Das Blau der Tiefseetinte - Mo Kast - E-Book

Das Blau der Tiefseetinte E-Book

Mo Kast

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Beschreibung

Arne Mertens hat sich als Restaurator alter Gemälde einen guten Ruf erarbeitet. Kein Wunder, in der Erhaltung von Kunst liegt seine volle Leidenschaft. Als er den Auftrag bekommt, das Hobbyprojekt einer alten Frau zu restaurieren, sagt er allerdings nur wegen der überaus stattlichen Bezahlung zu. Womit er nicht gerechnet hat, ist sein junger, attraktiver Auftraggeber Klemens von Eichendegg, der das Konzept von persönlichem Freiraum nicht zu verstehen scheint und ihn mit viel zu traurigen Augen ansieht. Klemens von Eichendegg ist wohlhabender Erbe. Er verbringt seine Tage in einer Villa am See. Es gibt nichts, was er sich nicht leisten kann. Sein Leben klingt wie ein wahrgewordener Traum. Doch alles hat seinen Preis und manches kann man nicht mit Geld kaufen. In dieser sanften Liebesgeschichte um zwei sehr unterschiedliche Männer überschattet ein dunkles Familiengeheimnis die aufblühenden Gefühle. Ängste und schmerzliche Erinnerungen müssen überwunden werden, bevor sie zusammenfinden können.

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Kapitel 1 Arne
Kapitel 2 Klemens
Kapitel 3 Arne
Kapitel 4 Klemens
Kapitel 5 Arne
Kapitel 6 Klemens
Kapitel 7 Arne
Kapitel 8 Klemens
Kapitel 9 Arne
Kapitel 10 Klemens
Kapitel 11 Arne
Kapitel 12 Klemens
Kapitel 13 Arne
Kapitel 14 Klemens
Kapitel 15 Arne
Kapitel 16 Klemens
Kapitel 17 Arne
Kapitel 18 Klemens
Kapitel 19 Arne
Kapitel 20 Klemens
Kapitel 21 Arne
Epilog Klemens
Bitte an euch fabelhafte Leser!
Vita von Mo
Impressum

Das Blau der Tiefseetinte

Eine queere Novelle

von Mo Kast

Kapitel 1 Arne

Arne seufzte, als er endlich vor dem riesigen, gusseisernen Tor stand. Seine Füße fühlten sich trotz dicker Winterstiefel an wie Eisklumpen. Auch seine Finger waren unter seinen Handschuhen frostig und taub und die Nasenspitze hinter dem Schal ebenso. Eine halbe Stunde Fußmarsch lag hinter ihm, weil der Bus nicht so weit außerhalb fuhr. Sein Auto war leider in der Werkstatt. Zusammen mit seinem Koffer voller Arbeitsutensilien fühlte er sich, als hätte er einen Geländemarsch in der sibirischen Kälte hinter sich.

Und hinter dem Tor konnte er bereits seinen wahrgewordenen Albtraum erkennen: Ein aufwendig angelegter Park, der mit unberührtem, übelst reflektierendem Schnee bedeckt war. Ein Winterwunderland würden es andere nennen.

Das Kribbeln in den Augenwinkeln wies ihn freundlicherweise auf die enorme Menge an Winterlicht hin. Danke, wäre ihm sonst gar nicht aufgefallen … Er schloss für einen Moment die Augen, bevor er die Klingel an der Seite des Tors betätigte. Eine Kamera zoomte auf ihn.

»Nimm die Sonnenbrille ab«, kam eine Stimme knisternd durch die Leitung. Arne seufzte abermals. Er zog den Schal ein Stück nach unten, zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht und schob die Sonnenbrille für einen Moment nach oben. Das Licht stach, als hätte es nur auf diese Gelegenheit gewartet, ihn zu quälen. Sofort ließ er die Brille wieder an ihren Platz zurückfallen.

»Arne Mertens, ich bin wegen der Gemälde hier. Ich habe einen Termin«, rief er in die Gegensprechanlage und hoffte, nun etwas weniger verdächtig zu wirken.

»Bitte zieh die Sonnenbrille ganz ab, damit ich das Bild abgleichen kann.«

Kurz war Arne erstaunt, dass es überhaupt Bilder ohne Sonnenbrille von ihm gab, aber wahrscheinlich hatten sie das Foto von seiner Webseite, auf dem er versuchte, für seine Kunden möglichst seriös auszusehen.

