicher eine Kopie bekommen.«
Domwehr führte uns dann durch verschiedene Schleusen und
Korridore zum Tatort. Die Kollegen des Erkennungsdienstes waren
noch bei der Arbeit.
»Woran arbeitete Dr. Fernow genau?«, wandte ich mich an
Domwehr.
»Mikroelektronische Steuerungssysteme«, sagte er.
»Das ist sehr allgemein.«
»Genaueres werden Sie von mir nicht erfahren. Jedenfalls
nicht, solange mich die Führungsetage von Lonberg nicht
ausdrücklich dazu ermächtigt, Ihnen etwas zu den laufenden
Projekten zu sagen.«
Ich blickte mich in dem Labor um. Die Stelle, an der Fernow
zusammengebrochen war, hatten die Kollegen mit Kreide
markiert.
Wenig später erläuterte uns einer der Erkennungsdienstler, wie
die Anlage manipuliert worden war.
»Es war Mord, Uwe«, bekräftigte Pat die Ausführungen des
Kollegen. »Daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben.«
Pats Handy schrillte. Sie griff zum Apparat, nahm ihn ans Ohr
und sagte zweimal kurz hintereinander »Okay».
»Neuigkeiten?«, erkundigte ich mich.
Sie nickte.
»Wir wissen jetzt, wer außer Fernow gestern zur fraglichen
Zeit noch im Labor gewesen ist. Wollt ihr an dem Verhör teilnehmen,
Uwe?«
6
Lonberg Electronics hatte für die Vernehmung einen Büroraum
zur Verfügung gestellt. Außer Roy und mir nahmen noch Pat, ein
Kommissar namens Bolder sowie ein Anwalt teil, der die Interessen
des Beschuldigten wahren sollte.
Dr. Bernd Westerhoff war ein drahtiger Mittvierziger mit
Halbglatze. Er saß zusammengesunken in einem der schlichten
Ledersessel.
Pat setzte ihm stark zu. So zierlich und sexy sie auch auf den
ersten Blick wirken mochte, so unerbittlich nahm sie Westerhoffs
widersprüchliche Äußerungen auseinander.
»Dr. Westerhoff, Sie können doch nicht leugnen, dass Sie
gestern Abend noch im Labor waren. Die elektronischen Kontrollen
sind unbestechlich! Genau um 22.13 Uhr haben Sie den Magnetstreifen
Ihres Ausweises ins letzte Schloss gesteckt.«
»Ich sagte doch: Ich war zu Hause!«
»Ja, allein - und ohne Zeugen!«
»Diese Tatsache dürfen Sie meinem Mandanten nicht anlasten«,
mischte sich der Anwalt ein. Er hieß Bellmann.
»Stimmt es, dass Sie gute Chance haben, Dr. Fernows Nachfolger
als Entwicklungschef bei Lonberg Electronics zu werden?«
»Wer sagt das?«
»Entspricht es den Tatsachen?« Pat ließ nicht locker.
»Einspruch!«, zeterte Bellmann.
Pat wies ihn mit Bestimmtheit zurecht: »Sie sind hier nicht
vor Gericht.«
»Ich protestiere trotzdem gegen die Art und Weise Ihrer
Befragung!«
»Es stimmt«, gab Westerhoff dann zu. »Aber ich würde deswegen
doch keinen Mord begehen.«
»Was haben Sie gestern Abend im Labor getan?«
»Mein Ausweis ist mir gestohlen worden. Jemand anderes muss
sie benutzt haben.«
»Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, Dr. Westerhoff. Sie
sind ins Labor gegangen und haben auf Dr. Fernow gewartet. Die Art
und Weise, in der Fernows Arbeitsplatz manipuliert worden ist,
spricht dafür, dass der Täter sich dort hervorragend auskannte. So
wie Sie!«
»Ach was!«, stieß Westerhoff hervor. »Jeder könnte das! Jeder,
der in der Entwicklungsabteilung tätig ist. Vielleicht mit Ausnahme
der Security-Leute. Aber mir wollen Sie das anhängen! Dahinter
steckt doch Methode.«
Pat hob die Augenbrauen. Ihr Tonfall wurde etwas
sanfter.
»Und welches Interesse sollte ich daran haben, Ihnen etwas
anzuhängen, wie Sie es formulieren?«
»Liegt doch auf der Hand!«
»Ach!«
»Sie brauchen einen Schuldigen, wollen um jeden Preis
Ergebnisse vorweisen. Koste es, was es wolle!«
»Das ist doch Unsinn, Dr. Westerhoff. Sie sind jedenfalls
vorläufig festgenommen!«
»Damit kommen Sie nicht durch!«, rief Bellmann.
»Das sehe ich anders«, erklärte Pat kühl. »Ihr Mandant hatte
ein Motiv, er hatte die Gelegenheit und war zur fraglichen Zeit am
Tatort. Das sind schwer belastende Indizien.«
Jetzt mischte ich mich in das Gespräch ein.
»Wann glauben Sie, wurde Ihnen der Ausweis gestohlen?«
Er wartete das Nicken seines Anwalts ab, bevor er antwortete:
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie erst heute Morgen vermisst, als
ich wieder ins Labor wollte ...«
»Aber gestern hatten Sie das Ding noch?«
»Ja. Ich verließ das Labor gegen 19 Uhr. Das müsste ebenfalls
elektronisch gespeichert worden sein. Sie glauben mir doch,
oder?«
»Wir werden das überprüfen«, versprach ich.
Pat rief zwei ihrer uniformierten Kollegen herbei, die Dr.
Westerhoff abführten. Als der Wissenschaftler sich nicht mehr im
Raum befand, wandte sie sich an mich.
»Ich glaube - ehrlich gesagt - nicht, dass dieser Mord etwas
mit eurem Fall zu tun hat. Das jemand den Ausweis von Herrn
Westerhoff gestohlen hat, halte ich für eine reine
Schutzbehauptung.«
»Überprüfen muss man das trotzdem«, erwiderte ich.
