Das Bilderbuch meiner Jugend - Hermann Sudermann - E-Book

Das Bilderbuch meiner Jugend E-Book

Hermann Sudermann

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Beschreibung

Dieser autobiographische Roman beleuchtet die Kindheit und Jugend des Schriftstellers und die Schönheit seiner ostpreußischen Heimat entlang der Memel.

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Das Bilderbuch meiner Jugend

Hermann Sudermann

Inhalt:

Hermann Sudermann – Biografie und Bibliografie

Das Bilderbuch meiner Jugend

Zwischen den Wäldern

Auf eigener Scholle

Neues Werden

Bei der guten Tante in Elbing

Was der Sommer sonst noch brachte

Ein stiller Wahnsinn

Lausebengel

Die Apotheke

Weibliches, Allzuweibliches

Die Abschiedsrede

Die Jubelhalle

Wie ich wieder ein freier Mann wurde

Die Eroberung Berlins

Der verbummelte Student

Das Nachtlager auf der Diele

Das Haus des Dichters

In Glanz und Wonne

Die Rückkehr ins Spartanische

Gang durch die Dämmerung

Die Rettung

Hermann Sudermann – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 30. Sept. 1857 zu Matzicken (Kreis Heydekrug) in Ostpreußen, verstorben am 21. November 1928 in Berlin. Aus einer alten holländischen Mennonitenfamilie stammend, absolvierte das Gymnasium in Tilsit und studierte 1875–79 an den Universitäten Königsberg und Berlin Geschichte, Literatur und moderne Philologie. Er entschloß sich unter manchen innern und äußern Bedrängnissen, sich der Literatur zu widmen, war eine Zeitlang in der Redaktion eines kleinen Volksblattes beschäftigt, zu andrer Zeit Hauslehrer beim Dichter Hans Hopfen. In diesem ersten Jahrzehnt seiner literarischen Tätigkeit schrieb S. eine große Zahl von Novellen, die nicht beachtet, und Dramen, die nicht gespielt wurden. Erst mit dem außerordentlichen Erfolg seines bürgerlichen Schauspiels »Ehre« (1888), womit er sich der naturalistischen Richtung anschloß, ohne ihre äußersten Konsequenzen zu ziehen, änderte sich seine literarische Stellung so sehr zu seinem Vorteile, daß er nun in die erste Reihe der zeitgenössischen Dichter vorrückte. Zunächst förderte dieser Erfolg die Verbreitung seiner Erzählungen und Romane: »Frau Sorge« (Berl. 1888), »Der Katzensteg« (das. 1889), »Im Zwielicht«, zwanglose Geschichten (das. 1890), »Jolanthes Hochzeit«, Novelle (das. 1893), »Es war« (das. 1894), die bisher in vielen Auflagen erschienen sind. Trotz seiner großen Erfolge als Erzähler verlegte S. das Schwergewicht seiner dichterischen Arbeit in die dramatische Produktion, und er schrieb das Trauerspiel »Sodoms Ende« (1890), ferner die Schauspiele: »Heimat« (1893), »Die Schmetterlingsschlacht« (1894), »Das Glück im Winkel« (1895), die drei Einakter »Teja«, »Fritzchen« und »Das ewig Männliche« (vereint u. d. T.: »Morituri«, 1896), »Johannes« (1898), »Die drei Reiherfedern« (1899), »Johannisfeuer« (1900), »Es lebe das Leben« (1902), das Lustspiel »Sturmgeselle Sokrates« (1903), »Stein unter Steinen« (1905), »Das Blumenboot« (1905), die vier Einakter: »Rosen« (1907). Auch diese Werke haben hohe Auflagen erlebt und sind über die meisten deutschen, zum Teil auch über ausländische Bühnen gegangen; sie zeichnen sich durch sehr gewandte Technik aus, greifen auch interessante Probleme auf; aber S. weiß zu diesen nicht entschieden Stellung zu nehmen, er erzeugt nur Augenblickswirkungen, erschaut das Leben nicht in seiner Tiefe mit den Augen des echten Dichters und verletzt oft das feinere ästhetische Gefühl durch Darstellungen ungesunder Erotik. Vgl. Brandes, Menschen und Werke (3. Aufl., Frankf. 1900); Litzmann, Das deutsche Drama (4. Aufl., Hamb. 1897); Grotthuß, Probleme und Charakterköpfe (4. Aufl., Stuttg. 1904); Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels, Bd. 4 (5. Aufl., Oldenb. 1907); S. Friedmann, Das deutsche Drama des 19. Jahrhunderts in seinen Hauptvertretern, Bd. 2 (Leipz. 1903); W. Kawerau, Hermann S. (2. Aufl., das. 1899); Landsberg, Hermann S. (Berl. 1901 u. ö.); H. Schoen, H. S., poète dramatique et romancier (Par. 1905); Axelrod, Hermann S., eine Studie (Stuttg. 1907).

Das Bilderbuch meiner Jugend, H. Sudermann

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849637330

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

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Das Bilderbuch meiner Jugend

Zwischen den Wäldern

Der Vorderwald und der Hinterwald und dazwischen ein Gutshof, tief eingebettet in grünes Geheimnis.

Auf diesem Gutshof kam ich zur Welt. Doch nicht etwa im Herrenhause. So hoch verstiegen sich meines Lebens Sterne nicht. Gleich links am Torweg lag eine Brauerei – kein Fabrikpalast mit Mälzereitürmen und Dampfmaschinenbetrieb, mit kupferner Phantastik und eisstarrenden Wölbungen – o nein, ein dürftiger Feldsteinbau, durch nichts für seinen Beruf gebildet als vielleicht eine hölzerne Lukenreihe, durch die an manchen Tagen, in Dampfwolken gekleidet, ein Würzgeruch in die Weite zog.

Nach vorne hin angebaut waren zwei Stuben. Die Vorder- und die Hinterstube. Und in ebendieser Hinterstube kam ich zur Welt. In ihr verdröselte ich die Tage des ersten Traumes.

Und dann waren vor der Tür drei Birkenbäume. Es mögen ihrer auch vier gewesen sein oder fünf. Ich darf ruhig schwindeln, denn die Bäume sind lange weg, und niemand kann mich Lügen strafen. Meine Mutter natürlich ausgenommen. Aber die ist siebenundneunzig und erinnert sich vielleicht der Zahl auch nicht mehr.

Zwischen diesen Bäumen gab es Rasenbänke. Warum, weiß ich nicht. Zum Sitzen dienten sie keineswegs, denn da waren auch noch, von meiner Mutter Hand gezimmert, Holzbänke und Tische davor, um einkehrenden Ausflüglern, die sich eines Labetrunkes bedürftig fühlten, willkommenen Ruheplatz zu bieten.

Sie kamen zwar nie, diese Ausflügler, aber sie hätten doch kommen können, und eine Konzession für das Gastwirtschaftsgewerbe war auch nicht da, aber »der Mensch hofft«, sagte meine Mutter, und das sagt sie auch heute noch, während die Franzosen als Herren des Memellandes vor ihren Fenstern spazierengehen.

Zwischen jenen Rasenbänken lag mein erstes Reich. Nach vorne hin begrenzt durch den großen Weg, den ich beileibe nicht betreten durfte, denn auf ihm fuhren die bösen Leiterwagen, von deren Rädern man zermalmt werden konnte, ehe man es ahnte. Zur linken Seite begrenzt durch ein tiefliegendes Bachgerinsel, das natürlich nicht minder gefährlich war, zumal ein krauses Gewirr verwilderter Himbeerbüsche es tückisch verbarg.

Und jenseits des Baches begann der herrschaftliche Garten, die erste Sehnsucht, das früheste Wunder meines Lebens. Denn keine Herrlichkeit der Erde ließ sich denken, die dort nicht zu finden war. Nicht bloß die Äpfel, auch die Äpfel-kuchen wuchsen darin wild, und was man an Blumen mit nach Hause tragen konnte, wenn man von Mama zur nachbarlichen Kaffeevisite mitgenommen war, sah man durch Monate nicht in der blauen Vase auf dem Sofatische prunken. – Da war auch die Geißblattlaube und die Sonnenuhr, von der ich in »Frau Sorge« erzählt habe. Und eine Balkontreppe war da. Von deren Höhe schaute man hernieder wie der liebe Gott aus dem Abendrot.

Hatte beim Heimweg die Gittertür sich hinter uns zugetan, dann war der Garten für lange Zeiten ein versunkener Garten, in dessen unbetretbaren Gebieten nur die Träume sich heimisch fühlen durften. Er wurde kahl und schneite ein und taute auf und grünte wieder, und immer blieb er das gleiche Zauberland.

Inzwischen nahm die Eroberung der übrigen Erde ihren Anfang. Sie beschränkte sich fürs erste auf die Gegenden, die jenseits des Torwegs bis zum Waldrande endlos sich erstreckten. Da gab es Entdeckungen und Erlebnisse in immer sich erneuernder Fülle, haushohe Pilze mit flammenroten Dächern, Königskerzen und Schierlingsstauden, die bis zum Himmel wuchsen, zwei Ameisenhaufen, so groß wie der Eiskeller, der im Walddunkel verborgen schlief und der nur an der Hand des Vaters besucht werden durfte.