»Beeilen Sie sich aber«, gab er mürrisch zurück. Schön, dann würde er eben verheult vor den Klienten treten. War sicher ein wunderbarer, erster Eindruck. Manche fanden Arne ja sonderbar. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Sobald er die Wohnung verlassen musste, trug er eine Sonnenbrille. Zu jeder Jahreszeit und fast zu jeder Tageszeit. Und nein, er kam sich nicht besonders cool damit vor – auch wenn er sich große Mühe gab, immer modische Brillenmodelle zu tragen. Aktuell war es eine polarisierte Sonnenbrille mit einem schicken, dicken Holzrahmen. Die hatte er sich beim letzten Besuch in London gegönnt. Trotzdem war es kein Fashionstatement. Es war eine Notwendigkeit. Durch eine Störung des vegetativen Nervensystems hatte er fast permanent geweitete Pupillen. Sie waren so riesig, die meisten dachten, er hätte braune Augen und nicht graue. Neben der Verwechslung seiner Augenfarbe war er zudem äußerst lichtempfindlich. Ernsthaft, plötzliches Licht machte ihn fast blind, brachte ihn zum Weinen und brannte wie Hölle.

Während er die ersten Tränen unter seinen Augenlidern kribbeln spürte, ertönten endlich ein Summen und ein leises Klacken, bei dem sich das Tor ein kleines Stück öffnete. Sofort rückte er die Sonnenbrille wieder zurecht und betrat das Grundstück.

Vor ihm breitete sich ein weiß gepuderter Weg aus, der sich zu einem gigantischen Gebäude schlängelte, vorbei an einem zugefrorenen See, umsäumt mit kahlen Bäumen. Alles weiß, glänzend und gleißend hell. So ätzend. Übrigens, genau wie das Gebäude. Eine altmodische Villa mit riesigen Fenstern, die innen sicher für lichtdurchflutete Räume sorgten. Widerlich. Seine Freude, hier in den nächsten Wochen an geerbten Ölgemälden zu arbeiten, hielt sich in Grenzen. Wobei er seinen Job eigentlich liebte.

Die alten Gemälde, denen er wieder zu neuem Glanz verhalf, waren nämlich ähnlich lichtempfindlich wie er. Einer der vielen Gründe, warum er sich ihnen so verbunden fühlte. Ein großer Teil seiner Arbeit fand so in gedämpften Lichtverhältnissen statt. Zusammen mit seinem Faible für Chemie und zarte, zerbrechliche Dinge, hinter denen sich verwitterte Schönheiten verbargen, war er sozusagen prädestiniert für seinen Job. Was auch einer der Gründe war, warum er so gefragt war.

Normalerweise durfte er allerdings in seiner eigenen Werkstatt arbeiten, nur dieser Kunde …

Hoffentlich gab es hier ein dunkles Kämmerlein mit künstlichem Licht für die Bilder, und die Gemälde hingen nicht mitten in einem der hellen Zimmer. Die armen Dinger.

Der Eingangsbereich der Villa war ähnlich protzig wie das Tor. Eine doppelflüglige Eichentür mit aufwendigen Schnitzereien. Sie wäre nur noch bonziger gewesen, hätte man sie mit Blattgold und eingearbeitetem Elfenbein verziert. Schön fand es Arne trotzdem. Für ein bisschen Kitsch und Kunsthandwerk konnte er sich nämlich durchaus begeistern.

Allerdings fand er keine Klingel. Es gab nur zwei schwere Löwenkopf-Klopfer aus Messing, die ihn furchteinflößend angrinsten. Arne konnte sich nicht vorstellen, dass er sich damit ankündigen sollte. Das würde bei dem großen Gebäude doch niemand hören!

Erst jetzt bemerkte er eine weitere Kamera am Eingang, die ihn abermals visierte. Hinter den getönten Gläsern verdrehte er die Augen.

»Ich bin’s!«, rief er. »Immer noch.« Letzteres sagte er mehr zu sich selbst. Er hoffte nur, er müsste den Zirkus nicht jedes Mal mitmachen. Die Bezahlung war zwar stattlich, aber auch er hatte seine Schmerzgrenze.