»Natürlich.«
»Wenn sich bei euren Ermittlungen irgendetwas Neues
herausstellen sollte, dann wäre es nett, wenn du mich das umgehend
wissen lässt.«
Sie wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment klingelte ihr
Handy. Pat blickte mich nachdenklich an, während sie sprach. Am
anderen Ende der Leitung war offenbar ein ungeduldiger
Staatsanwalt, der sich nach den Fortschritten der Ermittlungen
erkundigte.
Ich verabschiedete mich mit einem Nicken von unserer
Kollegin.
»Bis jetzt gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür,
dass dieser Mordfall irgendwie mit dem Sprengstoffanschlag
zusammenhängt, Uwe«, gab Roy zu bedenken, als wir draußen auf dem
Korridor waren.
»Wir müssen Fernows Privatleben durchleuchten. Vielleicht
ergibt sich dann eine Spur.«
»Und wie sollte diese Verbindung deiner Meinung nach
aussehen?«
»Du siehst doch, wie groß hier Sicherheit geschrieben
wird.«
»Allerdings.«
»Aber Tatsache ist, dass mindestens eine dieser 'Smart
Weapons' aus den Mauern des Unternehmens hinausgelangt ist. Ich
denke, wer so etwas schafft, braucht dazu einen Helfer im
Unternehmen.«
»Fernow?«
»Ja. Und weil er aussteigen wollte oder einfach nur ein
gefährlicher Mitwisser war, musste er sterben.«
»Klingt etwas hergeholt, findest du nicht?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich finde, das ist mindestens so logisch wie Pats Theorie
...«
»… für die sie immerhin ein paar handfeste Indizien
hat.«
»Dr. Westerhoff ist ein hochintelligenter Wissenschaftler. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet er so dumm gewesen
sein soll, nicht daran zu denken, dass genau aufgezeichnet wird,
wer wann das Labor betritt.«
Als wir den Ausgang des Gebäudes erreichten, erkundigte ich
mich bei einem der Security-Leute nach der Videoüberwachungsanlage.
Er erklärte mir, dass lediglich der Eingangsbereich mit Kameras
überwacht wurde, der eigentliche Labortrakt jedoch nicht.
Schließlich kamen dort ohnehin nur diejenigen hinein, die über
einen Ausweis mit entsprechender Codierung verfügten.
»Das heißt aber, jeder der das Gebäude betritt oder verlässt
wird aufgenommen?«, vergewisserte ich mich.
»Ja.«
»Könnten Sie die Bänder von gestern Abend heraussuchen?«
»Tut mir leid, aber nach 45 Minuten beginnt die Aufzeichnung
von vorn. Alles, was vorher auf dem Band war, wird dann
gelöscht.«
»Zu dumm«, murmelte ich.
Eine halbe Stunde später empfing uns dann Wilhelm Gärtner, der
Vorstandsvorsitzende von Lonberg Electronics. Sein Büro wirkte fast
spartanisch. Ein Bild, das den Nationalökonomen Adam Smith
darstellte, hing hinter ihm an der weißen Wand. Ansonsten waren die
Wände kahl. Gärtner begrüßte uns knapp und deutete auf die
schlichten Ledersessel.
»Nehmen Sie Platz!«
»Danke. Ich bin Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Und dies ist
mein Kollege Müller.«
»Was den Fall Fernow angeht, gewähren wir Ihnen jede nur
denkbare Unterstützung«, versicherte Gärtner.
»Wir sind nicht in erster Linie wegen dem Mord an Ihrem
Entwicklungschef hier«, erklärte Roy.
Gärtner kniff die Augen zusammen.
»Sondern?«
Ich holte ein paar Fotos aus der Innentasche meiner Lederjacke
und legte sie vor Gärtner auf den Schreibtisch.
»Bei dem kürzlich verübten Sprengstoffanschlag im Restaurant
'Schlemmertempel' in der Saarlandstraße wurde offenbar ein Geschoss
aus Ihrer Produktion verwendet.«
Gärtner sah sich die Fotos an.
Obwohl es sich um Vergrößerungen handelte, nahm er sie ganz
nah an die Augen heran. Sein Gesicht wurde farblos.
»Ich ... ich habe keine Erklärung dafür«, stotterte er dann.
Tief atmend lehnte er sich zurück. »Bislang hielt ich unsere
Sicherheitsvorkehrungen für perfekt.«
»Das sind sie offenbar nicht«, sagte Roy.
Und ich ergänzte: »Wir brauchen die Personaldaten aller Ihrer
Mitarbeiter.«
»Sie glauben, dass unter den Lonbergs-Angestellten schwarze
Schafe sind?«
»Ja«, nickte ich. »Übrigens brauchen wir auch die Daten Ihrer
Security-Leute.«
»Das geht in Ordnung«, stimmte er zu.
Ich deutete auf die Fotos.
»Es müsste für Sie festzustellen sein, um welche Fabrikate von
Fernlenkgeschossen es sich genau handelt und wie viele davon
hergestellt wurden.«
»Immer nur wenige Prototypen«, erklärte Gärtner. »Einige
hundert maximal. Die Armee verbraucht sie zu Übungszwecken und wir
müssen staatliche Stellen ja schließlich davon überzeugen, dass sie
unsere Produkte abkaufen.« Gärtner beugte sich vor. Sein Tonfall
wurde gedämpft. »Sehen Sie, Herr Jörgensen, unsere Waffen sind
etwas ganz Besonderes.« Er nahm einen Kugelschreiber von seinem
Schreibtisch und hielt ihn hoch. »Stellen Sie sich einen Flugkörper
dieser Größe vor, gefüllt mit einem hochwirksamen Sprengstoff! Aber
wir statten diese Dinger auch mit einer Art Gehirn aus. Unsere
MRX-230 kann Ziele selbständig verfolgen. Sie orientiert sich mit
Hilfe eines Satelliten-Navigationssystems, so wie Sie es aus dem
Auto kennen. Keine feindliche Aufklärung kann so einer Waffe etwas
anhaben. Wir arbeiten noch daran, die Zielsicherheit zu verbessern.