Diese Hand, knorrig, klammernd, von der Arbeit zu Eisen gehärtet, diese allmächtige Führerin, vor der die Welt sich neigte, vor der die Nähe schwand und die Ferne sich entschleierte, sie ist das erste und älteste, was ich von meinem Vater weiß.

Anfangs kam sie ganz von oben herab, und wenn man sie gefaßt hielt, mußte man den Arm nicht unbeträchtlich in die Höhe recken. Allgemach aber senkte sie sich tiefer, das Armgelenk tat nicht mehr weh, und man vermochte auszuschreiten, ohne daß man sich gezerrt und gezogen fühlte.

Zu dieser Hand gehörte ein Mann, der unermeßlich groß und schon immer sehr alt war. Und zu dem Mann gehörte ein Rasiermesser, eine blaue Schürze und ein Thermometer. Die blaue Schürze durfte man ihm bringen, wenn er zur Arbeit ging. Das Thermometer aber zu berühren, war verboten, denn wenn man es fallen ließ und es in Stücke brach, dann konnte nicht mehr gebraut werden, und dann mußten wir alle verhungern. Das Rasiermesser gar – an dem schnitt man sich zu Tode, so gräßlich scharf war es. Und darum lag es auch meistens unter Verschluß.

Mein Vater war wohl schon damals der stille Mann, als der er durch meine Jugend geht, denn er stammte von stillen Leuten, in deren Herzen und Häusern das Lachen verpönt war. Aber der Gottesanteil an Freude, der jedem Menschenkinde beschert ist, läßt sich ja nicht zum Schweigen bringen, zumal, wenn das Glück selber dazu die Musik macht. Und so mag wohl in jenen Jahren auch durch mein Elternhaus manch Lachen erklungen sein, und manch zweistimmiger Abendgesang mag mich und die Brüder in Schlaf gewiegt haben. – Zwei Brüder kamen nach mir in Abständen von anderthalb Jahren und dann – sieben Jahre nach meiner Geburt – ein dritter, alle drei zum Leiden, zwei zu frühem Tode bestimmt.

Aus jener Dämmerzeit weiß ich nichts mehr von ihnen. Mir ist im Gegenteil, als ob ich – auch in späteren Jahren – immer allein gewesen sei.

Nur daß der zweite an Krämpfen litt und daß meine Mutter oft auf Knien für ihn betete, wenn sein Körperchen blau und steif vor ihr auf dem Boden lag, ist mir dunkel in der Erinnerung. Und daß ich ihn eines Tages mit besonderer Inbrunst liebte, weil er ein schön bunt kariertes Röckchen bekommen hatte, mag als Zeugnis für die angeborene Äußerlichkeit meines Wesens unverschwiegen bleiben.

Meine Mutter war eine geschäftige kleine Frau, vom Morgen bis in die Nacht hinein auf die Wohlfahrt der Ihrigen und den Glanz des Hauses bedacht. Sie wusch und schneiderte, sie polierte und zimmerte, sie putzte und plättete immerzu. Das Lichtchen an ihrem Bette brannte bis zur Morgenhelle, und wenn mein Vater nachts aufstehen mußte, weil Maische abzulassen oder nach der Gärung zu sehen war, dann war sie es, die ihn wach rief.

Meine früheste Erinnerung an sie: Abenddämmerung – ich zwischen den Gittern meines Kinderbettes – sie singend über mich geneigt. Und plötzlich kommt eine Angst über mich, eine wahnsinnige, atemraubende Angst, sie könne eines Tages nicht mehr da sein, und ich müsse allein in die Welt, die große Welt jenseits des Waldes, unbehütet, unbetreut, den bösen Menschen zum Opfer.

Nun, diese Angst wenigstens hat sich als grundlos erwiesen, denn ich bin vierundsechzig und habe sie noch.

Die Welt aber jenseits des Waldes ist mir, bis ich ihn zum letzten Male durchfuhr, immer gefahrvoll geblieben.

Mit dem Walde selber, den Riesen darin und den Gespenstern, selbst mit den tollen Hunden, die zwischen den Stämmen dauernd ihr Wesen trieben, fand man sich schließlich ab; die Riesen tötete man, die Gespenster taten einem nichts, und den tollen Hunden, die bekanntlich geradeaus laufen müssen, ging man behutsam aus dem Wege – aber was dann kam!

Da war die große Landstraße, die nach der Grenze führte, und auf ihr Zigeuner und Landstreicher, die darauf brannten, kleine Jungen, die, um Kaffeebohnen oder Farinzucker zu holen, nach Werden zum Krämer geschickt waren, ihrer Barschaft zu berauben oder gar nach Rußland zu verschleppen, jenem wilden Lande, in dem man sich rettungslos verlor. Auf ihr gab es ferner betrunkene Litauer, welche vom Wagen her lachend mit »Ausschneiden« drohten – was das »Ausschneiden« war, wußte niemand zu sagen, aber es mußte etwas sehr Schreckliches sein, da sie bisweilen die Messer dabei zogen – oder gar alte Bettelweiber, die im Graben saßen und einem die Schnapsflasche hinstreckten. Und andere Schrecknisse mehr hatte die große Welt.

Ein Glück war, daß manchmal ein freundlicher Mann des Wegs kam und fragte: »Mein Jungchen, wem gehörst du?« Und wenn dann die Antwort lautete: »Ich bin Sudermanns Hermann aus Matziken«, dann wurde er nur noch freundlicher und nahm einen sogar bei der Hand, bis der Werdener Kramladen dalag – geweihter Boden, Kants Eltern haben darin gewohnt – oder bis auf dem Rückwege der links liegende Wald seine dunklen Tore dem befreit Erschauernden auftat.

Vom fünften Jahre ab wurde gelernt. Die Fibel bereitete wenig Schwierigkeiten, und bald waren die Lesestückchen erreicht, die sich den Probesätzen angliederten. Das Schreiben erwies sich als weniger mühelos, und die Schiefertafel krachte unter dem zersplitternden Griffel.

Aber Mama ermahnte: »Sei fleißig, mein Jungchen, wenn du gut lesen und schreiben kannst, bekommst du zum Geburtstag den ›Kinderfreund‹.«

Und dieser »Kinderfreund« mußte etwas sehr Herrliches sein, denn sonst hätte Mama nicht immer von neuem auf ihn verwiesen. Die Verkörperung aller irdischen Lust und aller irdischen Weisheit mußte er sein, da sein Besitz so harte Prüfungen verlangte.

Und immer wieder erging die Frage: »Mamachen, bin ich soweit? Bin ich soweit?«

O nein, noch war ich lange nicht soweit, ja es konnte sich ereignen, daß selbst der sechste Geburtstag ihn nicht bescherte. Oh, diese Drohung kostete viele heimliche Tränen.

Da geschah es an einem rotdunstigen Abend, gegen Mitte September, daß meine Mutter, vom Markte aus Heydekrug heimkehrend, mit vieldeutigem Lächeln ein Buch vor mich hinlegte, das nicht viel dünner schien als die Bibel und das augenscheinlich für mich bestimmt war.

Hochklopfenden Herzens sah ich sie an.

Sie küßte mich und sagte: »Das ist er.«

In dieser Nacht habe ich nicht viel geschlafen, und da der Morgen immer noch auf sich warten ließ, so wagte ich es, leise aufzustehen, den Leuchter vom Tisch zu holen und das Talglicht – Mama goß sie selber, und nur selten verirrte sich eine vornehme Stearinkerze ins Haus – auf dem Kleiderstuhle in Brand zu setzen.

Niemals hat einem Backfisch ein verbotener Roman größere Erregung gebracht. Schon die erste Geschichte war von hinreißender Bedeutsamkeit und extra für mich zugeschnitten. Sie handelte von dem braven Karl, der sechs Jahre alt war und der an jedem Abend beim Zubettegehen Jäckchen und Höschen sorgsam gefaltet neben sich niederlegte und diese Ordnung mit kreuzweise darübergelagerten Strümpfen kunstreich vollendete.

Scheu besah ich mir den liederlichen Kleiderhaufen neben mir, in dem die Strümpfe gänzlich fehlten und den der draufgestellte Messingleuchter schamlos bekrönte.

Wie himmelweit war ich noch von den Tugenden des braven Karl entfernt! Und nur ein Gedanke tröstete mich in meiner Zerknirschung: Karl war schon sechs Jahre gewesen, mir aber fehlten noch volle vierzehn Tage zu diesem achtungeinflößenden Alter. Wenn ich also die gegebene Frist benutzte, um mich von Grund aus zu bessern, so mußte es mir gelingen, an meinem sechsten Geburtstage in eine neue tugendhafte Epoche meines Lebens zu treten, in der das Beispiel des Knaben Karl mir nicht mehr fürchterlich werden konnte.

Resultat: meine Strümpfe liegen noch heute am Boden, wenn sie sich nicht zufällig in den umgekrempelten Beinlingen unauffindbar verloren haben.

Und so ist es mir mein Lebtag mit jeder Tugend ergangen.