Als die Tür geöffnet wurde, erwartete Arne, einen älteren Herren in diesem typischen altmodischen Butleroutfit anzutreffen, weil das so gut ins Gesamtbild passte. Stattdessen stand da ein junger Kerl, vielleicht sogar etwas jünger als Arne. Er trug einen beigen Strickrollkragenpullover und eine Jeans. Was bei anderen bieder ausgesehen hätte, stand ihm unheimlich gut und vermittelte eine lässige Eleganz. Seine blonden Haare waren nach hinten gekämmt und ließen sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen noch aristokratischer wirken. Die vollen Lippen wiesen jedoch auf eine gewisse Sinnlichkeit hin. Arne bemerkte, wie sein Blick an ihnen haften blieb, und war dankbar für die Sonnenbrille. Der blasierte Ausdruck im Gesicht des anderen zeigte allerdings deutlich, dass er kein Angestellter war.

Arne trat trotzdem an ihm vorbei in die Villa, froh darüber, endlich aus der Kälte heraus zu sein. Begrüßt wurde er von einer klischeehaften Eingangshalle mit Marmorboden, Stuckdecken, zwei geschwungenen Treppen links und rechts und einem Kronleuchter, der in der Mitte von der Decke hing. Dekadent und ungemütlich. Außerdem entdeckte Arne nichts für seine Jacke oder seinen Schal. Ob er ein Glöckchen läuten musste, damit ein Butler auftauchte, um ihm die Kleidung abzunehmen? Ein Glöckchen sah er allerdings auch nicht. Nur den Typen, der sich bisher nicht vorgestellt hatte. Sehr unhöflich. Demonstrativ stellte er nun seinen Koffer ab und löste den Stoff um seinen Hals, in der Hoffnung, der andere verstand den Hinweis. Tat er nicht.

»Hm«, kam stattdessen von dem Schnösel, während er die Augen zusammenkniff, sich Arne unangenehm nah entgegen lehnte und auf die dunklen Brillengläser starrte. Der Geruch nach teurem Eau de Cologne stieg Arne beißend in die Nase. Er verzog kurz das Gesicht, ließ das Verhalten aber unkommentiert. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln.

»Mit wem habe ich die Ehre?«, fragte er mit seiner süßesten Stimme, reserviert für Leute, die ihm ordentlich auf den Sack gingen. Attraktiv hin oder her, am Ende zählte eben doch die Persönlichkeit und damit konnte der Kerl bisher nicht glänzen. Für einen Kunstliebhaber wirkte der Typ auch zu jung. Vielleicht war er der Sohn des Klienten?

»Klemens von Eichendegg. Du bist für die Bilder hier? Warum die Sonnenbrille? Die irritiert mich.« Als er das sagte, legte er den Kopf schief. Sein Blick blieb dabei auf Arne gerichtet, dafür verschränkte er nun die Arme hinter dem Rücken, streckte sie durch. Was für eine komisch offene Körperhaltung.

»Das verrate ich erst beim dritten Date«, versuchte Arne es mit einem Witz. Er konnte seinen Klienten nicht einschätzen und fühlte sich ein bisschen überfordert mit der Situation. Dass dieser nun nur die Stirn runzelte, machte es leider nicht besser.

»Ich bin jedenfalls zum Arbeiten hier, nicht äh … für Verabredungen. Wenn ich meine Unterlagen richtig gelesen habe, sind Sie mein Auftraggeber?«, hakte Arne nach. Zumindest hatte der Name im Mailverkehr gestanden. Er hoffte trotzdem noch, dass er der Sohn war und nicht der Auftraggeber selbst. Dann könnte er nämlich vielleicht noch etwas von dem überaus schlechten, ersten Eindruck retten.

»Ich habe einen Profi aus der Restaurationswerkstatt angefordert.« Von Eichendegg runzelte die Stirn, als er das sagte. Es war nicht schwer zu erraten, was er als Nächstes sagen würde.

Arne presste bereits die Lippen aufeinander.

»Hätte gedacht, du wärst älter«, sprach von Eichendegg aus, was sich wohl die meisten bei dem ersten Treffen mit Arne dachten. Er legte dabei den Kopf schief und Arne wäre nicht überrascht gewesen, wenn der Typ ihn einmal umrundet hätte, um ihn genauer zu begutachten, und abschließend seine Zähne prüfen wollte, wie man das bei einem Pferd machte. Genau so fühlte Arne sich gerade. Wie ein Pferd, oder na ja, eher ein Esel. Langsam fühlte er sich nämlich albern, wie er mit dem Schal in der Hand im Flur herumstand.