Das einzige Problem, das wir bis jetzt noch nicht befriedigend
gelöst haben, ist die Reichweite.«
»Wie groß ist sie?«
»Bei Flugkörpern dieser Größe bislang nur wenige Kilometer.
Für eine militärische Nutzung schweben uns natürlich erheblich
größere Reichweiten vor.«
»Wir brauchen genaue technische Daten.«
Gärtner wirkte plötzlich reserviert.
»Tut mir leid.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Was soll das heißen?«
»Die technischen Einzelheiten unterliegen strengster
Geheimhaltung. Wer garantiert uns, dass diese Daten nicht an die
Konkurrenz gelangen?«
»Ich garantiere Ihnen jedenfalls erhebliche Schwierigkeiten,
wenn Sie unsere Ermittlungen behindern.«
»Davon kann doch keine Rede sein!«
Jetzt schaltete sich Roy ein.
»Herr Gärtner, Sie scheinen den Ernst der Lage noch nicht
begriffen zu haben. Der Fall, dass Lonberg-Waffen in falsche Hände
geraten, ist bereits eingetreten ...«
»… und Sie sollten mindestens so sehr wie wir daran
interessiert sein, dass wir den Tätern und ihren Hintermännern
schnell auf die Spur kommen«, ergänzte ich.
Wilhelm Gärtner fuhr sich mit einer hektisch wirkenden Geste
über das Gesicht.
»Ich muss mich da im Vorstand erst absichern.«
Ich sah ihn an.
»Dann beeilen Sie sich bitte damit!«
7
Der Wind pfiff über die Dünen. Die Villa lag sehr abgelegen
von Büsum. Wie eine Festung war sie von allen Seiten durch hohe
Stacheldrahtzäune gesichert. Bewaffnete mit mannscharfen
Dobermännern patrouillierten auf und ab. Draußen auf dem Wasser zog
ein Motorboot seine Kreise. Ernesto, der jüngere Bruder des
ermordeten Mario Savoca ging nach dem Anschlag in der
Saarlandstraße auf Nummer sicher.
Ernesto war 27 - nach Meinung vieler in der Organisation
vielleicht zu jung, um die Geschäfte zu übernehmen. Andererseits
hatten das auch viele behauptet, als sein Bruder Mario vor zwei
Jahren die Macht übernommen hatte.
Ernesto erinnerte sich noch genau an den Tag.
Sein Vater war kurz zuvor mit seinem Ferrari von einer
abschüssigen Straße südlich von Hannover abgedrängt worden. Der
Täter war nie ermittelt worden. Mehr als ein paar Lackspuren eines
fremden Wagens hatten die Behörden nicht an Spuren zur Verfügung
gehabt.
Für Ernesto hatte damals festgestanden, dass es sich um einen
Mord gehandelt hatte. Begangen im Auftrag von Lee Jiang und den
Triaden, die auch in Hamburg ihr Unwesen trieben. Ungefähr 70 000
Chinesen lebten in Deutschland. Das war die kriminelle Basis der
Triaden. Die allermeisten dieser Chinesen waren allerdings Opfer
und keine Täter. Ihnen wurden zum Beispiel Schutzgelder abgepresst.
Im Grunde handelten sie genauso wie die italienische
‘Ndrangheta - ihrer Konkurrenz.
Beide Gruppen agierten in ganz Europa.
Kurz zuvor hatte es Meinungsverschiedenheiten wegen ein paar
Clubs gegeben, deren Kontrolle für beide Seiten zur Geldwäsche
dienen sollte. Ernestos Vater hatte nicht nachgeben wollen - und
dafür bezahlen müssen.
Wie hatte Ernesto seinen Bruder Mario innerlich verflucht, als
dieser sich dazu entschlossen hatte, sich mit den Chinesen an einen
Tisch zu setzen.
Inzwischen hatten sich nämlich neue Konflikte abgezeichnet,
weil beide Gruppen versuchten, den Waffenhandel zu
kontrollieren.
Du hast immer nur an die Euros gedacht, ging es Ernesto
grimmig durch den Kopf, während er durch die Terrassentür
hinaustrat. Für ein gutes Geschäft hättest du jeden von uns
verkauft, Mario!
Er trat hinaus ins Freie.
Eine hübsche, zierlich gebaute Frau und dunklem Haar stand
dort. Sie blickte nachdenklich hinaus auf das Meer. Sie trug ein
schwarzes Kostüm zum Zeichen der Trauer.
»Isabella«, sprach Ernesto sie an.
Er hatte die Witwe seines Bruders zu sich genommen. In ihrem
Haus in Harburg würde sie jetzt wohl kaum Ruhe finden. Und das war
es, was sie vor allen Dingen brauchte.
Ruhe - und Sicherheit.
Isabella drehte sich herum. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Seitdem sie durch Beamte der Polizei vom Tod ihres Mannes erfahren
hatte, verfiel sie phasenweise in einen schockähnlichen
Zustand.
Ernesto trat an sie heran, fasste sie bei den Schultern.
»Wie geht es dir, Isabella?«
»Du wirst dich an den Chinesen rächen, nicht wahr?«, flüsterte
sie. »Ernesto, du musst es mir versprechen!«
Er zögerte, nickte dann.
»Ja«, flüsterte er.
Für Isabella stand fest, dass die Chinesen hinter dem Anschlag
standen. Es war ihr zu einer Art fixen Idee geworden. Auch der
Einwand, dass Lee Jiang schließlich selbst dabei ums Leben gekommen
war, rührte sie nicht. Und vielleicht hatte sie sogar recht.
Was, wenn jemand aus Lee Jiangs Organisation zwei Fliegen mit
einer Klappe hatte schlagen wollen? Sich von einem missliebigen
Chef zu befreien und gleichzeitig die Konkurrenz zu
schwächen?