Zu derselben Zeit stieg mir die Morgenröte der Lyrik auf. Wohl standen im »Kinderfreund« Gedichte, doch besinne ich mich nicht, daß sie irgendeinen Eindruck auf mich gemacht hätten. Und auch das Liederheft, das meine Mutter sich angelegt und lieber gleich selber vollgedichtet hatte, blieb mir verschlossen, aber –

– da gab es einen lahmen Schneider Held, der wohnte am Ausgange des Waldes – gleich wenn man die nach Rußland führende Landstraße betrat – in einer braunen, verfallenen Lehmkate, und seine Tochter Jette war Kindermädchen bei uns. So konnte es nicht fehlen, daß ich bisweilen an die Hand genommen wurde, wenn Jette ihre Eltern besuchte.

Es roch sehr muffig in dem niedrigen Raume, in dem zwischen Webstuhl und Himmelbett nur ein schmaler Gang zum Wohnen übrigblieb. Dieser Gang führte auf ein erblindetes Fenster zu. Auf dem Fensterbrett stand ein Strickkorb. Und in dem Strickkorb lag zu unterst ein Heft, kaum größer als eine Männerfaust, in jenem Löschpapier, aus dem die alten Chroniken bestehen, die so schön in moderne Novellen umzufälschen sind. Dies war das »Arienheft«, das ich nicht müde wurde, mir vorlesen zu lassen, denn ich selbst verstand Geschriebenes noch nicht zu entziffern. Aber die in den Text hineingezeichneten Bilder, die verstand ich gleich. – Da war der »tapfere Lagienko« mit der Polenmütze, und den Mann, dessen schier dreißig Jahre alter Mantel manchen Sturm erlebt hatte, sehe ich noch heute lebendig vor mir. Nie im Leben haben Verse tiefer auf mich gewirkt. Schicksale, verderbenschwanger und unendliches Mitleid herausfordernd, witterten daraus empor. Bilder von Schlachtgetümmel und Sterbenot, von Schanzkörben und Flaggenspiel erfüllten die in Ofenglut brütende Schneiderstube, in der weinerlich näselnd ein Lied das andere ablöste. Und was übrigblieb, war das flammenhaft aufsteigende Verlangen, einst ein großer Held zu werden und dem bedrängten Vaterlande ein Retter zu sein.

Heut' könnte das Vaterland den großen Retter brauchen. Aber die Heldenhaftigkeit ist mir inzwischen vergangen. Es wird sich wohl ein anderer darum bemühen müssen.

Zu derselben Zeit war es auch, daß ich Gott zum ersten Male erlebte. Natürlich sprach ich schon lange in Mutters gefaltete Hände hinein mein Abendgebet, auch sonst hatte ich mancherlei vom lieben Gott erfahren, doch ohne mir etwas Rechtes dabei denken zu können. Über Papas Macht ging nichts, und wie der Mann beschaffen war, der immer da war und den man doch nie zu sehen bekam, ließ sich nicht vorstellen. Furcht hatte ich nicht vor ihm, aber neugierig war ich.

Eines Sonnabendabends – es war ein Sonnabend, das weiß ich ganz genau – da saß ich am Fenster über einem Bande »Gartenlaube« und besah Bilder. (Von diesen Bänden werde ich noch später zu reden haben.) Da blieb mein Blick an einer Zeichnung – wenn ich nicht irre, von Ludwig Richter – hängen, ein Engelsgärtchen darstellend, und in mir erwachte eine nicht zu bändigende Sehnsucht, mit unter den spielenden Engeln zu sein. Und da sah ich zum Himmel hinauf, über den das Abendrot einen lichtdurchwirkten Vorhang breitete. Der Vorhang tat sich auseinander, und auf den Strahlen, die bis zur Erde herabreichten, kletterten leibhaftig die kleinen Engelchen in ganzen Reihen lustig hernieder. Daß sie in Wirklichkeit kämen, mit mir zu spielen, das glaubte ich nicht mehr, dazu war ich schon zu groß, aber daß ich sie schauen durfte, war Wonne genug. Und plötzlich streckte sich eine Hand aus dem Himmelsfenster, nicht drohend, nur mahnend – und dann war es auch keine Hand mehr, sondern war ein Auge, ein Gottesauge, und paßte auf, daß den Engelchen unten kein Leid geschah.

Und nun wußte ich mit einem Male, wie es zugehen konnte, daß Gott da war und nicht da war und daß ich immer unter seiner Obhut stand. Und in mich zog ein tiefer Friede, wie wenn ich auf der Mutter Schoße saß und an ihrer Brust einschlafen durfte.

An jenem Abend bin ich fromm geworden und blieb es lange.

Inzwischen erweiterte ich die Grenzen meines eigentlichen Reiches. Hinter den Scheunen des Gutshofes lag ein modriger Sumpf mit kohlschwarzen Gewässern, aus denen erlenbestandene Inseln geheimnisvoll emporwuchsen. Ein schilfiges Pflanzendickicht umwaldete ihre abschüssigen Ränder, und grellfarbene Blumen sprenkelten sich darein.

Mich dort aufzuhalten, war verboen, denn wenn so ein kleiner Kerl den Ufersaum nicht vorsichtig abtastete, ehe er ihn betrat, so war ein Unglück nicht fern.

Und eines Tages lag ich richtig in dem schwarzen Wasser, dessen morastiger Grund mich unrettbar verschlungen hätte, wären nicht Knechte, die in der Nähe arbeiteten, zur Hilfe herbeigeeilt. Und als sie mich herausgezogen hatten und ich jämmerlich weinend, mit klebrigem Schlamm behängt, wieder auf dem Trocknen stand, was taten sie, um mich zu strafen? Sie setzten mich in einen Futtertrog und stießen ihn und mich mit langen Stangen ins Wasser zurück.

Da schwamm ich nun, und als ich aus der ersten grausamen Furcht wieder zu mir gekommen war, da gefiel mir das Spiel nicht übel, ja so sehr verfehlte die Strafe ihren Zweck, daß ich an einem der nächsten Tage den Trog, der zum Tränken des Viehzeugs dort immer stand, mit meinen Armen selber ins Wasser schob und die gefahrvolle Fahrt auf eigene Faust unternahm. Ich landete an der nächsten Insel, und mich von einem Erlenstamme abstoßend kam ich auch wieder zurück. So geschah es mehrere Male, aber an einem schönen Tage kam ich nicht wieder zurück, sondern saß im Schilfe fest, das mich liebend umschlang und nicht wieder hergeben wollte. Und diesmal waren keine rettenden Knechte in der Nähe.

Die folgenden Stunden haben mich viel Tränen gekostet und viele Tränen auch meine suchende Mutter, bis abends die Knechte das Vieh zur Tränke führten und mich erlösten.

Von nun an mied ich das heimtückische Gewässer, aber es gab andere genug auf der Welt, die darauf warteten, mein Leben mit Abenteuerlichkeit zu begnaden. So bin ich eine richtige Wasserratte geworden, sonst wäre es wahrhaftig ein Wunder, daß ich hier sitze und schreibe.

Jenseits des Waldes, der bald durchschritten war, erstreckte sich die Heide, in der Ferne von Wäldern umsäumt, überall. Sich auf ihr herumzutreiben, war gleichfalls verboten, denn da gab es kein Merkmal, das Richtung und Rückweg sicherstellte. Und war man einmal ins Laufen gekommen, so lief man kreuz und quer und immer verkehrt.

Aber die Heide hatte es mir angetan. Die Rätsel der Weite lockten mit tausend Armen. Und zu erleben gab es dort mehr als irgendwo in der Welt. Nirgends wölbte sich der hohe Himmel glockenhafter über der Erde, nirgends trieben die Wolken an ihm ein krauseres Spiel. Nirgends sandte die Sonne wohligere Gluten, nirgends ging sie in einem bunteren Bette zur Nachtruh'.

Im Heidekraut liegen und in den Himmel starren – was konnte es Schöneres geben auf dieser Welt –, wenn die Lerchen aus unsichtbaren Höhen ihr Triumphlied herniederschickten und die Hummeln ringsum den Brummbaß geigten? Wenn die Halme, die rings um die Stirne spielten, zu Palmenstämmen wuchsen und das an ihnen kletternde Getier zu Riesenvögeln und Drachen? Wenn die Lichtstrahlen, die um die Graskanten strichen, ein grün-rot-goldenes Feuerwerk entzündeten und aus jedem Sandkorn eine Flamme brach? –

– Und war man der Ruhe satt, dann gab es des Wanderns kein Ende. Bis zu jenem Birkengebüsch nur – und dann weiter noch bis zu dem Fichtenhügel. Dort mußte irgend etwas ganz Merkwürdiges sein, ein Krähennest oder ein Fuchsloch. Und immer noch weiter, bis die ferne Waldmauer drohend heranwuchs und man nicht mehr wußte: war es der Heimatswald oder ein anderer? Und irgendwo dahinter lag Rußland, das Wunderland, wo die Kosaken zu Hause sind und die Judenkringel und die Himbeerbonbons, aber von wo man auch nie mehr nach Hause kam. Dann war mit einem Male das Verirrtsein da, und Mama saß zu Hause und weinte. Schließlich habe ich doch immer noch heimgefunden, aber manchmal gab es hinterher Kopfweh und Fieber.

Von allen Rätseln, die mich umgaben, habe ich das dunkelste, das am heißesten umworbene, noch gar nicht genannt.

Das war der Hinterwald.