»Meine Augen verraten mein wahres Alter.« Arne lachte und winkte ab. Humor war seine Fluchtstrategie für unangenehme Situationen. Natürlich sah man das durch die Sonnenbrille nicht, aber ohne wurde er oft noch jünger eingeschätzt, obwohl er sowieso erst achtundzwanzig war. Bestimmt, weil er so reine, unschuldige Augen hatte – wie Irena, seine Ex-Freundin, mal gesagt hatte. Innerlich amüsierte er sich noch immer darüber. Da hatte jemand ›rein und unschuldig‹ mit ›müde und sarkastisch‹ verwechselt.

»Ich mag es nicht, dass ich deine Augen nicht sehen kann.« Hätte von Eichendegg das nicht erwähnt, wäre es Arne gar nicht aufgefallen … Damit war er jedoch nicht allein. Die meisten mochten es nicht, weil sie dachten, Arne verbarg etwas hinter den Gläsern.

»Sie gewöhnen sich daran. Wo kann ich meine Jacke ablegen?« Arne wollte endlich mit der Arbeit beginnen und nicht mehr weiter in einer dummen, protzigen Eingangshalle herumstehen. Deshalb öffnete er den Reißverschluss seines Parkas. Darauf musste von Eichendegg ja reagieren, oder? Der starrte ihn allerdings nur weiter an. Hatte Arne etwas im Gesicht? Unsicher kratzte er sich an der Nase.

»Wo sind denn die Bilder? Und bitte sagen Sie nicht: Im Ballsaal.« Arne war langsam am Ende seines Lateins. So liefen seine Aufträge normal nicht ab. Für gewöhnlich bekam er von seinen Kunden Fotos der Gemälde geschickt. Er gab eine Schätzung für den Aufwand und die Zeitspanne ab und organisierte bei großen Bildern anschließend einen Versand an seine Werkstatt. Manche Klienten hatte er deshalb noch nie zu Gesicht bekommen. Was auch besser so war, seine Expertise lag nicht im Kundenkontakt.

Bei diesem Auftrag hatte er neben ein paar sehr groben Eckdaten zu den Gemälden, nur das Honorar erfahren. Er hätte vielleicht mehr hinterfragen müssen, aber bei der Summe hatte er nicht Nein sagen können. Normal müsste er dafür zehn Bilder in einem sehr schlechten Zustand wieder zu neuem Glanz verhelfen, nicht zwei. Das Geld würde ihm also eine wohlverdiente Verschnaufpause verschaffen und er könnte sich endlich die neue Absauganlage für Farbdämpfe gönnen. Seine funktionierte zwar noch, aber er hatte sie bereits von seinem Meister übernommen und da war definitiv Aufrüstungsbedarf vorhanden. Dafür stand er jetzt hier und war sich nicht sicher, ob das Angebot wirklich noch so verlockend war.

»Ich habe keinen Ballsaal mehr. Das ist jetzt ein Heimkino«, antwortete von Eichendegg schließlich und streckte endlich seine Hand aus. Was wohl so viel hieß, dass er ihm Schal und Jacke geben sollte. Wortlos, aber mit einem Stirnrunzeln, kam Arne der Aufforderung nach. Ihm entging dabei nicht, wie von Eichendegg seine Augen über ihn gleiten ließ, während Arne sich aus dem Parka schälte. Der Blick war … eindringlich. Arne musste schlucken, als er beim Überreichen der Jacke die Hand des anderen an seiner spürte. Nur eine kurze Berührung, vielleicht war sie reiner Zufall. Doch für Arne fühlte sie sich trotzdem überdeutlich an. Er wünschte sich für einen Moment das schützende Kleidungsstück zurück. Stattdessen straffte Arne nun die Schultern.

»Dann hoffe ich mal, Sie haben die Bilder nicht in Ihrem … Heimkino aufgehängt.« Er versuchte, nicht zu spöttisch zu klingen.

»Wer würde denn so einen Unfug machen?«, fragte von Eichendegg, runzelte dabei skeptisch die Stirn. Arne verkniff sich gerade noch den Kommentar: ›reiche Leute‹.

»Die Bilder sind im Keller.« Von Eichendegg deutete dabei auf eine aufwendig verzierte Holztür, die links von der Eingangstür lag. Arne verzog unwillkürlich das Gesicht. Im Keller gab es zwar für gewöhnlich kein Licht und seine Werkstatt lag zum Teil auch Souterrain, aber bei so alten Häusern wie diesem hier waren Moder und Feuchtigkeit immer ein Problem. Villa hin oder her.