»Du brauchst jetzt viel Ruhe«, sagte Ernesto sanft. »Mach dir
keine Sorgen ...«
»Du wirst sie alle umbringen, nicht wahr, Ernesto?«
Das hübsche, fein geschnittene Gesicht der jungen Frau verzog
sich zu einer Maske des Hasses.
»Ja«, versprach Ernesto, um sie zu beruhigen. Er nahm sie in
den Arm, sie legte den Kopf an seine Schulter. Er erinnerte sich
daran, dass er Isabella ebenso begehrt hatte wie sein Bruder. Aber
sie hatte Mario vorgezogen. Doch von der Anziehungskraft, die sie
auf ihn ausgeübt hatte, war kaum noch etwas übrig geblieben. Auf
lange Sicht musste er ein Sanatorium für sie suchen.
Ein breitschultriger Mann mit dunklem Schnauzbart trat durch
die Terrassentür ins Freie. Er trug ein Walkie-Talkie in der
Rechten. Links drückte sich ein Revolver durch das Jackett
hindurch.
»Es ist alles bereit für den Test, Herr Savoca«, erklärte
er.
»Okay, Roman. Ich hoffe, dass wir nur einen brauchen.
Schließlich sind die MRX-230-Geschosse nicht gerade billig.«
»Aber wir müssen wissen, wie man damit umgeht, Chef.«
»Ja, ich weiß ...«
Roman blickte sich um, rief etwas auf Italienisch ins Innere
des Hauses. Ein Mann, der ebenso breitschultrig war wie er, trat
ins Freie. Er hatte graue Haare, die so kurz geschnitten waren,
dass man dadurch die Kopfhaut sehen konnte.
Der Graue hielt einen Koffer in der Hand. Er stellte ihn auf
den runden Tisch mitten auf der Terrasse, öffnete ihn. Vorsichtig
hob er einen Hochleistungslaptop heraus. Dann eine Pistole.
»Für unseren Test benutzen wir eine Pistole, die mit
Luftenergie arbeitet und eigentlich dafür gedacht ist,
Betäubungspfeile gegen Elefanten abzuschießen«, erläuterte Roman.
»Ich habe etwas an ihr herumfeilen müssen. Im Prinzip kann man aber
auch jedes andere Abschusssystem benutzen, das die hoch
empfindliche Elektronik des Geschosses nicht zerstört.«
Unterdessen fuhr der Graue das Laptop hoch. Roman holte eines
der kugelschreibergroßen MRX-230-Geschosse aus einer Innentasche
des Koffers. Über ein dünnes Kabel mit entsprechenden Adaptern
stellte er eine Verbindung zwischen Laptop und Geschoss her.
»Es war nicht ganz leicht, sich in die Software
hineinzuarbeiten«, gestand der Graue. »Etwas komplizierter als ein
Navigationssystem für Autos ist es schon ...«
Dann hatte er die MRX-230 programmiert.
Er löste den Adapter von dem Geschoss und steckte in den Lauf
der Luftpistole.
Roman meldete sich zu Wort. Er deutete dabei mit der
ausgestreckten Hand in Richtung Meer. »Sehen Sie den alten Opel,
den wir dort abgestellt haben?«
Ernesto nickte.
»Ja.«
Der Graue hob die Pistole, richtete sie in die Luft.
»Zielen ist überflüssig«, meinte er. »Das Geschoss braucht nur
die entsprechende Anschubenergie. Den Rest besorgt das Ding
selbst!«
Er feuerte.
Das Geschoss zischte senkrecht in den Himmel, flog dann in
einem Bogen wieder abwärts. Dicht über dem Boden schnellte es
dahin, passte die Flugbahn den Unebenheiten an. Nach ein paar
Augenblicken war es nicht mehr zu sehen. Es war einfach zu
klein.
Der Graue blickte auf die Rolex an seinem Handgelenk.
Sekundenlang warteten die Männer.
Dasselbe galt für Marios Witwe, die wie gebannt dorthin
starrte, wo das Geschoss verschwunden war.
Dann hörte sie die Detonation.
Der Opel explodierte. Die MRX-230 hatte ihr Ziel
gefunden.
Auf Ernestos Gesicht erschien ein Lächeln.
»Perfekt«, murmelte er.
»Ich denke, auf einen Test der größeren Prototypen MRX-231 und
MRX-232 können wir verzichten«, meinte Roman, »zumal wir sie mit
Granatwerfern abfeuern müssten. Ansonsten unterscheiden sie sich
nur in der Reichweite und der Sprengstoffmenge, die damit ins Ziel
gebracht werden kann.«
Isabella erwachte jetzt aus ihrer Erstarrung.
»Du wirst diese Hunde damit ausradieren, ja?«
8
Es war später Nachmittag, als wir Dr. Alex Fernows Haus in
Volksdorf erreichten.
Ein schmucker Bungalow mit Flachdach, umgeben von einem
penibel gepflegten Garten. Am Straßenrand parkten eine Reihe von
Fahrzeugen. Schließlich fand ich eine Lücke, die groß genug für den
Sportwagen war.
Wir stiegen aus.
Die traurige Pflicht, Frau Fernow vom Tod ihres Mannes zu
unterrichten, hatten uns die Kollegen bereits abgenommen.
Wir gingen über einen gepflasterten Weg zur Haustür. Der Rasen
war englisch kurz. Exakt auf einer Länge. Die Blumenbeete bildeten
geometrische Formen. Mir fiel ein weggeworfener Zigarettenstummel
zwischen den Grashalmen auf.
Roy war als Erster an der Tür. Er klingelte. Eine
Mittvierzigerin mit brünettem, kinnlangen Haar öffnete uns.
»Frau Fernow?«, fragte ich.