Wenn man den Gutshof durchquerte, ohne Furcht vor den Angriffen des Truthahns und dem Kettengerassel der Hunde, dann kam man an den hinteren Torweg, den zu durchschreiten noch strenger verboten war, denn dahinter hauste der wütende Bulle, der kleine Knaben einfach aufs Horn nahm. Und gesetzten Falles, daß man ihm glücklich entrann, dann fiel man den Hengsten zum Opfer, die mit den Hufen ausschlugen, oder dem großen Eber, der seine eigenen Kinder fraß und auch fremde sicherlich nicht verschonte. Und Zäune waren dort, die man durchkriechen mußte, und Wassergräben, viel zu breit, als daß man heil hinüberkam.

Und jenseits all dieser Gefahren erhob sich in blauender Ferne der Hinterwald, der Zauberwald, der Wald der Schlangen und der Wölfe, aus dem noch nie ein neugieriger Knabe lebendig hervorgekommen war.

Ihn nur von nahe zu sehen, an seinem Rande schüchtern entlangzustreifen, wurde allmählich die heimliche Sehnsucht des Einschlafens, der Traum des Halbwachseins, wurde der Wunsch aller Wünsche.

Und eines Julinachmittags, als die Eltern fortgefahren waren, nachdem sie mir wie immer das Gelübde abgenommen hatten, dem Schutze der heimischen Rasenbänke nicht zu entweichen, ergab ich mich ihm.

Oh, nicht wie Hans, der das Fürchten lernen wollte, zog ich aus, denn, um die Wahrheit zu sagen, ich fürchtete mich sehr. Schon vor dem Truthahn, obwohl er noch nie einen Menschen gebissen hatte, schon vor den Hunden, obwohl sie doch fest an den Ketten lagen. Und dann gar kam der Bulle. O Gott, der Bulle! Dicht am Wege stand er und glupte mich an. Aber ich hätte eher den Tod erlitten, als daß ich umgekehrt wäre. In einem Bogen der Ehrerbietung umkreiste ich ihn, und er hielt es nicht für der Mühe wert, mich zu spießen.

Dann folgte der Roßgarten, der glatt durchquert werden mußte. Doch die Hengste beachteten mich nicht, nur die Jährlinge kamen und beschnupperten mich, und daß die einem kleinen Jungen nichts tun, das wußte ich lange. Der Eber war überhaupt nicht zu sehen, und über die Wassergräben hatte man Bohlen gelegt, um mir den Weg zu erleichtern.

So stand ich plötzlich vor dem Hinterwalde. Nun hätte ich umkehren müssen, denn mein Ziel war ja erreicht. Aber der Hinterwald sah weit, weit schöner aus als andere Wälder, und der Wind, der in den Laubkronen wühlte, rief mir zu: Wer ein tüchtiger Kerl werden will, der fürchtet sich nicht.

Und während der Herzschlag mir zum Halse stieg, betrat ich, Schritt auf Schritt abmessend, den Rasenweg, der in die dunkeln Höhlungen führte.

Kein Wolf ließ sich sehen, keine Schlange ringelte sich mir entgegen. Nur Mäuse glitten raschelnd durch dürres Kraut.

Und dann wurde die Stille so tief, daß sie zu reden schien. Nur der Hall der eigenen Schritte hinderte, daß man sie hörte. Am Wege blühten fremde Blumen, und fremdes Buschwerk säumte meinen Weg.

Das freilich war ein anderer Wald, als sonst wohl Wälder sind. Silberbehaarte, grünmoosige Säulen, wie ich sie nie gesehen hatte, hoben sich weit und breit, die steil ansteigenden Äste zu undurchdringlicher Wirrnis verschlingend.

Ich weiß nicht, ob es vielleicht gar Buchen waren, die dort wuchsen, oder ob mein Erinnern das Erlebte mit späteren Bildern durcheinanderwirrt – ich kann es auch nie mehr nachprüfen, denn bis auf wenige kümmerliche Unterholzreste ist seit langem alles niedergeschlagen – aber ein Wunderwald muß es gewesen sein, wie er bei uns dort oben nirgendwo zu finden ist. Sonst hätte der Eindruck des Niegeschauten, des Heiligen und Hallenhaften nicht so in mir haben festwurzeln können, sonst würde der Schauer der Andacht, der mich stets überrieselte, wenn ich jenes Tages gedachte, nicht auch noch in diesem Augenblicke durch meine Glieder gehen.

Und rings am Boden sproßte es wie von lauter jungen Palmen – das war das Farnkraut, das ich auch noch nie gesehen hatte. – Und dann wieder kam ein Blumenfeld, das schimmerte bald wie gelber, bald wie violetter Samt, je nachdem der Wind sich hob oder senkte. Das ist eine Waldweizenlichtung gewesen, wie ich erst sechs Jahre später erfuhr, als ich ein großer Botaniker wurde.

Und mit einem Male war ein Fluß da. Wohl kein anderer als der Fluß, der auch im Vorderwald regierte und doch himmelweit von ihm verschieden. So gleiten die geheimnisvollen Ströme, in deren Wassern die Fee ihr Goldhaar wäscht.

Drüben aber erst war eine Art von Burgwall aufgebaut. Da ragte, von der Nachmittagssonne grell beschienen, eine Mauer von Schnee – Marmor, würde ich gesagt haben, wenn ich von Marmor schon etwas gewußt hätte – und darauf standen drei Reihen von Märchenbäumen mit blütenweißem Gezweig, auf dem wie Paradiesvögel goldgrüne Blättchen sich wiegten. Es waren nur junge Birken, Birken wie die, die mir vorm Auge gestanden hatten, seitdem es fürs Himmelslicht aufgetan worden war. Und doch hatte ich noch nie so Wunderbares geschaut.

Oft bin ich später den sandigen Steilhang drüben entlanggegangen, zwischen den Baumreihen mitten durch, die heute noch nicht höher sind als vor einem halben Jahrhundert. Und immer habe ich die Empfindung gehabt: Du schreitest auf den Mauern von Walhall.

Von fremden Menschen habe ich in den ersten sieben Jahren meines Lebens nur wenige kennengelernt. – Ein Hopfenreisender aus Nürnberg hat mir einmal eine Spielzeugschachtel mitgebracht. Dies Geschenk machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich den freundlichen Geber heute noch vor mir sehe.

Der Besitzer des Gutes wechselte, als ich etwa vier Jahre alt war. Mit der Familie des Fortziehenden, der Westphal hieß, hat meine Mutter eine innige Freundschaft unterhalten. Eine Liebesgeschichte hat sich darin abgespielt, von der sie noch heute mit verschleiernden Andeutungen leise zu erzählen weiß. Sein Nachfolger hat uns niemals nahegestanden. Dessen Kinder blieben mir fremd, auch als wir uns später in Heydekrug fast gegenüber wohnten.

In diesem Heydekrug, dem Kreisort und Marktflecken, der zusammen mit drei oder vier sich daran schließenden, langgestreckten Dörfern ein durchaus städtisch geartetes Gemeinwesen bildet, gab es eine »Ressource«, die gesellige Vereinigung der zwischen den Honoratioren und dem Handwerkerstande liegenden Mittelschicht. Sie feierte im Rosciusschen Saale drei- oder viermal während des Winters ein Tanzfest, dem eine Theateraufführung voranging.

Was das war: »Theater«? Meine Mutter mochte es mir noch so oft erklären, ich wurde daraus nicht klug. Nur daß es etwas unfaßbar Schönes und Herrliches sein mußte, begriff ich bald. Die Geschichten, die sich irgendeinmal zugetragen hatten, die Märchen, die ich mir heimlich weiterspann, zu Gegenwart, zu Wirklichkeit geworden, Träume, die nicht mehr Träume waren, erfüllte Sehnsucht, sichtbar gewordene Gottheit, berghohe Marzipantorten und ewige Weihnacht – das war Theater.

Die Vorbereitungen zu einer solchen Theaterfahrt erfüllten das Haus stets mit dem gleichen festlichen Wirrwarr. Die Lichter vor dem Spiegel wurden angezündet, Papa mußte ein schneeweißes Plätthemde haben, die Krinoline paßte schon wieder nicht, das Blondenhäubchen sollte umgenäht werden, weil die Bänder zu tief in den Nacken fielen, die Schildpattkämme waren verlorengegangen, und endlich, endlich – wurde der Longschal entfaltet.

Habt ihr eine Ahnung, was der Longschal war? Der Inbegriff allen irdischen Glanzes, die Musterkarte jeder möglichen Farbenpracht, Schönheit, Würde, Bezauberung, das alles war der Longschal, der von einem Feste zum anderen sorglich eingepackt in seiner seidenpapiernen Hülle lag.

Die Brüder waren zu Bette gebracht, ich aber saß starr vor lauter Feierlichkeit in meinem Winkelchen und dachte: »Jetzt fahren sie bald und sehen – Theater.«

Und wenn ich den Gutenachtkuß bekommen und versprochen hatte, recht brav zu sein, wenn draußen das Schlittengeläute verhallte und die Lichter vor dem Spiegel verloschen, wenn Jette kam und bettelte: »Geh schlafen, mein Jungchen«, dann fing mein Fest an, dann machte ich mir im Kinderwinkel ein Nest zurecht und ließ mir »Theater« vorspielen. Bis die Augen zufielen und keine Kraft mehr übrig war, den knöpfenden und ziehenden Händen Jettes zu widerstehen.