»Ich habe die Räumlichkeiten für die Lagerung von Gemälden umbauen lassen. Regulation für die Luftfeuchtigkeit, Raumtemperatur, natürlich auch die Helligkeit. Ich kenn mich aus!« Ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit. Arne hoffte nur, der Spezialist, der die Anlage für die Lagerung gebaut hatte, kannte sich gut genug für zwei aus. Arne bereitete es nämlich fast seelische Schmerzen, sich um schlecht erhaltene Bilder zu kümmern. Sie taten ihm immer so leid.

»Wie man es von einem echten Kunstliebhaber erwartet«, kam es mit einem geschäftsmäßigen Lächeln von Arne, während er dem Herrn des Hauses zu der Kellertür folgte. Es war nicht ernst gemeint, aber wahrscheinliche interessierte das von Eichendegg auch gar nicht. Genauso wenig wie die Klamotten auf seinem Arm. Achtlos warf er sie beim Vorbeigehen auf den Boden.

»Hey!«, kam es empört von Arne. Reich hin oder her, so ging man nicht mit dem Eigentum anderer Leute um.

»Was?« Von Eichendegg hielt kurz inne, drehte sich mit einem fragenden Blick zu Arne um. Erst als dieser sich bückte, um seine Wintersachen mit einem aufgebrachten Schnauben aufzuheben, schien der Typ das Problem zu erkennen. »Warum regst du dich auf? Der Boden ist wahrscheinlich sauberer als deine Waschmaschine.«

Arne war so kurz davor, die Jacke einfach auf ihn zu werfen und die Villa zu verlassen. Aber er war erwachsen. Er war besonnen. Er war Herr der Lage. Er atmete tief durch.

Deshalb deutete er mit einem verkniffenen Lächeln und der Jacke über dem Arm in Richtung Kellertür. Von Eichendegg sollte ihm einfach die Bilder zeigen. Dann würde Arne eine neue Schätzung für den Preis der Restauration machen und sich etwas weniger ärgern.

Mit aufrechtem Gang und erhobenen Hauptes führte Klemens ihn nun die Treppe hinab, und wie erwartet, umfing sie sofort kalte, muffige Luft. Schon mal kein gutes Vorzeichen. Skeptisch folgte Arne dem Kerl durch einen schmalen Gang, der an einer schweren, mannshohen Tresortür endete. Ziemlich klischeehaft – und etwas übertrieben für ein paar Gemälde einer alten Frau, oder?

»Ich bin nicht unbedingt Kunstliebhaber, aber meine Großmutter war Kunstsammlerin und selbst Künstlerin. Sie hatte ein Faible für Blau«, führte der Hausherr näher aus, während er eine lange Zahlenfolge in ein Terminal neben der Tür eingab. Er rollte dabei mit den Augen, aber ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. Seine Großmutter schien ihm wohl wichtig gewesen zu sein.

»Ich habe ihr viel zu verdanken und es würde sie freuen, wenn ihre Schätze wieder im alten Glanz erscheinen könnten«, fügte er hinzu, nachdem ein Piepen und ein leises Klack signalisierte, dass der Tresor nun geöffnet werden konnte. ›Viel zu verdanken‹ klang nach geerbtem Geld. Arne schüttelte leicht den Kopf. Er musste nämlich für sein Geld hart arbeiten. Heute ganz besonders.

Theatralisch zog von Eichendegg die dicke Metalltür auf. Träge öffnete sich das Ungetüm und offenbarte einen großzügigen Raum mit Parkettboden, hellen Wänden und spartanischer Einrichtung. Neben zwei reich verzierten Stühlen gab es nur eine altmodische Werkbank aus massivem Echtholz. An den Wänden hingen einige Gemälde – bei allen dominierte die Farbe Blau. Die Qualität der Arbeit variierte allerdings stark und bei manchen handelte es sich eindeutig um Laienarbeit. Arne entdeckte noch einige an die Wand gelehnte, bespannte Keilrahmen, die nur mit Wolltüchern voneinander getrennt wurden. So viel zu ›Ich kenne mich aus‹. Allerdings schien sonst alles ideal zu sein. Eine angemessene Raumtemperatur, die Luft wirkte nicht zu feucht oder zu trocken und LED-Panels an der Decke tauchten den Raum in gemäldefreundliches Licht, mit dem es sich gut arbeiten ließ. Das musste teuer gewesen sein. Aus einem Impuls heraus fasste Arne an die Wand neben sich. Warm, also waren die Wände beheizt. Das musste sehr teuer gewesen sein. In so einem Moment verspürte Arne einen leisen Neid, dass seine Vorfahren leider kein großes Geschick für Geld bewiesen haben und seit Generationen nie über den Status einer einfachen Arbeiterbiene hinausgekommen waren. Er selbst war keine Ausnahme, auch wenn er studiert hatte und ›einfach‹ bestimmt kein typischer Begriff war, um ihn zu beschreiben – Geld hatte er trotzdem nicht im Überfluss.