»Ja?«
»Ich bin Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen und dies ist
mein Kollege Roy Müller. Wir müssen Ihnen im Zusammenhang mit dem
Tod Ihres Mannes ein paar Fragen stellen ...«
Sie sah uns misstrauisch an.
Roy reagierte und streckte ihr den Kriminalpolizeiausweis
entgegen. Ich folgte seinem Beispiel.
Ihre Verblüffung blieb.
»Sie ... Sie beide sind auch von der Kriminalpolizei?«
»Was heißt hier auch?«, fragte ich.
»Es sind schon zwei Kollegen von Ihnen hier. Sie durchsuchen
gerade die Sachen meines Mannes.«
»Vielleicht Beamte der Polizei«, vermutete Roy.
Aber Frau Fernow schüttelte den Kopf.
»Die Ausweise sahen genau so aus wie Ihre!«
Roy und ich wechselten einen kurzen Blick. Beinahe
gleichzeitig griffen wir zu unseren Dienstwaffen.
»Diese ,Kollegen‘ sind vermutlich falsch, Frau Fernow«,
erklärte ich der Witwe in gedämpftem Tonfall. »Wo sind die
angeblichen Kollegen?«
»In Alex' Arbeitszimmer.« Sie deutete mit dem Arm. »Es ist auf
der anderen Seite ... Den Flur entlang, dann links!«
»Gibt es Nachbarn, zu denen Sie gehen können?«
»Ja! Nebenan.«
»Dann bringen Sie sich dorthin in Sicherheit! Schnell!«
Sie nickte, bedachte mich noch mit einem letzten zweifelnden
Blick und lief dann los. Einmal drehte sie sich noch um, bevor sie
das Nachbargrundstück erreichte.
Während ich mich bereits in das Innere des Bungalows
vortastete, verständigte Roy per Handy unser Präsidium. Er forderte
Verstärkung an.
Mit der SIG Sauer P226 in der Rechten ging ich den Flur
entlang. Die Stimmen unserer angeblichen Kollegen waren jetzt leise
zu hören.
Eine Tür am Ende des Flurs öffnete sich.
Ich sah einen Mann.
Er musste bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Jedenfalls
hielt er eine Pistole in der Faust.
»Hände hoch, Kriminalpolizei!«, rief ich, riss dabei die SIG
hoch.
Mein Gegner feuerte sofort. Der Schuss ging knapp über mich
hinweg. Die Kugel fuhr in die Wand, kratzte die Tapete auf.
Ich schoss nur Sekundenbruchteile später.
Mein Gegenüber schrie auf. Das Geschoss traf ihn an der
Schulter und riss ihn zurück.
Er stolperte zurück in das Zimmer, aus dem er gekommen war.
Eine Scheibe klirrte. Offenbar machte sich der Komplize des
falschen Kriminalkommissars davon.
Ich setzte in geduckter Haltung nach, stürmte in das
Arbeitszimmer hinein.
Der Mann, den ich getroffen hatte, lag am Boden. Er wand sich,
presste eine Hand gegen die Schulter. Rot rann es ihm zwischen den
Fingern hindurch. Mit verzerrtem Gesicht starrte er mich an, riss
die Waffe herum. Ich kickte sie ihm mit einem Tritt aus der Hand,
Roy stürzte herein.
Der Lauf seiner SIG zeigte auf den Oberkörper des falschen
Kriminalkommissars.
Ich wandte den Blick, duckte mich.
Der Komplize war durch das Fenster gesprungen, befand sich
jetzt im Garten und feuerte zweimal kurz hintereinander in unsere
Richtung. Schlecht gezielte Schüsse, die nur dafür sorgten, dass
noch eine weitere Fensterscheibe zu Bruch ging.
Für Sekundenbruchteile sah ich sein Gesicht. Es war kantig,
die Augenbrauen traten sehr kräftig hervor. Die Nase war mal
gebrochen gewesen und am rechten Ohr glitzerte etwas. Ein
Ohrring.
Einen Augenaufschlag später tauchte der Kerl hinter ein
Gebüsch.
Ich pirschte mich an das Fenster heran, durch das der Mann mit
dem Ohrring geflohen war.
Roy blieb in geduckter Haltung bei dem Gefangenen, legte ihm
Handschellen an.
Der Flüchtende kämpfte sich durch die Büsche im Garten,
strebte auf das Nachbargrundstück zu.
Ich sprang auf, nahm Anlauf und kam mit einem Satz durch das
Fenster. Ich rollte mich auf dem Rasen ab, kam einen Augenblick
später wieder auf die Beine und setzte zu einem Spurt an.
Das Grundstück der Fernows wurde durch ziemlich üble
Dornensträucher begrenzt. Ich kämpfte mich vorwärts. Der Kerl mit
dem Ohrring hetzte unterdessen über die Einfahrt des
Nachbargrundstücks.
Ein roter Mercedes stand dort.
Der Flüchtende duckte sich dahinter, tauchte dann einen
Sekundenbruchteil später dahinter hervor und feuerte in meine
Richtung. Dann rannte er weiter.
Ich hetzte hinter ihm her, verlor ihn aus den Augen, als er
hinter einer Hecke verschwand.
Ein Wagen wurde gestartet.
Ich stürzte zur Straße, sah wie ein blauer Ford aus der Reihe
am Straßenrand parkenden Fahrzeuge ausbrach und sich brutal in den
Verkehr einfädelte. Ein Lieferwagen musste abbremsen.
Reifen quietschten.
Ich stellte mich mitten auf die Straße, der blaue Ford
beschleunigte.
Die SIG hielt ich mit beiden Händen umklammert, senkte den
Lauf ein paar Grad und versuchte die Vorderreifen zu treffen.
Vergeblich!
Nur einen Augenblick später war der Wagen schon heran. Der
Kerl mit dem Ohrring fuhr ohne Kompromisse. Im letzten Moment,
bevor mir die Kühlerhaube des Fords den Knockout verpassen konnte,
sprang ich zur Seite. Ich knallte gegen den Kotflügel eines
parkenden Opels. Der blaue Ford schoss indessen an mir
vorbei.