Am nächsten Morgen aber fand sich ein Stück Marzipantorte an meinem Bett. Das war Mamas Mitbringe – das war der erste Gruß, den meine Zukunft mir sandte. –

Und es kam ein Tag, ein Sonntag, da sagte Papa zu Mama: »Ich denke, er ist groß genug, wir können ihn in die Kirche mitnehmen.«

Da machte mein Herz einen Freudensprung, denn das große weiße Haus mit dem spitzen Turme, das in Werden geheimnisvoll hinter den dunkeln Lärchenbäumen lag, war schon immer ein Ziel meiner Wünsche gewesen. – Den guten Anzug hatte ich an, ich brauchte also nur die Sonntagsmütze aufzusetzen, und dann fuhren wir los.

Ich hatte noch nie einen »Saal« gesehen. Dieser ungeheure Raum, der bis zu den Dachsparren reichte und der so lang war, daß der verhangene Tisch mit dem Kreuz und den Lichtern, der am jenseitigen Ende stand, wie Kinderspielzeug erschien, der mußte ein Saal sein. Und so viel Menschen saßen darin, wie ich sie kaum auf dem Wochenmarkt beisammen gesehen hatte.

Von dem Orgelspiel und dem Choral habe ich keine Erinnerung behalten, aber plötzlich geschah etwas, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Ganz fernab, dort, wo alles sehr klein war, zeigte sich in einer Seitentür eine schwarze Puppe, die ging nicht, sondern glitt oder schwebte – das sah ich nicht genau – auf den verhangenen Tisch zu, der viel höher gelegen war als die Bänke, auf denen wir saßen, und stellte sich davor und fing mit dunkler, schöner Stimme zu sprechen und zu singen an.

Mir wurde weh und feierlich zumut, mir war, als spräche der liebe Gott zu mir, und mit einem Male wußte ich: »So ist Theater.«

Auch als sich die Puppe vollends in einen Menschen verwandelt hatte, der einen noch höhergelegenen Balkon bestieg und von ihm herab so eindringlich auf die Zuhörer einredete, daß sie ringsum zu schnauben und zu schluchzen begannen, erlosch die Ahnung nicht: »So und nicht anders muß Theater sein.«

Nur daß es hier nichts zu lachen gab, während Mama doch nach manchem Abend erzählt hatte, daß es wieder sehr lustig gewesen sei, aber sie hatte auch immer hinzugefügt, sie selber freilich liebe die traurigen Stücke mehr.

Und darum entschied ich mich auch für sie.

Auf eigener Scholle

Das Dämmergrau der ersten Jahre fängt sich zu lichten an. Die Erinnerungen werden bewußter und knüpfen sich enger zusammen. Ich sehe einen Burschen von bald sieben Jahren, mit einer Seehundsfelltasche auf dem Rücken, tapfer den weiten Weg durch Wald-und Weideland zur Schule gehen. Die Furcht von früher her war abgetan, ja, es kam vor, daß er, wenn auf dem Heimwege ein Litauer gutmütig Halt machte, um ihn auf seinem Leiterwagen mitzunehmen, rasch hinten aufkletterte und ebenso rasch wieder absprang, um sich seitwärts in den Wald zu schlagen.

Diese Gänge dauerten nicht lange – nur vom August bis zum Oktober, dann wurde die Schule aufgelöst. Wie der freundliche Mann hieß, der den weinenden kleinen Strampel liebevoll zwischen die Knie nahm, habe ich vergessen. Und dann blieb ich zu Hause, bis im November der große Umschwung eintrat, der mich dem einsamen Waldgut entführte und mitten ins große Leben warf.

Mein Vater, der bislang auf dem Gute Pächter gewesen war, hatte durch rastlose Arbeit, durch Sorgen und Sparen so viel hinter sich gebracht, um die Anzahlung für ein eigenes Grundstück beschaffen und darauf eine Brauerei erbauen zu können.

Das Häuschen, in dem ich die ersten Dichterträume geträumt, in dem ich manche Nacht hindurch viele Bogen schönen, weißen Papiers verschrieben habe, in dem ich bis zum dreißigsten Jahre nach mancher wilden Wanderfahrt Zuflucht und Ausruh fand, steht heute neu aufgeputzt, wenn auch halb in die Erde gesunken, und meine alte Mutter wohnt ihm schräg gegenüber. Ich wollte es ankaufen und herrichten lassen, aber da ich es ebenso wie die dahinterliegende und jetzt in ein Wohnhaus verwandelte Brauerei hätte niederreißen und neu aufbauen müssen, und da überdies meine Mutter mir erklärte, sie fühle sich bei ihrem hohen Alter ohne Miteinwohner nicht sicher genug, so ließ ich mein Vorhaben fallen. Aber ich verspüre doch stets einen kleinen Stich im Gewissen, wenn ich bei meinen Besuchen in der Heimat an dem lieben Anwesen vorübergehe, dessen Bild von Jahr zu Jahr meinem Erinnern fremder wird.

Damals war es schneeweiß und blitzblank, und die nun verschwundene Vorlaube, die meiner Mutter unermüdliche Hand selber gezimmert hatte, schimmerte gastlich mit Ruhebänken und Schattengrün.

Der Beginn des neuen Lebens freilich war trübe genug. Jenem Novembertage, an dem wir aus unserem Waldwinkelchen in die ungewisse Fremde zogen, habe ich im zweiten Kapitel von »Frau Sorge« ein paar Zeilen gegönnt. Jawohl, Frau Sorge – die war fortan bei uns zu Hause. Meine Geleitverse sind nicht aus der Luft gegriffen, obwohl mein alter Vater mir böse gewesen ist, als er sie las. »Der Jung' bringt mich um meinen letzten Kredit«, hat er gesagt, »und ganz so schlimm ist es auch nie gewesen, denn für Sattessen habe ich immer gesorgt.«

Es ist wahr, mein lieber Alter, der du nun schon fünfunddreißig Jahre dein hartes Leben ausschläfst, für Sattessen hast du immer gesorgt, und ich möchte dir nun, da ich Überfluß habe, tausendfach wiedergeben, was du an mir getan! Statt dessen mußtest du in Not und Sorge sterben. Zwei Jahre zu früh. –

Und hier möchte ich gleich von meines Vaters Ursprung reden. Er war der Sprößling eines mennonitischen Bauerngeschlechts in der Elbinger Niederung, in der ebenso wie um Marienburg und Danzig herum die ihres Glaubens wegen aus Holland vertriebenen Sektierer sich angesiedelt hatten. Mein Großvater hieß mit Vornamen Daniel, ebenso wie jener geistliche Liederdichter des sechzehnten Jahrhunderts, der in manchen Literaturgeschichten als mein Vorfahr genannt wird. Wie andere Parvenüs sich eine Ahnengalerie anschaffen, so habe ich mir nämlich einen Dichtervorfahren zugelegt, oder vielmehr: ich habe nicht widersprochen, wenn wohlwollende Biographen meiner dichterischen Sendung durch Herleitung von jenem frommen Pedanten Nachdruck zu geben versuchten. Es kann sein, es kann auch nicht sein. Wer will es beweisen? In Wahrheit schließt meine Familienchronik in wenig aristokratischer Weise mit dem genannten Bäuerlein ab, das in einem Winkel des Wickerauer Kirchhofs, zwei Meilen von Elbing, begraben liegen soll.

Warum mein Vater nicht Landmann wurde wie er, sondern, um Brauereidienste zu tun, nach der Stadt zog, ist mir nie klar geworden. Wahrscheinlich war ihm als jüngerem Kinde eines angeheirateten zweiten Mannes die Hoffnung verschlossen, sich jemals ein Eigenes zu erwerben. Von einer regelrechten Lehrzeit habe ich nie etwas gehört. Viel mehr als ein Brauknecht wird er am Beginne seiner Laufbahn nicht gewesen sein. Aber er war begabt und strebsam und las und lernte ohne Maßen, so daß er sich bereits ein Jahrzehnt später eine geachtete Stellung als Braumeister in Liebemühl bei Fischhausen hatte erobern können. Dort hat er meine Mutter kennengelernt, die als Tochter einer Schiffskapitänswitwe gesellschaftlich wohl über ihm stand, wenn sie auch arm war wie eine Kirchenmaus.

Er hat auch – scheu und von seinem Unwert überzeugt – erst viel später um sie geworben und ging zuvor nach Kurland, um sich in gleicher Stellung die Anfänge eines Heiratsgutes zu erwerben. Das muß ihm auch gelungen sein, denn nach etlichen Jahren kehrte er heim, sich seines Glückes zu versichern. Sein Antrag wurde angenommen, und als er nun nach Kurland zurückeilen wollte, den Grund zu einem Hauswesen zu legen, blieb er zwei Meilen vor der russischen Grenze im Schneetreiben stecken. Während er in dem Heydekrüger Gasthause sehnsüchtig auf die Weiterfahrt des Postschlittens wartete, erfuhr er von einem Tischnachbarn, daß unfern des Ortes eine Pachtung angeboten wurde, die für ihn geschaffen schien.