»Zufrieden?«, fragte von Eichendegg mit einem Grinsen.

Arne zuckte unbestimmt mit den Schultern, legte seinen Parka auf einen der verzierten Stühle und stellte den Arbeitskoffer daneben ab. Er wollte endlich wissen, was sein Arbeitsprojekt für die nächsten Wochen sein würde. Sein Blick ging nun eindringlicher über die aufgehängten Bilder. Etwas erweckte seine Aufmerksamkeit: Eine richtige Rarität, falls sie echt war. Er hob seine Sonnenbrille an, während er näher an den Bilderrahmen mit einer Zeichnung auf blauem Papier herantrat. Ein Kribbeln erfüllte seinen ganzen Körper, als er das Monogramm entdeckt. Jan Vermeer.

»O Scheiße«, hauchte er, völlig gefesselt von dem Anblick. Es war ihm egal, dass man so vor einem Kunden nicht sprechen sollte. Immerhin wurde er für seine Expertise bezahlt, nicht für seine Wortwahl. Jahrzehnte wurde nach den berühmt-berüchtigten Zeichnungen auf blauem Papier von Jan Vermeer gesucht. Es war lange nicht sicher gewesen, ob überhaupt welche erhalten geblieben waren. Und erst vor ein paar Jahren wurden sie entdeckt. Die Zeichnung musste ein Vermögen gekostet haben! Wie reich war die Großmutter gewesen?

»Na, habe ich dich endlich beeindruckt?«, riss von Eichendegg Arne aus seiner Begeisterung. Er drehte sich zu ihm um.

»Sie wissen, was es bedeutet, wenn die Zeichnung echt ist?«, fragte er ihn nun. Gut möglich, dass dem Kerl gar nicht bewusst war, was er da in seinem Keller gebunkert hatte. Ein arrogantes Grinsen zeichnete sich auf dessen Gesicht ab. Er wusste es also. Arne wandte sich wieder der Zeichnung zu. Der Zustand war leider tadellos. Das würde also wahrscheinlich nicht sein Projekt sein.

»Die anderen Gemälde interessieren dich nicht?«, hakte der Kerl weiter nach, deutete dabei auf die laienhaften Gemälde, die Arne vorhin schon aufgefallen waren. Die waren in der Tat in keinem guten Zustand, was sicher auch an dem mangelhaften Wissen des Künstlers lag. Es würde anstrengend werden, diese Bilder wieder in Schuss zu bringen. Risse, Löcher in der Farbe und zwei von ihnen hatten ein dicker, gelber Firnis. Die würde einiges an Fachkenntnis von ihm fordern, da die Leinwand vermutlich vor der Benutzung nicht richtig aufbereitet worden war.

»Die sind von deiner Großmutter, oder?« Arne presste die Lippen zusammen. Ja, er wusste, er sollte mehr Begeisterung für sein zukünftiges Projekt heucheln, aber verdammt, hier gab es überraschenderweise auch echte Kunstwerke – und er würde sich einen Finger abhacken, um an einem von ihnen arbeiten zu dürfen! Wobei das natürlich ein wenig kontraproduktiv wäre … Vielleicht ein Finger von der linken Hand. Den kleinen. Er warf einen sehnsüchtigen Blick zu dem blauen Papier.

»Die Zeichnung ist wertvoller«, antwortete Arne schließlich bemüht diplomatisch.

»Schon klar, was auch der Grund ist, warum ich dir bei deiner Arbeit Gesellschaft leisten werde. Nur um sicherzugehen.« Demonstrativ zog sich von Eichendegg einen der protzigen Holzstühle heran. Erst jetzt entdeckte Arne die Goldapplikationen darauf. Innerlich verdrehte er die Augen. Reicher Schnösel.