Ich war leicht benommen.
Die Reifen des Fords quietschten schrill, als er um die
nächste Ecke bog. Ich schnellte hoch, kniete mich hin. Ruckartig
zog ich den Lauf der SIG etwas nach oben, zielte und feuerte
dreimal kurz hintereinander.
Einer der Hinterreifen des blauen Ford platzte. Der Wagen
brach zur Seite aus, rutschte mit dem Heck in ein parkendes
Fahrzeug hinein.
Dann blieb er stehen.
Ich setzte in geduckter Haltung zu einem Spurt an, obwohl Kopf
und Schulter höllisch schmerzten.
Der Kerl mit dem Ohrring riss die Wagentür auf, feuerte in
meine Richtung. Einer der Schüsse zischte ganz knapp an meinem
Oberkörper vorbei.
Ich schlug einen Haken, nahm Deckung hinter einem Lieferwagen,
der am Straßenrand parkte.
Als ich aus dieser Deckung wenig später hervorzutauchen
versuchte, schlug mir ein wahrer Geschosshagel entgegen. Mehrere
Schüsse feuerte der Kerl mit dem Ohrring hintereinander ab. Die
Kugeln kratzten am Lack des Lieferwagens, stanzten hier und da
Löcher ins Blech. Eine Scheibe ging zu Bruch.
Als das Feuer verebbte, schnellte ich nach vorn, nahm die SIG
in den Beidhandanschlag und schoss. Ich erwischte den Kerl mit
einer Kugel am Bein. Er schrie auf, humpelte ein paar Meter in
Richtung eines Vorgartens.
»Stehenbleiben! Kriminalpolizei!«, rief ich. »Du hast keine
Chance!«
Der Mann hielt inne, keuchte. Sein Oberschenkel hatte sich rot
gefärbt. Er wusste, dass er jetzt nicht mehr entkommen
konnte.
Der Lauf meiner SIG zeigte in seine Richtung.
Mein Gegner hielt seine Waffe mit der Rechten umklammert. Eine
einzige Sekunde zu lang hatte er gezögert.
Und jetzt herrschte eine angespannte Patt-Situation mit einem
ganz leichten Vorteil auf meiner Seite. Der Mann mit dem Ohrring
hätte seine Waffe ein paar Grad bewegen müssen, um mich treffen zu
können.
»Die Waffe weg!«, rief ich.
Sekunden krochen dahin.
Ich sah die Anspannung seiner Muskeln, die groß genug waren,
um sich durch die Jackettärmel abzudrücken. Sein Gesicht wurde zu
einer verzerrten Maske.
»Verdammt!«, schrie er. Er ließ die Waffe fallen.
Ich trat näher an ihn heran und nahm seine Pistole an
mich.
»Sie sind verhaftet«, sagte ich, »alles, was Sie von nun an
sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben
deshalb das Recht zu schweigen. Außerdem ...«
»Hören Sie auf, ich brauche einen Arzt!«, stöhnte der Kerl
auf.
»Ist schon unterwegs.«
Ich durchsuchte ihn und förderte dabei seinen
Kriminalpolizeiausweis zutage. Er war ausgestellt auf den Namen
Bert Landhof.
Ich suchte nach Anzeichen für eine Fälschung und fand zu
meinem Erstaunen nichts. Der Ausweis sah echt aus. Das
eingeschweißte Lichtbild sah dem Gesicht meines Gegenübers bei
oberflächlicher Betrachtung recht ähnlich. Offenbar hatte der Kerl
sein Aussehen nach dem Foto gestylt, um den Ausweis benutzen zu
können.
»Woher hast du das Ding?«, fragte ich.
»Ich sage keinen Ton ohne Anwalt«, knurrte er.
9
Frau Fernow war ziemlich konsterniert, als sie uns eine halbe
Stunde später in ihrem Wohnzimmer gegenüber saß.
Unsere Kollegen waren längst eingetroffen. Frank Folder, einer
unserer Erkennungsdienstler, nahm Alex Fernows Arbeitszimmer unter
die Lupe und suchte es nach Spuren ab.
Die beiden Männer, die Roy und ich überwältigt hatten,
befanden sich in ärztlicher Behandlung. Am nächsten Morgen würden
Kollegen von uns sie vernehmen können, aber es war fraglich, ob
etwas dabei herauskam. Sie hatten beide lautstark angekündigt,
keinerlei Aussage zu machen.
»Diese Ausweise ... Mein Gott, die sahen so überzeugend aus«,
brachte Frau Fernow heraus. »Ich habe nicht eine Sekunde daran
gezweifelt, wirklich Kollegen von Ihnen vor mir zu haben.«
»Das ist nur zu verständlich«, erklärte ich.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, was die beiden unter den Sachen
Ihres Mannes gesucht haben könnten?«
Frau Fernow schüttelte den Kopf.
»Nein. Nicht die geringste.«
Ich bemerkte das Glitzern in ihren Augen. Sie rang mit den
Tränen. Der Tod ihres Mannes, das Auftauchen der falschen
Kommissare ... Vielleicht hatten die jüngsten Ereignisse sie
einfach überfordert.
»Sie haben mit Ihrem Mann nie über die Arbeit gesprochen?«,
wunderte sich Roy.
Frau Fernow schüttelte den Kopf.
»Nein, nie«, murmelte sie. Ihre Gedanken waren meilenweit
entfernt. Sie starrte ins Leere. »Ich wusste nur, dass die Sachen,
an denen er arbeitete, alle streng geheim waren. Schließlich
handelte es sich um hochentwickelte Militärtechnik.«
»Gab es Kollegen, mit denen er sich besonders gut verstand?