Darum bin ich »zwischen den Wäldern« geboren, darum ist das Memelland, das geliebte und nun verlorene, meine Heimat geworden. Wäre jenes Schneetreiben nicht gewesen, so würde ich heute wohl ein Deutschrusse sein, oder die Letten hätten mich schon erschlagen.

Fürs erste kam ich mit zwei jüngeren Brüdern in die Schule der Frau Pfarrer Hugenberger. Diese stattliche, temperamentvolle Frau, die aus Schrullen und Ekstasen zusammengesetzt war und die später in Not und Einsamkeit verkam, war wegen schlechter Behandlung ihrem Manne davongegangen und hatte zwei Töchter mit sich genommen, die sie nicht minder malträtierte, als sie selbst malträtiert worden sein mag. Beide noch Kinder, frech, rotznasig und zu dummen Streichen allzeit bereit. Sie saßen mit uns zusammen auf der Schulbank und nährten dauernd den Geist des Widerstandes, der sich in geheimnisvollem Getuschel zu verstecken pflegte. Wen sie ins Vertrauen zogen, der stieg zu einer höheren Klasse des Menschentums empor; wer sich ausgeschlossen sah, der sank in Schmach und Schande.

Diese ersten Schuljahre, so wenig ich in ihnen gelernt haben mag, sind auf meine geistige Entwicklung von tiefgreifendem Einfluß gewesen. In ihnen habe ich die Leidenschaftlichkeit kennengelernt, mit der man eine Überzeugung pflegen und vertreten kann. Und so dauerhaft ist dieser Brand geworden, daß auch die Jahre des Alterns ihn nicht haben löschen können.

War ich schon fromm gewesen, so wurde ich es jetzt so sehr, daß keine Inbrunst mir genugtun konnte. Wenn die Frau Pfarrer beim Morgengebete für uns Schüler als die räudigen Schäflein zu Gott dem Herrn um Vergebung flehte, dann wurde die Zerknirschung in mir so arg, daß ich oftmals beschloß, mir das Leben zu nehmen, weil ich seiner unwürdig war. Aber auch die Güte Gottes lehrte sie mich kennen und fachte Jubelstürme in mir an, deren ich nur Herr werden konnte, indem ich mich in der Brauerei auf den obersten Gerstenboden flüchtete, wo ich dann vor einer offenen Luke, die grünende Herrgottswelt tief unter mir, singend und weinend auf den Knien lag. Keine Macht der Welt hätte mich abhalten können, sonntags nach der Kirche zu pilgern, und wenn die Eltern daheim bleiben mußten, dann machte ich Knirps mich allein auf den Weg, der nun von der anderen Seite gemessen wohl auch eine Viertelmeile betrug. Und hatte ich den Pfarrer Hoffheinz, der in seiner Art nicht weniger leidenschaftlich war, auf der Kanzel knien und schluchzen gesehen, dann war es mir damit noch lange nicht genug, dann ging ich erst noch in die katholische Kirche und hörte die Messe. Kam ich dann schwach vor Hunger nach Hause und das Essen stand nicht gleich auf dem Tisch, dann schloß ich mich in dem Giebelzimmer ein, in dem wir Kinder zusammen mit Großmama schliefen, hängte mir eine bunte Bettdecke um und zelebrierte das Hochamt weiter, zu dem, wie ich erfahren hatte, sowieso ein vorheriges Fasten gehörte.

Und noch eine andere inbrünstige Liebe nährte Frau Pfarrer Hugenberger in mir: die Liebe zum Königshause. Die Erinnerung an jene Gefühlswelt ist mir für spätere Zeiten sehr wertvoll geblieben, denn ich habe nun immer gewußt, wie es in Kopf und Herz derjenigen aussieht, die, nach altpreußischem Muster erzogen, den König und das Königtum als den Mittelpunkt alles irdischen Denkens und Fühlens betrachten und in ersterbender Hingabe seinen Befehlen untertan sind. Ich muß gestehen, diese Verquickung von Krone und Altar, von Gottesmacht und Herrschertum ist nicht ohne glückbringende Harmonie, mag sie auch nur für die Armen im Geiste geschaffen sein. Über den Gram der vielgeliebten Königin Luise, die ja bekanntlich infolge der Schmach des Vaterlandes an gebrochenem Herzen starb, habe ich mehr Tränen des Mitleids geweint als über die Schmach des Vaterlandes selber. Und die, ich weiß nicht wieviel Ellen lange Leberwurst, die bei der Krönung des Königs von den Meistern der Fleischerinnung durch die Straßen Königsbergs getragen und dann an die jubelnde Menge verteilt wurde, bildete für mich den Höhepunkt aller menschlichen Freuden.

Freilich – bald kam der Umschwung. Doch davon später.

Im übrigen war es nur wirres Zeug, was Frau Pfarrer uns lehrte, aber in dieser Wirrnis lagen Schätze vergraben. Was sie auch immer vortrug, hatte Phantasie und schuf Phantasie. Die Welt wurde eine Bilderreihe und die Weltgeschichte nicht minder. Ich habe damals Cäsar ermorden sehen, weit besser als später im Deutschen Theater, und als im März 1813 König Friedrich Wilhelm III. in Breslau einritt, habe ich selbst unter den Freiwilligen gestanden und ihm ins Angesicht den Schwur geleistet, für die Rettung Preußens zu sterben. In der Gletscherwelt des Monte Rosa war ich nicht weniger zu Hause als in den Palmenwäldern des Orinoko. In Sibirien habe ich als Verbannter die Aussätzigen gepflegt, und auf den Fidschiinseln habe ich mich im warmen, wellenbespülten Sande gerekelt.

Frau Pfarrer litt häufig an Schnupfen, und um Taschentücher zu sparen, kam sie morgens mit einem Bettlaken ins Schulzimmer, das ihr häufig von einer ihrer Töchter nachgetragen wurde wie eine Kurschleppe. Das breitete sie rings um das Podium aus, so daß sie, wenn sie erst saß, wie von Wolken getragen war, und manchmal schien es, besonders um die Nachmittagsdämmerung, als ob aus diesen Wolken heraus Bilder und Gestalten quollen in unermeßlicher Fülle, so daß man schließlich nicht mehr wußte, wo man war, und beim Schulschluß jäh zum Leben erweckt werden mußte.

Noch eine zweite Bildnerin war mir in jenen Jahren beschert, der ich lebenslangen Dank schulde. Sie hat mir Geist und Herz geweitet, hat die Fülle der inneren Bilder ins Unendliche vermehrt und meinen Überzeugungen endgültige Richtung gegeben.

In der Bodenkammer meines Elternhauses stand ein riesengroßer Kasten, bis zum Rande gefüllt mit mehr oder minder zerlumpten Blättern. Zehn Jahrgänge der »Gartenlaube«, vom Jahre 54 bis 64 reichend. Sie hatten meinem Vater auf seinen Wanderfahrten geistige Wegzehrung geboten und waren dann von ihm ins Eheleben übernommen worden. Die Nummerreihen, die er sich nach Rußland hatte senden lassen, zeichneten sich durch glänzendschwarze Übertünchung aus, die hier und da halbe, ja ganze Seiten bedeckte und eine unermeßliche Neugier schuf zu erfahren, was der russischen Zensur als verbrecherische Irrlehre und geistiger Seuchenstoff erschienen war. Aber kein Kratzen und Schaben, kein Aufweichen und Zerknittern half. So liegen die Blätter noch heute in meiner Mutter Rumpelkammer. Jenes Schutzmittel hat sich dauerhafter erwiesen als der Staat, den es zu schützen bestimmt war.

Doch immerhin blieb noch genug, um meiner durch Frau Pfarrer großgezogenen Königstreue das Lebensmark auszusaugen. Die »Gartenlaube« ist bis zum österreichischen Kriege die eigentliche Trägerin des demokratischen Gedankens, das freiheitliche Gewissen Deutschlands gewesen, und erst später, als die bismärckische Bezauberung einen neuen Glauben an die Sendung des Hohenzollernhauses wachrief, ist sie in dieses Lager übergegangen. Was mir damals in die Hände fiel, atmete noch Groll und Aufruhr. Auf jeder Seite gewitterte der Sturm von 48 nach, und überall stand ungeschrieben das Gelübde baldiger Vergeltung. So bin ich zwischen dem achten und zehnten Jahre vom Schleppenträger altpreußischen Vasallentums zum haarbuschigen Barrikadenkämpfer geworden, und noch als ich mich der Prima näherte, war es das Ziel geheimster Wünsche, für meine Ideen auf dem Schafotte zu sterben. Vor allem aber wuchs eine Stimmung in mir auf, die der Demokratie und ihren Verfechtern das Monopol waschechter Gesinnungstüchtigkeit zuerkannte, während alles, was dem Throne diente, zu den Schuften hinabsank. Das hat mich aber nicht gehindert, daß ich nach 70 dem deutschen Kaisertum inbrünstig ergeben war und der Kyffhäuserlegende dankzitternden Tribut darbrachte. Mit einem trüben Lächeln über all das hinzugleiten, fällt heute nicht schwer. Ihr, die ihr jung seid und nur den sorgenvollen Abend der Kaiserherrlichkeit habt schauen dürfen, ihr ahnt nicht, wie hold jene Torheit war!