»Ich weiß, was ich tue«, kam es kühl von Arne. Er brauchte sicherlich keine Aufsicht eines Laien, und dass er vertrauenswürdig war, sollten seine Qualifikationen hinreichend darlegen. Sonst hätte er ihn ja nicht engagiert, oder? Von Eichendegg lehnte sich zurück und überschlug die Beine. Arne unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Das konnte ja was werden …

»Welche Bilder sind es denn nun?«

Natürlich deutete sein Auftraggeber auf die zwei Bilder, die Arne so gar nicht begeistern konnten. Was auch sonst.

»Wir müssen über das angegebene Honorar reden«, erklärte Arne mit einem geschäftsmäßigen Lächeln im Gesicht.

Kapitel 2 Klemens

Klemens wusste, dass Arne einen völlig überzogenen Preis für seine Arbeit verlangte. Er hatte vorher im Internet recherchiert, mit welchen Kosten zu rechnen war, und sich sogar Angebote verschiedener Werkstätten eingeholt. Sein Vater glaubte ihm nämlich nicht, dass er verstand, wie man mit Geld umging. Kapitalanlagen in ETFs und Kryptowährung waren für seinen alten Herren nur Kinderspielereien und zählten nicht. Ansonsten reinvestierte Klemens sein Geld allerdings nicht. Bei den Gemälden hatte er ihm zeigen wollen, dass er sich auch ganz klassisch um sein Geld kümmern konnte. Es wäre eine Überraschung gewesen, ein Geschenk für Anerkennung. Als er bei seiner Recherche allerdings auf Arnes Webseite gestoßen war, wurde sein sowieso schon schwacher Geschäftssinn völlig übertölpelt. Auf der Webseite gab es kurze Videos, die Arne bei der Arbeit zeigten. Meistens mit Zoom auf seine Hände und diese Hände … Kräftig, aber mit schlanken, eleganten Fingern, und Arnes Bewegungen waren so präzise und vorsichtig. Er wusste genau, wie er mit ihnen umging. Nicht nur einmal hatte sich Klemens vorgestellt, wie sich diese Hände auf seinem Körper anfühlen würden. Seit dieser sein großzügiges Angebot angenommen hatte, hatte Klemens dem Tag, ihn endlich in natura zu erleben, entgegengefiebert. Dass Arne nach der Betrachtung der Bilder noch einmal den Preis fast verdoppelt hatte, war Klemens egal. Er hatte Geld. Genug davon. Und sein Vater hatte offensichtlich recht: Er konnte wirklich nicht damit umgehen. Deshalb blieb Arne sein Geheimnis. Er überlegte bereits, ob er ihn nicht noch für weitere Gemälde beauftragen sollte, einfach um mehr Zeit mit ihm zu verbringen.

Sie hatten vereinbart, dass Arne erst mal einmal die Woche in die Villa kommen würde, um an den Bildern zu arbeiten. Immer mittwochs. Heute war wieder Mittwoch. Der beste Tag der Woche!

Arne hatte bereits seine Arbeitsutensilien auf dem Werktisch ausgebreitet. Sie hatten alle Abnutzungserscheinungen vom häufigen Gebrauch, wirkten jedoch wohl gepflegt. Es war offensichtlich, dass der Restaurator mit seinem Werkzeug so vorsichtig umging wie mit den Gemälden. Ob sich das auch beim Sex widerspiegelte? War er bedächtig und würde auf jede kleine Nuance achten oder das genaue Gegenteil? Wild und ungestüm in seiner Leidenschaft? Klemens würde es auf jeden Fall gerne herausfinden.

Deshalb stellte er sich so dicht wie möglich neben Arne. Sofort empfing ihn der Geruch nach Terpentin, der Arne anzuhaften schien. Klemens wusste nicht, wie das möglich war, aber er mochte diesen beißenden Beigeschmack. Es passte zu Arne. Ihre Schultern berührten sich fast. Er bemerkte, wie Arne ihm einen irritierten Seitenblick zuwarf. Wie immer, wenn er ihm so nahekam. Allerdings wich er nie zurück! Klemens hoffte, es lag daran, dass er ihn vielleicht auch … gut fand.