Welche, die ihn vielleicht auch privat kannten?«
»Nein, das würde ich nicht sagen. Dr. Erik Domwehr war ein
paar Mal bei uns zu Hause, ansonsten hielt mein Mann Beruf und
Privatleben streng auseinander. Er war, glaube ich, auch nicht so
sehr der kumpelhafte Typ, der schnell mit jemandem warm wird. Die
wenigen Freunde, die er hatte, kamen alle nicht aus der Branche. In
den letzten Jahren hatte er auch noch Kontakt zu ihnen, weil sie
fast alle aus der Umgebung von Bremen stammten. Dort haben wir
gewohnt, bis Alex den Posten eines Entwicklungschefs bei Lonberg
Electronics bekam.«
»Was ist mit Dr. Bernd Westerhoff?«, unterbrach Roy sie.
»Er erwähnte den Namen mal«, erinnerte sich Frau Fernow. »Ein
sehr ehrgeiziger Mann, Alex hat ihn sehr geschätzt.«
»Können Sie sich vorstellen, weshalb er Ihren Mann umbringen
wollte?«
»Westerhoff?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein ... Aber wie ich
Ihnen schon sagte, er hatte privat kaum Kontakt zu seinen
Kollegen.«
In diesem Moment betrat Frank Folder den Raum.
»Uwe, ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.«
Ich nickte in Richtung von Frau Fernow. »Sie entschuldigen
mich ...«
Roy blieb bei ihr, während ich mit dem Kollegen Frank Folder
das Arbeitszimmer betrat, das die beiden falschen
Kriminalkommissare auf den Kopf gestellt hatten.
Frank deutete auf die Rechnung einer Mobilfunkfirma, die er
auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Das war in der Post von heute.
Du kannst den Wisch ruhig anfassen, Uwe. Es sind keine Spuren
daran.«
Ich sah mir die Liste der Gespräche an. Die meisten waren nur
sehr kurz, unter einer Minute. Dafür wiederholten sich einige
Nummern auffällig oft.
Frank Folder deutete mit der Hand.
»Ich habe mit dem Hauptquartier gesprochen und die drei
häufigsten Nummern abfragen lassen..«
»Und?«, fragte ich.
»Spitzenreiter ist Dr. Erik Domwehr.« Frank zeigte auf die
entsprechende Nummer. In der Liste waren auch die Zeiten
verzeichnet, zu denen die Gespräche stattgefunden hatten.
»Die beiden müssen sehr Wichtiges miteinander zu besprechen
gehabt haben«, schloss ich. »Drei der Gespräche wurden nach
Mitternacht geführt.«
»Eine andere häufig angerufene Nummer gehört einem gewissen
Kordan ...«
»Tim Kordan, dem Geschäftsführer von 'Schlemmertempel'?«,
entfuhr es mir erstaunt. »Der kam mir schon bei der ersten
Vernehmung dubios vor.«
»Vielleicht lohnt es sich, wenn ihr ihn euch noch einmal
vorknöpft.«
»Ja.«
»Und da ist noch etwas!« Frank Folder zeigte mir eine
Broschüre. »Hast du schon mal was von den sogenannten WHITE
CRUSADERS, den ,weißen Kreuzfahrern‘, gehört, Uwe?«
»Eine radikale Organisation, die glaubt, dass alles Übel in
Deutschland durch die Nicht-Weißen Einwanderer verursacht wird!
Rassistische Wirrköpfe, die von der angeblichen Überlegenheit der
weißen Rasse faseln ...«
»Die Broschüre war hinter den Schreibtisch gerutscht. Laut
Impressum ist sie zwei Monate alt.«
»Tatsache ist, dass man ihn als Entwicklungschef bei Lonberg
sofort gefeuert hätte, wenn er bei den CRUSADERS wirklich Mitglied
gewesen wäre. Er wäre dann ein Sicherheitsrisiko gewesen.«
Frank zuckte die Achseln.
»Möglich, dass ihm diese Broschüre zufällig zugesandt wurde
oder er sie irgendwo zugesteckt bekommen hat.«
Mein Blick fiel auf ein Schwarzweiß-Foto an der Wand. Es
zeigte einen jungen Mann mit fein geschnittenem Gesicht und einem
sympathischen Lächeln. Frank erriet meine Frage.
»Fernow hat einen Sohn«, erklärte er. »Er heißt Jan Fernow.
Ich habe hier Rechnungen über ziemlich hohe Beträge gefunden, die
Fernow in den letzten Jahren an eine neurologische Spezialklinik
gezahlt hat. Außerdem hatte Fernow wohl einen Prozess gegen die
Krankenversicherung seines Sohnes geführt...«
»Heißt das, er hatte finanzielle Schwierigkeiten?«
»Er muss immense Schulden aufgehäuft haben, Uwe«, war Frank
überzeugt. »Genau kann ich das nicht überblicken, aber wenn ich die
Beträge überschlage und mit seinen Einkünften vergleiche ...«
»Ich dachte, als Entwicklungschef bei Lonberg bekommt man ein
Spitzengehalt!«
»Für Fernow hat das offenbar nicht gereicht.«
Ich kehrte in das Wohnzimmer zurück. Roy hatte seine Befragung
von Frau Fernow gerade beendet. Sie hatten sich beide bereits aus
den Sesseln erhoben.
Frau Fernow musterte mich.
»Ich konnte Ihrem Kollegen leider nicht sehr helfen. Wenn Sie
jetzt keine weiteren Fragen mehr an mich haben ...«
»Es tut mir leid, aber da wäre noch etwas. Wissen Sie, ob Ihr
Mann Kontakt zu einer Organisation namens WHITE CRUSADERS
hatte?«
Ihr Gesicht verhärtete sich.
»Was soll das? Stehen ich und mein Mann jetzt vielleicht auf
der Anklagebank? Sie durchforschen unser Leben, ohne Rücksicht auf
...« Sie stockte, sprach nicht weiter.
»Wir suchen nur nach Ansatzpunkten, um den Mörder Ihres Mannes
zu überführen«, gab ich zu bedenken.