Die leicht errungenen Triumphe des Jahres 66 habe ich noch nicht mit vollem Bewußtsein durchgekostet, sonst wären scharfumrissene Erinnerungen an jene Sommerwochen in mir wach geblieben. Marschierende Soldaten, ein paar Extrablätter und die Neuruppiner Bilderbogenchronik sind alles, was in meinem Hirn davon noch übrig ist. Um so lebhafter hat die Düppeler-Schanzen-Legende auf mich eingewirkt, weil sie sich allzeit mit Hilfe einiger Spaten in tobende Wirklichkeit umsetzen ließ.

Aber nicht nur den Sinn für Politik hat jener zerlumpte Blätterhaufen mir beigebracht. Auch die Pforten epischer Dichtung schloß er mir auf. Ihr werdet lachen, wenn ihr die Namen Ruppius und Temme hört, und werdet nicht glauben wollen, daß diese Längstvergangenen imstande waren, unermeßliche Reichtümer über den Werdenden auszuschütten. Mochten sie mir erzählen, was sie wollten, der eine dürftige Kriminalgeschichten aus meiner östlichen Heimat, die ich gar nicht als Heimat erkannte, der andere nüchterne Auswandererschicksale – die heißhungrige Phantasie sog Nahrung aus jedem Gestein und schuf zu dem einen Knabendasein noch Dutzende anderer Leben hinzu, die ich schauend und träumend weiterspann, bis ich nicht wußte, in welches von ihnen recht eigentlich dieser Körper gehörte.

Ähnliches mag jedes phantasiebegabte Kind an sich durchgemacht haben, aber nicht jedem war vergönnt, seine Einbildungskraft so ungehemmt zu entwickeln.

Zu jener Zeit stand's schlimm um meines Vaters Haus. Die Leute wollten sein Braunbier nicht trinken. Es war nicht schlechter als das der anderen Brauereien, aber er ermangelte der Fähigkeit, sich und sein Produkt in Szene zu setzen. Da war sein Konkurrent, Herr Münsterberg aus Werden, schon ein ganz anderer Kerl. Wenn der mit seinen flotten Vatermördern und der prallen, perlengestickten Zigarrentasche von Gasthaus zu Gasthaus fuhr, anpreisend und überredend, dann hätte ich den Wirt sehen mögen, der seinen Leistungen widerstand. Und wenn morgens der Werdener Bierwagen, mit Tonnen bergehoch beladen, auf der Chaussee an uns vorüberfuhr, dann standen wir alle angstvoll hinter der Gardine, und Mama preßte die Hand aufs Herz und ging schweigend nach hinten.

Und dann kam das schwerste aller Jahre – dann kam das Notstandsjahr.

Das war im Sommer 67, da gab es überhaupt keine Sonne mehr. Vom Juni an Tag für Tag nichts wie sickernder, suppender, trommelnder Regen. Das Erdreich weichte auf, der Roggen reifte nicht, die Erntefelder sahen aus wie Lehmtennen, denn alle Halme lagen glatt und braun und feuchtglänzend am Boden. Und das Schlimmste von allem: die Kartoffeln verfaulten. Was man zu Ende August als genießbar dem Boden entzog, hatte Haselnußgröße und war mit Pfropfen durchsetzt, sie gingen querdurch bis ans andere Ende. Erst gegen Mitte September stellte zugleich mit dem Herbstreif blauer Himmel sich ein – aber da war schon alles verloren. Das hieß hungern, und unter Umständen hieß es verhungern.

Wer hätte in solchen Zeiten, in denen jeder Groschen ein Schatz ist, Bier trinken mögen!

Darum wurde auch im Sudermannschen Hause Schmalhans Küchenmeister. Freilich – wenn ich euch heute erzähle, daß die Butter vom Tische verschwand, daß die Fleischtage rar wurden und daß die Semmeln zur Sonntagskost aufstiegen, so macht euch das verflucht wenig Eindruck, denn wir haben Schlimmeres kennengelernt, und die meisten stecken noch dick mitten drin. Aber vergeßt nicht, daß das, was wir heute erleben, unseren Enkeln, falls sie inzwischen nicht eingegangen sind, manche Gänsehaut über den Leib jagen wird. Wer heute Jungmädchen ist, braucht bloß in die Jahre zu kommen, um als Märchentante die Kinder das Gruseln zu lehren, nur daß ihre Märchen einst härteste Wirklichkeit waren.

Und es gab damals auch viele, die waren noch weit ärmer als wir. Im Chausseegraben lagen sie familienweise und konnten vor Schwäche nicht weiter. Die Tür stand tagüber von Bettlern nicht still, und wenn man ihnen das übliche Zweipfennigstück gab, so schimpften sie, denn Kupfer kann man nicht essen. An den Markttagen war es besonders schlimm: dann belagerten sie die Haustür und prügelten sich um den Eintritt, und meine Mutter teilte unser Letztes mit ihnen. Die Kartoffeln, so schorfig, so klein wie sie waren, wurden in Kesseln gekocht und an die Draußenstehenden verteilt, die sie noch siedendheiß und mit den Schalen verschlangen.

In den Hausflur ließen wir sie ungern, denn was von ihnen zurückblieb, machte sich tagelang juckend bemerkbar. Jeden Abend gab's große Jagden in Hemde und Beinkleid, und hätte man damals schon gewußt, wo der Hungertyphus eigentlich herstammt, Mama wäre noch viel ängstlicher gewesen.

Als der harte ostpreußische Winter hereinbrach, wurde das Elend erst recht groß. Wahrhaftig, die eigene Not verschwand hinter der, die sich schlotternd und zähnefletschend tagtäglich rund um uns auftat. Und die Not erst, die sich nicht mehr sehen ließ! – Mama war tapfer wie immer. Mit den anderen Vorsteherinnen des Frauenvereins fuhr sie von Dorf zu Dorf, lindernd und helfend überall, wo Hilfe und Linderung gerade noch als Wunder vom Himmel herabfallen konnten.

So nahte das Weihnachtsfest. Und uns Kindern wurde bedeutet, daß dieses Mal infolge der großen Not an eine Bescherung nicht zu denken war; wir möchten uns zufriedengeben und uns derer erinnern, denen im Leben nie ein Weihnachtsbaum brennt. Das kam uns hart an, und von allen Entbehrungen, die das Notstandsjahr auferlegte, war dies entschieden die härteste. Aber in unserem tiefsten Innern ließ das Gefühl sich nicht zum Schweigen bringen: so schlimm kann es nicht werden, und Mama wird schon Rat schaffen.

Auch meldeten sich gewisse Anzeichen, daß allerhand Vorbereitungen im Schwange waren, die auf Großes und Heimliches hinwiesen. In der Weihnachtswoche konnten wir nicht mehr einschlafen, und wenn Großmama hinter ihrem Bettschirm tiefer atmete, dann schlüpften wir leise zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, um zu erforschen, was unten geschah. In unseren Hemden standen wir frostzitternd im eiskalten Hausflur, bald der eine, bald der andere mit dem rechten Auge vorm Schlüsselloch, dessen Lichtschimmer bewies, daß Mama immer noch auf war. Mochte es zwölf sein oder zwei oder drei, Mama saß vor ihrem Arbeitskasten und nähte. Aber niemals zeigte sich ein Baumbehang oder ein vergoldeter Apfel.

Darum schwand uns bei Tage jegliche Hoffnung, aber in der nächsten Nacht begannen wir das Spiel der Sehnsucht aufs neue.

Der Weihnachtsabend kam heran, und wir durchstöberten sämtliche Winkel, aber nicht die Spur eines Tannenbäumchens ließ sich entdecken, und wenn wir uns Mama an den Hals hängten, blieb sie dabei: »In diesem Jahre gibt's keine Bescherung.«

Wäre nur das weiche und verschämte Lächeln nicht gewesen, mit dem sie sich aus unsrer Umklammerung löste, und da bei uns der Tannenbaum nicht schon am Abend, sondern nach alter Strandsitte erst am Weihnachtsmorgen angezündet wurde, so brauchten wir immer noch nicht zu verzagen.

In dieser Weihnachtsnacht schlossen wir drei kein Auge. Als die Uhr zwölf schlug, tappten wir zum ersten Male hinunter – da saß Mama noch vorm Nähzeug. Um eins zum zweiten Male – da war das Schlüsselloch verhängt.

Hatten wir in den vorigen Nächten Großmama erweckt, und hatte sie uns verraten? Oder waren wir vorher im Hausflur zu laut gewesen?

Wie dem auch sein mochte, Schlimmes konnte die neue Heimlichkeit nicht bedeuten.

Um zwei war noch Licht. Um drei auch noch. Um vier wurde es dunkel. Und um fünf saßen wir fertig angezogen auf unseren Stühlen, um, wenn wirklich die Glocke klang, den großen Augenblick nicht zu versäumen.

Um sechs erwachte Großmama und sagte wie immer: »Ich habe diese Nacht kein Auge zugemacht, so unartig seid ihr gewesen.«

Um sieben Uhr zündete sie Licht an und begann, sich hinter dem Bettschirm anzuziehen. Das tat sie freilich auch sonst um diese Zeit, aber heute war Feiertag – warum heute? Und dann schalt sie: »Kinder, die so böse sind, daß sie ihre alte Großmama nicht schlafen lassen, die wollen auch noch eine Bescherung haben?«

Da war es mit unserer Zuversicht von neuem zu Ende.