»RestoringMaster meint übrigens, man soll immer einen Marderhaarpinsel verwenden«, durchbrach Klemens jetzt die Stille, deutete dabei auf die ausgebreiteten Pinsel. Ganz zufällig streifte er dabei Arnes Arm. Die Berührung hinterließ ein angenehmes Kribbeln an der Stelle, an der sie sich berührt hatten. Er konnte zwar nicht sagen, ob Arne mit Naturhaarpinseln arbeitete, da er nicht so genau wusste, wie man sie von einem Synthetikpinsel unterschied. Aber er wollte zeigen, dass er sich durchaus dafür interessierte, was Arne tat. Dafür hatte er sich in den letzten Wochen viele Youtube-Videos angeschaut. Allen voran die von ›RestoringMaster‹, ein hochgelobter Youtube-Channel über Restauration. Nicht nur fachlich fundiert, sondern mit einfachen Erklärungen und künstlerisch aufgearbeitet. Der Typ, der den Channel führte, war außerdem auch etwas fürs Auge. Er sah aus, als wäre er direkt aus einem Gemälde von Caravaggio gestiegen. Muskulös mit einem dramatisch schönen Gesicht. Nur seine Hände konnten nicht mit Arnes mithalten. Ihnen fehlte diese natürliche Eleganz, die Klemens so sehr schätzte.

»Hören Sie, wenn Ihnen meine Arbeitsweise nicht passt, engagieren Sie doch Ihren ach so tollen … Meister«, murrte Arne, während er etwas vehementer Schmutz von dem Gemälde pinselte. Da hatte Klemens wohl den Youtuber einmal zu oft erwähnt.

»Hast du mal ein Video von ihm gesehen?«, fragte Klemens in der Hoffnung, eine ganz bestimmte Reaktion zu erzielen. Und da war sie: Ein Lächeln, bei dem Arne wohl dachte, dass es freundlich aussah, aber in Wahrheit wirkte es so, als würde er Klemens am liebsten strangulieren. Hinreißend, auch weil es eine rohe Emotion war, die nur ihm galt. Hauptsache Arne fühlte überhaupt etwas für ihn. Seine Psychologin hatte Klemens schon mehrfach erklärt, dass das nicht der beste Weg war, sich Menschen zu nähern. Die verstand aber auch keinen Spaß.

»Es ist populistischer Scheiß, okay?« Arne hatte noch immer das freundliche ›Ich erwürge dich bald‹-Lächeln im Gesicht. Sein Pinsel wedelte nun deutlich schneller über die Oberfläche des Ölgemäldes. »Der Typ simplifiziert viel zu viel und tut so, als könnte jeder ein Bild restaurieren! Ich will gar nicht wissen, wie viele Gemälde wegen diesem Fatzke unrettbar zerstört worden sind.« Arne pustete energisch den Staub weg. »Die Bilder, mit denen er den Dreck nämlich erklärt, sind nicht mehr wert als die von deiner Oma.« Womit Arne wohl sagen wollte, dass sie nichts wert waren. Gar nichts. Nur emotional und für Klemens nicht zu knapp. Sein Vater hatte sich schon immer beschwert, dass Klemens sich zu sehr von seinen Emotionen leiten ließ, ihnen zu viel beimaß und zu wenig rationale Entscheidungen traf. Dass er Arne beauftragt hatte, war ein gutes Beispiel dafür. Dass er absolut alles an ihm anziehend fand, noch ein viel besseres. Wirklich alles an ihm zog Klemens an. Die dunklen, vollen Haare, in die er am liebsten seine Hände vergraben wollte, um ihn energisch an sich zu ziehen und auf die Lippen zu küssen, die sonst nur ein spöttisches Grinsen für ihn übrig hatten. Und die Art, wie er sprach, besonders wenn er fluchte. Klemens kannte niemanden, der so schlecht darin war, Höflichkeit vorzutäuschen.

»Die Gemälde meiner Großmutter sind wunderschön!«, rechtfertigte sich Klemens trotzdem. Waren sie wirklich. Klar, sie waren kein Jan Vermeer, aber die Motive waren sehr persönlich und mit viel Liebe gemalt. Momentan saß Arne allerdings an dem ältesten Stück, eines der ersten Bilder seiner Großmutter. Es zeigte ein junges Paar, das sehnsüchtig aus dem Fenster blickte. Farblich alles in Blautönen gehalten, die man durch den gelben Firnis kaum noch erkennen konnte. Was seine Großmutter sicher traurig gemacht hätte, weshalb er sich überhaupt erst entschlossen hatte, einen Restaurator zu beauftragen.

---ENDE DER LESEPROBE---