»Ihre Kollegen wirkten dabei auf mich aber um einiges
kompetenter!«
Entweder hatte meine Frage einen wunden Punkt berührt oder
Frau Fernow war jetzt einfach am Ende ihrer Kräfte.
Roy warf mir einen Blick zu. Er schüttelte den Kopf.
»Sie haben einen Sohn«, sagte ich an Frau Fernow
gewandt.
Sie blickte ruckartig auf.
»Jan?« Ihr Gesicht bekam einen milden Ausdruck. »Jan ist sehr
krank. Er würde gar nicht begreifen, was vorgefallen ist. Kommen
Sie ja nicht auf den Gedanken, ihn befragen zu wollen!« Sie
schluckte. Ihre Stimme klang belegt, während sie weitersprach. »Ein
Verrückter hat ihn mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen.
Zwei Jahre ist das her. Jan erlitt eine Kopfverletzung und liegt in
einem Zustand, den die Ärzte Wachkoma nennen. Wollen Sie noch mehr
wissen?«
»Sie und Ihr Mann haben Schulden?«
»Gerichte und Ärzte sind teuer, Herr Jörgensen. Aber wir waren
zu allem entschlossen, um unseren Sohn aus seinem Zustand zu
befreien ...«
10
Eine Viertelstunde später saßen Roy und ich wieder in unserem
Sportwagen. Die Befragung von Frau Fernow war insgesamt nicht sehr
ergiebig gewesen.
»Fest steht, dass Fernows finanzielle Verhältnisse desolat
waren«, sagte ich.
Roy hob die Augenbrauen.
»Du willst darauf hinaus, dass er erpressbar war?«
»Ja. Er war ein ideales Opfer dafür.«
Roy nickte.
»Nehmen wir an, jemand aus der Unterwelt oder ein
ausländischer Geheimdienst hat Fernow unter Druck gesetzt,
irgendwie dafür zu sorgen, dass diesen Leuten Prototypen der
MRX-230 zugespielt werden ...«
»… dann könnte Kordan als Mittelsmann zum Savoca-Clan fungiert
haben. Daher die zahllosen Telefonkontakte zwischen Kordan und
Fernow.«
Roy schüttelte den Kopf.
»Das ergibt alles noch keinen Sinn. Schließlich wird Mario
Savoca sich kaum mit seinen eigenen MRX-230-Geschossen umgebracht
haben.«
»Womit wir wieder bei unserer Ausgangstheorie wären, Roy, dass
es nämlich entweder bei den Chinesen oder bei den Kalabriern eine
Art Palastrevolte gegeben hat.«
»Wie auch immer. Dieser Kordan ist uns noch ein paar Auskünfte
schuldig.«
»Wahrscheinlich wird er uns erzählen, dass Alex Fernow achtmal
die Woche einen Tisch im Restaurant 'Schlemmertempel' bestellt
hat.«
Wir suchten Kordans Adresse auf. Der Geschäftsführer des
'Schlemmertempel' residierte in einem efeubewachsenen Haus in Groß
Borstel. Früher war der Stadtteil eine Künstlerkolonie gewesen,
jetzt stellte es eher eine Wohngegend für Besserverdienende dar.
Der freie Blick auf die Grünanlagen hatte seinen Preis. Kordan
bewohnte das Penthouse.
Als er uns in einem modern eingerichteten Wohnzimmer empfing,
war er nicht allein. Eine junge Frau in knappem T-Shirt und eng
anliegender Jeans war bei ihm. Die blondrote Mähne fiel ihr bis
weit über die Schultern. Eine Beretta trug sie in einem
Schulterholster.
Kordan bedachte uns mit einem spöttischen Blick.
»Sie können es nicht lassen, was, Herr Jörgensen? Es muss
Ihnen Spaß machen, unbescholtenen Bürgern etwas am Zeug zu
flicken.«
»Wir haben einfach nur ein paar Fragen«, erwiderte ich.
Roy wandte sich an die junge Frau.
»Wer sind Sie bitte?«
»Laura Rossner«, sagte sie mit rauchiger Stimme.
»Meine Leibwächterin«, ergänzte Kordan.
»Haben Sie so etwas denn neuerdings nötig?«, fragte ich.
»Die Welt ist vom Verbrechen verseucht, Herr Jörgensen. Das
sollten Sie doch am besten wissen.« Er grinste schief, gab seiner
Leibwächterin einen Klaps auf den Po. »Geh für 'ne Weile vor die
Tür, Laura!« Laura sah ihn etwas verwundert an. »Na, mach schon!«,
zischte ihr Chef sie an.
Sie nahm ihre Handtasche und ihre Jacke und verließ
schulterzuckend den Raum.
»Ich weiß nicht, ob das die richtige Leibwächterin für Sie
ist, wenn Sie ihr gegenüber schon Geheimnisse haben müssen«,
stichelte Roy.
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Herr Jörgensen«, knurrte
er.
Ich kam zur Sache.
»Haben Sie vom Tod eines gewissen Alex Fernow gehört?«
Er zuckte die Schultern. »Möglich.«
»Der Entwicklungschef von Lonberg Electronics fiel einem
Attentat zum Opfer.«
»Was hat das mit der Explosion im 'Schlemmertempel' zu
tun?«
»Vielleicht mehr, als Sie uns glauben machen wollen ...«
Ich wartete seine Reaktion ab. Er wirkte nervös, griff nach
einem der Champagnergläser, die auf dem niedrigen Glastisch standen
und trank es aus.
»Dr. Fernow war ein häufiger Gast im 'Schlemmertempel'«,
erklärte er dann.
»Haben Sie deswegen so häufig mit ihm telefoniert?«
»Was heißt hier häufig? Meinen Sie, ich habe das
gezählt?«
»Jetzt sagen Sie bloß, dass es üblich ist, Tische nach
Mitternacht zu bestellen, zu einer Zeit, da der 'Schlemmertempel'
überhaupt nicht mehr geöffnet war.«