Um halb acht brach der erste Morgenstrahl durchs Fenster. Nun war gar nichts mehr zu hoffen, denn bei Tage können die Weihnachtsbäume nicht brennen.

Aber plötzlich – noch heute, da ich dies niederschreibe, macht mein Herz einen Sprung – ging es tieftönig wie eine Kirchenglocke »Bum, bum, bum« durchs ganze Haus.

Und als wir hinunterstürmend die Tür des Wohnzimmers aufrissen, da brannte der Weihnachtsbaum genau so hell, wie er in glücklichen Jahren gebrannt hatte. Und ringsum standen die bunten Teller und lagen die Geschenke in nicht geringerer Fülle, als sie uns sonst beschert worden waren.

Zwar, sah man genauer hin, so fand es sich, daß in dem Stall ein Pferdchen fehlte und daß der Säbelgriff mit einer Drahtschlinge an der Klinge befestigt war – Böswillige hätten sagen können, es seien alte Bekannte –, wir aber staunten und jubelten und hatten nie eine reichere Weihnacht erlebt.

Später, als wir größer waren, hat meine Mutter uns erzählt, wie die Bescherung zustande gekommen war. Sie hat alles in allem nach heutigem Gelde drei Mark fünfundsiebzig gekostet. –

Auch jener böse Notstandswinter ging vorüber, und als das Haff und die Flüsse aufgetaut waren, lagen eines Tages am Heydekrüger Marktplatz zwei große Frachtkähne von einer seltsam bauchigen Form, wie wir sie noch niemals erblickt hatten. Die waren von Stettin übers Meer gekommen und bis zum Rande gefüllt mit Kartoffeln, eigroßen, glattschaligen, goldgelben Kartoffeln, wie sie uns schon fast aus dem Gedächtnis verschwunden waren.

Die Leute standen in Haufen ringsum und besahen sich das Wunder. Der Verteilungsausschuß ging ans Werk, und von nun an wurde es besser.

Von meiner alten Großmutter habe ich noch gar nichts erzählt.

Fast jedes Menschenkind trägt ein Stückchen Poesie mit sich herum, von dem es nichts weiß und die anderen nichts wissen und das in sehr seltenen Fällen Glück, doch meistens Unglück heißt.

Die Witwe eines Schiffskapitäns war sie, das sagte ich schon. Sie hieß Charlotte Raabe und hat ihr Leben in einem Häuschen verbracht, das hold eingebettet in Flieder und Linden am Abhange des Schwalbenberges liegt, von dessen Höhe man weithin über Pillau und das Haff und das Meer hinausschaut. Eine Landmark krönt ihn, ein mächtiger Ziegelbau, der zu jenen Zeiten noch nicht da war.

Als ihre fünf Kinder – drei Mädchen und zwei Knaben – gerade darauf warteten, erzogen zu werden, da geschah es, daß ihr Mann, der auf großer Fahrt nach Indien unterwegs war, mit seinem Schiffe nicht wiederkam. Da stieg sie denn, sobald ihre kleine Schar sie entbehren konnte, zum Schwalbenberg hinan und hielt Ausschau morgens und abends und sommers und winters. Die Leute mochten tausendmal sagen, das Schiff sei verloren und ihr Mann komme nie mehr, sie kehrte sich nicht daran und wartete. Und wenn sie noch lebte, so würde sie auch heute noch warten. Aber ihr Geist verwirrte sich nicht. Im Gegenteil: mir scharfem Blick und harten Händen meisterte sie ihre Not und erzog ihre Kinder streng und in der Furcht des Herrn, bis sie dem Leben gewachsen waren.

Der eine der Knaben ging zur See, der andere kam ins Lehrerseminar, das älteste der Mädchen heiratete einen Maurer, das jüngste einen Beamten, der gar noch adlig war, die mittlere wurde meine Mutter. Und als sie nun allen eine Versorgung geschaffen hatte, da fand sich's, daß für sie selbst keine Bleibe mehr war. Der Ältesten hatte sie ihr Häuschen vermacht, bei der ging es gar ärmlich zu, bei den anderen war es der angeheiratete Teil, der sie nicht mochte, kurz, sie zog umher und wußte nicht, bei wem von den Ihren sie ihr Haupt in Ruhe niederlegen konnte. So landete sie schließlich in meinem Elternhause, wo sie auch gestorben ist. Mein Vater war immer gut zu ihr, aber sie war böse – was wir Rangen so »böse« nannten – und sie weinte hinter ihrem Bettschirm oft halbe Nächte lang. Erzählen konnte sie wundervoll. Sie hat mit ihren eigenen Augen Napoleon gesehen, und vor dem Donner der Schlacht von Friedland hat sie sich sehr gefürchtet und die Ohren voll Watte gestopft. Sie stammte aus gutbürgerlichem Hause – ihre Vorfahren waren Kantoren und Ärzte gewesen, und eine ihrer Jugendfreundinnen, die auch ich noch besucht habe, die »Tante« Ulrike von Yorck, war eine Nichte des großen Generals.

Wenn abends der Wintersturm die Nordwand des Hauses anheulte und die Gardinen vom kalten Zuge sich blähten, dann war ihre Zeit gekommen, dann lauschten wir ängstlich der traurigen Mär von Preußens Unglücksjahren und ahnten nicht, daß wir selber einst größeres Unglück erleben sollten.

Winterszeit – Schlittschuhzeit! Ein großes Fest.

Heute, da ich den Winter hasse und die kurzen Monate der Wärme und des Blühens als ein karges Gnadengeschenk auszukosten bestrebt bin, kann ich mir kaum noch vorstellen, mit welcher Inbrunst wir dem ersten Frost entgegenharrten. Freilich ist meine Heimat mit ihren Strömen und Überschwemmungen, mit ihren langen Kältezeiten und dem kurzlebigen Tauwetter dazwischen, das nur dazu dient, die Eisflächen vom Schnee zu befreien, für den Schlittschuh ein Betätigungsfeld wie kaum ein anderes in Deutschland.

Keine väterliche Strenge, keine mütterliche Sorge war unserer Leidenschaft gewachsen. Hätte man uns eingesperrt, wir wären zur Bodenluke hinausgeklettert. Hätte man uns die Schlittschuhe weggenommen, wir hätten uns welche aus Brettern und Messerklingen selber verfertigt. Und das haben wir gelegentlich mit Gottes Hilfe auch wirklich getan.

Wenn die Kälte unter zwanzig Grad Reaumur hinabsank und ohne erfrorene Finger und Nasenspitzen die Heimkehr unwahrscheinlich schien, dann mußten wir zu Hause bleiben, und das kostete Tränen genug. Aber sonst war uns volle Willkür gegönnt. Nur dem Einbrechen stand man von elterlicher Seite mit ausgesprochener Abneigung gegenüber, und kamen wir mit nassen Kleidern heim, so setzte es Haue.

Nach sehr harter Frostzeit, in der wir, bis zu den Augen vermummelt, gerade nur in die Schule gehen durften, geschah es eines Tages, daß ein linderes Lüftchen wehte: Minus 16 Reaumur, beinah wie im Juli. Da gab es natürlich kein Halten.

Mit meinem Bruder Otto, der anderthalb Jahre jünger war als ich, trieb ich mich auf dem Szieszefluß umher, und das lindere Lüftchen fegte das Eis vor uns blank, als sei es dazu gemietet.

Von Gefahr oder Unsicherheit war naturgemäß nicht die Rede. Nun gibt es jedoch in jedem strömenden Gewässer faule Stellen, die niemals recht zufrieren wollen. Sie sind dem Ortskundigen meistens bekannt, und auch ich wußte mit ihnen Bescheid. Ein Gutes aber mußte der klotzige Frost doch gehabt haben; darum lief ich jeder Vorsicht bar glatt in eine Blänke hinein und kam erst wieder zu mir, als ich im Wasser paddelnd die Kante des festeren Eises umklammert hielt.

Ein wenig mehr Schwung, und ich wäre nie mehr zum Vorschein gekommen. Mein Bruder half mir vollends heraus ... Was nun beginnen? ... Mit nassen Kleidern nach Hause zu kommen, war unmöglich. Noch unlängst hatte es ein Donnerwetter gegeben, und die Wegnahme der Schlittschuhe stand vor der Tür.

In solchen Fällen gibt es nur ein Mittel: man zieht sich aus, hängt die Kleider an einen Baum und läßt sie trocknen. Und so geschah es. Mein Bruder half mir die Schlittschuhe abschnallen. Die Stiefel behielt ich der Sicherheit wegen an, aber Mantel, Jacke und Hosen schaukelten sich alsbald programmäßig am nächsthängenden Aste.

Das Hemde hörte nach wenigen Augenblicken zu triefen auf. Das war schon ein schöner Erfolg – und das lindere Lüftchen wehte mir wollüstig um die klappernden Beine.

Ja, so stand ich nun da und schaute sehnsüchtig dem Prozeß des Trocknens zu. Der ging über Erwarten hurtig vonstatten.

Die Hosen fühlten sich nicht mehr im mindesten feucht an, doch wenn die Beinlinge einander berührten, dann gaben sie ein Geräusch von sich, als ob man Steine gegeneinander reibt.

Das kam uns unheimlich vor.